„WIR BEGINNEN NICHT BEI NULL“

Basisdemokratisch Wahl des Kommunalen Rats im Barrio Las Casitas im Juli 2022 (Foto: Tobias Lambert)

Kommunale Räte, in denen Nachbar*innen basisdemokratisch über die Verwendung von Geldern entscheiden, galten einst als Kernstück des linken Projektes unter dem 2013 verstorbenen Präsidenten Hugo Chávez. In den vergangenen Jahren wurden sie häufig von der Regierung vereinnahmt. Widerspricht dies nicht komplett der Grundidee?
Die Idee der Kommunalen Räte war, dass die Menschen Zugang zu Ressourcen brauchen, um wirkliche Macht ausüben zu können. 2005 kontrollierte der regierende Chavismus die große Mehrheit der Ämter, inklusive des Parlaments. Aber im Territorium, bei den Menschen vor Ort, kann kein gewählter Amtsträger, schon gar nicht der Präsident, permanent präsent sein. Dies kann nur die organisierte Bevölkerung als Selbstregierung von unten. Die Zentralregierung muss solche Prozesse eigentlich unterstützten und darf sie nicht vereinnahmen. Das war der strategische, theoretische Ansatz von Chávez. Es ging darum, eine andere Gesellschaft zu schaffen. Die Wirklichkeit sieht freilich anders aus.

Und zwar wie?
Von Anfang an gab es viele Konflikte mit der Regierungspartei PSUV (Vereinte Sozialistischen Partei Venezuelas) und immer Versuche der Vereinnahmung. Chávez wusste, dass seine politische Basis Parteien und Bürokratie gegenüber skeptisch war. Aber ab 2007 begann er parallel zu den Kommunalen Räten damit, die PSUV aufzubauen. Diese beiden Konzeptionen des Chavismus entwickelten sich also mehr oder weniger zeitgleich. Mit Blick auf die Partei war Chávez aber durchaus auch kritisch und sich über deren Grenzen bewusst. In seiner letzten programmatischen Rede 2012 hat er sich klar für die Comuna (Zusammenschluss mehrerer Räte, Anm. d. Red.) als Organisationsprinzip ausgesprochen.

Heißt das, von den beiden parallel verlaufenden Organisationsprozessen hat sich letztlich die Partei gegenüber basisdemokratischen Ansätzen durchgesetzt?
Die Parteiführung, und bis zu einem gewissen Punkt auch Chávez selbst, versuchten, die Bewegung einzufangen. Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sahen die Kommunalen Räte als Konkurrenz, die ihre eigenen Ämter bedroht. Die eigentliche Bedeutung des Ansatzes hat der regierende Chavismus nie verstanden. Es gab einzelne Kommunale Räte und Comunas, die viel Unterstützung erhielten und andere, in denen die Institutionen permanent ausbremsten. Schon während meiner Zeit als Minister gab es Stimmen, die sagten, in den Räten konzentriere sich die Opposition. Als könnten die Regierungsgegner in einem Territorium, in dem der Chavismus insgesamt eine deutliche Mehrheit hat, den Kommunalen Rat kontrollieren! Mit diesem Argument unterband die Regierung während der schweren Wirtschaftskrise ab 2016/2017 dann die Neuwahl der Sprecher*innen und Sprecher der Kommunalen Räte, um die Kontrolle über diese Räume nicht zu verlieren. Nun ändert sich das, seit Ende Juni finden wieder Wahlen statt.

Was steckt dahinter?
Es ist nicht klar, wie es zu dem Richtungswechsel in der Frage kam. Aber innerhalb der Institutionen nehmen einzelne Personen das Thema noch immer ernst. Die Wahlen der Sprecherinnen und Sprecher auszusetzen war nicht nur ungeschickt, sondern stellte das Eingeständnis dar, dass die Regierung nicht in der Lage ist, über demokratische Abstimmungen das Territorien zu kontrollieren. Einige Comunas haben sich widersetzt, zum Beispiel El Maizal im Bundesstaat Lara. Doch derartige Erfahrungen haben jeweils mit der spezifischen politischen Situation vor Ort zu tun, die von der Partei nicht gutgeheißen wird. Das sind aber genau die Erfahrungen, die auch außerhalb Venezuelas wahrgenommen werden. Dort, wo die Selbstregierung schwächer ausgeprägt war, haben sie von oben ihre Strukturen übergestülpt. Häufig waren diese aber nur deshalb so schwach, weil der Staat in den Jahren zuvor wenig Unterstützung geleistet hat.

Schon unter Chávez hieß es aufgrund der ständigen Bedrohung durch die Opposition oder die US-Regierung häufig, fundierte Kritik spiele der Rechten in die Hände. Kann sich ein revolutionärer Prozess ohne interne Kritik weiterentwickeln?
Bei dem Thema gab es immer Spannungen. Einerseits hatten wir die rechte Opposition, die den Chavismus als brutal, irrational und gewalttätig darstellte. Aber auch die Regierung hielt den Chavismus von unten als nicht gut genug vorbereitet, um sich selbst zu regieren. Einigen Regierungsmitgliedern galt die chavistische Basis eher als Mobilisierungsmasse für Kundgebungen. Sie sahen sie als Kunden, als Nutznießer des Staates. Dieser Ansicht nach fungierst du also nicht als Bürger, der Rechte hat, sondern als Hilfeempfänger. Wenn du Kritik übst, Dinge anzweifelst oder dich auf der Straße für deine Rechte einsetzt, bist du also undankbar und trägst zur Spaltung bei. Und Chávez selbst spielte eine ambivalente Rolle. Er forderte stets Kritik ein, nahm sie dann aber manchmal nicht gut auf.

