Die Linke und das Ende des europäischen Sozialismus

Die PT – eine sozialistische Partei neuen Typus?

Es lohnt sich, gerade die Diskussion innerhalb der PT etwas näher zu betrachten, da diese Partei nicht in den Rahmen der traditio­nellen kommunistisch-sozialistischen Parteien in Lateinamerika paßt und eine Massenpartei ist, deren Kandidat Lula im letzten Jahr fast die Wahlen gewonnen hätte. Während des Präsidentschafts­wahlkampfes war die PT gezwungen, sich intensiv damit auseinander­zusetzen, wie eine sozialistische Alternative für Brasilien auss­sehen könnte und mußte Angriffe kontern, sie wolle in Brasilien das überholte Gesellschaftsmodell einführen, das in Europa gerade zu Grabe getragen werde.
Die PT entstand 1980 als ein Zusammenschluß von Menschen aus der neuen Gewerkschaftsbewegung, links-katholischen Kreisen und Intel­lektuellen. Zahlreiche Basisinitiativen, oft beeinflußt von den links-katholischen Strömungen, schlossen sich der Partei an oder verstanden sich als PT-nahe. Nicht in die Partei gingen hingegen die beiden (damals noch verbotenen) kommunistischen Parteien. Nach einem schematischen Etappenmodell wollten sie in der bürgerlichen Oppositionspartei PMDB zunächst für eine demokratische Umwälzung kämpfen.
Die PT verstand sich von Anfang an als eine Partei mit einer besonderen Bindung an die sozialen Bewegungen und zu Beginn bestimmte das Verhältnis zu den “Bewegungen” die internen Diskus­sionen der Partei: Soll sie nur ein Sprachrohr der Bewegungen sein oder eine eigenständige politische Kraft – eine Diskussion, die sehr an die Gründungszeiten der Grünen erinnert. Von den Grünen unterscheidet sich aber die PT radikal in einem Punkt: Prägend waren die Erfahrungen der neuen, kämpferischen Gewerkschaftsbewe­gung im industrialisierten Sektor Brasiliens. Ist der Kampf gegen Atomkraftwerke die Gründungssage der Grünen, so sind es die Streiks der MetallarbeiterInnen für die PT. In der PT waren und sind auch Kräfte – vor allem unter den Intellektuellen – vertre­ten, die traditionellen marxistischen Orientierungen anhängen, sowie einer recht bedeutsame trotzkistische Strömung.
Die Organisation verschiedener “Tendenzen” innerhalb der Partei ist erlaubt, und tatsächlich ist die PT in eine Vielzahl von Srö­mungen aufgegliedert, die sich zum Teil heftig bekämpfen. Immer­hin: Die PT ist eine Partei, die internen Pluralismus zuläßt und nicht nach den Prinzipien des “demokratischen Zentralismus” aufge­baut ist. Das heißt auch, daß in vielen Fragen eine Position der PT nur schwer auszumachen ist. Gerade in vielen Punkten, die Deut­sche immer wieder interessieren, ist die PT zutiefst gespalten: der Ökologie und dem Verhältnis zur Frauenbewegung. Selbst Grund­forderunge wie das Recht auf Abtreibung haben es in der PT schwer, da hier die progressiven Katholiken an ihre Grenzen geraten. Aber auch solche Diskussionnen werden innerhalb der PT geführt und in letzter Zeit konnten Feministinnen in der PT an Boden gewinnen, zum Beispiel daurch, daß eine erklärte Feministin zur Frauenbeauf­tragten in Sao Paulo ernannt wurde.
Die PT hat sich in vielen Positionspapieren (nicht aber in ihrem Gründungsdokument!) zum Ziel einer sozialistischen Gesellschaft bekannt. Sie hat sich mit der polnischen Solidarnosc solidari­siert, gar Kampagnen zu ihrer Unterstützung in Brasilien gestartet – ein demonstrativer Akt der Abgrenzung zum real existierenden Sozialismus (Später sind die Beziehungen zur Solidarnosc aus ver­ständlichen Gründen abgekühlt). Auf der anderen Seite hat die PT intensive Beziehungen zu den kommunistischen Parteien Osteuropas unterhalten und zahlreiche PT Funktionäre besuchten Schulungskurse in der DDR. Diese seltsame Ambivalenz von Distanz und Nähe bestimmte auch das Verhältnis zu Kuba. Die Offenheit der PT macht natürlich auch in den verschiedensten Lagern Appetit. Auf dem letzten Parteikongreß (1990) waren zum Beispiel die SPD (als ein­zige deutsche Partei!) und die kommunistische Partei Nordkoreas vertreten.

Sozialismus + Demokratie + Pluralismus

Diese Formel wird in den meisten Beiträgen als Lösung des Problems angeboten. “Der Pluralismus ist unvermeidbar”, ist ein Interview mit dem Generalsekretär der PT, José Dirceu überschrieben. “Ich glaube, daß die leninistischen Konzeption von der Diktatur des Proletariats, nicht wie sie gedacht war, sondern wie sie verwirk­licht wurde, überholt ist. Sie oktroyiert eine staatliche Presse, die Abwesenheit von Opposition, ein Einparteiensystem und Plan­wirtschaft.Die Gesellschaft muß sich demokratisch entwickeln.” Seine Vorstellung von Demokratie konkretisiert Dirceu folgenderma­ßen: “Die Opposition hat das Recht zu existieren. Sie muß alle individuellen und kollektiven Rechte ausüben können, die in der Verfassung garantiert sind. Ihr muß auch die Freiheit eingeräumt werden, den Weg der Rückkehr zum Kapitalismus einzuschlagen. Es ist bewiesen, daß die kulturellen Unterschiede innerhalb der Bevölkerung, insbesondere innerhalb der Arbeiterklasse, es einem großen Teil der Menschen unmöglich machen, die Macht über die direkte Demokratie auszuüben, also durch Plebiszite oder Referen­dum. Somit ist die repräsentative Demokratie eine Notwendigkeit. Es ist ein Fehler der Sozialisten, ein fundamentales Instrument zur Erzielung von Legitimität und Konsens zu vernachlässigen: die Abstimmung in einer repräsentativen Körperschaft.”
Es ist die Kombination von Verfassungsrechten und repräsentativer Demokratie, die autoritäre Verzerrungen bannen soll. Im Scheitern des autoritären Sozialismus sehen einige Beiträge denn auch eine Chance: der Sozialismus muß nun endlich eine untrennbare Verbin­dung mit der Demokratie eingehen und kann gerade dadurch an Attraktivität gewinnen. “Der Zusammenbruch der sozialistischen Regimes in Osteuropa hat eine extrem positive Seite: Überkommene und nicht mehr aktuelle Ideen müssen neu überdacht werden.”(Luis Alberto Gomes) Zwar hatten die Marxisten, wie Herbert de Souza ausführt, immer schon die Demokratie im Munde geführt, aber eine im Grunde taktische Position zur Demokratie eingenommen und damit ihre Reichweite und Radikalität vermindert. Das Ergebnis war “Gleichheit ohne Partizipation und Solidarität ohne Freiheit.”
“Man kann sagen, daß die brasilianische Linke die Realität der brasilianischen Gesellschaft nie unter dem Blickwinkel der Demo­kratie analysiert hat. Generell war die Linke eher in der Lage, die Entwicklung des Kapitalismus zu verstehen als diese Entwick­lung unter dem Blickwinkel der Demokratie zu analysieren.” Oder noch einmal zugespitzt: Die Frage des Sozialismus hat nur Sinn als Frage der Demokratie. Der Sozialismus muß – und tut es auch schon – seinen Namen neu diskutieren. Der wahre Name des Sozialismus ist Demokratie.” An diesen Stellungnahmen überrascht vielleicht, wie unproblematisiert mit dem Konzept der (repräsentativen) Demokratie umgegangen wird. Allerdings betonen die Autoren immer wieder, daß die bürgerliche Demokratie keine Alternative sein kann, da sie vor den Fabriktoren aufhöre und eine Demokratie ohne soziale Gerech­tigkeit keine wirkliche Demokratie sei. Dirceu problematisiert, ob es jetzt überhaupt einen demokratischen Staat gäbe. Das würde ja voraussetzen, daß die Bourgeoisie bereit wäre friedlich einen übergang zu einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft zuzulassen. “Aber wenn das Volk in kapitalistischen Ländern die Macht ergreift, dann holen sie das Heer und veranstalten wahre Massaker, wie sie es schon in verschiedenen Ländern Lateinamerikas gemacht haben.” Diese Frage müsse noch gelöst werden.
Das glaubhafte Bekenntnis zu einem demokratischen Sozialismus fällt der PT sicherlich nicht schwer, wie die kurze Charakterisie­rung der Partei zeigt. Daher wohl auch das Bemühen, diesen Punkt in den Mittelpunkt der Debatte zu rücken. In einigen Stellungnah­men scheint aber auch durch, daß die Fragen doch komplizierter sind: Schließlich forderten “die Massen” in Osteuropa nicht den demokratischen Sozialismus, sondern den Kapitalismus.

Sozialismus ohne Planwirtschaft?

In die Krise geraten ist doch auch eine Grundannahme aller sozia­listischen Konzepte: daß eine zentrale Planung und gesellschaftli­che Kontrolle der Produktion geboten sei, um den Übeln der Markt­wirtschaft beizukommen. Dieser Punkt wird in den meisten Stellung­nahem weniger ausführlich diskutiert. José Dirceu will an der Grundentscheidung für Planwirtschaft festhalten. “Ich glaube nicht, daß die Planung in sozialistischen Ländern aufgegeben wer­den darf (ich spreche von strategischer Planung) und obwohl ich die Beibehaltung des Kollektiveigentums an den wichtigsten Produk­tionsmitteln verteidige, ist es nicht vorstellbar, da? es möglich sein kann, die Produktivkräfte zu entwicklen, ohne kleines und mittleres Eigentum zuzulassen – oder anders gesagt: ohne die Exi­stenz von Privateigentum an Produktionsmitteln und Gütern.” Die Kombination von Wirtschaftsdemokratie, Planung und Privateigentum soll sowohl Bürokratisierung wie die Anarchie des Marktes beseiti­gen. “Ich glaube nicht, daß in den nächsten fünfzig Jahren irgend­eine Gesellschaft voranschreiten kann, ohne Kollektiveigentum mit mittlerem und kleinem Privateigentum zu verbinden.”

Der Marxismus – ein toter Hund?

Die PT-Dikussion bewegt sich – das ist unschwer zu erkennen – im Rahmen einer klassisch-sozialistischen Denktradition, die durch den Marxismus geprägt ist. ßkologie oder feministische Kritik spielen bei den durchweg männlichen Autoren keine Rolle. So kann es auch nicht überraschen, daß eine Krise des Marxismus konsta­tiert und erörtert wird. In Deutschlund scheint diese Frage ja – um im Tierreich zu bleiben – keinen Hund mehr hinter dem Ofen her­vorzulocken, die große Debatte dieses Jahrhunderts ist nicht ent­schieden worden, sondern siecht an Desinteresse dahin. Anders in Brasilien: “Die Krise des ‘realen Sozialismus’ ist vor allem die Krise des orthodoxen Marxismus… Der orthodoxe Marxismus ist heute nicht mehr als eine Philosophie des bürokratischen Konserva­tivismus…Die Kritik dieses Marxismus ist der Ausgangspunkt für die Formulierung einer revolutionären Alternative, die zugleich humanistisch und universal ist.” Man müsse den Kopf befreien von der Diktatur der “gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten” um zu einer “antideterministischen und libertären” Konzeption zu gelan­gen. Es gelte den Weg weiterzuverfolgen, den Gramsci eröffnet habe.(So Ozeas Duarte, einer der Herausgeber von “Teoria & Debate”) In einem anderen Beitrag fordert Augusto de Franco (Mitglied des Leitungsgremiums der PT), “die alte Fibel zu zerrei­ßen, die darauf basiert, der Marxismus-Leninismus sei eine wissen­schaftliche Theorie.” Besonders in diesem Beitrag wird nicht erst der Stalinismus als das Übel ausgemacht: “Die Geschichte zeigt, daß es weder vor noch nach 1917 eine Politik gab, die unabhängige und autonome Organisationen der Arbeiter aufbaute als Keimformen von Organisationen der Leitung und der Macht in der Gesellschaft.” Diese Äußerungen haben heftigen Widerspruch eines anderen Lei­tungsmitgliedes (Joao Machado) provoziert. Für ihn brach Stalin mit der gesamten marxistischen Tradition und errichtete eine büro­kratische Diktatur, die sich gerade über die physische Liquidie­rung der alten Garde des Bolschewismus etablierte. Der Stalinismus stelle einen radikalen Bruch mit der Tradition des Marxismus dar, die Kritik am real existierenden Sozialismus gäbe daher nichts her für die Kritik am Marxismus. “Daher haben wir bei der immensen Aufgabe, einen demokratischen, revolutionären und libertären Bezugsrahmen zu errichten, einen fundamentalen Stützpunkt in der marxistischen Tradition, die wir mit aller Energie vom Stalinismus unterscheiden müssen.”

Wir haben eine Mappe bereitgestellt, in der die Beiträge, auf die hier Bezug genommen wird, kopiert sind. Die Mappe enthält auch den vollen Wortlaut des Dokuments “O socialismo petista”. Alle Beiträge sind auf portugiesisch! Zu beziehen über den LN Vertrieb gegen Rechnung (DM 10,- plus Versandkosten) oder gegen DM 10,- Vorauskasse!

Kasten 1:

Dokumentation

O Socialismo petista

Dokument des 7.Nationalen Kongreß der PT (Juni 1990) Auszüge
Die PT entstand bereits mit radikaldemokratischen Vorschlägen. Unsere Ursprünge liegen im Kampf gegen die Militärdiktatur und Repression der Bourgeoisie. Auf der Straße und an unseren Arbeitsplätzen forderten wir die politischen Freiheiten und sozia­len Rechte. In den 10 Jahren ihrer Existenz war die PT immer an der Spitze der Kämpfe für die Demokratisierung der brasilianischen Gesellschaft … Aber die demokratische Verpflichtung der PT geht hinaus über die Parolen, die sie verteidigte und verteidigt. Auch unsere interne Organisation drückt die Verpflichtung zu einer freiheitlich orientierten Politik aus. Den monolithischen Hierar­chien traditioneller Parteien – und vieler linker Gruppierungen – abgeneigt, unternimmt die PT Anstrengungen, die interne Demokratie zu stärken. Dies ist die unabdingbare Voraussetzung für eine demo­kratische Praxis im sozialen Leben und bei der Ausübung der Macht. Diese fundamentale Verbindung mit der Demokratie verpflich­tete uns zum Antikapitalismus, wie sie auch unsere antikapitali­stische Opposition in unserem demokratischen Kampf stimulierte.
Die PT identifiziert sich mit den Kämpfen der Arbeiter und der Völker für ihre Befreiung und für den Sozialismus … Seit ihrer Gründung betrachtet die PT die Mehrheit der Erfahrungen des soge­nannten realen Sozialismus als eine Theorie und Praxis, die nicht in Einklang ist mit den humanistischen, libertären und egalitären Ideen des Sozialismus. Der Sozialismus, im Sinne der PT, wird radikal-demokratisch sein oder er wird kein Sozialismus sein … Aber was für ein Sozialismus? Für welche Gesellschaft, welchen Staat kämpfen wir? … Das 5. Nationale Treffen präsentierte den Arbeitern unseres Landes das grundlegende ideologisch-politische Profil unserer Vision: Um den Kapitalismus auszulöschen und den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zu beginnen, bedarf es an erster Stelle einer radikalen politischen Veränderung: die Arbeiter müssen zur hegemonialen Klasse in der zivilen Gesell­schaft und in der Staatsmacht werden.
Der Sozialismus, den wir herbeisehnen, kann es nur geben mit einer demokratischen Organisation der Wirtschaft … Eine Wirtschaftsdemo­kratie, die ebenso die perverse Logik des Marktes wie auch die unerträgliche, autoritäre staatliche Planung der sogenannten sozialistischen Wirtschaften überwindet … Wir kämpfen für einen Sozialismus, der nicht nur die demokratischen Freiheiten,die in der kapitalistischen Gesellschaft errungen wurden, bewahren muß, sondern sie erweitert und radikalisiert.

Dies sind nur kurze Auszüge aus einem erheblich längerem Dokument.

Kasten 2:

Die Haupttendenz in der Welt ist Sozialismus

Die abweichende Meinung der Trotzkisten

In einem Interview mit “Teoria & Debate” stellt der Sprecher der größten trotzkistischen Tendenz innerhalb” der PT (Convergencia Socialista), Valerio Arcary, seine Sichtweise der Dinge dar:
“Noch nie in unserem Jahrhundert war die Lage für den Kampf um den Sozialismus so günstig. Ich werde eine noch schockierendere Fest­stellung machen: Nie war der Osten so dem Sozialismus zugeneigt! Denn die Massen sind in Bewegung und ein grundlegendes Element im Marxismus ist das Ver­trauen, daß die Befreiung der Arbeiter nur das Werk der Arbeiter sein kann … Das Proletariat hat sich in Bewegung gesetzt. Das ist ein Beispiel für die ganze Welt … Die Massen wollen den Kapitalismus? Nein. Die Massen wollen nicht den Kapitalismus. Die Massen wollen bessere Lebensbedingungen. Es gibt eine Explosion von Freiheiten in Osteuropa. Es sind Freiheiten, die auf dem Weg, der zur Revolution führt, erobert worden sind. Im Kampf für ihre Forde­rungen haben die Massen die Illusion, ihre Länder könnten sich in ein Frankreich, in eine Schweiz verwan­deln … Es gibt Illusionen, aber es gibt auch Mobilisierung. Die Revolution geht weiter. Der Aufstand gegen die bürokrati­schen Dik­taturen war nur ein Moment.”

Teoria & Debate 10, Mai 1990

“Für eine neue argentinische Linke”

LN: Welches sind deiner Ansicht nach die grundlegenden Probleme der argen­tinischen Linken? Wie siehst du ihre Lage im Moment?

