LYNCHMOB VON GOTTES GNADEN

1968 ereignete sich im Dorf San Miguel Canoa im mexikanischen Bundesstaat Puebla eines der bekanntesten Verbrechen der jüngeren mexikanischen Geschichte. Fünf junge Mitarbeiter der Universität Puebla, die für den nächsten Morgen eine Bergtour geplant hatten und deshalb die Nacht in Canoa verbrachten, wurden von einem wütenden Lynchmob der Dorfbewohner*innen angegriffen, der vom einflussreichen Pfarrer des Dorfes angestachelt und bewaffnet worden war. Drei der Universitätsmitarbeiter und der Mann, der ihnen Unterkunft gewährt hatte, wurden brutal ermordet, zwei konnte schwer verletzt entkommen. Für die Verbrechen wurden nur wenige Personen zur Rechenschaft gezogen, die Urheber des Massakers gingen völlig straffrei aus.

Fotos: IMCINE y STPC, 2002

Sieben Jahre später veröffentlichte der Regisseur Felipe Cazals einen Film über die Geschehnisse. Canoa (deutscher Titel: Hetzjagd durch Canoa), der ein großer kommerzieller und künstlerischer Erfolg wurde. Bei der Berlinale 1975 gewann der in dokumentarischem Stil gehaltene und in nicht chronologischer Abfolge erzählte Film einen silbernen Bären. Bis heute gilt er als einer der besten mexikanischen Filme aller Zeiten.

Cazals setzte mit dem Film ein Zeichen gegen religiöse Verblendung und Amtsmissbrauch weltlicher und geistlicher Würdenträger. San Miguel Canoa war 1968 trotz seiner Nähe zu Puebla ein fast komplett abgeschottetes Dorf, in dem die lokalen Autoritäten ungestört schalten und walten konnten. Vor allem der örtliche Pfarrer nutzte dies, indem er auf eigene Faust Steuern eintrieb und die Bevölkerung zur Arbeit verpflichtete, oft ohne oder nur mit sehr geringer Bezahlung.

Der Pfarrer Canoas: Hassprediger und personifiziertes Sinnbild für Amtsmissbrauch

Die zu Zeiten des Kalten Krieges allgegenwärtige Paranoia vor Kommunist*innen machte er sich zu eigen, um die Bevölkerung, die zum großen Teil aus Analphabet*innen bestand, gegen Einflüsse von außen aufzuhetzen. Nicht zuletzt, um den Bevölkerungswegzug zu stoppen, der durch seine immer höheren Tributforderungen eingesetzt hatte. Als die nichtsahnenden Mitarbeiter der Universität Puebla ins Dorf kamen, wurden sie fälschlicherweise bezichtigt, eine kommunistische Fahne an der Kirche gehisst zu haben. Die Bevölkerung wurde daraufhin von den Kirchenglocken herbeigerufen und zog mit Fackeln, Äxten und Gewehren bewaffnet als wütender Mob zur Unterkunft der jungen Männer und verübte Selbstjustiz.

Felipe Cazals verwendet in dem Film mehrere Kunstgriffe, die ihn dokumentarisch wirken lassen, obwohl er keine echten Augenzeugenberichte enthält. Interviewsequenzen verschiedener Protagonisten werden in den Ablauf des Geschehens eingeschoben, die Figur eines Bauern agiert als Augenzeuge und Erzähler. Zeit- und Ortssprünge sowie der Dreh an Originalschauplätzen vermitteln die Situation extrem realistisch. Zudem hielt sich Cazals nah an die Fakten und dramatisierte die Handlung nicht durch geschliffene Dialoge oder Nebenschauplätze. Dennoch gelang es ihm, durch die unverbraucht-naive Darstellung der zutiefst unpolitischen Universitätsmitarbeiter im Kontrast zum berechnend agierenden (manchmal aber doch etwas arg dick auftragenden) Pfarrer, Spannung und Emotionalität zu erzeugen. Die Szene, in der der entfesselte Lynchmob die wehrlosen jungen Männer durch den Ort treibt, jagt einem auch heute noch Schauer über den Rücken – vor allem, wenn man an die johlenden Massen bei Veranstaltungen rechtspopulistischer Bewegungen der Gegenwart denkt. Dass Canoa erneut auf der Berlinale gezeigt wird, kann aber auch als Fingerzeig auf die aktuelle Situation in Mexiko verstanden werden, in der Amtsmissbrauch lokaler Behörden, Morde und Gewaltausbrüche in einigen Regionen mehr denn je traurige Realität sind. So könnte zum Beispiel der Fall der 43 aus Ayotzinapa verschwundenen Studenten schon bald Stoff für einen Film liefern, der im Geiste von Canoa ein grausames Verbrechen auf der Leinwand nachzeichnet und so für die Nachwelt festhält.

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