Wie hat sich die Kritikfähigkeit unter der Regierung Maduro verändert?
Als Chávez starb, verfolgte Nicolás Maduro zunächst eine Politik, die er „Regierung der Straße” nannte und die ich immer verteidigt habe. Ein Jahr lang nahmen alle Minister und Ministerinnen landesweit an vielen Aktivitäten wie Versammlungen teil. Doch danach sind sehr viele Dinge passiert. Es ist unmöglich, die Entwicklung auf einzelne Ursachen zurückzuführen. Die strukturellen Grenzen der venezolanischen Ökonomie und der Verlust der historischen Führungsfigur setzte uns großen strategischen Gefahren aus. Hinzu kam ab 2014 der Verfall der Erdölpreise, dann die US-Sanktionen gegen staatliche Unternehmen und Banken, wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen und ein tiefes Misstrauen in die Selbstorganisierung der Bevölkerung wie Kommunale Räte, Comunas oder selbstverwaltete Betriebe. Und die Verschlimmerung der Krise diente als Rechtfertigung dafür, all dies hinter sich zu lassen, da man nun realistisch, pragmatisch sein müsse.

Was heißt das konkret?
Ab 2015 erlebten wir etwas, das unter Chávez verschwunden war. Wir mussten wieder für Dinge des täglichen Gebrauchs Schlange stehen. Erst ein paar Stunden, dann einen ganzen Tag, zwei Tage oder sogar noch länger. Wir standen nicht nur bei privaten Läden an, sondern auch bei staatlichen Einrichtungen. Und wir sahen, wie Staatsangestellte diese Dinge des täglichen Gebrauchs raubten. Das war erniedrigend. In einer Phase, in der es kaum mehr staatliche Mittel gab und Knappheit herrschte, sagte die Regierung dann: Das wenige Geld geht jetzt nicht mehr an die organisierte Bevölkerung, sondern wir gehen Allianzen mit dem Privatsektor ein. Wir produzieren nicht mehr mit Arbeitern im Kollektiv oder Kommunalen Räten, die nicht mit Geld umgehen können, wie einige von Anfang an behaupteten. Egal, ob es sich um Antichavisten handelt, Hauptsache, sie produzieren. Einige Regierungsvertreter sprachen zu dieser Zeit ernsthaft von einer „revolutionären Bourgeoisie“. Trotz allem gab es Gründe, weiterhin die Regierung zu verteidigen.

Inwiefern?
In dieser Phase gab es auch oppositionelle Gewalt gegen öffentliche Einrichtungen, Angriffe auf Chavisten und einen Attentatsversuch auf Maduro. In dem Kontext fühlst du dich beinahe dazu verpflichtet, die Regierung zu verteidigen. Gleichzeitig siehst du, wie sie neben dir klauen. Man muss die Regierung kritisieren, aber heute ist das schwierig geworden. Wenn verhaltene Kritik an einzelnen wirtschaftspolitischen Entscheidungen geübt wird, sind die offiziellen Reaktionen heftig. Es ist dann schnell von Verrätern, CIA-Infiltrierten oder Konterrevolutionären die Rede. Und das für Kritik an einer Wirtschaftspolitik, die sich eindeutig gegen die Unterschichten richtet. Es gibt Arbeiter, die in Haft sind, weil sie Korruptionsfälle angezeigt haben, etwa bei PDVSA [dem staatlichen Erdölunternehmen, Anm. d. Red.] oder der Flugsicherung. Ich glaube nicht, dass die Befehle für solche Repression von Maduro kommen, dass es eine Politik des Staates ist. Aber es sind staatliche Handlungsmuster. Entweder gibt es Repression oder du wirst ignoriert oder sie versuchen, dich zu kooptieren.

Außerhalb Venezuelas halten es viele Menschen für völlig unverständlich, dass der Großteil des Basischavismus angesichts dieser deutlichen Kritik nicht mit der Regierung bricht. Wie ist das zu erklären?
Das ist nicht so kompliziert. Politik findet nicht im luftleeren Raum statt. Vielleicht haben wir einen schlechten Weg eingeschlagen, aber eine Sache ist es, einen schlechten Weg einzuschlagen und eine andere, ins Leere zu springen. So brutal pragmatisch wie die Regierung im Ökonomischen ist, so brutal pragmatisch sind wir im Politischen. Trotz all der Fehler, die die Regierung haben kann, wären die Dinge noch viel schlimmer, wenn die Rechte an der Macht wäre. Alles was in Venezuela unter der Präsidentschaft von Chávez entstanden ist, basierte auf sehr viel Unterstützung des Staates. Die Comunas zum Beispiel hätten nach einem Wahlsieg der Rechten, wenn sie dann Verfassung und Gesetze ändern würde, keinen Platz mehr, keine Existenzberechtigung.

Aber was ist das alles Wert, wenn die eigene, die vermeintlich linke Regierung die demokratischen Räume ebenfalls einengt?
Gut, man kann sagen, dass es keinen Sinn macht, wenn sich eine Regierung als chavistisch bezeichnet, die Comunas jedoch nicht unterstützt. Darüber können wir diskutieren. Doch der Kampf geht darum, dass Kommunale Räte und Comunas wieder Teil der staatlichen Politik werden und die nötige Unterstützung erhalten. Viele Leute aus unserer Klasse, Freunde, Familienangehörige, sie glauben nicht mehr an dieses Projekt. Sie haben alles Recht dazu und Argumente auf ihrer Seite. Die Verantwortung dafür trägt nicht die US-Regierung, auch wenn sie eine kriminelle Politik verfolgt. Die Verantwortung trägt vor allem unsere politische Führung. Es ist aber kein Widerspruch, sich als Chavist zu verstehen und der Regierung gegenüber enorm kritisch zu sein. Sich hingegen in eine unkritische Person zu verwandeln, die nichts gegen die Regierungspolitik sagt, das ist keine Option.