H.T.: Ich denke, daß die argentinische Linke dabei ist, sich von der schweren Niederlage zu erholen, die sie in den 70er Jahren hat hinnehmen müssen. Dies war nicht nur eine Niederlage für die Linke, sondern für das gesamte argentini­sche Volk. Viele Kader wurden verloren. Ich gehe davon aus, daß es für die ar­gentinische Linke zwei bedeutende Probleme zu überwinden gilt. Das erste wäre, daß es einen Teil der argentinischen Linken gibt, der sich reorganisiert, der aber eine klare, festere Position vermissen läßt, gegenüber diesen politischen Projek­ten (der Regierungen – LN) und mehr Unabhängigkeit gegenüber den traditio­nellen politischen Parteien. Daher haben wir begonnen, eine neue politische Organisation aufzubauen, die deutlicher und mit mehr Konsequenz als die bis­her existierenden Linksparteien Opposition betreibt.
Das zweite Moment, das bisher eine große Schwierigkeit darstellt, ist die Unfä­higkeit vieler linker Sektoren, sich zu vereinen. Es gibt lediglich eine Einheit gegenüber konkreten Regierungsmaßnahmen, wie zum Beispiel gegen den Indulto (die Amnestierung der für Menschenrechtsverletzungen verantwortli­chen Militärs), aber es gibt keine permanente politische Einheit, und das macht es unmöglich, sich dem argentinischen Volk als eine starke Alternative zu präsen­tieren. Ich glaube, dies sind nur zwei Probleme, denen sich die argentinische Linke gegenübersieht. Sie steht vor einer großen Herausforderung…Denn, was passiert denn in Argentinien heute? Seit ca. 15 Jahren wird derselbe ökonomische Plan durchgesetzt. Durch Regierungen mit verschiedenen Gesichtern: erst eine brutale Militärdiktatur, dann eine Regierung, die mit dem Gesicht demokrati­scher und partizipativer Grundsätze antrat und damit endete, denselben ökono­mischen Plan umzusetzen, und zum Schluß sogar auf Repression zurückgriff, schließlich nun eine Regierung, die sich auf die Geschichte einer Partei stützte, die eine Geschichte der Interessenvertretung der Arbeiter ist und nun ebenfalls diesen Plan durchsetzt. Es gibt also eine Kontinuität. Die Konsequenzen sind fürchterlich. Argentinien hat sein Bruttoinlandsprodukt um 10% in 15 Jahren ver­ringert, die Arbeitslosenzahl hat sich verdoppelt, der Bruttolohn ist um 50% gefallen, Gesundheits- und Bildungssystem verfallen. Es gibt keine Investitionen mehr. Sie sind vielmehr von 22% des Bruttoinlandsprodukts auf 8% gefallen. Es gibt nicht einmal eine Erneuerung von bestehenden Anlagen. Die Armut wächst in extremer Weise. Und kein Land kann so einen Prozeß durchmachen, ohne daß sich die sozialen Spannungen erhöhen.

LN: Ein weiteres Problem der Linken ist doch, daß sie gegenüber der – nennen wir sie einmal global – neolibe­ralen Politik der Regierung dem Volk eine Al­ternative, also auch ein anderes ökonomisches Projekt anbieten muß. Siehst du diesbezüglich Fortschritte? Was kann die Linke unter den aktuellen Gegeben­heiten des Weltmarkts anbieten?

H.T.: Nun, die aktuelle Situation ist schwierig, insbesondere wegen der hohen Aggressivität des Imperialismus unseren Ländern gegenüber und andererseits aufgrund des Zusammenbruchs des sozialistischen Lagers, was den Kampf um nationale Unabhängigkeit natürlich erschwert. Denn alle sich aus der Abhängig­keit lösenden Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika hatten doch eine gewisse Unterstützung aus dem sozialistischen Lager. Trotz all dieser Schwierig­keiten und obwohl wir glauben, daß die Lage recht schwierig ist, sind wir trotz­dem der Überzeugung, daß dies weder früher noch heute ein Hindernis darstellt, sich die nationale Unabhängigkeit zu erkämpfen. Aber, was ist nun die Lehre aus dieser Situation? Man muß erkennen, daß man ein Wurmfortsatz des Imperia­lismus ist, mit allen Folgen, die das mit sich bringt. Im konkreten Fall von Argentinien bedeutet dies eine Rückkehr zu kapitalistischen Formen, die zuletzt vor 60 Jahren geherrscht haben. So entspricht zum Beispiel die Investition in Argentinien heute dem Niveau von 1910, 1975 wurden 270 000 Autos in meinem Land produziert, in diesem Jahr werden es nur 70 000 sein. Natürlich werden dies luxuriöse Autos sein, für eine kleine Oberschicht, die sehr gut lebt. Das ist das Modell, das man uns auflädt und von dem sie sagen, es sei das einzig mögli­che in der aktuellen Weltlage…Ich denke jedoch, wir haben das Recht und die Pflicht, ein Modell zu entwickeln für ein Land mit nationaler Unabhängigkeit und Fortschritt. Mir scheint die erste Lehre zu sein, daß die Modelle nationale sein müssen. Jedes Land hat seine Geschichte, seine Realität, seine Probleme und es muß diese alleine lösen. Das heißt nicht, chauvinistisch zu sein und Hilfe von außen grundsätzlich abzulehnen, aber im wesentlichen muß jeder seiner Pro­bleme selbst angehen. In Argentinien sieht die Sache so aus. Wir haben Vor- und Nachteile. Unser Nachteil ist, daß wir ein starkes Land innerhalb Lateinamerikas sind und uns der Imperialismus daher nicht so leicht die nationale Unabhängig­keit lassen wird. Es wäre ein geopolitisches Risiko, ein potentiell rei­ches Land wie Argentinien mit 30 Millionen Einwohnern, einer industriellen Basis, qualifi­zierter Arbeiterschaft in die Unabhängigkeit zu entlassen. Für uns ist das also sehr schwierig…Aber wir haben auch Vorteile, um die nationale Unab­hängigkeit zu erkämpfen. Wir haben einigen Reichtum, wir sind nicht Nicaragua oder Kuba, kleine Länder… Also wir haben trotz der schwierigeren internationa­len Lage andere Möglichkeiten. Unser Ziel müßte nun sein, ein gerechtes Land zu werden, modern und mit Wohlstand. Wie erreichen wir das? In ökonomischer Hinsicht hat unser Land ein grundlegendes Problem: Das Kapital, das hier akkumuliert wird, verläßt das Land. Dazu kommt ein weiteres, nämlich daß es Produktions­sektoren in meinem Land gibt, die dominant sind, wie die Agrar- und Fleisch­produzenten, die eine niedrige Produktivität haben, da dies den Interessen der Großgrundbesitzer entspricht. Man muß also Maßnahmen ergrei­fen, die diese Formen des Privateigentums abschaffen, die die Situation herbeige­führt haben. Weiterhin muß man verhindern, daß sich eine kleine soziale Gruppe die Rente aneignet und sie außer Landes schafft. (…) Es sind nicht die großen internationa­len Gruppen, die dies tun, sondern die nationalen, die eine weit rückständigere Mentalität haben als die großen Kapitale in Brasilien. (…) Wir müssen also den Außenhandel verstaatlichen, die nationalen Banken verstaatli­chen und außerdem einen bedeutenden Teil der industriellen Produktion. Gleichzeitig müssen wir dies unter eine nationale Kontrolle stellen unter starker Beteiligung der Arbeiter in der Führung. Nun ist mein Land aber auch eines mit einer bedeutenden mitt­leren Unternehmerklasse. Wir haben mindestens 500 000 kleine und mittlere Handels- und Industrieunternehmen und 400 000 Agrarpro­duzenten. Diesen Teil der Ökonomie muß man als Privatunternehmen erhalten. Argentinien muß also eine gemischte Wirtschaftsordnung haben. Erstens weil aus politischen Gründen notwendig ist, diese mittleren Sektoren in den Kampf für ein anderes Argenti­nien zu integrieren. Wenn man also ankündigt, daß man ihnen den Privatbesitz wegnehmen wird, ist klar, daß man ihre Unterstützung nicht bekommen kann. Aber auch aus ökonomischen Gründen sind sie von Bedeutung, denn sie könnten gar nicht ersetzt werden. (…)

LN: Auf diesen Punkt wollte ich mich beziehen…Sagen wir die Wiege der argentinischen Industrieentwicklung liegt in den 30er und 40er Jahren, als der Peronismus begann durch Staatsunternehmen einen Industrialisie­rungsprozeß in Gang zu setzen. Aber, während man damals die weltwirtschaftliche Lage für sich nutzen und den Industrieaufbau durch den Export von Agrarproduk­ten auf den Weltmarkt finanzieren konnte, so sieht das heute ja anders aus.

H.T.: Richtig, aber dieser Prozeß hatte eine Schwäche. Man kam nicht vorwärts hinsichtlich der Bodenbesitzverhältnisse. Und als die Weltmarktbedingungen sich veränderten, war die Produktivität im Agrarbereich immer noch sehr nied­rig. Die peronistische Erfahrung hätte also einen kapitalistischen Entwicklungs­weg, wenn auch in Unabhängigkeit, weiterbeschreiten können, wenn die Frage des Bodenbesitzes gelöst worden wäre. Dann hätte man die Besitzverhältnisse ändern können, die Produktivität erhöhen und das weiter erwirtschaften können, was man in Argentinien die Differenzialrente nennt. (…) Auch wenn es Verände­rungen auf dem Weltmarkt gegeben hat, das hat nur begrenzte Bedeu­tung. Sogar das Modell, das gerade in Argentinien betrieben wird, stützt sich auf eine Exportpolitik. Das Problem ist für uns vielmehr, wie heben wir die Produk­tivität im Agrarsektor, damit wir diesen Investitionskreislauf erhalten können.(…)
Wir glauben, daß ein Argentinien notwendig ist, mit grundlegend demokrati­schen Strukturenen, die in der Verfassung festgeschrieben sind. Argentinien hat eine liberale Verfassung aus dem Jahre 53. Aber was passiert, ist, daß diese durch gesetzliche Entscheidungen in vielfältiger Weise eingeschränkt wird. Es gibt kein Referendum, kein Plebiszit, als gesetzliche Figur, d.h. die Regierenden konsultie­ren das Volk nicht, um es vorsichtig auszudrücken. Wir sind daher der Meinung, daß es notwendig ist, diese Mechanismen abzuschaffen und ein wirklich demo­kratisches, partizipatives Argentinien zu verwirklichen und außerdem ein plura­listisches. Wir sind nicht für das Einparteiensystem, generell und ganz besonders in Argentinien, denn dies ist ein Land mit einer stark differenzierten Klassen­struktur. Es ist irreal, anzunehmen, daß eine einzige Partei alle Interessen dieser Gesellschaft repräsentieren könne, allzumal in Argentinien, in einem Land, in dem man auf 100 Jahre politischer Geschichte zurückblicken kann.

LN: Kann man also in der argentinischen Linken einen Wandel feststellen, der in Zusammenhang steht mit dem Zusammenbruch des real-existierenden So­zialismus?

H.T.: Sieh mal, der Wandel im Osten ist kein Thema, das im Mittelpunkt der lin­ken Debatte steht. Wir sind davon so weit entfernt und unser konkretes Problem ist der Kapitalismus, mit dem wir täglich leben müssen. Generell ist dies das Zentrum der Debatten, nicht ohne sich darüber im klaren zu sein, daß diese Pro­zesse im Osten von großer Bedeutung sind. Nicht zuletzt, weil die Rechte per­manent Kapital daraus schlägt. Eines der bedeutendsten Schlachtrösslein Men­ems ist zu sagen: Aber warum wollt ihr denn dahin gehen, was die Völker im Osten gerade hinter sich lassen. (…) In Argentinien gab es jedoch nie politische Prozesse von größerer Bedeutung unter der Flagge des Sozialismus. Die sozialen Auseinandersetzungen verliefen vielmehr immer zwischen der Oligarchie und ihrem externen Alliierten und der Flagge der Verteidigung der Nation.(…) Der Zusammenbruch des Sozialismus ist insofern kein Diskussionsthema in der Bevölkerung. Innerhalb der Parteien gibt es eine Debatte. Sehr stark in der kom­munistischen Partei, aber selbst da scheint mir die Diskussion doch mehr durch die Lage im Lande motiviert zu sein, als durch die internationalen Vorgänge, wenn sich das auch vermischt. Tatsächlich ist deren Problem, daß sie Schwierig­keiten im Land haben, denn sie haben in ihrer Geschichte schwere politische Fehler begangen. Um die interne Einheit zu erhalten, hatten sie Moskau immer als das große Ziel definiert: sozusagen, hier sind wir zwar klein, aber in der Sowjetunion sind wir an der Macht. Nun ist dies zusammengebrochen und sie stehen vor einem Scherbenhaufen. Die Partei hat sich weiter verkleinert. Sie ist jetzt 10 mal kleiner als vorher, glaube ich, und in sich gespalten. Die andere Kraft, in der es eine diesbezügliche Debatte gibt, ist das MAS. (das trotzkistische “Movimiento al Socialismo”). Sie haben einen strategischen Vorteil gegenüber der kommunistischen Partei. Sie sind Trotzkisten und sagten den Zusammenbruch dieses Sozialismus immer voraus. Nun fühlen sie sich bestätigt. Die Debatte aber hat als Ursache, daß man die Vorgänge interpretierte als eine Auseinanderset­zung zwischen den Arbeitern und der stalinistischen Bürokratie. Zum Teil mag das so gewesen sein. Aber inzwischen haben diese Prozesse eben nicht wie in der Erwartung mehr Sozialismus und Demokratie zum Ziel, sondern die Rückkehr des Kapitalismus. Sie bekommen nun also Schwierigkeiten bei der Interpretation der Prozesse. Zum Beispiel hieß früher ihre Parteizeitung “Solidaridad”. Inzwi­schen haben sie das geändert.(…) Hier gibt es also eine gewisse Debatte. Aber das sind politische Kräfte mit starken Beziehungen nach außen. Darüber hinaus geht die Diskussion nicht.(…)

LN: Ich habe eine gewisse Hoffnung aus deinen Worten herausgehört. Worauf stützen sich deine Hoffnungen? Kommt nur politische Unzufriedenheit zum Ausdruck oder gibt es Veränderungen in den Organisationsstrukturen der Gewerkschaften und sozialen Bewegungen und wachsen­des politisches Bewußtsein?

H.T.: Es gibt natürlich eine wachsende Unzufriedenheit und Unmut in der Bevölkerung. Das ist schon ein Fortschritt, denn immerhin handelt es sich um eine peronistische Regierung. Der generelle Konsens ist also nicht mehr so leicht herzustellen. Es bleiben der Regierung natürlich weitere Werkzeuge, wie die Repression, aber den Konsens kann sie so leicht schon nicht mehr herstellen. Ein Fortschritt ist das, aber das reicht natürlich nicht aus. Immerhin sollte man nicht vergessen, daß sich Unzufriedenheit auch auf der Rechten Ausdruck verschaffen kann. Die Unzufriedenheit hat sich jedoch in bestimmten Sektoren bereits zu einer regelrechten Konfrontation entwickelt. In erster Linie bei den Arbeitern, genau genommen bei den Staatsangestellten. Zum Tragen kommt diese Kon­frontation in den Gewerkschaften, in diesem Falle in denen der Staatsangestell­ten. Außerdem gibt es Organisationen kleineren Ausmaßes in den Wohnvierteln. Das hat sein Höhen und Tiefen. Manchmal organisieren sich die Leute, aber genauso schnell fällt die Organisation wieder auseinander. Sie können eine kräf­tige Mobilisierung erreichen, wie zum Beispiel wie vor ca. 20 Tagen in der Pro­vinz Chubut…Solche Prozesse werden sich häufen, gerade in den Provinzen, wo das Regierungsprojekt besonders starken ökonomischen Druck hervorruft.(…) Außerdem gibt es jedoch ein Wachstum der Linken hinsichtlich ihrer politischen Repräsentation. So gab es eine große Demonstration der Linken am ersten Mai auf der Plaza de Mayo, zu der 100 000 Menschen kamen. Wir nehmen diesen Wachstumsprozeß der Linken durchaus wahr. Bisher noch vor dem Hintergrund der Unzufriedenheit der Menschen mit der aktuellen Politik. Noch haben wir keine politische Plattform gefunden, die attraktiver wäre, als die, die wir bisher anbieten.(…)

LN: Heißt das Ziel auf mittlere Sicht also, eine verei­nigte, linke politische Kraft im Lande zu etablieren? Ist da der Name Izquierda Unida schon Teil des Pro­jekts?

H.T.: Ich weiß nicht, ob der Name dem entspricht, was sie (die IU) tatsächlich repräsentiert. Denn in meinem Land ist dieser Name nur mit Einschränkungen zu verwenden. Er hat dazu gedient, einen Teil der Linken unter einem Dach zu vereinen. Aber das eigentliche Ziel muß sein, mehr unter einem Dach zusam­menzubekommen.

LN: Ich wollte mich weniger auf das bestehende Wahl­bündnis beziehen als vielmehr auf eine breitere linke Kraft. Könnte zum Beispiel die Frente Amplio in Uruguay in bestimmter Weise ein Modell sein?

H.T.: Das könnte ein Modell sein. Aber man muß berücksichtigen, daß in meinem Land die Krise sehr zugespitzt ist. Wenn man also einen signifikanten Teil der Gesellschaft, der von dieser Krise betroffen ist, ansprechen will, muß man eine starke Oppositionspolitik machen. Es wird zu einer weiteren Einschränkung der politische Freiheiten kommen, denn anders wird die herrschende Klasse die Situation nicht kontrollieren können.(…) Die Demokratie wird lediglich als for­male Schale übrigbleiben. Und es ist wichtig im Ausland daraufhinzuweisen, wo man zwar sieht, daß die ökonomische Lage des Landes schwierig ist, man aber davon ausgeht, daß Demokratie herrscht. Darüberhinaus sind wir davon über­zeugt, daß sich der imperialistische Druck in den 90er Jahren noch erhöhen wird. Dabei waren die 80er Jahre schon schlimm. (…) Die Herausforderung ist, eine neue Linke in Argentinien zu etablieren. Wir sind optimistisch, wenn auch bescheiden und vorsichtig.

BOMBEN FÜR DIE YANOMAMI

Die Professorin Maria Helena Medina aus Venezuela schätzt die Zahl der illegal eingedrungenen “garimpeiros” aus Brasilien bereits auf etwa 50.000 (!). Versorgt werden sie nach ihren Angaben überwie­gend per Flugzeug aus Brasilien. Indios der Region hätten aller­dings erklärt, daß bereits vor einigen Jahren die ersten brasilia­nischen Goldsucher in ihrem Gebiet aufgetaucht seien.
Mehr noch als um die Yanomami fürchtet Venezuela angesichts der niedrigen Bevölkerungsdichte und der geringen Präsenz des Staates im südlichen Bundesland Amazonien um seine nationale Integrität. Die Invasion der Goldgräber wird als Teil einer expansiven Amazo­nas-Politik Brasiliens interpretiert, die zu “ernsten diplomati­schen Problemen” führen kann.
So ist es Präsident Collor unter Mitwirkung von Umweltstaatssekre­tär José Lutzenberger gelungen, das Problem der illegalen Goldsu­cher auf das Yanomami-Gebiet Venezuelas auszudehnen, ohne es für Brasilien zu lösen. Dies hätte nämlich bedeutet, Alternativen zu finden; für die Goldsucher einerseits und für einen dauerhaften Schutz des Yanomami-Landes andererseits. So steht beispielsweise die rechtlich einwandfreie Festlegung des Yanomami-Gebietes durch den Staat noch immer aus.
Die in die Slums von Boa Vista geflüchteten Goldsucher zumindest werden zurückkehren und die Flugpisten instandsetzen, sobald die Öffentlichkeit ihre Augen abwendet und das Militär seine spektaku­lären Bombardements einstellt. Um das Überleben der Yanomami zu sichern, von denen seit der Invasion der “garimpeiros” vor 2 Jah­ren über 10% (!) an eingeschleppten Krankheiten und Hunger gestor­ben sind, müssen strukturelle Lösungen durchgesetzt werden. Daß der Völkermord an den Yanomami mit Militär-Aktionen à la Rambo nicht zu stoppen ist, müßte Umweltschützer Lutzenberger eigentlich klar sein.