Ich denke aber, das wichtigste Phänomen im heutigen Venezuela ist nicht das, worüber wir hier reden. Das ist eher eine Diskussion der Bewegungen. Der Großteil der Menschen ist heute demobilisiert und hat sich politisch zurückgezogen.

Welche Effekte hat dies?
Es sind schätzungsweise 70 Prozent der Bevölkerung, die mit der Rechten nichts anfangen können. Aber ich kann nicht abschätzen, wie viele von diesen bei zukünftigen Wahlen einen moderaten Mitte-Rechts-Kandidaten vorziehen könnten, weil sie so unzufrieden sind. Es ist gefährlich, wenn sich die chavistische Führung darauf verlässt, dass die Opposition niemals ihre Probleme überwinden oder sich von der beschämenden Rolle der USA lösen wird. Du kannst nicht ewig darauf setzen, dass der Gegner Fehler macht. Stattdessen musst du aus deinen eigenen Fehlern lernen. Diese Reflexion müsste die politische Klasse machen, aber dafür sehe ich keine Anzeichen.

Welche Perspektiven hat der Chavismus von unten?
Nicht nur der regierende Chavismus hat gerade seinen schlechtesten Moment. Das gleiche gilt für die Opposition. Und letztlich auch für den Chavismus von unten. Zumindest aber gibt es einen fruchtbaren Boden für chavistische Politik. Unsere Aufgabe ist es, Kräfte zu bündeln, eine zersplitterte und geschwächte Bewegung zu stärken. Wir müssen neu beginnen. Aber wir beginnen nicht bei Null. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre sind geschwächt, aber immer noch vorhanden.

„ES FINDET EIN BRUCH STATT“

 

ANTONIO GONZÁLEZ PLESSMANN
ist Soziologe, langjähriger linker Menschenrechtsaktivist und Teil der Menschenrechtsorganisation Colectivo Surgentes. Er was Vizedirektor der Universidad Nacional Experimental de la Seguridad und hat den Prozess der Polizeireform von 2006 bis 2013 begleitet. Surgentes wurde 2016 von einer Reihe linker Menschenrechtsaktivisten gegründet und legt besonderes Augenmerk auf die soziale Frage. Gemeinsam mit anderen Kollektiven initiierte Surgentes im Juli dieses Jahres die „Dialoge für eine chavistische Überwindung der Krise“. Zuvor entstand als Diskussionsgrundlage ein gemeinsames Papier, das eine Analyse der derzeitigen Situation, Vorschläge für kollektives Handeln und Forderungen an die Regierung enthält.


Anfang Juli haben sich Vertreter*innen mehrerer Basisorganisationen unter dem Motto „Dialoge für eine chavistische Überwindung der Krise“ getroffen. Worum geht es dabei?
Als Kollektive und Bewegungen wollen wir unseren bescheidenen Beitrag leisten. Wir sehen das radikaldemokratisch-sozialistische Programm des Chavismus heute sowohl durch die von den USA angeführte Rechte als auch die Regierungselite bedroht. Mit dem Argument, „die Regierung zu verteidigen, um die Revolution zu retten“ hat diese Elite einen Schwenk nach rechts vollzogen und die Räume demokratischer Partizipation eingeschränkt. Die Mehrheit der Basis sieht heute eine Diskrepanz zwischen Regierungsdiskurs und -praxis. Dies hat bisher aber nicht zu einer Neuerfindung des Chavismus geführt.

Was heißt Neuerfindung?
Als politisches Subjekt ist der Chavismus mehrheitlich basisnah und antikapitalistisch. Doch die Bewegungen sind fragmentiert und von der bürokratischen Elite vereinnahmt. Die Dialoge sollen dazu beitragen, dieses politische Subjekt zu stärken. Wir glauben, dass der Chavismus als politische Kraft jenseits der Regierung eine lange Zukunft hat.

Mittlerweile versuchen unterschiedliche politische Strömungen den Chavismus für sich zu vereinnahmen. Worin besteht für Sie Chávez’ Erbe?
Erstens in der staatlichen Kontrolle der natürlichen Ressourcen und strategischen Unternehmen. Dazu gehören politische Souveränität sowie der Austausch mit Regierungen und Bevölkerungen des globalen Südens. Zweitens in der Radikalisierung der Demokratie. Das bedeutet, allmählich die Macht der Bevölkerung zu vergrößern, und zwar im wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bereich. In Chávez’ Worten hieß das: „Wenn wir die Armut beseitigen wollen, müssen wir den Armen Macht geben.” Während Chávez’ Regierungszeit förderte der Staat die Übernahme von Produktionsmitteln durch die Bevölkerung. Die Regierung förderte zudem sowohl Selbstregierung auf kommunaler Ebene als auch die Kontrolle des Staates durch die Öffentlichkeit und die Debatte über staatliche Politik. Im kulturellen Bereich gab es eine positive Besinnung auf das afrikanische, indigene, mestizische und volksnahe Erbe, das historisch untergeordnet und ausgegrenzt wurde.
Und drittens besteht Chávez’ Erbe in einem postkapitalistischen Ansatz. Der Sozialismus soll nach und nach von unten aufgebaut werden, in einem radikal-demokratischen Rahmen und in Allianz zwischen Staat und Basismacht (poder popular).

Diese Allianz funktioniert heute nicht mehr so wie während der Regierungszeit von Hugo Chávez. Wie lässt sich das Verhältnis zwischen Regierung und chavistischen Organisationen zurzeit beschreiben?
Zum einen gibt es den Versuch, die Bewegungen gefügig zu machen. Das drückt sich in dem Slogan „Beschützer des Volkes“ aus, den Nicolás Maduro und seine Regierung verwenden. Die protagonistische Bevölkerung unter Chávez wird bevormundet und in eine passive Rolle zurückgedrängt. Die Regierungselite erwartet Loyalität, Dankbarkeit und Demobilisierung. Das zeigt sich auch daran, dass Nicolás die „Lokalen Komitees für Versorgung und Produktion“ (CLAP), die stark subventionierte Lebensmittel verteilen, als höchsten Ausdruck der Basismacht bezeichnet.

Inwiefern deutet die Regierung hier den Begriff poder popular um?
Während die kommunalen Räte und die comunas (Zusammenschlüsse mehrerer kommunaler Räte, Anm. d. Red.) pluralistische Räume darstellten, in denen die Macht von unten, von Versammlungen und Abstimmungen ausging, werden die CLAP vom Staat und der Regierungspartei PSUV (Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas) kontrolliert. Ihre Mitglieder werden ernannt statt gewählt und führen Weisungen von oben aus. Diese Sichtweise der Basismacht steht im Widerspruch zu Autonomie, Protagonismus und Sozialismus. Aber die venezolanische Bevölkerung ist aufsässig und rebellisch. Organisierte comunas, Kollektive und Bewegungen, die über eine größere Autonomie gegenüber dem Staat verfügen, bieten der Regierung aus dem Inneren des Chavismus heraus häufig die Stirn, indem sie Forderungen aufstellen und Kritik formulieren.

Wie antwortet die Regierung darauf?
Unterschiedlich. Zum einen versucht sie die Legitimität von Kritik zu untergraben, ohne sich direkt mit ihr auseinanderzusetzen. Andererseits geht sie aber manchmal auf Forderungen ein, um die eigene Legitimität zu erhöhen. Regierung und PSUV sind in den ärmeren Vierteln sehr präsent und kontrollieren mittels des bürokratischen Apparates die Mehrheit der chavistischen Basis. Aber die Zustimmung schwindet auch dort. Die Menschen lehnen zwar den Imperialismus ab und wollen mit der rechten Opposition nichts zu tun haben. Gleichzeitig wissen sie aber genau, dass die derzeitige Regierung das chavistische Programm verraten hat. Es findet ein allmählicher Bruch statt, von dem wir nicht wissen, welche Auswirkungen er haben wird.

Wieso hat sich der demokratische Spielraum für die Basisbewegungen in den vergangenen Jahren derart verkleinert?
Wenn linke Regierungen belagert werden, neigen sie dazu, sich zu verschanzen. Die Angriffe des Imperiums sind sehr real und finden seit 2001 statt. Nach Chávez’ Tod haben sie sich jedoch intensiviert bis hin zu den sogenannten US-Sanktionen, die wir als unilaterale, illegale und willkürliche Zwangsmaßnahmen ohne völkerrechtliche Grundlage betrachten. Diese haben katastrophale Auswirkungen für eine Ökonomie, die sich bereits in der Krise befand.
Diosdado Cabello (Vorsitzender der verfassunggebenden Versammlung und ein politisches Schwergewicht des Chavismus, Anm. d. Red.) wiederholt regelmäßig einen Gedanken von San Ignacio Loyola, den auch Fidel Castro häufig zitiert hat: „In Zeiten der Belagerung bedeutet Zweifel Verrat”. Daraus folgt die Negierung von Kritik, geduldet wird nur Zustimmung. Die Regierung schließt unbequeme Personen oder Sektoren aus, bevormundet die Basis und schränkt die autonome Partizipation ein. Niemand darf über die Korruption in den eigenen Reihen sprechen, das Regierungshandeln wird ineffizient und wir erleben eine zunehmende Privatisierung der Politik. Dadurch schwindet die Legitimität der politischen Klasse.

Seit einigen Jahren nehmen die Berichte über die verstärkte Repression in den barrios (einfache und ärmere Stadtviertel) zu. Venezolanische Menschenrechtsorganisationen und auch die Vereinten Nationen sprechen von tausenden extralegalen Hinrichtungen. Was geht da vor sich?
Nach offiziellen Zahlen gab es im Jahr 2018 10.598 Morde. Hinzu kommen 5.287 Todesfälle aufgrund von „Widerstand gegen die Staatsgewalt.“ Damit gemeint sind bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen mutmaßlichen Kriminellen und den Sicherheitskräften. Der Staat räumt also öffentlich ein, dass er selbst ein Drittel der getöteten Personen zu verantworten hat. Dies allein schon ist eine Ungeheuerlichkeit, weil sich darin eine unverhältnismäßige Anwendung von Gewalt seitens der Sicherheitskräfte ausdrückt. Dies widerspricht völlig den Zielen der Polizeireform, die Chávez ab 2006 durchgeführt hat. Doch wenn wir uns die Todesfälle genauer ansehen, stellen wir fest, dass es in den meisten Fällen gar keine Auseinandersetzungen gab. Vielmehr handelt es sich um Hinrichtungen, die später anderes dargestellt werden.