Ökologie in Unordnung

“Die Entwicklungsprojekte der letzten 25 Jahre für Amazonien sind durchweg gescheitert”, darin herrschte weitgehende Einigkeit unter den RednerInnen und Zuhöre­rInnen. Tatsächlich ein “gemeinsames Nachdenken über Entwicklungsalternativen für Amazonien” in Gang zu bringen, wie es die 5-tägige, unter anderem von der UNESCO, der Orga­nisation Amerikanischer Staaten (OAS) und der US-amerikanischen FORD-Stiftung unterstützte Tagung als Ziel formuliert hatte, erwies sich in der Folge jedoch als ein schwieriges Unterfangen.
Bei den Podiumsdiskussionen, die Politiker und WissenschaftlerIn­nen, Holzexporteure und IndianerInnen zusammenbringen sollten, kam eine echte Debatte nur ansatzweise zustande. Die einzelnen Statements waren von sehr unter­schiedlicher Qualität, nur selten aufeinander bezogen, und auch viele interessante Beiträge endeten eben an dem Punkt, wo eine Diskussion über Entwicklungs­alternativen hätte beginnen müssen. So etwa die bedenkenswerte Überlegung des Vertreters des anthropologischen Museums von Belém: Wenn jetzt viele im Norden so gerne davon reden, “von den Indianern zu lernen”, wie sieht es dann eigentlich mit den “intellectual property rights”, den Rechten der intellektuellen Urheberschaft und des geistigen Eigentums aus? Sicherlich ist dies eine Vorstel­lung, die der internationalen Pharmaindustrie mit ihren großen Interessen an pflanzlichen Wirkstoffen aus Amazonien wenig gefallen wird.

Sammelreserven und CO2-Lager

Ein anderer Ansatzpunkt, der ein positives Echo fand, waren die “Sammelreserven”, wie sie beispielsweise auf Druck der Kautschukzapfer in dem brasilia­nischen Bundesstaat Acre einge­richtet wurden. Diese Schutz­gebiete, in denen die Nutzung des tropischen Regenwalds nicht in seiner Vernichtung besteht, bringen auch fast in jedem Falle mehr ökonomischen Gewinn als die extensiven Viehweiden auf gerodetem Urwaldland, wie der nordamerikanische Anthropologe Emilio Moran erläuterte. Und durch den gezielteren Einsatz forstwirtschaftlicher Methoden wäre in diesem Bereich noch eine beträchtliche Ertragssteigerung zu erzielen.
Die besonders von Umweltgruppen aus den USA propagierten sogenannten “Debt-for-nature-swaps” (Auslandsschulden-gegen-Natur-Tausch) wurden auf der Konferenz in Belém als “Mittel der entwickelten Länder, Kontrolle über Gebiete in unter­entwickelten Ländern zu erlangen” abgelehnt. Der katalanische Ökonom Martinez Allier jedoch riet der Umweltbewegung Brasiliens, diese Idee aufzu­nehmen und im Gegenzug aber einen gerechten Preis einzufordern: Wenn die Bedeutung des Amazonas-Waldes für die Lagerung von Kohlen­stoff und für das Weltklima einberechnet wird, müßten die Hauptproduzentenländer von Kohlendioxid alljährlich Zahlun­gen in Millionenhöhe an Brasilien leisten…
Ausgehend von der Erkenntnis, daß Amazonien nicht als ein homogenes Ökosystem betrachtet werden darf, sondern die Besonderheiten der einzelnen Regionen beachtet werden müsseen, wurde die Forderung nach einer “ökologischen und ökonomischen “Zoneneinteilung” (zoneamento) erhoben. Nur durch eine derartige Unterteilung des riesigen Amazonasgebietes ließen sich sinnvolle Aussagen über die unterschiedlichen ökologisch verträglichen Nutzungsmöglichkeiten einzelner Regionen treffen, machte der Geograph Aziz Ab’Saber von der Universität Sao Paulo deutlich.

Lutzenberger als Collors Alibi

Nur am Rande kam bei der Amazonas-Konferenz die Sprache auch auf die Politik der Regierung in Brasilia. Der erst im März gewählte Präsident Collor hatte mit der Ernennung des international bekannten Umwelt­experten José Lutzenberger zum Staatssekretär für Umweltschutz einen Überraschungscoup in Sachen Öko-Image gelandet. Dennoch setze Collors Politik das von der Militärdiktatur implantierte Konzept der Inbesitznahme Amazoniens unverändert fort, kritisierte Fabio Feldman, Abgeordneter der bei den Wahlen im März unterlegenen PT (Arbeiterpartei). Über das “Ministerium für strategische Angelegenheiten” hat das Militär auch heute noch entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung Amazoniens. Und José Lutzenberger – der zu der Konferenz in Belém eingeladen, aber nicht erschienen war – habe für Collor lediglich die Funktion, durch Auftritte auf internationalen Kongressen die Kritik des Auslands zu neutrali­sieren.
Konkrete Ergebnisse konnte das Treffen über die “ökologische Unordnung in Amazonien” keine vorweisen. Die unvermeidliche Schlußresolution faßte in “22 Empfehlungen” so richtiges wie altbekanntes zusammen, von der Forderung nach einem Stopp für Großprojekte und neue Ansiedlun­gen im Amazonasgebiet über die Eindämmung der Landspekulation bis hin zur Kontrolle der Gold­sucher und dem effektiveren Schutz der Indianer- und Natur­schutzgebiete. Befriedigende Antworten, wie all dies denn erreicht werden könne, blieben jedoch aus; die Schlußresolution wird so erst einmal der Planungs­kommission für den nächsten Kongreß zum Thema übergeben, der im Juni 1992 in Rio de Janeiro stattfindenden UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung…

Interview mit Fernández Huidobro: Tupamaros (MLN)

LN: Die Partido Nacional (Blancos) stellt seit März 1990zum drittenmal in diesem Jahrhundert den Präsidenten der Republik. Wie schätzt ihr die Politik der neuen Regierung und die des Präsidenten Lacalles ein ?

Es ist eine Regierung, die die Interessen der Banken repräsentiert, in erster Linie den Finanzsektor. Darüberhinaus ist sie eng mit dem Ausland verbunden, mit den großen internationalen Banken. Es ist eine Regierung, die jetzt schon fast keine politische Unterstützung mehr erhält: Das “Ley de Lemas” unseres Landes (das Wahlgesetz Uruguays, s. LN 186) ermöglicht durch Stimmenakkumulation das Regieren einer Minderheit. Dazu brauchten die Blancos die Stimmen anderer politischer Sektoren, die jedoch in ihren Wahlkampagnen genau entgegengesetzte Programme vertreten haben. Später ergeben sich dann Situationen wie die heutige: Um zu regieren, muß man Wunder vollbringen, da die notwendige politische Unterstützung schwindet.

LN: Gibt es bedeutende Unterschiede in der Wirtschaftspolitik zu der von der 1985-1990 regierenden Colorado-Partei?

Vielleicht mehr Brutalität und Unfähigkeit aufgrund des Fehlens guter Wirtschaftsberater. Die Colorado-Partei -mal abgesehen davon, daß wir große, enorme Diskrepanzen mit ihnen haben -hatte gute Wirtschaftsberater und sie besaß die technischen Mittel, um ihre “Wirtschaftsrezepte” umzusetzen und effizient zu sein. Die Blancos sind grobschlächtiger und ineffizienter. Sie kündigten in ihrem Wahlkampf den Leuten an, daß sie die “harten Rezepte” anwenden würden, versprachen aber damit, die Probleme des Landes zu lösen. Das, was zu erwarten war, ist nun eingetreten: Heute beginnen die Leute zu verstehen, daß diese Rezepte nur eine Neuauflage, allerdings eine noch härtere, der vorangegangenen Politik der Colorados sind. Der Zusammenbruch der Regime in Osteuropa und der Skeptizismus in wichtigen Teilen der uruguayischen Linken machte es möglich, daß die herrschende Klasse merkte, daß der Moment für sie gekommen ist, uns die bittersten “Heilmittel” zu verschreiben. Das ist für sie günstige Moment, den sie nicht verstreichen lassen dürfen, denn übermorgen, wenn die Reihen der Linken wieder fester geschlossen sind, wird es wieder Schwieriger für sie. Deshalb haben sie es so eilig und wollen in nur wenigen Monaten machen, was sie viele Jahre lang versäumt haben und selbst mit der Diktatur nicht geschafft haben.

LN: Sechs Monate nach dem Amtsantritt des Präsidenten Lacalle scheint seine Allianz mit den.Colorados in einer schweren Krise zu stecken. Wie wird sich die “Nationale Übereinkunft” zwischen den beiden traditionellen Parteien in Zukunft darstellen?

Wir dachten, das vor dem Amtsantritt vom Präsidenten so mühsam zusammen-gezimmerte System der politischen Unterstützung würde nicht so schnell auseinanderfallen. Das gesamte uruguayische System ist aufgrund der Wahlergebnisse in der Krise. Das alte Zweiparteiensystem, für das ja eigens das Wahlgesetz gemacht wurde, ist endgültig am Ende. Heute existieren in Uruguay vier wichtige politische Kräfte. Dies führt dazu, daß die Verfassung die für ein Land mit zwei Parteien gemacht wurde, ihren Sinn verliert. Es wird nötig sein, diese Verfassung zu ändern, wofür schon heute politisch mobilisiert wird. Dann werden wir es mit einem Vorschlag der Ultrarechten zu tun haben, die das Regieren von Minderheiten festschreiben will und mit einem Vorschlag, sagen wir einem Volksprojekt, das breite Teile der Bevölkerung -nicht nur der Linken vereinen wird.

LN: In der Hauptstadt Montevideo regiert seit den Wahlen das Bündnis der Linken, die “Frente Amplio”, während die Politik der Zentralregierung des Landes von den traditionellen Parteien gemacht wird.

Tja, das ist ein weiterer Ausdruck der politischen Krise des Systems. Wir haben eine total paradoxe Situation. Da ist einmal die Stadt Montevideo, in der mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt und dann der Rest des Landes, in dem extensive Viehwirtschaft betrieben wird und das praktisch entvölkert ist. Die “Frente Amplio” stellt die Stadtverwaltung für mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Es handelt sich also nicht um irgendeine Stadt. Der Widerspruch zwischen einer ultrarechten Nationalregierung, die mit ihren schmerzhaften “Rezepten” gerade die ärmste Bevölkerungsschicht trifft, die Arbeiterklasse etc. und auf der anderen Seite eine Linksregierung auf kommunaler Ebene. Das kann auf Dauer nicht mehr so weitergehen.

LN: Hat der Zusammenbruch des sog. “real existierenden Sozialismus”in Osteuropa direkte Auswirkungen auf die uruguayische Linke?

Besonders auf die Kommunistische Partei. Sie war immer sehr pro-sowjetisch und pro-stalinistisch, Nicht ganz so auf den Rest der Linken, der eigentlich immer eine sehr kritische Einstellung hatte und deshalb von den Umbrüchen nicht . so tief erschüttert wurde. Aber die KP war immer sehr wichtig innerhalb der uruguayischen Linken -bei der letzten Wahl hatte ihr Wahlbündnis mehr als die Hälfte der Stimmen der “Frente Amplio”. So gesehen führt die Krise der KP schon zu einem schweren Schaden für die Linke des Landes. Die KP hat bis heute noch nicht ihren historischen 22.Kongreß durchgeführt (mittlerweile doch, der tipógrafo) und man weiß noch nicht wie sie ihre Kräfte wieder sammeln wird.

LN: Anscheinend hatte die Wahlniederlage der FSLN in Nicaragua größere
Folgen für die MLN-Tupamaros als der Zusammenbruch der osteuropäischen Kommunistischen Parteien.

Ja, viel mehr. Das war ein schmerzhafter Schlag für uns.Wir fühlten es wie eine eigene Niederlage. Die Krise in den osteuropäischen Ländern macht uns hingegen keine so großen Sorgen. Dort nehmen wir nicht an unseren eigenen Begräbnissen teil. Das sind die Beerdigungen von anderen.

LN: Dennoch ist doch auch in Uruguay ein unübersehbarer Tiefpunkt in der Begeisterungs- und Mobilisierungsfähigkeit der Linken zu spüren.

Das hat viele Gründe. An erster Stelle steht die Wirtschaftskrise. Damit die Leute heute überleben können, brauchen sie zwei oder drei Arbeitsplätze. Das kostet viel Zeit. Außerdem ist es nicht immer richtig zu sagen ‘je mehr Krise, desto mehr politische Mobilisierung”. Ein weiterer Grund sind die Fehler, die die Führungen der Linken gemacht haben: Der Fehler die Menschen nicht an wichtigen Entscheidungen teilnehmen zu lassen und nicht zur Konfrontation zu schreiten, um ein klares Oppositionsprofil zu gewinnen. Das Vertrauen in die “Nationale Übereinkunft” am Ende der Diktatur war zu groß. Wir sind da in eine Falle geraten, die uns die Bourgoisie gestellt hat. Und obwohl zwar die Kommunistische Partei am stärksten betroffen ist, dürfen wir nicht ignorieren, daß auch andere von der ideologischen Krise betroffen sind.

LN: Die MLN hat sich zwei Jahre lang vergeblich um die Aufnahme in die “Frente Amplio” bemüht. Erst letztes Jahr habt ihr mit anderen Gruppen zusammen das “Movimiento de Participación Popular (MPP)” gegründet und wurdet von der Frente aufgenommen. Ihr habt bei den Wahlen teilgenommen, ohne daß Tupamaros/as kandidierten. Führt das nicht zu internen Widersprüchen bei der MLN?

Nein, es führte zu Widersprüchen im MPP. Die MLN hatte sich entschlossen keine eigenen Kandidaten aufzustellen und weigerte sich deshalb auf Listen der MPP eigene, wichtige Leute zu setzen. Diese Entscheidung hatte möglicherweise , ihren Preis bei den Wahlen. (Das Wahlbündnis von Tupamaros, Unabhängigen, revolutionären Gruppen und Trotzkisten (MPP) bekam mit rund 50.000 Stimmen 5%der Gesamtstimmen.r.g) Wir hatten eine Resolution des Zentralkomitees, die noch aus der Zeit vor der Gründung des MPP stammt und darüberhinaus glaubten und glauben wir, mit unserer Entscheidung die Einheit des MPP zu stärken.

LN: Wirst du bei den nächsten Wahlen kandidieren?

Bis dahin ist noch viel Zeit. Ich glaube, die Resolution bleibt gültig. Eine eigene Kandidatur würde mir persönlich nicht gefallen, ich glaube für diese Arbeit nicht berufen zu sein. Ich will aber keineswegs die parlamentarische Arbeit abwerten. Im Gegenteil, ich bewundere die GenossInnen die dort ihre Arbeit machen. Es ist eine sehr aufopferungsvolle und harte Arbeit.

LN: Wenn wir uns das lateinamerikanische Panorama anschauen, so sehen wir, wie ehemals bewaffnete Organisationen wie die M-19,die FSLN und auch die MLN gegenwärtig auf den Weg der Legalität setzen und an Wahlen teilnehmen.

Ja, uns blieb nichts anderes übrig. Wir waren von all’ den Organisationen, auf die du dich beziehst, die erste. Als die Diktatur 1985 zu Ende ging und fast alle unsere Genossinnen aus dem Exil zurückkamen und die Überlebenden die Knäste verließen, war das Land in einer Situation, in der das Volk auf dem Vormarsch gegen den Faschismus war und nicht umgekehrt. Die Geschichte bestätigte die kluge und einheitliche Entscheidung der MLN, im Rahmen der Legalität zu arbeiten. Eine Sache, die wir bis jetzt erfolgreich machen und dabei neue Kräfte sammeln. Für uns ist das keine Frage von Prinzipien, sondern es ist eine Frage der politischen Analyse. Genausowenig war für uns die Frage des bewaffneten Kampfes eine Prinzipienfrage.

LN: Wie beurteilt ihr den von der brasilianischen Arbeiterpartei (PT)im Juli durchgeführten Kongreß der lateinamerikanischen Linken?
Der Kongreß hat eine große Zahl lateinamerikanischer Organisationen, praktisch alle linken Gruppen, zusammengeführt. Es war ein überaus wichtiger erster Schritt, den glaube ich nur eine Partei wie die PT machen konnte.,

LN: Kann die PT mit ihrer Politik, besonders der Gewerkschaftspolitik, ein Beispiel für die Tupamaros sein?

Wir haben sehr viel von den außergewöhnlichen Erfahrungen der gelernt. Brasilien war in seinen revolutionären Bemühungen in den letzten Jahren immer zurückgeworfen worden und plötzlich taucht aus seinem Innersten ein so interessantes Phänomen auf wie die PT. Aber einiges lernt die PT auch von uns…

LN. Im Juli hat die MLN ihre 5.Konvention durchgeführt. Warst Du mit dem
Verlauf und den Ergebnissen zufrieden?

Nein, überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. Ich persönlich glaube, das war die schlechteste Konvention, die wir Tupamaros je gemacht haben. Die Diskussionen waren schlecht vorbereitet. Die besten und wichtigsten Themen kamen überhaupt nicht zur Sprache. In der nächsten, der 6.Konvention, werden wir alles Nötige diskutieren.

LN:Angesichts der Wirtschaftspolitik der Regierung hast du öffentlich erklärt, es käme darauf an “jetzt den Kampf zu organisieren”. Der Präsident und die Presse hat das als Provokation aufgefasst. Hat das auch die Linke erschreckt?

Nein, bisher noch nicht. Nachdem diese Parole des MPP ausgegeben wurde, hat die “Frente Amplio” in den letzten Tagen ein paar Schritte unternommen, die eher auf Akzeptanz herauslaufen. Das Problem ist, daß die Bedingungen gegeben sind. Die Volksproteste und die Misere sind offenkundig. Wenn die Linke nicht den Kampf organisiert, dann wird er sich von selbst organisieren …

Das Bankgeheimnis: Spülgang bei der Geldwäsche

Das Rätsel war zumindest für diejenigen ein leicht zu durchschauendes, die seit dem 4.10.1979 von einem Dekret profitieren (also aus der Zeit der Diktatur und noch immer gültig), das die völlige Freiheit bei Einfuhr, Ausfuhr und beim Han­del mit Gold, Silber, Platin und anderen Edelmetallen auf uruguayischem Terri­torium garantiert.
Die geltenden Vorschriften – erlassen mit dem Ziel “Uruguay als internationalen Finanzplatz einzuweihen”, so der damalige Präsident Aparicio Méndez – erlau­ben den Handel mit Edelmetallen, ohne daß irgendeine Anmeldung oder be­hördliche Genehmigung einzuholen ist. Darüberhinaus dürfen diese Geschäfte unversteuert abgewickelt werden.
Die uruguayische Zentralbank wußte wahrscheinlich nicht einmal, was der Rech­nungshof der USA aufdeckte: Die Differenz von mehr als 400 Mio. US-Dol­lar aus der Handelsbilanz mit Uruguay entspricht genau dem Wert von 35 Ton­nen Gold, die die USA aus Uruguay importieren.
Auf diese wundersame Art und Weise verwandelte sich das kleine Land im Süd­kegel Lateinamerikas in den zweit­größten Rohstofflieferanten für den US-ameri­kanischen Juweliermarkt, mit jährlich mehreren hundert Tonnen Gold. Kleine Bemerkung am Rande: In Uruguay wird nicht eine Unze Gold produ­ziert…

Der Bruder des argentinischen Präsidenten: Feste dabei!