Wie ist diese Polizeigewalt zu erklären?
Im Bereich der Sicherheit findet eine Verselbständigung statt. Es gibt keine politische Kontrolle, der übelste Teil des Militärs und der Polizei gibt den Ton an. Und die Regierung toleriert dies. Die meisten der Toten sind junge Leute aus den Armenvierteln. Es handelt sich also um eine klassistische Gewalt, die die sozialen Ungleichheiten reproduziert. Als Menschenrechtler*innen haben wir dies seit 2015 angeprangert, als die Regierung damit begann, Polizeiaktionen unter dem Namen Operación de Liberación del Pueblo (OLP, Operation Befreiung der Bevölkerung) durchzuführen. Wir veröffentlichten damals ein Kommuniqué, das verschiedene Medien dokumentierten.

Wie hat die Regierung auf die Kritik reagiert?
Ohne uns beim Namen zu nennen wies Nicolás den Innenminister öffentlich an, die „kleine Gruppe Intellektueller“ einzubestellen, die sich wegen der OLP „besorgt” zeige. Das Treffen fand allerdings niemals statt. Offensichtlich hatte die Regierung kein wirkliches Interesse daran, den repressiven Ansatz der Sicherheitspolitik zu ändern.

Aktuell besteht Hoffnung auf einen möglichen Dialog zwischen Regierung und rechter Opposition. Unter Mediation Norwegens fanden bereits mehrere Treffen statt, zuletzt auf Barbados. Auch wenn kaum Details bekannt sind: Wie schätzen Sie die Möglichkeit ein, dass es zu einer Vereinbarung kommt, um die Krise zu überwinden?
Es wäre wünschenswert, dass ein Abkommen geschlossen wird. Denn die Alternativen sind Krieg, Invasion oder ein autoritärer Kurs. Und in all diesen Szenarien sind es die ärmeren Schichten, die am meisten verlieren. Ein Abkommen wird aber nicht dazu führen, dass der politische Konflikt verschwindet. Er muss vielmehr in demokratische und verfassungsmäßige Kanäle zurückkehren, die er niemals hätte verlassen dürfen.

 

„KEINER VON BEIDEN IST POLITISCH LEGITIMIERT”

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EDGARDO LANDER
hat in Harvard Soziologie studiert und ist emeritierter Professor für Soziologie an der Zentralen Universität in Caracas (UCV). Er gilt als einer der profiliertesten linken Intellektuellen in Venezuela und als kritischer Unterstützer des bolivarianischen Prozesses. Seine Themen sind unter anderem Kritik des Eurozentrismus, soziale Bewegungen und Neoextraktivismus in Latein­amerika.

Foto: Tilman Vogler


Seitdem sich Juan Guaidó am 23. Januar dieses Jahres selbst zum Interimspräsidenten ernannt hat, beanspruchen sowohl er, als auch Präsident Nicolás Maduro für sich, rechtmäßig im Amt zu sein. Wer ist Ihrer Meinung nach legitimiert?
Keiner von beiden. Die Regierung hat nach ihrer Niederlage bei den Parlamentswahlen 2015 beschlossen, sich mit allen Mitteln an der Macht zu halten. Dabei missachtet sie die Verfassung, denn bis dahin gab es immer noch freie Wahlen, mit einem überdurchschnittlich transparenten Wahlprozess und einem Wahlsystem, mit nahezu fehlerfreier technischer Infrastruktur. Heute stehen wir vor dem Problem, dass die Regierung die Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten der venezolanischen Bevölkerung einschränkt. Es gibt aber auch Gründe, die Position von Guaidó abzulehnen. Dieser steht für ein Projekt des Regime Change, das von außerhalb kommt. Die rechte Opposition verkennt dabei die venezolanische Realität. Denn noch immer unterstützt ein Großteil des Militärs Maduro. Und auch in der Bevölkerung gibt es noch immer einen großen Rückhalt für den Chavismus, beziehungs­weise dessen Weiterführung unter Maduro, auch wenn die Zustimmung gesunken ist.

Seit dem 7. März gab es eine Reihe landesweiter Stromausfälle. Die Regierung beschuldigt die Opposition und die USA der Sabotage. Diese wiederum bringen schlechte Wartung und Korruption innerhalb der Regierung als Grund für die Stromausfälle vor.  Was halten Sie von den Beschuldigungen und Erklärungen?
Die venezolanische Gesellschaft ist so stark polarisiert, dass die Anhänger beider Lager in unterschiedlichen Wirklichkeiten leben. Das macht es so schwierig, ein Thema zu verhandeln, weil es nicht nur um die Interpretation geht.
Das venezolanische Stromnetz verfällt seit Jahren. Das liegt zum einen an der Korruption und zum anderen daran, dass Militärs an die Spitze von Stromunternehmen gesetzt wurden, die überhaupt keine Kompetenzen auf dem Gebiet haben.
Auf der anderen Seite kann man aber auch davon ausgehen, dass ein Interesse besteht, diese Situation auszunutzen und der Regierung zusätzlich Probleme zu bereiten. Und ein so anfälliges Stromnetz ist eben sehr leicht anzugreifen. Ich schließe also nicht aus, dass es sich in einigen der Fälle um Sabotage gehandelt hat, aber eben begünstigt durch ein sehr anfälliges System.

Sie gehören gemeinsam mit anderen Akademiker*innen, Aktivist*innen und früheren Minister*innen unter Chávez der Bürgervereinigung zur Verteidigung der Verfassung an. Was schlagen Sie als Ausweg aus der Krise vor?
Im Moment haben wir eine Situation, in der sich zwei Kräfte in einer Freund-Feind-Logik gegenüberstehen und sich gegenseitig politisch auslöschen wollen. Um einen Krieg zu verhindern, müssen wir zu einer politischen Einigung kommen. Um das auf demokratischem, friedlichem und verfassungskonformem Weg zu erreichen, ist die beste Option ein Konsultativreferendum, das von beiden Seiten ausgehandelt werden muss. Die Bevölkerung könnte somit darüber abstimmen, ob sie Neuwahlen aller staatlichen Gewalten will.
Aus unserer Sicht würden Verhandlungen es dem Chavismo ermöglichen, sich als politische Bewegung wieder neu zu formieren und weiterhin im Land zu agieren und zu existieren. Bei einem Regime Change, der die Regierung einfach ausradieren würde, wäre das keine Option.