Die Koffer des argentinischen Senators und Präsidenten der regierenden “Gerechtigkeitspartei” (Peronisten), Eduardo Menem, wurden im Zoll des Flug­hafens von Punta del Este an jenem heißen Tag im Februar 1990 nicht einen Spalt breit geöffnet. In den Sommermonaten kommen schließlich zigtausende wohlha­bender Sommerurlauber aus Argentinien, Brasilien und Paraguay in den uru­guayischen Luxusbadeort. Der Mann, der Menem am Flughafen erwartete, fuhr ihn direkt zu der Filiale der uruguayischen Bank “Pan de Azucar”. Diesmal zahlte er nur 214.500 US-Dollar ein. Zehn Monate später waren auf dem Konto, das auf
den Namen des Bruders des argentinischen Präsidenten, den seiner Frau und auf den des Präsidenten der Bankaufsichtsbehörde eingetragen ist, rund 2 Mio. US-Dollar deponiert.
Wenige Tage vor seinem oben geschilderten Besuch in Uruguay stimmte Menem in seiner Funktion als argentinischer Senator für ein Gesetz, das die bisher gel­tende unzureichende Auskunftspflicht gegenüber dem argentinischen Finanzamt bei Transaktionen abschaffte und die Notwendigkeit eines härteren Vorgehens ge­gen die Kapitalflucht aus Argen­tinien forderte…
Der Skandal, der – wie vorauszusehen war – keine politisachen und juristischen Konsequenzen nach sich zog, bestätigte noch einmal, was seit dem 17.12.1982 (ebenfalls während der Diktatur in Uruguay) Gesetz wurde und bis heute gültig ist: Uruguay hat das weltweit sicherste und rigideste Bankgeheimnis.
Der größte Teil der 4 Mrd. US-Dollar, die Ausländer in uru­guayischen Banken deponierten, stammen aus Argentinien. Bis Ende 1989 wur­den rund 2,8 Mrd. US-Dollar den argentinischen Steuerbehörden hinter­zogen und in Uruguay einge­zahlt. Sie stellen einen erheblichen Teil der argenti­nischen Kapitalflucht dar oder stam­men aus anderen illegalen Finanzopera­tionen.
Die absolute Freiheit der Ein- und Ausfuhr von Edelmetallen und das Bankge­heimnis machen Uruguay für Steuerflüchtlinge und für diejenigen, die mit ihren Geschäften in die Hölle gehören, zum Paradies: Für die Geldwäscher der Dro­genhändler ebenso wie für jene, die ihren enormen Reichtum mit dem Elend der lateinamerikanischen Völker verdienen.
Es besteht auch keinerlei Gefahr, daß die uruguayischen Neoliberalen abschaffen, was für sie Prinzip ist: Der uruguayische Präsident Luis Alberto Lacalle hat öf­fentlich erklärt, daß die Verträge, die er mit Präsident Bush im November in Montevideo im Rahmen des “Anti-Drogenkampfes” unterzeichnen wird, “in kei­ner Weise das Bankgeheimnis verletzen werden”.

Geld stinkt nicht, wird aber trotzdem gewaschen

Die uruguayischen Banken (von denen alle bis auf die Staatsbank in aus­ländischem Besitz sind) haben auch keine Probleme mit dem Geruchssinn. Ebenso wie sie die illegale Herkunft der Mrd. US-Dollar akzeptieren, ist es kein Problem für sie, wenn mit brasilianischem Gold beladene LKWs die Grenze pas­sieren. Für die Banken ist dieses Gold, befindet es sich ersteinmal auf urugayi­schem Boden, keine Schmuggelware mehr.
Die Geldwäsche und der Goldschmuggel funktionieren nach einem einfachen Prinzip. Illegal aus den Nachbarstaaten ausgeführt, “verwandelt” sich die Ware, ohne jegliche staatliche Reglementierung, in einen Bestandteil des urugayischen Finanzsystems. Wird die Ware dann wieder über den Hafen und Flughafen Mon­tevideos ausgeführt, gilt Uruguay als ihr Herkunftsland. Auf diese Weise “gewaschen”, wird aus “grauer Ware” (Gelder aus Kapitalflucht und Steuerhin­terziehung) und aus “heißer Ware” (Drogendollars) wohlriechende “gewaschen Ware”. Diese kann dann unbehelligt in ihr Herkunftsland zurückkehren oder, wie in der Mehrzahl der Fälle, auf europäischen Konten deponiert werden. Bei der Durchreise in Uruguay bleibt nur ein Bruchteil der gewaschenen Dollars in Form von Zinsen oder Kommissionsgebühren hängen.
Doch selbst diese “Gewinne” bleiben wiederum in Händen der ausländischen Banken mit Sitz in Montevideo. In Uruguay selbst bleibt so nicht ein einziger Peso.
In dem Fall der Organisation “La Mina”, die von der US-amerikanischen Anti-Dro­genbehörde DEA (Drug Enforcement Agency) und der Steuerbehörde IRS (Internal Revenue Service) aufgedeckt wurde, benutzte die Gruppe Montevideo als Ersatz für Panama, als nach den US-amerikanischen Aktionen gegen Noriega die Benutzung dieses Finanzplatzes zu gefährlich wurde.
Die Wechselstube “Cambio Italia” – die noch immer völlig unbehelligt in Monte­video arbeitet – erhielt Geldüberweisungen für angebliche Geldankäufe in Uru­guay. Diese Geld wurde wieder auf Konten des kolumbianischen Medellín-Kar­tells in Luxemburg und in der Schweiz transferiert. Später konnte nachgewiesen werden, daß einige der “Goldladungen” nichts anderes enthielten als in Gold ge­badetes Blei. Bei der Ankunft des “Goldes” in den USA wurden ordnungs­gemäß Zoll und Steuern bezahlt und die Formalitäten erledigt. Das “Edelmetall” ermög­lichte so die Ausfuhr von Millionen Dollar aus den USA und ihre sichere An­kunft via Montevideo bei den Herren der Droge in Europa.
Ein anderes Mal wurde echtes Gold von nordamerikanischen Juwelieren, die für “La Mina” arbeiteten, an- und verkauft. Das gleiche Gold zirkulierte in An- und Verkaufsoperationen innerhalb der USA und rechtfertigte so die Transaktionen riesiger Geld­summen, die später zum neuralgischen Punkt der Organisation über­wiesen wurden: dem “Cambio Italia” in Montevideo.
Ein Uruguayer, Sergio Hochmann (er wurde im Februar 1989 in Los Angeles fest­genommen), war innerhalb der Organisation für die Übergabe und Zählung des Geldes in New York verantwortlich. Später wurde das Geld verpackt und in ge­panzerten Fahrzeugen von ‘Brink’s’und ‘Loomis’nach Los Angeles gebracht, wo die armenischen Schmuckhändler Koyomejian, Tankazyan, Tokaltian und Ando­nian Gold für ihre “Juwelierläden” kauften. So wurde das gleiche Gold mehrmals hin- und herverkauft. Die nun endgültig gewaschenen Dollars wurden nach Uru­guay zurücküberwiesen, wo Ruben Presarli von “Cambio Italia” nach einem nur ihm bekannten Verteilersystem das Geld an die einzelnen Drogenbarone weiter­überwies.
Der Argentinier Raul Vivas hatte dieses System aufgebaut und reiste zwischen New York, Los Angeles, Panama und Montevideo hin und her und hielt so das Unternehmen am Laufen. Er hatte den direkten Kontakt zu dem Kolumbianer Eduardo Martinez, bekannt als “Wirtschaftsminister” des Medellín-Kartells. Mar­tinez wurde von US-amerikanischen Scheinagenten in einem Hotel von Aruba (Antillen) 1989 gefilmt, als er sich mit einer von DEA-Agenten unterwanderten Organisation traf, die ihm günstigere Bedingungen für die Abwicklung der Geld­wäsche als “La Mina” anbot.
Einzelheiten dieses Gesprächs sind in dem Buch von Blixen nachzulesen, wo dann auch deutlich wird, wie das uruguayische Finanzsystem und das Bankge­heimnis den Interessen der Drogenmafia entgegenkommt. Martinez wurde im September 1989 in Kolumbien festgenommen und an die USA ausgeliefert. Wie es das Schicklsal dann doch mal ab und zu will, war es dann auch genau jener Flughafen von Punta del Este, auf dem die Koffer der wohlhabenden argentini­schen Urlau­ber nicht geöffnet werden, von dem aus Raul Vivas nach seiner Ver­haftung im Fe­bruar 1989 an die USA ausgeliefert wurde.

Aus Prinzip oder des Geldes wegen

Der Journalist Samuel Blixen entwickelt die Theorie, daß der Kampf der USA ge­gen die Drogen viel mehr darauf ausgerichtet ist, die ungeheure Kapitalflucht aus den USA, die die Geldwäsche mit sich bringt, einzudämmen, als tatsächlich mit dem Konsum und dem Handel Schluß zu machen.
Den Umfang dieser Kapitalflucht kann man ungefähr abschätzen, wenn man sich klar macht, daß von den 300 Mrd. US-Dollar Umsatz aus dem weltweiten Dro­genhandel rund 110 Mrd. US-Dollar aus den USA stammen. Auf die Händler ent­fällt ein Gewinn von 80%, das heißt, 81 Mrd. US-Dollar müssen pro Jahr al­leine in den USA gewaschen werden um dann zum größten Teil außer Landes gebracht zu werden. Zum Vergleich: Diese Summe entspricht dem Gewinn, den die 200 größten Unternehmen der USA im Jahr 1989 gemacht haben.
Paradoxerweise entspricht der Umfang dieser Kapitalflucht aus den USA genau der Summe, die die USA durch den Schuldendienst aus Lateinamerika pro Jahr erhalten. Dies heißt nichts anderes, als daß die USA pro Jahr die gleiche Summe an Drogengeldern durch Kapitalflucht verlieren wie sie durch das Eintreiben der Schulden, vermittelt über Sparprogramme und neoliberale Auflagenpolitik, aus den lateinamerikanischen Völkern herauspressen.

200 Banken…

teilten die nordamerikanische Sorge, die die USA beim “Gipfel der Sieben” 1989 in Arche (Frankreich) vorgetragen haben: es gilt, den Kampf gegen die Drogen zu verstärken und die Geldwäsche der Dollar aus dem Drogenhandel zu unter­binden. So kam es dann auch dazu, daß sich das schweizerische Bankensystem von seinem schlechten Image säuberte, indem die neuen Strafgesetze hohe Stra­fen auf die “Wäsche” von Geldern aus dubiosen Quellen vorsahen. Das gleiche passierte in Frankreich, wo das TRACSIN gegründet wurde, eine Organi­sation, die die franzö­sische Bankaufsichts-, Zoll- und Steuerbehörden verbindet, so daß verdächtige Transaktionen schneller aufgedeckt werden können. Selbst­verständlich haben diese so sauberen europäischen Banken Filialen in Honkong, Vanatu und Naru, auf den Holländische Antillen, Bahamas, in Panamá und Uru­guay, allesamt Steuerpara­diese in der “Dritten Welt”.
Auf der Liste der 200 in die Narcodollarwäsche involvierten Banken, die vom US-amerikanische Justizministerium veröffentlicht wurde, sind unter anderen die All­gemeine Niederländische Bank, die Banco Exterior de España, Banque Su­dameris, Deutsch Südamerikanische Bank, Dresdner Bank, Crédit Suisse, sowie die Chase Manhattan Bank, City Bank und American Express zu finden.
Dank des Bankgeheimnisses ermöglichten einige dieser 200 Banken der Organisa­tion “La Mina” zwischen 1986 und 1989 die Abwick­lung von 138.000 Transaktio­nen mit einem Gesamtvolumen von nicht weniger als 1,029 Mrd. US-Dollar. Nicht eine einzige dieser Transaktionen kam den real existierenden Ban­kern des weltweit freiesten Marktes verdächtig vor.

Kasten:

Der uruguayische “Klarspülgang”

Die wesentlichen Informationen, die wir hier veröffentlichen, stammen aus dem Buch des urugayischen Journalisten Samuel Blixen, das im August 1990 veröf­fentlicht wurde. (s.u.) In dem Buch deckt Blixen auf, wie das Medellín-Kartell in den vergangenen drei Jahren mehr als 1 Mrd. US-Dollar “gewaschen” hat. Blixen weist minutiös nach, wie rund 400 Millionen US-Dollar dieses Geldes durch den Finanzplatz Montevideo geschleust wurden. Uruguay wurde somit zu einem un­entbehrlichen Baustein im System der internationalen Geldwäsche.

Unsägliches über Brasilien

“Ein Land mit so erotischen Frauen wie Brasilien..”

Klaus Hart und Luiz Ramalho haben in dem gestandenen linken VSA-Verlag ein politisches Reisebuch “Brasilien” herausgegeben, das mit den Sätzen beginnt: “Ein Land mit so lebendigen, sinnlichen, erlebnishungrigen, begeisterungsfähi­gen Menschen, so erotischen Frauen wie Brasilien – gibt es gleiches, ähnliches noch einmal auf der Welt? Es sind nicht wenige, die das verneinen.”
Natürlich gibt es “den Brasilianer” nicht, wie K. Hart großzügig eingesteht, was für ihn aber eher der Startschuß ist, um über den Carioca (Einwohner von Rio) oder den Baiano zu schwafeln: “Frauen aus Rio schilderten mir Baianos als anschmiegsamer, anhänglicher, anziehender; von ihnen werde man auf eine irgendwie bestechende Weise zum Essen, Trinken und Tanzen eingeladen und hinterher göttlich verführt. Gleiches könnte ich – mit Verlaub – aus eigener Erfah­rung den Baianerinnen vorwerfen.”
Zahllose derartiger Passagen finden sich in den Beiträgen von Klaus Hart, schlimm ist auch das Kapitel über Kriminalität, das lediglich Tips für Touristen aufhäuft, wie man sich vor arglistigen Prostituierten oder betrügerischen Taxi­fahrern schützen kann. Das Buch hat inzwischen zu einer kleinen Polemik geführt (Vgl. Brasilien Nachrichten Nr. 103 und Blätter des IZ3W Nr. 166) und der zweite Herausgeber Luiz Ramalho (Brasilianer und ehemaliger Leiter des ASA-Programms) hat sich inzwischen von der Einleitung distanziert. Bei dem VSA-Buch handelt es sich um einen Sammelband, und so ist es auch dem Verfas­ser dieser Rezension als Autor eines Beitrags über Fußball zugestoßen, in solch unsägliche Auslassungen eingereiht zu werden. Meine Mitautorenschaft verbie­tet es mir nun, den Band insgesamt zu würdigen, aber der Gerechtigkeit wegen sollte doch angemerkt werden, daß viele der Beiträge nichts mit dem von Klaus Hart verzapften Unsinn gemein haben.
Das VSA-Reisebuch war schon in der Peripherie 37 (Dez. 89) verrissen worden, allerdings nicht wegen der manifesten Sexismen, sondern weil es sich um zusammenhanglose Beiträge linker Akademiker handele. “Dies Buch ist eine Qual”, allenfalls geeignet für eine treudoofe VHS-Reisegruppe, lautet das ver­nichtende Urteil des Rezensenten. Nun, der Rezensent Theodor T. Heinze hat selbst an einem Buch über Brasilien mitgeschrieben, dem Band “Brasil, Brasil”, 1988 herausgegeben vom Kulturreferat der Stadt Nürnberg. Nach einem Vorwort von Hermann Glaser (… “das Land einem Brennspiegel gleicht, in dem eine unge­heure und ungeheuerliche Zahl von Problemen focussiert ist.”) geht’s los mit Kurzportraits, zum Beispiel: “Wie unzählige belezas neben ihr angelt sich Sarah Touristen an der Copacabana in Rio. Wenn sie mit der Bezahlung nicht zufrieden ist oder sie nachträglich erhöhen möchte, inszeniert Sarah Szenen mit wechseln­den Varianten. Da tauchen zum Beispiel plötzlich angeblich eifersüchtige Freier auf, die den Zahlungsunwilligen auf die Sprünge helfen. Will der Tourist die Polizei einschalten, läuft er auch da ins Leere…”

“Bataillonen von Mulattinnen mit wohlgeformten Körpern…”

Eine andere Lesefrucht: “Das Aussehen bestimmt in Brasilien das Ansehen. Anders als die deutsche Tiefe: in Brasilien gilt eine Kultur der Oberfläche, der Blicke, der Auftritte, der gelungenen Posen und Szenen.”(S.82) Auch in diesem Buch steht derartiges Geschwafel neben ausgezeichneten Beschreibungen und Reportagen. Es scheint gerade im Falle Brasiliens nicht so leicht zu sein, den Kli­schees zu entrinnen. “Daß die Leidenschaft im Süden zu suchen sei, denken die Deutschen schon seit Jahrhunderten. Von Europa erscheint Brasilien als Land, wo die Liebe besonders viel bedeutet… Brasilien, ohnehin Projektionsraum für Exotiksehnsüchte, wird zum Inbegriff von Wärme, wenn es um die Sinnlichkeit seiner Bewohner geht. Zumindest sehen Europäer das so”, stellt Theo Heinze wohl ganz richtig fest. All die zitierten Passagen sagen weniger über Brasilien und die BrasilianerInnen aus als über europäische Phantasien. Das ist verständ­lich und fatal zugleich. Verständlich ist dieses Denken, wo es Leiden an der eige­nen Kultur thematisiert, fatal, wenn es die anderen zum Spiegel der eigenen Sehnsüchte degradiert, sie damit ihrer Subjektivität beraubt und so die tödliche Dialektik der kolonialen Eroberung perpetuiert.
Selbst in den sonst eher betulich-seriösen Brasilien-Nachrichten versteigt sich Gerbor Meister zu folgenden Ausführungen: “Bataillonen von Mulattinnen mit wohlgeformten Körpern demonstrieren bei Auftritten der Samba-Schulen Striptease-shows und provozieren mit ihren aufreizenden Hintern, die mit ver­schiedenartigen erotisierenden Attributen geziert sind, Tausende von Brasilia­nern. Nach Untersuchungen des Anthropologen Roberto da Mata soll dadurch der Analverkehr bei den sexuellen Praktiken in Brasilien einen immer größeren Anteil gewinnen.”(Brasilien Nachrichten 98, 1988)
Zum Schluß dieses kleinen Streifzuges will ich den geneigten LeserInnen den Gipfel des Unsinns nicht vorenthalten. Thomas Veszelitis heißt der Autor des “Abenteuer Report Brasilien”. Schon der Untertitel “Samba-Urwald-Karneval” läßt Schlimmes ahnen. Der Autor bekennt gleich im Vorwort, daß er sich in einem ständigen Rausch der Sinne befand: “Brasilien ist wie ein Schwamm, es saugt einen auf.” Eines Tages treibt es den Autor, der sich ansonsten eher mit Caipirinha volldröhnt, zu einem Abenteuer eigener Art:
“Doch wer sind die Leute in den Favelas? Ich will es genauer erfahren, auch wenn alle Touristenführer vor Expeditionen in diese Viertel warnen. Als ich dann einmal mit dem Auto zum Strand Sâo Conrado fahre, wage ich es… Ich gebe Gas. Erster Gang, zweiter Gang, der Motor heult auf. Die Steigung ist sehr steil, es geht direkt in den Himmel hinein….

“Mein offener Buggy wird zur Zielscheibe der Aggressionen…”

Der Weg wird immer enger, und ich sehe , wie sich mir viele Gesichter zuwen­den. Grimmige Gesichter von jungen Leuten, fast nur Farbige. Je enger die Gas­sen werden, desto dunkler die Hautfarbe. Plötzlich hört der Weg auf. Ende. Weiter muß man zu Fuß klettern, zu diesen Baracken mit Löchern statt Fenstern. Die Leute sitzen am Boden, lehnen lässig an den Wänden. Sie werfen mir böse Blicke zu. Mein offener Buggy wird zur Zielscheibe der Aggressionen, dann artet sie in direkten Angriff aus. Ich habe es nämlich gewagt, die Leute hier zu stören, habe die Grenzen überschritten – wie ein Kaninchen, das sich in den Leopar­denkäfig verirrt. Die Raubtiere wittern Beute.
Ich versuche umzudrehen. Es ist sehr eng. Da fliegt schon der erste Stein und prallt von der Karosserie ab. Noch spielerisch geworfen von einem pixoten, einem Krauskopf, wie die farbigen Knaben neckisch bezeichnet werden. Sie sind die “Gesetzlosen”, weil sie noch minderjährig sind und nicht bestraft werden können. Sie sind in Rio am gefährlichsten: die Kinder aus den Favelas. Sie rotten sich um mich. Die Spannung wächst…”
Bedauerlicherweise für die LeserInnen und glücklicherweise für den Autor gibt es ein Happy-End; unser Held schafft es schließlich zu wenden und aus der Favela zu fliehen: “Es läuft mir eiskalt über den Rücken. Da habe ich wirklich noch einmal Schwein gehabt.”

Klaus Hart / Luiz Ramalho (Hrsg): Brasilien; VSA-Verlag, Hamburg 1990
Thomas Veszelitis: Abenteuer Report Brasilien; Schneider Verlag, München 1986
Theodor Heinze / Ursula Pfeifer: Brasil Brasil, Nürnberg 1988

Basso Tribunal: Brasilien schuldig

In einem gediegenen Saal der rue Descartes, einem Namen, der vielleicht wie kein anderer für die Begründung des modernen Rationalismus steht, hatten sich für einige Tage, ExpertInnen, Indios und ein Kautschukzapfer zusammengefunden, um eine vernichtende Bilanz der Segnungen der Moderne für die Völker Amazoniens zu ziehen. Die Basso-Stiftung hatte so ziemlich alles zusammengetrommelt, was in der brasilianischen Amazonasforschung Rang und Namen hat. Das hier aber kein wissenschaftliches Kolloquium abgehalten werden sollte, sondern konkrete Beschuldigungen vorgebracht wurden und die BewohnerInnen Amazoniens selbst als ZeugInnen zu Wort kamen, macht die besondere Qualität des Treffens aus.
Neben der großen Waldvernichtung durch Abbrennen hat sicherlich der Fall der Yanomami in letzter Zeit die größte internationale Aufmerksamkeit errregt. Die Yamomami – mit 12.000 Menschen das größte Volk im brasilianischen Teil Amazoniens – sind durch das Eindringen von Goldgräbern unmittelbar in ihrem Überleben bedroht. Mehrere Aussagen belegten nun, daß dieses Eindringen von der Regierung nie ernsthaft verhindert worden ist, obwohl es einen eklatanten Rechtsbruch darstellt, daß die Regierung (Sarney) sogenannte “Goldgräberreserven” im Yamomami-Gebiet geschaffen hat, eine Maßnahme die offensichtlich verfassungswidrig ist. Die neue Regierung Collor hat öffentlich den Rückzug der Goldgräber versprochen, aber unzureichend agiert: Zwar wurden Landepisten der Goldgräber gesprengt, aber nicht alle. Die medizinische Versorgung der Yanomami ist prekär – sie sterben an dem eingeschleppten Malaria. Ein düsteres Bild entsteht: Obwohl der Fall der Yamomami wie wohl kein anderer die internationale Aufmerksamkeit erregt hat geht ihr Sterben weiter – bestens dokumentiert.
So zeigte der Senator Severo Gomes Fotos von zwei Reisen in das Gebiet der Yanomamis: vor und nach dem Eindringen der Goldsucher. Ein erschütternder Kontrast, aus intakten Indio-Gesellschaften wurden Bettler und Kranke in einer verwüsteten Umwelt. Dabei zeigte sich auch, daß die Vernichtungsmechanismen mehrdimensional sind. Viele Goldgräber haben keineswegs die Yanomami getötet, sondern sie mit Nahrungsmitteln, Plastikfolien (als Baumaterialien) und anderen Waren beliefert, damit deren eigene Produktion unterminiert. Fazit: 15% der Yanomami sind in den letzten drei Jahren gestorben. Das Elend der Yanomami geht auch unter Coller/Lutzenberger weiter, und eine alte Forderung, die einer Vorraussetzung des Überlebens der Yanomami wäre, bleibt unerfüllt: 1988 hatte die regierung das Yanomami-Gebiet in 19 Inseln unterteilt und damit den Freibrief für die Zerstörung ausgestellt. Seit dem wird gefordert, ein zusammenhängendes Yanomami-Gebiet wiederherzustellen. Auch in dieser Frage hat sich bis heute nichts bewegt.
Die Aussagen vor dem Tribunal beschränken sich nicht auf die Darstellung von Einzelaspekten. Francisco da Costa (Universität Belén) zeigte auf, welche normativen Entscheidungen der Entwicklungskonzeption Amazoniens zugrunde lagen: Die systematische Verachtung und Vernichtung der traditionellen Produktionsweisen (Sammelwirtschaft) zugunsten einer Produktionsweise, die die Modernität Amazoniens herstellen sollte: der Industrie (Entwicklungspole, Freihandelszone in Manaus) und systematischer Land- und Viehwirtschaft (agropecuaria). Die tzraditionellen ressourcen und Produzenten Amazoniens galten lediglich als Entwicklungshemmnisse. Ziel der Zentralregierungen (vor allem der Militärs seit 1964) war die Integration Amazoniens in das nationale Terretorium, in den brasilianischen Markt und in den Weltmarkt. Hier schließt sich nun eine entscheidende Frage für den REntwicklungsweg Amazoniens an: Beinhalten die traditionellen Produktionsweisen Amazoniens Entwicklungspotentiale, die mit der modernen Industrie konkurrieren können? Costa verwies auf eine Regionalstudie, nach der 80% der Vieh- und Landwirtschaftlichen Unternehmen mit Verlust wirtschaften. Die beiden Großprojekte Amazoniens, Grande Carajas und die Aluminiumindustrie, arbeiten nicht mit Gewinn. Gerade das beispiel der Aluminiumindustrie zeigt die Absurdität der aktuellen Entwicklungsstrategie. Sie kann nur durch subventionierten Strom überleben. Ein teuflischer Kreislauf entsteht: Umweltzerstörung durch Staudammbau (Tucurui), Verschuldung, Subventionierung von Strom, Umweltzerstörung durch die Folgen der Aluminiumindustrie, indirekte Subventionierung energieintensiver Produktion für den Weltmarkt, sprich für die entwickelten Länder.
Gegenüber solchem Wahnsinn ist zumindest ein Versuch mit der besseren Nutzung der traditionellen Potentiale nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch geboten. Diese Argumentation widerspricht allerdings, daß für einzelne Unternehmer und Spekulanten die Umweltzerstörung durchaus gewinnversprechend ist (vgl. die Aussagen von Fearnside in diesem Heft). Das Tribunal macht aber zumindest deutlich, daß ein isoliertes Sprechen über Indianermorde und Umweltprobleme nicht möglich ist: Auf der Anklagebank saß somit nicht nur die brasilianische Regierung, sondern auch Agenten und Logik der industriellen Produktion und der privatwirtschaftlichen Verwertung.
Fragt sich nur ob das Urteil Konsequenzen hat. An Kenntnissen über das Desaster in Amazonien fehlt es ja nicht. Brennende Wälder erregen auch in deutschen Wohnzimmer die Herzen. Ob mehr als Sentimentalität und Ökoromantik die Folge sein kann, hängt auch davon ab, ob es uns hier gelingt, wirksame Aktionsformen zu ent­wickeln.

Kasten 1:

“Rotes Gold” So nannten die Kolonialisten zynischerweise die Urbevöl­kerung Brasiliens, weil sie hofften sie als Sklaven vermarkten zu können. Als Cabral bei Porto Seguro als erster Europäer brasilia­nischen Boden betrat, lebten in dem Gebiet des heutigen Brasilien (nach eher vorsichtigen Schätzungen) 5 Millionen “Indios”. 130.000 haben Massaker und Krankheiten überlebt. Sie bilden damit nur einen mi­nimalen Prozentsatz der heutigen Bevölkerung, und das of­fizielle Brasilien hat sie weder als Teil der nationalen Identität aner­kannt, noch ihnen wirkliche Autonomie gewährt. Auf dem Papier hat sich die Situation der Indiginas durch die neue Verfassung er­heblich verbessert. Sie schreibt vor, daß in einer Frist von fünf Jahren alle Indigina-Gebiet vermessen und rechtlich reguliert sein müssen. Zwei Jahre sind vergangen und 8,9% der Gebiete sind bisher reguliert.

Kasten 2:

Das Lelio-Basso-Tribunal

Das “Ständige Tribunal der Völker” besteht seit 1979. Es ist eine institutionalisierte Form die 1976 vom sozialistischen Senator Italiens Lelio Basso begründeten “Internationalen Stiftung für die Rechte und Befreiung der Völker”. Das Tribunal knüpft an die Tradition der Russel-Tribunale an, in denen beispielsweise über die amerikanische Intervention in Vietnam gerichtet wurde. Der Spruch der Jury ist an die völkerrrechtlichen Grundsätze gebunden.

Militärs drohen mit Krieg

Nach einem Dokument der obersten Kriegsschule (Escola Superior da Guerra/ESG) kann die Wahrung der “nationalen Interessen” in Amazo­nien im Extremfall zu einem Krieg führen. Mögliche Gegener der Streitkräfte wären Schmuggler, Drogenhändler und die Nicht-Regie­rungsorganisationen (NROs), die sich in die Angelegenheiten Amazo­niens einmischen.
Wieder einmal wird von den Militärs das Gespenst an die Wand ge­malt, die NROs förderten die Internationalisierung Amazoniens, verlangsamten die Entwicklung der Region und betrieben die “Denationalisierung”, indem sie “Indio-Enklaven” einrichten woll­ten. Das Dokument dere ESG führt aus, daß die Idee “einer eigenen Regierung in Indio-Gebieten ein permanenter Versuch von außen (sei), Teile Amazoniens zu internationalisieren.” Dabei handelten die NROs zumindest mit der Billigung der Regierungen der Länder, in denen sie angesiedelt sind, USA, Japan und Europa. Das Konzept der Bewahrung, das Umweltgruppen prpagieren wolle das ökonomische Potential Amazoniens ruhen lassen, es wolle praktisch die Unberührnbarkeit der Ressourcen.
Weiter wird ausgeführt, daß es sich bei der “Denationalisierung des Brasilianischen” um eine diffuse internationale Bewegung zur Internationalisierung Amazoniens handele “beginnend mit der Einrichtung von Gebieten, in denen die Einwohner aufhören, der Kontrolle und den Eingriffen des brasilianischen Staates unterworfen zu sein und die so als Bürger des Vaterlandes denationalisiert werden – ein erster Schritt zur allgemeinen Akzeptierung von Gebieten, die mit internationaler Unterstützung praktisch von Brasilien befreit sind.” Über Forderungen der “angewandten Anthropologie”, die die internationalen Interessen über die nationalen stelle, würde versucht, globale Sanktionen gegen Brasilien zu verhängen. Insgesamt dreimal erwähnt das Dokument die Möglichkeit eines Krieges in Amazonien.
Das Papier trägt den netten Namen “Struktur der nationalen Macht für das Jahr 2001 – 1990 bis 2000: Die entscheidende Dekade für ein modernes und demokratisches Brasilien.” Die ESG ist nicht irgendwer sondern der traditionelle Think-Tank der Militärs. Das Papier kann als eine halboffizielle Stellungnahme der Militärs zur Amazonienpolitik angesehen werden (vgl. Kasten).
Die vorliegende Version stammt vom 15. März dieses Jahres, an die Öffentlichkeit drang sie zum ersten Mal durch einen Artikel der “Folha de Sao Paulo” vom 29. Mai. Das Papier knüpft an alte Stellungnahmen aus der Zeit der Sarney-Regierung an, radikallisiert sie teilweise. Die Militärs wagen sich nicht auf ein Gebiet vor, das sie nichts angeht: Amazonienpolitik war und ist in Brasilien Sache der Militärs. Ein Großteil Amazoniens ist durch das Projekt “Calha Norte” unmittelbar der Obhut der Militärs unterstellt. Erschreckend an dem Dokument ist, mit welcher Deutlichkeit Grundforderungen der Indigenas (abgegrenzte Reservate in autonomer Kontrolle) und der Organisation, die sie unterstützen, kriminalisiert werden.
Ein internationales Echo auf die Veröffentlichung gab es bisher kaum. Zusehr richteten sich die Augen auf den Altökologen und Neuminister Lutzenberger. Der hat aber gerade zu der bisherigen und zukünftigen Rolle der Militärs geschwiegen oder sich hinter allgemein gehaltenen Formulierungen zurückgezogen. Nach Einschätzung vieler brasilianischer “ecologistas” dürfte hier der eigentliche Knackpunkt für die politische Zukunft Lutzenbergers liegen. Collor wird sich mit den Militärs nicht anlegen, eine alternative Amazonienpolitik ist aber mit diesen Militärs wie das Dokument noch einmal nur allzu deutlich zeigt, nicht einmal denkbar.

Kasten:

Stellungnahmen von Severo Gomes und Fabio Feldmann

Am Rande des Pariser Basso-Tribunals sprachen die LN mit zwei brasilianischen Parlamentsmitgliedern, die sich durch ihren Einsatz für Umweltfragen einen Namen gemacht haben über ihre Einschätztung des Papiers der ESG.

Severo Gomes: Nein, das ist keine sektiererische Position, es kommt aus der langen Tradition, wie die Militärs über das Land denken, es hat System so zu denken. Aber mit einer zivilen Gesellschaft, die sich organisiert und der öffentlichen Meinung dürften diese veralteten Positionen der Militärs nicht zum Zuge kommen.

Fabio Feldmann: Ich glaube es ist ein wichtiges Papier, in der Weise wie es eine entscheidende Strömung des militärischen denkens über Amazonien präsentiert. Es steht im Zusammenhang eines Denkens, das äußerst gefährlich ist, insbesondere durch die Forderung nach der territorialen Besitzergreifung Amazoniens. Desshalb glaube ich, daß dieses Papier ein wichtiges Element in jeder Analyse der zukünftigen Perspektiven Amazoniens ist.
Wichtige Aufgabe in der Amazonienpolitik bleiben unter der Verantwortung des “Sekretariats für strategische Angelegenheiten”, ein von den Militärs dominierte Bundesbehörde. Und ich glaube es gibt einen widerspruch in der Regierung Collor. Auf der einen Seite ein fortschrittlicher Diskurs, vor allem seitens Lutzenbergers, und eine interne Politik, die diesem Diskurs nicht entspricht.

Wahlen:Reaktion und Überdruß

Wenn auch eine endgültige Wahlanalyse noch nicht möglich ist, da in vielen Staaten die Gouverneurswahlen erst Ende November im zweiten Durchgang ent­schieden werden, so sind doch einige Trends deutlich sichtbar. Der große Ge­winner sind die Rechten. Von den 503 Abgeordneten des Parlaments (câmera federal) können 270 Abgeordnete dem Regierungslager zugerechnet werden. Die Partei Collors wird aber nur über etwa 30 Sitze verfügen und geht nicht gestärkt aus den Wahlen hervor. Collor, der scheinbar neue, unabhängige Politiker bleibt also abhängig von einer Koalition mit der traditionellen Rechten, die sich in der PMDB und der PFL zusammenfinden. Dies sind aber genau die Kräfte, die die Regierung Sarney unterstützt hatten, die zum Schluß völlig unpopulär war und auf die Collor in seinem Wahlkampf so heftig einschlug wie auf die Linken. Sie können sich nun genau wie Collor auf ein frisches WählerInnenvotum berufen, ihre Chancen, den unberechenbaren Populisten wieder an die Kandare zu be­kommen, sind erheblich gestiegen. Innerhalb des rechten Lagers gab es eine si­gnifikante Verschiebung zugunsten der PFL, die zum größten Teil aus Politikern besteht, die früher in der Partei der Militärs organisiert waren. Die Überlebens­kraft dieser Rechten ist erstaunlich. Sie haben die Wahl wieder mit den klassi­schen Mitteln gewonnen: Einkaufen lokaler Politiker, konkrete Versprechungen (hier eine Schule, dort ein Krankenhaus) auf lokaler und regionaler Ebene. Die Wahl solcher Politiker ist kaum eine rechts-links Entscheidung. Die Wahlen wa­ren somit im Vergleich zu den Präsidentschaftswahlen – scheinbar – nicht ideolo­gisch geprägt. “Das Beste für Bahia”, solche Parolen bestimmten den Wahlkampf. Damit hat aber weniger die politische Rechte als der “fisiologismo” die Wahlen gewonnen. Ein “fisiologico” ist ein Politiker, für den weder eine Parteibindung oder ideologische Orientierung kennzeichnend ist, als die Organisierung des Zu­gangs zur Macht, die Bedienung der Klientel und das eigene Überleben in politi­schen Funktionen. “Rouba mas faz” – er ist korrupt, aber er macht was, das ist die positive Charakterisierung dieses Politikers. Ein typischer Vertreter solcher Überlebenskünstler, Antonio Carlos Magalhaes (ACM), der eine ungebrochene Karriere seit den Zeiten der Diktatur aufweist, gewann in Bahia die Gouver­neurswahlen locker im ersten Anlauf.
Der kurze Sommer der Linken
Die Arbeiterpartei (PT), deren Kandidat Lula letztes Jahr fast die Präsident­schaftswahlen gewonnen hätte, wird magere 30 Abgeordnete (ca.6%) stellen, und nur in den Amazonas-Bundesstaaten Acre und Amapá gelangen PT-Kandidaten für das Gouverneursamt in die zweite Runde. Die andere Partei, die eine Oppo­sition von links gegen die Regierung verspricht, ist die PDT: Ihr Führer, der Populist Brizola, gewann mit einem hervorragenden Ergebnis in Rio, und in zwei weiteren Bundesstaaten liegen ihre Kandidaten vorne. Aber die PDT wiederholte das Dilemma der Präsidentschaftswahlen: gute Ergebnisse in einigen Staaten und quasi Nichtexistenz in anderen, insbesondere den wichtigen Staaten Sao Paulo und Minas Gerais. Brizola bleibt ein Regionalpolitiker, aber immerhin wird die Fraktion der PDT im Parlament fast doppelt so groß sein wie die der PT. Brizola kann somit seinem Anspruch, Führer und Kristallisationsfigur der Opposition zu sein, neuen Nachdruck verleihen.
Warum aber das schwache Abschneiden der PT? Vielleicht ist die Frage falsch gestellt. Erklärungsbedürftig ist wohl eher, wie es Lula gelingen konnte in einem ganz spezifischen Moment die gesamte Opposition und Unzufriedenheit hinter den Fahnen der PT zu vereinigen. Die PT verdoppelte immerhin ihre Fraktion im Parlament, sie hat ein Ergebnis erreicht, das eher ihre wirkliche Stärke wiedergibt als die Erfolge bei den Präsidentschaftswahlen.
Viel weniger als bei den letzten Wahlen hat die PT von diffusen Stimmungen, der Unzufriedenheit und Wut mit Regierung, Politikern und den Verhältnissen im allgemeinen profitiert. Denn ein hervorstechendes Ergebnis dieser Wahlen ist die riesige Zahl der ungültigen Stimmen, bzw. der Wahlenthaltungen (In Brasilien herrscht strenge Wahlpflicht!). Bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus wählten 65% der WählerInnen nicht oder ungültig, eine für Brasilien unglaubliche Zahl. Warum es der Linken nicht gelang, dieses Potential zu erreichen, ist die große Frage der Wahlanalyse. Ein Grund wird schon sein, daß die PT in wichtigen Städten (Sao Paulo) die BürgermeisterInnen stellt, dort keine Wunder bewirken konnte und somit nunmehr selbst als Teil des politischen Systems erscheint.
Zu den großen Verliererinnen der Wahl gehört auch die PSDB, das sozialdemo­kratische Projekt unter Fernando Henrique Cardoso. Ihr einziger Lichtblick ist Ceará (Ciro Gomes mit 54% Gouverneur), ansonsten zerreibt sich die Partei an der Frage, ob sie die Regierung Collor unterstützen oder fundamentale Opposi­tion machen soll. Der Weg dieser Partei wäre aber genauso eine ausführliche Er­örterung wert wie das Wahlergebnis in Sao Paulo, wo sich der extrem rechte Paulo Maluf und der (bisher völlig unbekannte) Luís Fleury (Kandidat des jetzti­gen Gouverneurs Quércia) in der Stichwahl gegenüberstehen werden. Gewinnt Fleury wird Quércia der große (bürgerliche) Gegenspieler Collors und Favorit für dessen Nachfolge sein. Aber dazu mehr nach dem zweiten Wahlgang.