Was denken Sie über die Rolle der EU in Bezug auf die Situation in Venezuela?
Dadurch, dass sie Guaidó anerkannt hat, hat die so genannte internationale Gemeinschaft Verhandlungen eher erschwert als sie zu unterstützen, weil das die Fronten verhärtet. Es ermutigt die Leute, die sich hinter Guaidó versammeln, weil sie ihn durch die internationale Unterstützung als rechtmäßigen Übergangspräsidenten sehen. Maduro wiederum wird zum Beispiel weiterhin von den Regierungen Chinas und Russlands anerkannt, übt die Kontrolle über die staatlichen Institutionen aus und kann sich auf das Militär und die chavistischen Gruppen verlassen, die immer noch aktiv sind und über großes Mobilisierungspotenzial verfügen. Dass die meisten Mitgliedsstaaten der EU also nicht an Verhandlungen interessiert sind, sondern einzig daran, Maduro aus dem Amt zu befördern, ist sehr schädlich und verringert die Möglichkeiten einer Verhandlungslösung.

Sie haben sich gemeinsam mit der Bürgervereinigung im Frühjahr mit Guaidó getroffen. Warum?
Weil er gewählter Parlamentspräsident ist. Die beiden institutionellen Sektoren in dem Machtkampf bestehen aus Regierung und Nationalversammlung. Die Haltung dieser beiden Sektoren bringt Venezuela an den Rand eines Krieges. Also haben wir beiden Seiten ein Referendum vorgeschlagen und sie auf ihre Verantwortung hingewiesen. Dafür haben wir um Treffen mit Guaidó und Maduro gebeten. Das Treffen mit Guaidó wurde von vielen Linken, besonders auch im Ausland, als eine Art Anerkennung für ihn gewertet. Wir haben uns aber mit ihm in seiner Funktion als Parlamentspräsident getroffen und nicht als Staatspräsident und das auch öffentlich gesagt. Genauso haben wir einen Brief mit der Bitte auf ein Treffen mit Maduro eingereicht. Drei Tage in Folge haben wir versucht, diesen Brief im Präsidentenpalast Miraflores abzugeben. Doch sie haben ihn nicht mal entgegengenommen. Das zeigt ihre Haltung zum Dialog.

Im Februar 2016 schuf Maduro per Dekret den Minenbogen des Orinoco (Arco Minero), eine Fläche von fast 112.000 Quadratmetern für den Bergbau. Was steckt dahinter?
Aufgrund des Preisverfalls für Erdöl und dem stetig fallenden Förderniveau hat sich die venezolanische Regierung, anstatt Wege zur Diversifizierung der Wirtschaft zu finden, erneut für den Extraktivismus entschieden. In diesem Fall für den Bergbau, denn im Gebiet des Minenbogens gibt es bedeutende Vorkommen von Eisen, Aluminium, Coltan, seltenen Erden und natürlich ganz besonders Gold. Die Regierung sieht hier also das neue El Dorado mit dem die gesunkenen Erdöleinnahmen aufgewogen werden sollen. Seit ungefähr zehn Jahren gibt es einen Anstieg des illegalen Kleinbergbaus in dieser Region, der durch die Verwendung von Quecksilber nicht nur der Umwelt schadet, sondern auch negative Auswirkungen auf die dort lebenden Indigenen hat. Und nun hat die Regierung beschlossen, dies im großen Stile und unter Mitwirkung von transnationalen Unternehmen weiterzuführen.
Bisher ist die multinationale Beteiligung gering. Was nicht etwa daran liegt, dass die Regierung ihnen hinsichtlich Zollauflagen, Steuern oder Protestunter­drückung nicht genug Garantien gegeben hätte, sondern weil das ganze juristisch unter sehr unsicheren Umständen stattfindet. Es verstößt gegen die Verfassung, die Rechte der Indigenen sowie Arbeits- und Umweltrecht. Und die politische Instabilität des Landes tut natürlich ihr übriges dazu.

Steht die Gründung spezieller Wirtschaftszonen im Widerspruch zur offiziellen Politik der Regierung?
Die Entstehung des Minenbogens und das neue Gesetz, das von der Verfassunggebenden Versammlung zum Schutz ausländischer Investition verabschiedet wurde, entsprechen offensichtlich neoliberalen Interessen. Und das Beharren der Regierung auf dem extraktivistischen Modell bildet keinen Widerspruch zum globalen Wirtschaftsmodell, es stellt auch keinen Bruch mit der kolonialen Unterordnung in der internationalen Arbeitsteilung und mit der Rolle dar, die Lateinamerika historisch als Rohstofflieferant zukommt. Die Konsequenzen sind Umweltzerstörung, ein hohes Gewaltaufkommen bewaffneter Gruppen, die untereinander um das Gebiet kämpfen. Es ist ein Niemandsland, in dem alle Konflikte mit Waffengewalt ausgetragen werden. Die indigenen Gemeinden der Region sind stark von der Gewalt betroffen und viele müssen im Bergbau arbeiten, weil ihre Lebensgrundlage zerstört wird. Mädchen werden entführt und in den Bergbaulagern zur Prostitution gezwungen.