Integrationsfieber

“Die große ökonomische Lehre diese Jahrhunderts ist, daß der Protektionismus den Fortschritt verhindert und daß der freie Markt Wachstum und Entwicklung gewährleistet”, meinte George Bush, Präsident des Landes, welches laut einer OECD*-Studie die meisten und höchsten Handelsbarrieren in der Welt aufweist. Doch dieser neoliberale Exkurs war nur die Einleitung seiner “historischen” Rede am 27. Juni, mit der er eine “neue” Politik der USA gegenüber Lateinamerika ankündigte.
Eine gesamt-amerikanische Freihandelszone schlug er seinen NachbarInnen vor, damit “Amerika der erste völlig freie und demokratische Kontinent wird”. Drei Standbeine hat diese “Bush-Initiative”: 1) Reduzierung eines Teiles der lateiname­rikanischen Schulden bei der US-Regierung 2) Schaffung eines “Entwicklungs­fonds” zur Förderung der Auslands-Investitionen in Lateiname­rika und 3) völlige Liberalisierung des Handels in der Region, also Abbau aller Zölle und Handels­schranken (Freihandelszone). So weit, so einfach. Interessant wird es bei den Zahlen: Die US-Regierungsforderungen gegenüber Lateiname­rika betragen 12 Mrd. US-Dollar. Das sind 2,4 % der Gesamtschuld Lateinameri­kas, die nach neuesten Zahlen 437 Mrd. US-Dollar beträgt. Und davon sollen 7 Mrd. erlassen werden… Der “Entwicklungstopf” für Lateinamerika soll sage und schreibe 300 Millionen US-Dollar für die ersten fünf Jahre zur Verfügung haben, wobei sich die USA, Japan und die EG in gleichem Maße beteiligen sollen, so zumindest Bush’s Idee. Zum Vergleich: Die zur Investitionsförderung und für Strukturmaß­nahmen geschaffene Entwicklungsbank für Osteuropa hat ein Volumen von 12 Mrd. US-Dollar für fünf Jahre. Allein im Jahr 1989 hat Latein­amerika 25 Mrd. US-Dollar durch Zinszahlungen ins Ausland transferiert, daß sind 84 mal mehr als der vorgesehene Betrag für den Lateinamerika-Topf. Dar­überhinaus betonte der US-Regierungschef, daß natürlich nur die Länder in den “Genuß” der Freihan­delszone kommen könnten, die sich vorher einer Liberalisie­rungskur mit Unter­stützung des IWF unterziehen.
Dennoch ist der Optimismus der Regierungen Lateinamerikas bei ihren Reaktio­nen auf den Bush-Plan kaum zu bremsen: “Ein guter Schritt vorwärts”, kommen­tierte der argentinische Präsident Menem. “Der Plan ist geeignet, die Entwick­lung und die Lösung der Probleme Lateinamerikas ein gutes Stück voranzubrin­gen”, sagte ein Sprecher der UNO-Wirtschaftsorganisation für Lateinamerika CEPAL und Chiles Finanzminister meint gar: “Lateinamerika kann mit Optimis­mus in die Zukunft sehen”.

Schwindende Hegemonialmacht bekommt Torschlußpanik

Der eigentliche Grund für diesen US-Vorschlag dürfte weniger im Interesse an einer Entwicklung des Subkontinents als vielmehr an den Problemen im eigenen Landes liegen. Das chronische Außenhandelsdefizit der USA braucht eine Lö­sung, soll die Wirtschaft nicht noch weiter den Bach runter gehen. Für die Löcher in der Handelsbilanz werden natürlich Absatzmärkte gesucht. Die USA sind für Lateinamerika immer noch der wichtigste Handelspartner. 1989 gingen 52% der lateinamerikanischen Exporte in die Vereinigten Staaten, während 59% der Importe Lateinamerikas aus den USA kamen. Dennoch ist die US-Handelsbilanz mit Lateinamerika extrem negativ: in den letzten fünf Jahren hat sich ein Saldo von 48 Mrd. US-Dollar angesammelt. Es geht den USA also offensichtlich nicht darum mehr zu kaufen, sondern mehr zu verkaufen. “Neue Märkte für US-Pro­dukte und mehr Arbeit für nordamerikanische Arbeiter” verspricht der Präsident dann auch unverhüllt seinen Landleuten. Gleichzeitig könnte es dem Weißen Haus darum gehen, durch eine gezielte Intervention die lateinamerikanischen Integrationsbemühungen zu unterminieren und zu vereinnahmen, zielt der Plan doch hauptsächlich auf Länder, die sich zum einen bereits einer weitgehenden Liberalisierung unterzogen haben und zum anderen eine regionale Integration anstreben.
Die USA geraten darüberhinaus angesichts der sich anbahnenden wirtschaftli­chen Machtkonzentrationen in Europa und Asien in Zugzwang , wollen sie ihre Hegemonie in der Welt nicht gänzlich verlieren. Eine Rückbesinnung auf den traditionellen “Hinterhof” und eine noch stärkere wirtschaftliche Dominierung des Kontinents könnten dieses “Defizit” ausgleichen. So ist es nicht verwunder­lich, daß Bush diese Initiative wenige Tage vor dem Weltwirtschaftsgipfel in Houston (G7) aus dem Hut zauberte. Stärke zeigen! Doch die dort Anwesenden waren zwar nicht angetan von Bushs Plan, lamentierten allerdings weniger über eine ökonomisch gewendete Monroe-Doktrin, als daß sie vielmehr sofort ihre Chancen, in Amerika einen größeren Absatzmarkt zu finden, kalkulierten.

“Die Zukunft Lateinamerikas liegt im freien Markt…”

In Lateinamerika findet Bush mit seiner Initiative einen guten Nährboden vor. Die Länder stehen wirtschaftlich fast alle mit dem Rücken zur Wand. Nicht, daß sie, wie noch in den 70er Jahren durch Militärdiktaturen zur neolibearlen Anpas­sung á la IWF gezwungen werden müßten: Heute führen die demokratisch ge­wählten Präsidenten genau dieselbe Wirtschaftspolitik durch wie ihre Vorgänger in Uniform. Die Wirtschaftspläne von Collar, Menem Fujimori und wie sie alle heißen gleichen sich dabei fast aufs Haar. “Es ist eine neue Art von Führung ent­standen, die sich auf das Mandat des Volkes berufen kann und versteht, daß die Zukunft Lateinamerikas in der freien Regierung und im freien Markt liegt”, zollt Bush dieser Entwicklung Beifall.
Was dieser “freie Markt” für die Mehrheit der Bevölkerung bedeutet, wird am tagtäglich wachsenden Elend in der Region deutlich. Mehr als ein Drittel der städtischen und fast zwei Drittel der ländlichen Bevölkerung des Kontinents le­ben unterhalb der Armutsgrenze. Die Verelendung in Lateinamerika hat gerade in den 80er Jahren, in denen in fast allen Ländern die neoliberale Politik trium­phierte erschreckende Ausmaße angenommen und zeigt sich in allen Bereichen des sozialen Lebens. Doch diese Bevölkerungsmehrheit wird natürlich nicht ge­fragt, wenn von “Wachstum und Entwicklung dank des freien Marktes” gespro­chen wird.
Nach den ersten euphorischen Reaktionen aus Lateinamerika wurde der Bush-Plan nun erst einmal zur weiteren Begutachtung an verschiedene Ausschüsse und Organisationen übergeben, die den genauen Inhalt prüfen sollen. SELA (Sístema Económico Latinoamericano, lateinamerikanisches Wirtschaftssystem) legte Anfang September einen ersten Zwischenbericht vor, in dem zwar der Wandel in der US-Politik gegenüber Lateinamerika von der militärischen zur ökonomischen Motivation begrüßt, der Plan an sich allerdings eher skeptisch betrachtet und kritisiert wird. Der Versuch der USA, einen neuen Block zu bil­den, stelle einen “Handel zwischen sehr ungleichen Partnern dar” und könne leicht in ein Instrument zum einseitigen Nutzen der USA umgewandelt werden. Dennoch sehen die Wirtschaftsexperten in dem Plan eine Möglichkeit, IWF und andere Gläubigerinstitutionen zu beeinflussen und zu einer Reduzierung der Auslandsschulden zu bewegen.

…und die Vergangenheit auch

Anders urteilte die lateinamerikanische Linke auf ihrem Anfang Juli in Sao Paulo abgehaltenen Kongress: “Der Bush-Plan zielt darauf ab, unsere nationalen Öko­nomien für den unlauteren und ungleichen Wettbewerb mit dem ökonomischen Hegemonieapparat komplett zu öffnen, uns ihrer Hegemonie völlig zu unterwer­fen und unsere produktiven Strukturen zu zerstören, indem er uns in eine Frei­handelszone integriert, organisiert und bestimmt von den nordamerikanischen Interessen.” So wahr wie einfach, aber aus dem Dilemma der wirtschaftlichen Krise hilft ein solches Anprangern des US-Imperialismus auch nicht heraus.
Kubas Staatschef Fidel Castro setzt noch einen drauf: Eine gemeinsame Verteidi­gungsfront gegen diesen imperialistischen Angriff der USA solle gebildet wer­den, um eine noch größere Penetration durch die nordamerikanischen Multis zu verhindern.
Die ist allerdings auch ohne Freihandel schon viel zu groß: 7 Mrd. US-Dollar Reingewinn zogen die US-amerikanischen Multis allein 1989 aus dem strangu­lierten Kontinent. Das Lamentieren darüber, daß der Plan lediglich dazu dient, die lateinamerikanischen Märkte für ein besseres Vordringen der US-Industrie zu öffnen, hilft ebenfalls wenig weiter, denn die Märkte der meißten Länder sind be­reits in den letzten Jahren auch ohne die Freihandelszone durch den Druck des IWF sperangelweit aufgerissen worden. Klar ist allerdings, daß die nationalen lateinamerikanischen Industrien in der Konkurrenz mit den US-Produkten in den wenigsten Fällen eine Chance haben. Die USA versuchen eher Lateinamerika weiterhin auf die Rolle des billigen Rohstofflieferanten für die eigene Industrie und als Absatzmarkt für ihre Produkte festzuschreiben. “In den letzten zehn Jah­ren haben die USA einen Großteil ihrer traditionellen Märkte verloren”, gesteht dann auch der US-Finanzsekretär David Mulford freimütig ein.

Menem und Collor heben ab

Zehn Tage nach der Offensive des US-Präsidenten warteten der argentinische Präsident Carlos Menem und sein brasilianischer Amtskollege Collor de Mello mit einem etwas kleiner dimensionierten Plan auf: Schaffung eines gemeinsamen argentinisch-brasilianischen Marktes zum 1.1.1995 “In dieser Zeit der Krisen ist es gut, daß wir große Dinge tun können”, kommentierte Menem schlicht und ergrei­fend. Großes haben die beiden Regierungen vor, wollen sie bis Anfang 1995 alle Voraussetzungen für die Einführung eines gemeinsamen Marktes nach dem Vorbild der EG geschaffen haben.
Die Idee fußt auf den Integrationsprotokollen der vorhergehenden Präsidenten Alfonsín und Sarney, die 1986 einen ökonomischen Integrationspakt unterzeich­neten, der die Grundlage für die spätere Einführung eines gemeinsamen Marktes bilden sollte. Im Januar 1987 wurden dann 20 Integrationsprotokolle unterzeich­net, die die wirtschaftliche Zusammenarbeit für einzelne Sektoren regelten. Im April des darauffolgenden Jahres legten sie den Termin für einen gemeinsamen Markt auf das Jahr 2000 fest. Mit der wirtschaftlichen Integration der beiden Ländern tat man sich allerdings in den letzten Jahren erheblich schwerer, als er­wartet wurde. So stieg der Handel zwischen beiden Ländern seit 1985 zwar um 81% an, besitzt allerdings am jeweiligen Gesamtexport der beiden Länder gemes­sen immer noch eine sehr geringe Bedeutung.
Collor und Menem wollen nun dieser Integration mehr Schubkraft verleihen und zogen den Termin für den gemeinsamen Markt kurzerhand fünf Jahre vor. Gleichzeitig soll eine Komission, die seit Anfang September tagt, alle Weichen für die einzelnen Wirtschaftsbereiche und Problemfelder stellen und konkrete Maß­nahmen ausarbeiten, um den Termin einzuhalten. Mit der Unterzeichnung dieses Plans wurden außerdem die bestehenden Integrationsprotokolle um mehrer hundert Produkte ausgeweitet, so daß eine Erhöhung des Handelsvolumens um 530 Millionen Dollar allein in diesem Jahr ermöglicht werden soll. Gleichzeitig wurden die Quoten für die bisherigen Produkte erhöht und die Schaffung von bi-nationalen Unternehmen soll forciert werden.
Bezüglich des Bush-Plans merkten die beiden Staatschefs an, daß “die Integration des Cono Sur mit der Bush-Initiative vereinbar ist” und schufen eine gemeinsame Komission zur Beratung über den Plan. Das lateinamerikanische Vorhaben ist allerdings weitgehender, sieht es doch nicht nur Freihandel zwischen den Län­dern, sondern eben einen gemeinsamen Markt, mit gemeinsamer ökonomischer Außenpolitik, einer gemeinsamen Währung und dem vereinigten Auftreten der Delegationen im Ausland vor, um eine bessere internationale Verhandlungspo­sition zu erlangen. In der Uruguay-Runde des Gatt (Allgemeines Zoll- und Han­delsabkommen), welche den weltweiten Freihandel regeln will, werden die bei­den Länder auf jeden Fall gemeinsam ihre Interessen vertreten, die sich in erster Linie gegen den Protektionismus der EG bezüglich der Agrargüter richten.

Die “Kleinen” dürfen auch mitmachen

Ignoriert wurde bei diesen Verhandlungen allerdings der Juniorpartner Uru­guay, welcher in den vorangegangenen Integrationsbemühungen immer mitein­geschlossen war. So mokierte der uruguayische Präsident Lacalle noch am Tag des Treffens Collor-Menem, daß er nicht einmal eingeladen worden sei. Auf einer Sitzung Anfang August wurden dann allerdings nicht nur Uruguay, sondern gleich auch noch Chile mit in das Vorhaben einbezogen. Paraguay wurde als fünfter im Bunde direkt aufgefordert, sich an dem “Integrationsprogramm 1995” zu beteiligen. In einer zweiten Phase sollen dann nach der Schaffung des gemein­samen Marktes zwischen diesen fünf Ländern alle anderen Staaten der “Lateinamerikanischen Integrations-Organisation” (ALADI) miteinbezogen wer­den, also Mexiko, Kolumbien, Ecuador, Peru und Venezuela. Doch dieses Wunschdenken lenkt davon ab, daß der eigentliche Kern, die Integration im Cono Sur durchaus realistische Verwirklichungschancen hat. Der gemeinsame Markt von Chile, Uruguay, Argentinien und Brasilien wäre die Heimat von zwei Dritteln der Bevölkerung Lateinamerikas mit einem jährlichen Wirtschaftsvolu­men von 280 Mrd. US-Dollar.
Voraussetzung für all diese Zukunftspläne dürfte allerdings die Bewältigung der derzeitigen Krise in Brasilien und Argentinien sein. Denn einen gemeinsamen Markt der Inflation und Armut wollen die Herren wohl kaum. Anscheinend hilft eben kein neoliberales Konzept, um die Inflation der Länder unter Kontrolle zu bekommen, sondern stürzt sie vielmehr gleichzeitig in eine tiefe Rezession.

Kasten:

Fußball-Integration

“Wir Brasilianer haben im Endspiel der Fußball-WM für Argentinien geschrien, denn die lateinamerikanische Integration vollzieht sich auch über die Zuneigung – und die Leidenschaft für den Fußball ist eine der gemeinsamen Sachen unserer beiden Länder.” (Collor de Mello) Na dann können wir ja auf eine gemeinsame argentinisch-brasilianische Auswahl bei der nächsten oder übernächsten WM gespannt sein.

Fujimori: Der Mythos zerplatzt

6.000 Verhaftungen und mindestens 15 Tote weist die Bilanz der ersten Woche nach dem 8.August aus. Schon vor der Verkündung des Wirtschaftsprogramms war das Land in Ungewißheit über die zu erwartenden Reissteigerungen praktisch stillgelegt. HändlerInnen hielten die Waren zurück, oder verkauften nur zu astronomisch hohen Schwarzmarktpreisen, während die Polizei dafür eingesetzt wurde, gehortete Waren demonstrativ zum offiziellen Preis zwangszuverkaufen. Kaum war das Ausmaß der von Fujimori geplanten Anpassungsmaßahmen bekannt, entlud sich die Entrüstung der Bevölkerung in Demonstrationen und Plünderungen. Einen Tag vor der Vorstellung des Programms hatte der Präsident gerade noch rechtzeitig den Ausnahmezustand für Lima und neun weitere Departements verlängert, so daß Militär und Polizei nahezu ungehindert von gesetzlichen Beschränkungen einschreiten konnten.
Die Radikalität der Maßnahmen Fujimoris dürfte vor allem das Ergebnis seiner vor kurzem in Japan und den USA geführten Gespräche sowohl mit Regierungsstellen als auch mit Vertretern von IWF und Weltbank sein. Um die Kredit-ürdigkeit Perus wiederherzustellen, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich nach den aus Washington gestellten Bedingungen zu richten. Die völlige Ausplünderung der Devisenreserven mangels anderer Geldquellen und die tiefste wirtschaftliche Krise der neueren peruanischen Geschichte lassen ihm da keine andere Möglichkeit. Obwohl er die Wahl gegen Mario Vargas Llosa gerade wegen seiner Ablehnung eines Schockprogramms zur “Gesundung” der Wirtschaft gewonnen hatte, hält sich Fujimori an die von den Washingtoner Institutionen etablierten Spielregeln: Der Wechselkurs des Inti wurde freigegeben. Ab sofort soll das freie Spiel der Marktkräfte den Wert des Inti gegenüber dem Dollar regulieren. Die Beschränkungen auf Importe wurden weitgehend aufgehoben. Grundsätzlich gilt wie 1985 in Bolivien, 1989 in Brasilien, und in so vielen anderen Ländern der Peripherie, daß freie importe die nationalen Produzenten der internationalen Konkurrenz aussetzen und somit effektivieren sollen. Es sei denn, die nationale Produktion stirbt vorher eines schnellen Todes. Die Erfahrungen mit der Durchführung von Strukturanpassungsprogrammen in vielen Ländern zeigen, daß die Gefahr einer Rezession bis hin zur Existenzbedrohung der nationalen Produktion außerordentlich groß ist. Genauso oft ist dies heraus-gestellt und kritisiert worden, aber nichtsdestotrotz wird das universal gültige IWF-Sanierungsrezept bisher nicht modifiziert.
Der für die Menschen in Peru am unmittelbarsten spürbare Teil des Maßnahmenkataloges besteht in den Preissteigerungen für Grundnahrungsmittel und Benzin. Für Zucker, Milch, Brot und Nudeln stiegen die Preise zwischen 200 und 300%. Am schwersten wiegt die Benzinpreissteigerung um das Dreißigfache(!). Jede Verteuerung des Benzins bedeutet höhere Transportkosten und schlägt somit wiederum auf fast alle anderen Preise durch. Zur sozialen Abfederung erhöhte Fujimori den Mindestlohn auf umgerechnet 50 US$.Fast gleichzeitig wurde der Warenkorb des Mindestnotwendigen amtlich mit 270 US$ im Monat angegeben: Die Kapitulation vor der Armut, statistisch fixiert.

Der Präsident auf der Suche nach Verbündeten

Fujimori wurde gewählt, weil er den Ausweg aus der Wirtschaftskrise ohne Schockprogramm versprach. Nun führt er genau dieses durch und muß sich um politische Unterstützung bemühen. Entgegen verbreiteter Spekulationen und Unterstellungen im Wahlkampf hat Fujirnori die APRA konsequent von den wichtigen Positionen seiner Regierung ferngehalten. Die APRA ihrerseits erregt sich über den Wahlbetrug und darüber, daß sich das Wirtschaftsprogramm kaum von den Vorschlägen Vargas Llosas unterscheidet. Dies kann allerdings kaum darüber hinwegtäuschen, daß die Ex-Regierungspartei zunächst einmal mit ihrer eigenen Krise beschäftigt ist und außerdem wohl eine Einladung zum Mitregieren nicht ausgeschlagen hätte. Der verschmähte Bräutigam ist beleidigt.
Programmatisch steht Fujimori inzwischen Vargas Llosas Vorschlägen am nächsten, ohne jedoch auf die Unterstützung der Rechten bauen zu können, nachdem er ihr in der Wahl gerade erst den sicher geglaubten Sieg abgenommen hat. Vargas Llosa hat sich nach Europa zurückgezogen. Sein “Movimiento Libertad”, in-zwischen in “Liberale Partei” umbenannt, soll nach dem Verständnis der Parteiführer um Alvaro Vargas Llosa und Enrique Ghersi die reine Lehre der totalen Marktwirtschaft in Opposition zur Regierung weitertragen. Ihr Diskurs beruft sich auf Modernität und Effektivität. Die traditionellen Konservativen sind für sie die eigentlichen Schuldigen an der Wahlniederlage, da sie zu sehr der “alten” Klientelwirtschaft und Korruption verhaftet seien. Stattdessen soll wiederum Vargas Llosa diese neue Rechte 1995 in den Wahlkampf führen. Trotz der inhaltlichen Nähe zu Fujimori können sie ihn von rechts durch einen zumindest verbal noch radikaleren marktwirtschaftlichen Diskurs attackieren, ohne für die Folgen der Anpassungsmaßnahmen jetzt politisch verantwortlich zu sein. Nur müßten sie es schaffen, bei einem Scheitern Fujimoris das Volk für ein, gegenwärtig nicht gerade populäres, noch radikaleres marktwirtschaftliches “Rettungsprojekt” zu gewinnen.

Das Kabinett: Alle dürfen mal

Abgesehen von der eindeutigen Ablehnung der Ex-Regierungspartei und der (zumindest bisherigen) Opposition der Neuen Rechten zeigt Fujimoris Kabinettsliste eine eklektische Mischung von Inhalten und Personen:
Starker Mann im Kabinett ist Juan Carlos Hurtado Miller, in Personalunion Ministerpräsident und Wirtschaftsminister. Er kommt aus der Acción Popular(AP) des konservativen Ex-Präsidenten Belaunde, eine der im Wahlkampf zum Rechtsbündnis FREDEMO zusammengeschlossenen Parteien zur Unterstützung der Kandidatur Mario Vargas Llosas. Hurtado hätte die AP wohl gerne in eine Koalition mit Fujimoris “Cambio 90 geführt. Trotz des Bruchs der FREDEMO konnte er die AP aber nicht dazu bewegen, und so mußte er aus der Partei aus-treten, um das Regierungsamt antreten zu können. ihm blieb die undankbare Aufgabe überlassen, für den Wirtschaftsplan der ersten Tage zusammen mit Fujimori verantwortlich zu zeichnen.
Drei Ministerien gingen an linke PolitikerInnen : Fernando Sanchez Albaneyra als Minister für Energiewirtschaft und Carlos Amat y León für Landwirtschaft kommen von der “Izquierda Socialista”(IS), Erziehungsministerin Gloria Helfer von der “Izquierda Unida”(IU) . Die politische Linie der beiden zerstrittenen Bruchstücke der einstmals starken IU ist noch nicht auszumachen. Einerseits befinden sich die drei MinisterInnen im Kabinett, andererseits stehen die Parteiführungen, ganz zu schweigen von der Basis, in klarer Opposition gegen die Schockpolitik.

Machtgrundlage Militär: Priorität für dasautoritäre Modell

Zwei wichtige Positionen werden von Militärs besetzt: Innenminister wurde General Adolfo Alvarado, ein aktiver Offizier, während das Verteidigungsministerium von einem General im Ruhestand, Jorge Torres Aciego, übernommen wurde. Torres war Berater des reformistischen Militärregimes Velasco Alvarado gewesen. Neben der Suche nach einer Mehrheit in Abgeordnetenhaus und Senat baut Fujimori offensichtlich auf die Streitkräfte als Machtbasis. Direkt nach Amtsantritt nahm er Umbesetzungen an der Spitze des Militärs vor. Marineoberbefehlshaber Admiral Alfonso Panizo mußte gehen, ebenso wie Luftwaffengeneral Germán Vucetich. Solidantätsadressen an die abgesetzten Offiziere zeigen, daß die Entscheidungen im Militär nicht unumstritten sind. Die argentinische “Página12 berichtet sogar von offener Rebellion in der Marine gegen die Degradierungen. Aber Fujimori hat sich in der ersten Machtprobe durchgesetzt. Dazu der FREDEMO-Senator Raúl Ferrero: “Fujimori scheint ein autoritäres Herrschaftsmodell mit der Unterstützung der Streitkräfte anzustreben.” Zunächst einmal hat Fujimori seine Kandidaten in Führungspositionen untergebracht, aber eine weitere Machtprobe steht ihm bevor. Spätestens im November stehen die Beförderungen bei den Streitkräften an, die vom Senat ratifiziert werden müssen. Es ist denkbar, daß die unter Fujimori Zukurzgekommenen versuchen werden, direkt mit den großen Fraktionen im Senat zu verhandeln. Fujimori selbst verfügt dort nur über 23% der Stimmen -nicht genug, um sich ohne politischen Partner bei den Streitkräften den Rücken freizuhalten. Womit er wiederum vor dem Problem der Partnersuche steht …
Während Fujimori am Heranziehen zusätzlicher Stützen seiner Macht arbeitet, bröckeln schon die Pfeiler, auf die er sich verlassen zu können glaubte. Wichtige Mitarbeiter seiner eigenen Partei kündigten ihm bereits die Mitarbeit auf. Darunter ist Santiago Roca, der als Wirtschaftsberater Fujimoris im Wahlkampf gegen die Schockstrategie Vargas Llosas ein Konzept der graduellen Anpassung setzte und vom Sinneswandel Fujimoris genauso kalt erwischt wurde wie die Öffentlichkeit.

Zunehmende Militarisierung der Auseinandersetzungen

Der Verlauf des ersten Monats nach der Verkündung des Wirtschaftsprogramms bestätigt die Befürchtungen über die zunehmende Militarisierung der politischen Auseinandersetzung. Für den 16. August riefen die beiden großen Gewerkschaftsdachverbände, die kommunistische CGTP (Confederacion General de Trabajadores del Perú) und die apristische CTP (Confederacion de los Trabajadores del Perú) zu einem nationalen Protesttag auf. Versuchte Demonstrationen wurden von Polizei und Militär aufgelöst. Von Gewerkschaftsseite wurde von 30 Verletzten und über 200 Verhafteten gesprochen. Eine Streikwelle angefangen von den Bankangestellten bis zu den Sozialversicherungen legt immer wieder Teile des Landes lahm. Für den 21/22. erklärte die CGTP den Generalstreik, ebenso wie die CTP für den 24.August. Die Berichte über dessen Verlauf sind scheint weitgehend befolgt worden zu sein.
Ebenfalls für den 2l.und 22.August rief Sendero Luminoso zu einem “Paro Armado”, einem bewaffneten Streik, auf. Sowohl Sendero als auch MRTA haben seit Anfang August wieder durch ganze Serien von Anschlägen auf sich aufmerksam gemacht. So plazierte Sendero z.B. eine Autobombe direkt hinter dem Präsidentenpalast. Die Meldungen von Juli über die tiefe Krise Senderos scheinen etwas verfrüht gewesen zu sein. Trotzdem war der 21.August offenbar kein voller Erfolg für die Senderistas. Der Streik verlief -unter dem Druck der Repression-relativ ruhig.

Allein gegen fast alle

Die Frage für Fujimori ist, ob er das Strukturanpassungsprogramm gegen die entschiedene Opposition der meisten politischen Kräfte, ohne Mehrheit im Parlament, diskreditiert in der öffentlichen Meinung und gestützt fast nur auf bestimmte Kreise der Streitkräfte und einige Abgeordnete durchsetzen kann. In Bolivien 1985 waren die Maßnahmen kaum weniger einschneidend, aber die Volksbewegung befand sich in einer tiefen Krise, und in der Bevölkerung gab es eine ausgeprägte “Da müssen wir durch” -Stimmung. Die Proteste der Opfer -der Bevölkerung der Minengebiete z.B. -wurden in der öffentlichen Meinung schlicht nicht zur Kenntnis genommen, noch weniger auf politischer Ebene. Zwar ist inzwischen eine leichte Stabilisierung zu beobachten, einige Preise wurden wieder etwas herabgesetzt, weil die Nachfrage fast auf Null gesunken war. Trotzdem wird in Peru eine höhere Opferbereitschaft der Bevölkerung für den wirtschaftspolitischen Kurs der Regierung nicht so leicht zu erreichen sein. Ohne ein Konzept zur Beendigung des Krieges wird kein peruanischer Präsident eine breite Unterstützung im Volk bekommen. In den “Sectores Populares”, der Masse der Bevölkerung, sind Sympathien für Sendero nur sehr begrenzt vorhanden. Eine Zusammenarbeit mit den Organisationen der Volksbewegung, ohne die Sendero nicht zu bekämpfen ist, ist aber unter den Prämissen von wirtschaftlichem Schockprogramm und Militarisierung der politischen Auseinandersetzung nicht vorstellbar. So scheint Fujimori schließlich auf dem Weg in die gleiche Sackgasse wie seine Vorgänger zu sein. Er wählt Repression und erklärt damit nicht nur Sendero, sondern auch gleich Gewerkschaften und Volksorganisationen zu seinen Gegnern. Bis jetzt ist er konsequent in der Anwendung seiner Mittel: für die Woche vor dem 18.9. werden allein aus Lima 25.000 vorläufige Verhaftungen gemeldet. 4.000 der Betroffenen wurden bis jetzt nicht wieder frei-gelassen. Als Legitimation dient der “Kampf gegen die Subversion”.
Wie sagte Herr Alberto Fupmori so schön, als er sich zum ersten mal nach Amts-antritt wieder in der Öffentlichkeit zeigte: “Alles, was heute scheinbar nicht vorteilhaft für das Volk ist, ist es im Grunde genommen doch.” Na also!

Zukunftswerkstatt Kontinent – Volkserziehung in Lateinamerika

Die Autoren und Herausgeber Trudi und Heinz Schulze setzen sich schon seit Jahren mit dem Thema Volkserziehung auseinander und haben es in der Bundes­republik schon durch frühere Veröffentlichungen einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Mit diesem Band legen sie nun eine Sammlung von Beiträ­gen vor, die für jeden, der sich mit Fragen der Volksbildung und Basisorganisa­tionen in Lateinamerika auseinandersetzen will, unerläßlich ist. In erster Linie, weil hier grundlegende Erkenntnisse maßgeblicher Theoretiker der educación popular in übersichtlicher und leicht verständlicher Form zusammengefaßt wurden. In zweiter Linie, weil dabei einer kritischen Selbst-Hinterfragung ihrer theoretischen Aussagen und der Volksbildungs-Praxis der letzten zehn Jahre besondere Bedeutung beigemessen wurde.
Natürlich steht zunächst die Arbeit einer Persönlichkeit im Vordergrund: Die des Brasilianers Paulo Freire, der in verschiedenen Ländern des Kontinents sowie in Guinea Bissau lange Jahre hindurch Erfahrungen in der Volkserziehung sammelte. In den 70er Jahren wurden einige seiner Beiträge auch ins Deutsche übersetzt. “Erziehung als Praxis der Freiheit”, richtete sich als Kritik gegen die bestehenden hierarchisch organisierten und sozial diskriminierenden formalen Bildungssysteme. Auf der anderen Seite wies sie den Weg der Selbstorganisation und Bildung der armen Massen und damit den ihrer Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung.
Seit damals hat Freire seine Arbeit mehrfach kritisch hinterfragt und vor allem sein Konzept der “conscientizaçâo”, der Bewußtseinsbildung der Massen, revi­diert. Er selbst kann als Beispiel für jemand gelten, der immer wieder in der Pra­xis der Volkserziehung seine Rolle als Intellektueller hinterfragt hat, um seinem eigenen theoretischen Anspruch an einen “organischen Intellektuellen” gerecht werden zu können.
In mehreren Beiträgen wird das urspünglich gramscianische Konzept des organi­schen Intellektuellen aufgegriffen. So erläutert Carlos Nuñez, der in Mexico in der Volkserziehung tätig ist, die Aufgaben des Intellektuellen als Koordinator, Promoter und Erzieher. Als “externer Agent” kann er nicht, wie es die klassische Rolle des Lehrers zuweist, dozieren und fertige Inhalte vermitteln, sondern er muß in erster Linie versuchen, die Interessenorganisation zu stärken, damit sie die von ihr selbst gesetzten Ziele erreichen kann. Erste Voraussetzung dafür ist zuallererst, daß er die soziale Wirklichkeit seines Arbeitsfeldes tatsächlich kennt. Mit allen avantgardistischen Positionen, die bis heute noch oft linke Politik in Lateinamerika bestimmen, wird hier hart ins Gericht gegangen.
In einem Beitrag der argentinischen Bildungsforscherin Adriana Puiggros werden zudem nicht nur bürgerliche Bildungskonzeptionen, sondern gerade auch die lange Jahre aufrechterhaltene linke Kritik daran kritisiert. Wer Erzie­hung nur als ideologischen Staatsapparat definiert, verstellt gerade die Perspek­tive, sie auch als politisch-ideologische Kampfplattform begreifen zu können. Den gerade für das Freiresche Konzept der Volkserziehung wesentlichen Aspekt hat diese Kritik nie richtig berücksichtigt: Daß das Ziel von Volksbildung eben nicht nur Wissensvermittlung (z.B. die Alphabetisierung) oder Vermittlung ideologischer Inhalte sondern selbst schon der Weg der Befreiung ist. Im Beitrag von Gianotten und de Witt werden systematisch Schwächen der Volkserziehung und, wie sie sie in Anlehnung an Freires Begriff bezeichnen, linken Bankierser­ziehung aufgezeigt.

Aber das Buch bietet mehr als reine Theoriediskussion. Die Methodologie der Volkserziehung wird an Beispielen aus der Praxis erläutert. Die Beiträge von Oscar Jara, Koordinator des Mittelamerikanischen Zentrums für Volkserziehung (ALFORJA), und von Carlos Nuñez, der in Mexiko ebenfalls im Rahmen von ALFORJA arbeitet, verweisen auf die politische Dimension der educación popu­lar und auf ihre Bedeutung im Rahmen der Gemeinwesenarbeit. “Welche Risiken liegen in der Einflußnahme von gesellschaftlichen Institutionen wie Kirche, Par­teien und Gewerkschaften, vermittelt über die educación popular, auf die Basis­organisationen?”, ist eine der wesentlichen Fragen, der in weiteren Beiträgen nachgegangen wird.
In Länderberichten zu Brasilien und Chile werden auch historische Erfahrungen mit der Volkserziehung beleuchtet. Der Beitrag zu Kuba bietet dagegen bedauer­licherweise kaum einen Einblick in die reale Situation der Volkserziehung. Ein gerade heute spannendes Thema, wenn es darum geht festzustellen, welche Fort­schritte in 30 Jahren Revolution und sozialistischer Erziehung erzielt worden sind.
Beispiele aus der Praxis, von Frauenorganisationen, der Alphabetisierungsarbeit, Volkstheater bis zu Volksbüchereien runden die Beiträge zur “Zukunftswerkstatt Kontinent” ab.

Trudi und Heinz Schulze (Hg.): ZUKUNFTSWERKSTATT KONTINENT – Volkserziehung in Lateinamerika, München 1989. Erschienen in der Reihe: AG SPAK-Publikationen, Adlzereiterstr. 23, 8000 München 2. ISBN 3-923126-57-3.