Welche Arten des Widerstands haben sich dagegen entwickelt?
Es gibt die Plattform gegen den Minenbogen, ein Kollektiv von jungen Leuten, die aktiv sind im Kampf für Umweltrechte, Demokratie und Indigenen-Rechte und die auch schon Kampagnen zur Analyse der Situation gemacht haben. Aber der Protest ist leider sehr schwierig. Erstens, weil es in Venezuela schon lange eine auf Rohstoffexporten basierte Ökonomie gibt. Der Großteil der Bevölkerung lebt aber in den Städten, also weit weg von den Orten der Förderung, wo all das passiert. Es ist kein kollektives Bewusstsein vorhanden, das so weit reicht, die Größe des Problems zu erkennen. Zweitens sind die alltäglichen Probleme und die politische Polarisierung so groß, dass nicht nur im privaten Alltag sondern auch in den Medien über andere Dinge gesprochen wird.

 

ERSTICKEN WIE DARTH VADER

Darth Vader: Methodisches Vorbild für Trumps Sicherheitsberater John Bolton (Foto: Josh Hallet, CC-BY-SA 2.0)

Wer eine unterhaltsame Nachhilfestunde in venezolanischem Verfassungsrecht haben will, kann derzeit auf die offiziellen Pressekonferenzen westlicher Regierungen zurückgreifen. So etwa Mitte März, als der US-Sondergesandte für Venezuela und frühere Unterstützer von Todesschwadronen in Zentralamerika, Elliot Abrams, die oppositionelle Interpretation der Magna Charta zum besten gab. Diese bestimmt in Artikel 233 für den Fall der absoluten Abwesenheit des Präsidenten, dass der Parlamentsvorsitzende vorübergehend einspringt. Auf die Frage, warum Venezuelas selbst ernannter Übergangspräsident Juan Guaidó nicht wie laut Verfassung vorgesehen innerhalb von 30 Tagen Neuwahlen ausgerufen habe, beteuerte Abrams, die 30 Tage zählten „ab dem Tag, an dem Maduro geht“. Nach mehreren Rückfragen versicherte er, Guaidó sei selbstverständlich dennoch Interimspräsident, nur eben „nicht in der Lage, diese Funktion auszuüben“.

Die Anekdote sorgte bei den anwesenden Journalist*innen nicht nur für den ein oder anderen Lacher. Sie zeigt auch eindrücklich, wie sehr sich die USA und weitere gut 50 Länder mit der Anerkennung Guaidós im Januar verschätzt haben. Denn anders als erwartet, trugen sie damit nicht zum schnellen Sturz Nicolás Maduros bei, der auf internationaler Ebene weiterhin unter anderem von Russland, China und der Türkei unterstützt wird. Auch die deutsche Bundesregierung hat völkerrechtswidrig und vorschnell auf Guaidó gesetzt und sich damit ins diplomatische Abseits manövriert. Nun musste sie einräumen, dass sie Guaidós Wunsch, einen eigenen Botschafter in Berlin zu akkreditieren, aufgrund der realen Machtverhältnisse in Venezuela vorerst nicht nachkommen wird.

Guaidó bleibt einzig die Androhung einer US-Militärintervention

Der selbst ernannte Interimspräsident scheint mittlerweile nicht mehr viel in der Hinterhand zu haben. Zwar versucht er krampfhaft, die Aussicht auf einen zeitnahen Regierungswechsel aufrecht zu erhalten, wirkt dabei aber immer hilfloser. Der nächste Versuch soll die seit Wochen angekündigte „Operation Freiheit“ mit einem „Marsch auf Caracas“ sein. Konkret terminiert war bisher allerdings nur ein „Testlauf“ am 6. April. Das klingt nicht so, als würde Guaidó selbst noch an den baldigen Umsturz glauben. Ihm bleibt momentan einzig die regelmäßig wiederholte Androhung einer US-Militärintervention. Die Landung zweier russischer Militärflugzeuge Ende März in Venezuela heizten Spekulationen über eine mögliche Konfrontation zwischen Russland und den USA an, waren jedoch laut russischer Regierung der seit Jahren bestehenden Kooperation beider Länder im militärischen Bereich geschuldet.

Konkret deutet tatsächlich nicht viel auf einen unmittelbar bevorstehenden militärischen Konflikt hin. Der US-Sondergesandte Abrams bezeichnete derartige Überlegungen Anfang April als „verfrüht“. Zudem gibt es in der Region offiziell nicht einmal bei den rechten Regierungen Rückhalt für die militärische Option. Die US-Strategie besteht zunächst darin, die Regierung Maduro mittels Sanktionen finanziell auszutrocknen und die Wirtschafts- und Versorgungskrise tatsächlich in eine humanitäre Krise zu verwandeln. Dadurch könnte irgendwann vielleicht doch noch ein Aufstand der Maduro stützenden Unterschichten und des Militärs provoziert werden, so das Kalkül. Trumps Nationaler Sicherheitsberater John Bolton drückte dies in einem Interview mit dem spanischsprachigem Fernsehsender Univision am 22. März auch für politisch weniger interessierte Leute verständlich aus: „Das ist wie in Star Wars, wenn Darth Vader jemanden erstickt. Das machen wir wirtschaftlich mit dem Regime.“ Die weitere Verschlechterung der Lebensumstände sorgt zwar tatsächlich auch in den chavistischen Hochburgen für Proteste. Doch noch größer ist dort die Ablehnung der rechten Opposition. In gewisser Weise stabilisieren die Drohungen von außen sogar das chavistische Lager. Nicht verstanden zu haben, dass der Chavismus als politische Identität weit über die Regierung hinaus geht, ist einer der großen Fehler, den die rechte Opposition immer wieder begeht. Letztlich bewegen sich die regierenden Chavist*innen und die rechte Opposition in komplett getrennten Welten. Beide erkennen heute unterschiedliche Staatsorgane an, sehen die Schuld für die Wirtschaftskrise jeweils bei der anderen Seite und beurteilen praktisch jedes öffentliche Ereignis gegensätzlich. Ein Beispiel dafür ist die von den meisten internationalen Medien verbreitete Behauptung, die Regierung Maduro habe am 23. Februar auf einer Grenzbrücke zwischen Kolumbien und Venezuela Lastwagen mit Hilfslieferungen in Brand gesetzt.