Amazonien

Die COICA ist ein Organ, das am 26. März 1984 in Lima von den nationalen indianischen Organisationen selbst gegründet wurde. Zur Zeit gehören ihr fünf nationale Organisationen (aus Peru, Bolivien, Ecuador, Kolumbien und Brasilien) mit jeweils diversen Unterorganisationen an, die zusammen Bevölkerung von über 1 Millionen Menschen vertreten. Als ihre Funktionen gibt die COICA an:
-die Mitgliedsorganisationen vor verschiedenen zwischenstaatlichen Instanzen und Nicht-Regierungs-Organisationen auf nationaler Ebene zu vertreten;
-die territorialen Forderungen, die Selbstbestimmung und die Respektierung der Menschenrechte der indianischen Völker durchzusetzen;
-die Einheit und gegenseitige Zusammenarbeit zwischen allen indianischen Völkern zu stärken;
-die Erneuerung der kulturellen Werte und die integrale Entwicklung all ihrer Repräsentanten in jedem Land, zweisprachige interkulturelle Erziehungsprogramme und Gesundheitsarbeit in jedem Mitgliedsland bei gleichzeitiger Achtung seiner Autonomie und unter Wahrung seiner Sitten und Besonderheiten zu gewährleisten.
die COICA durch Einbeziehung oder den Anschluß weiterer indianischer Organisationen zu erweitern.

Indianisches Leben und Territorium als Strategie zur Verteidigung Amazoniens

1. Wir sind hier -indianische Völker und Umweltorganisationen -da wir ein Interesse gemein haben: den Respekt für die Welt, in der wir leben, und den Schutz dieser Welt, sodaß die gesamte Menschheit ein besseres Leben haben kann. Ein wesentlicher Punkt dieses Anliegens ist die Erhaltung des amazonischen Regenwalds. Wir indianischen Völker und unsere Territorien in Amazonien gehören uns gegenseitig, wir sind eins. Die Zerstörung eines Teiles von Amazonien betrifft alle anderen Teile.

2. Seit langer Zeit haben wir in dem Wald gelebt und ihn genutzt, ohne ihn zu zerstören. Wir haben ihn in einer ganzheitlichen und integralen Weise bewirtschaftet-und wir waren jahrhundertelang seine Verteidiger. Unsere Völker wurden geschwächt und als Resultat dessen ist auch der Schutz Amazoniens verringert worden. Heute sind wir erneut die wichtigsten Protagonisten der Verteidigung und des Schutzes Amazoniens.

3. Wir sind an einem Scheideweg angelangt. Werden wir verschwinden oder werden unsere Völker und der Wald überleben? Da der Wald für uns keine Ressource ist, ist er das Leben selbst. Er ist für uns der einzige Ort zum Leben. Die Abwanderung bedeutet, als Volk zu sterben, da der Amazonas das einzige Erbe ist, das wir unseren Kindern hinterlassen können. Diese Tatsache steht hinter unserer Energie und Entschiedenheit ohne Zaudern oder Umkehr.

4. Der Wald wurde von jenen ausgebeutet, die auf unmittelbaren Gewinn aus waren, der zur Überausbeutung der Ressourcen führt und uns die Möglichkeit einer Zukunft vernichtet. Im Gegensatz dazu denken wir indianischen Völker sowohl an uns wie an den Wald als eine Einheit.

5. In dem Maße wie die Zerstörung alarmierend wird, hat sich die Sorge um Amazonien ausschließlich auf die Natur konzentriert, ohne die Zerstörung der indianischen Völker in Betracht zu ziehen. Millionen Dollars wurden in Parks und in den Naturschutz investiert, wobei die Hauptgaranten die durch kurzfristige Interessen motivierten Regierungen waren.

6. In einigen Fällen haben leider Parks und andere Schutzmaßnahmen dazu gedient, uns Indianern weitere Grenzen aufzuerlegen. Sie engen uns ein und wir verlieren die Kontrolle über unsere Gebiete. Oftmals haben sich Parks nur als Reserven für eine zukünftige Ausbeutung von 01, Gold und Holz erwiesen. Parks sind keine Realität in dem Sinne wie Völker es sind. Parks sind nur ein Dekret, etwas, das sich jederzeit ändern kann, das abhängig ist und vergewaltigt werden kann.

7. Technische Kriterien für Parks und wissenschaftliche Interessen an ihnen stellen eine Schranke dar, die viel weniger effektiv ist als die Verteidigung, die ein Volk mit einer Projektion in die Zukunft ausübt. Aber gemeinsame Aktionen beider könnten effektive Resultate erzielen.

8. Daher ist es unser Anliegen, daß indianisches Territorium anerkannt und zurückgewonnen wird, durch welche legalen Mittel auch immer. Konzept und Richtlinie für die Bewirtschaftung der Territorien sollte die Kultur der indianischen Völker, die dort leben, sein. Wie es dem Recht aller Völker entspricht, sollten die Indianer die breitest mögliche Kontrolle haben über alle Ressourcen, die auf ihren Gebieten zu finden sind.

9. Das indianische Territorium als ein physischer Raum, eder in einer diversifizierten und integralesn Weise bewirtschaftet wird, ist Naturschutz im besten Sinne des Wortes. Es ist kein Schutz wie in einem Museum, dessen Resultate so enttäuschend waren.

10. Wir haben kein Lehrbuch, sondern vielmehr eine uralte Kultur.

14. Das Recht auf Territorien bedeutet für uns, eine direkte Vertretung als Volk -nicht nur als Bevölkerung -ausüben zu können, in welcher Diskussion auch immer, sei sie national oder international, politisch oder wissenschaftlich.

15. Wenn diese Kriterien in logischer und gerechter Weise angewandt werden, dann ist es klar, daß unsere Präsenz in Amazonien viel größer ist als die offizielle Politik zugibt, die uns spaltet und als Minderheiten, die im Aussterben begriffen sind, darstellt. Unsere Präsenz in Amazonien und unsere Fähigkeit, seine Zukunft zu bestimmen, wird anerkannt werden, wenn wir die notwendige ideologische Unterstützung erhalten.

16. Aufgrund aller oben genannter Gründe schlagen wir vor, daß die Umweltschützer der Welt sich mit den indianischen Völkern verbünden, um unser gemeinsames Ziel zu erreichen.

Wir laden Euch ein, diesen Schritt hier und heute zu tun.

Iquitos, 9. Mai 1990

Die Abschlußdeklaration, die den Forderungen der COICA voll entspricht, wurde von 26 teilnehmenden und 14 beobachtenden Organisationen aus Amerika und Europa unterschrieben. Ein Folgetreffen im September 1990 in Washington D.C.wurde vereinbart.

Demokratie und Marktwirtschaft – real existierend

Zwischen Liberalismus und Sozialismus

Den verbissenen Liberalen war die Demokratie schon im­mer unheimlich. Demo­kratie bedeutet zunächst einmal Po­litik. Demokraten maßen sich an, in das freie Leben der Gesellschaft und vor allem der Wirtschaft politisch einzugreifen. De­mokratie bedeutet weiter das Bemühen um kollektive Entscheidungen. Demo­kraten maßen sich an, sich über die freien Entscheidungen der Individuen und vor allem der Wirtschaftssub­jekte gemeinsam hinwegzu­setzen. Und schließlich bedeutet Demokratie eine Begün­stigung der Mehrheit. Demokraten dulden oder begrüßen es gar, daß den Interessen der zahlenmäßigen Mehrheit mehr Rech­nung getragen wird als der zahlungsfähigen Nachfrage.
Wo Demokratie überhaupt wirksam wird, greift sie in den freien Markt ein, setzt sie ihm Grenzen, reguliert sie ihn. Insofern erscheint eine funktionierende Demo­kratie den verbissenen Liberalen bereits als das Schlimmste, was sie sich vorstel­len können: als Sozialismus. Die Mili­tärputsche, die zwischen 1964 und 1976 in Südame­rika die demokrati­schen Regierungen Brasiliens, Boli­viens, Uruguays, Chiles und Argenti­niens hinwegfegten, wurden deshalb von ihnen als antisozia­listische “Befreiungsaktionen” begrüßt.
Nun steht Demokratie aber nicht umsonst unter dem So­zialismusverdacht. Was immer in den kapitalistischen Industriegesell­schaften an sozialem Fortschritt und so­zialer Gerechtigkeit gegen den Widerstand der Manche­sterkapitalisten und anderer erreicht worden ist, konnte nur in dem Maße erkämpft und gesichert werden, wie gleichzei­tig die Demokratie als politisches System erkämpft und ge­sichert wurde. Umverteilung zugunsten der zahlenmäßig starken, aber ökono­misch schwachen Schichten kann dauerhaft nur wirksam sein, wo aner­kannt ist, daß die Mehrheit das Recht hat, in einem kollektiven Ent­scheidungsprozeß ihre Interessen durch­zusetzen. Es ist daher auch nicht erstaunlich, daß die internatio­nale Arbeiterbewegung Demokratie immer als eine Voraussetzung für Sozialis­mus und diesen als die Vollendung der Demokratie begriffen hat.
Der real existierende Sozialismus osteuropäischer Prä­gung hat diesen Anspruch, Vollendung der Demokratie zu sein, durchaus aufrechterhalten. Aber er hat die Be­weisführung einfach umgedreht, um sich diesen Vorzug möglichst lange in die Tasche lügen zu können: Schon weil eine Entscheidung im vorgestellten Interesse oder auch nur im Namen einer strukturellen Mehrheit gefällt wurde, konnte sie nach dem dort geltenden Schema als sozialistisch und damit auch als demo­kratisch gelten. Schon weil das System den Kräften des Marktes keinen Raum ließ und alle Handlungen als bewußte politische Maßnahmen wer­tete und einem Plan unterordnete, glaubte es, den Anspruch auf Ver­wirklichung des Sozialismus und daraus dann auch noch den Anspruch auf Vollendung der Demokratie ab­leiten zu können. Es ist gerade diese An­maßung, die bei der ersten Befragung des wirklich exi­stierenden Volkswillens in den meisten Ländern Osteuro­pas zum Sturz des Systems geführt und die verheerende Diskreditierung des Begriffs So­zialismus offengelegt hat.

Marktwirtschaft – fast allenthalben

Spätestens seither hat sich das Generalthema der welt­weiten politisch-ökonomi­schen Debatte gründlich ver­schoben. Statt eines Kampfes zwi­schen den extremen Po­len eines Manchesterkapitalismus einerseits und einer alle Marktmechanismen ablehnenden Planwirtschaft gibt es, sieht man von Fidel Castros Kuba ab, nur noch die allgemeine Akzeptanz der Marktwirtschaft. Und noch mehr: Auch daß sie sozial und ökolo­gisch orientiert sein muß, ist von Alaska bis Kamtschatka, von Spitzber­gen bis Feuerland völlig unumstritten. Der Streit geht nur noch darum, was das denn nun im einzelnen heißen soll: sozial und ökolo­gisch orien­tiert.
Diese Debatte ist auf merkwürdige Weise einförmig geworden. Als ob die Welt bereits eine einzige geworden sei, dreht sie sich in allen Län­dern, ob reich, ob arm, ob stark, ob schwach, nur um die scheinbar überall gleiche Frage nach dem grundsätzlich richtigen Ausmaß der Regulierung oder Deregulierung. Dabei wird übersehen, daß in einem armen, unterentwickelten Land im Rahmen der Marktwirtschaft mit keinem Grad von Regulierung oder Deregulierung auch nur ein Bruch­teil dessen erreicht werden kann, was etwa in der Bundesrepublik Deutschland an sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Vernunft im Prinzip durchsetzbar und finanzierbar wäre.
Es gibt eben nicht eine einzige, weltweite Marktwirt­schaft, über deren soziale und ökologische Orientierung weltweit gestritten werden könnte, sondern es gibt viele verschiedene Marktwirtschaften, die mit den in­ternationalen Märkten für Waren, Dienstleistungen, Ka­pital, Technolo­gien und Arbeitskräfte in unterschiedli­chem Ausmaß verbunden sind. Welche Marktwirtschaften sich von welchen internationalen Märkten abkoppeln dür­fen – wie Westeuropa von den internationalen Märkten für Arbeitskräfte und für Agrarprodukte – und welche Marktwirtschaften von welchen internationalen Märkten ausgeschlossen werden – wie Ost­europa von bestimmten Technologien -, darüber entscheiden allein die Regie­rungen der reichsten Länder. Sie sind deshalb die ein­zigen, die innerhalb dieses halbfreien Weltmarktes noch über ein Minimum an Kontrolle über die Koordinaten der eigenen Marktwirtschaft verfügen und damit im Prinzip für eine soziale und ökologische Orientierung sorgen könnten.
In den lateinamerikanischen Ländern dagegen erleben wir die Markt­wirtschaft, wie sie real existiert. Die für ein auch nur normales Funk­tionieren der inneren Markt­kräfte erforderliche Kontrolle der äußeren Bedingungen ist den Regierun­gen unmöglich gemacht. Dem Fluchtkapi­tal können keine Grenzen gesetzt wer­den, ihm sind die Tore der inter­nationalen Banken weit geöffnet. Dagegen haben Arbeitslose keine Chance, als Wirtschaftsflücht­linge im reichen Ausland Auf­nahme zu finden. Um auch nur die Zinsen für die enormen Auslandsschulden bezah­len zu können, müssen unentwegt riesige Exportüber­schüsse erzielt wer­den, während die reichen Länder gleichzeitig den Import bestimmter Produkte erschweren oder verwehren. Intensive Ausbeutung aller men­schlichen und na­türlichen Ressourcen, das Gegenteil also von so­zialer und ökologischer Orientie­rung, werden zur Pflicht.
Jede auf Wachstum zielende wirtschaftspolitische Stra­tegie hat zur Vorausset­zung eine noch tiefere Verbeu­gung vor der Macht des in- und ausländischen Ka­pitals und einen Panzerschutz gegen das Aufkommen sozialer Ge­fühle. Und Wachstum ist nicht nur gefordert, weil man gern etwas umverteilen würde, son­dern schon, weil die Zinsen zu bezahlen sind. Politik beschränkt sich auf die Ein­sicht in die Notwendigkeit des Sachzwangs.

Warum eigentlich Demokratie?

Seit langem ist die Abhängigkeit Lateinamerikas von den Zentren des Weltkapi­talismus nicht so eindeutig und so sichtbar gewesen wie heute, aber noch nie wurde so we­nig davon gesprochen. Die demokratisch ge­wählten Präsi­denten und Regierungen des Subkontinents erheben den Anspruch und erwecken den Anschein unbezweifelbarer Souveränität – und beugen sich vor dem Sachzwang, frei­willig, aus Einsicht in die Notwendigkeit. Von Abhän­gigkeit zu sprechen gilt nicht mehr als fein.
Nun hat Demokratie ja eigentlich nicht die Funktion, den Sachzwang zu vollzie­hen, sondern dem Volkswillen Ausdruck zu verschaffen. Und wo der Sachzwang ganz ein­deutig den unmittelbaren Interessen der großen Mehrheit entgegensteht, wäre eigentlich die große Revolte zu er­warten, die sich dann auch gegen eine als ungenügend oder betrüge­risch empfundene Demokratie richten würde. Es fehlt auch nicht an Revolten. Die heftigen Unruhen in Caracas vom Februar 1989, die poli­tischen Proteste in Mexiko nach den letzten Präsidentschaftswahlen, die Gue­rilla-Bewegungen in Peru oder die Streiks in Managua vom Juli 1990 sind Anzei­chen einer großen sozialen und politischen Unzufrieden­heit bei breiten Bevölkerungs­schichten. Aber sie verdecken nicht den anhaltenden Trend eines breiten Siegeszugs der Demokratisierung in (fast) ganz Lateinamerika. In einem Kontinent, in dem vor zehn Jahren Generäle in den meisten Ländern das un­beschränkte Sagen hatten, ver­geht heute kaum ein Monat, in dem nicht irgendwo das Volk zur Wahl­urne gerufen wird. Wer hat daran ein Interesse?
Die Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaft­ler, die sich mit den De­mokratisierungsprozessen in La­teinamerika beschäftigt haben, haben sich in der Regel auf die Logik der inneren Entwicklung der Militärdikta­turen konzentriert und aus dem sich kumulierenden Legi­timationsdefizit die geradezu zwangsläu­fig sich erge­benden Demokrati­sierungstendenzen erklärt. Auf diese Art sind viele kluge und differen­zierende Analysen ent­standen, über denen aber die hi­storisch-soziale Bedeu­tung der Militärdiktaturen nicht verloren gehen darf: Zwi­schen den Demokratien vorher und hinterher klafft ein himmelweiter Unter­schied.
Die lateinamerikanischen Demokratien, die in den sech­ziger Jahren mit der Hilfe ausländischen Kapitals die Strategie der importsubstituieren­den Industrialisie­rung verfolgten und dann Anfang der siebziger Jahre zusammen mit anderen Ländern der Dritten Welt für die Schaffung ei­ner Neuen Weltwirtschaftsordnung eintraten, haben sich unter dem Druck der Wählerinnen und Wähler bemühen müssen, ihrer Marktwirt­schaft eine soziale Orientierung zu geben – von ökologi­scher Orientie­rung sprach damals noch niemand. Die sozialisierenden Tenden­zen der Demokratien bedrohten die freie Bewegung des Kapitals.
Die historisch-soziale Bedeutung der Militärdiktaturen – mit der Aus­nahme der peruanischen von Velasco Alva­rado 1968-1975 – bestand un­ter diesen Umständen in der Herstellung der vollen Bewegungsfreiheit des Kapitals, einer völligen oder doch – im Fall Brasilien – weitge­henden Integration in den Weltmarkt und der Ausrottung aller soziali­sierenden Tendenzen. Diese liberale Revo­lution, die zwei­fellos in Chile am gründlichsten be­trieben wurde, aber in den anderen Diktatu­ren kaum we­niger effektiv funktioniert hat, hat zum Ergebnis ge­habt, daß die neu erstandenen Demokratien auf einer völlig neuen Basis operie­ren, gewisser­maßen auf einer tabula rasa. Die heute real existierende Demokratie ba­siert auf der nackten Marktwirtschaft. Wo der Sach­zwang dieser real existierenden Marktwirtschaft regiert, be­darf es der Militärs nicht mehr.
Das hindert nun nicht, daß der Volkswille etwas anderes fordert: Die Präsident­schaftskandidaten Menem in Argen­tinien, Aylwin in Chile oder Fujimori in Peru haben sich in der letzten Zeit mit der Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit eindeutig gegen neoliberale Ri­valen durchgesetzt, die die herrschende Ungleich­heit auch noch zum Pro­gramm erhoben haben. Wenn man aber auch nur ihre er­sten Maßnah­men und Ankündigungen analy­siert, wird deutlich, mit welcher Konse­quenz sie sich dem Sachzwang der Marktgesetze gebeugt haben. Ihre wirt­schaftspolitischen Berater waren früher in der Re­gel die schärfsten Kritiker der neoliberalen Politik der Militärs. Heute dagegen warnen sie gelegentlich schon vor demagogischen Forderungen nach sozialer Ge­rechtigkeit wegen der damit verbundenen Gefahren für die frisch er­rungene Demokra­tie.
Und dennoch gibt es bei den Massen der Bevölkerung nur wenig wirkli­chen Überdruß. Sie wissen, daßie einzige reale Alternative die Dikta­tur ist, von der sie keine Verbesserungen ihrer wirtschaftlichen Situa­tion, wohl aber politische Unterdrückung und Menschenrechtsverlet­zungen erwarten können. Und man­che mögen immer noch hoffen, daß die innere Logik der Demokratie doch noch zu sozialer Gerechtigkeit oder zum Sozialismus führt.

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