Guaidó hatte an dem Tag gegen den Willen der Regierung Maduro Hilfsgüter nach Venezuela bringen wollen. Tatsächlich ist mittlerweile unter anderem durch eine Recherche der US-Zeitung New York Times belegt, dass die Lastwagen sich durch einen fehlgeleiteten Molotow-Cocktail entzündet hatten, den ein Oppositionsanhänger in Richtung der venezolanischen Sicherheitskräfte werfen wollte. Guaidó bleibt dennoch bei seiner Sicht der Dinge, wohl weil er jeden Rückschritt im Kampf um Bilder und Narrative verhindern will. Als sich die Regierung mit dem Roten Kreuz Ende März schließlich auf die baldige Verteilung von Hilfsgütern in Venezuela einigte, erklärte Guaidó dies kurzerhand zu seinem eigenen Erfolg. Sowohl das Rote Kreuz als auch die Vereinten Nationen hatten dessen für den 23. Februar geplante Aktion aufgrund der offensichtlichen Politisierung der Hilfe abgelehnt.

Die Opposition hat den Chavismus als kulturelle Identität nie verstanden

Besonders deutlich zeigen sich die unterschiedlichen Wahrnehmungen in der Analyse der massiven Stromausfälle, mit denen Venezuela im März konfrontiert war. Zwar gingen in den vergangenen Jahren immer wieder stundenlang die Lichter aus, doch einen fünftägigen Stromausfall wie ab dem 7. März hatte das Land noch nicht erlebt. Im Laufe des Monats folgten zwei weitere längere Blackouts, die sich mit Unterbrechungen über mehrere Tage hinzogen. Auch die Wasserversorgung funktionierte häufig nicht, da die elektrischen Pumpen ausfielen. Nachdem es Ende März in Caracas und vielen anderen Orten zu nächtlichen Protesten kam, verkündete Maduro eine offizielle Rationierung des Stroms, die zunächst für 30 Tage lang einer Überlastung des Systems vorbeugen soll.

Über die Ursache der Blackouts gibt es zwei völlig unterschiedliche Versionen. Laut Regierung seien die Stromausfälle Folge eines von den USA geführten „elektrischen Krieges“. Ein „Cyberangriff“ auf das Steuerungssystem des wichtigsten Wasserkraftwerks Guri, elektromagnetische Wellen und Brandstiftung in einigen Umspannwerken hätten die Versorgung lahmgelegt. Ein weiterer Blackout Ende März sei durch einen Scharfschützen verursacht worden, der gezielt einen Brand am Wasserkraftwerk Guri hervorgerufen habe. Die Opposition hingegen macht Korruption und Missmanagement der Regierung verantwortlich. Guaidó erklärte, ein Cyberangriff sei unmöglich, da das venezolanische Stromnetz analog betrieben werde.

Wasserkraftwerk am Guri-Stausee Von hier bezieht Venezuela gut 70 Prozent der Energie (Foto: Fadi, CC-BY-SA 2.0)

Dass sich das Stromnetz in schlechtem Zustand befindet, ist kein Geheimnis. Venezuela ist einseitig von Wasserkraft abhängig und bezieht alleine gut 70 Prozent seiner Energie aus dem Guri-Stausee im Süden des Landes. Anhaltende Dürreperioden führten zuletzt in den Jahren 2003, 2010 und 2016 beinahe zum Kollaps. Die Regierung unter Hugo Chávez hatte privatisierte Energieunternehmen zurückgekauft und 2007 unter dem Dach des neu gegründeten staatlichen Elektrizitätsunternehmens Corpoelec gebündelt.

Das Szenario eines anhaltenden Stromausfalls ist in Handbüchern für Regime Change beschrieben

Doch die angekündigte Modernisierung der Infrastruktur fand nicht ausreichend statt. Hinzu kommt, dass in den vergangenen Jahren aufgrund der Krise und drastischen inflationsbedingten Reallohnverlusten viele Arbeiter*innen ihre Jobs gekündigt oder gleich das Land verlassen haben. Ansätze der Selbst- und Mitverwaltung im staatlichen Elektrizitätsunternehmen, die möglicherweise einige der heutigen Probleme hätten verhindern können, hatte die staatliche Bürokratie bereits vor Jahren ausgebremst. Und auch aufgrund der US-Sanktionen ist derzeit nicht ausreichend Treibstoff für den Betrieb von Wärmekraftwerken vorhanden, die zur Stabilisierung des Stromangebots dienen könnten.

Doch anders als Guaidó behauptet, funktioniert das Stromnetz nicht komplett analog. Das computergestützte Steuerungssystem des Guri-Kraftwerks könnte unter Umständen auch ohne Internetanbindung attackiert worden sein. Das 2010 entdeckte Schadprogramm Stuxnet etwa war auch in das nach außen geschlossene iranische Atomprogramm eingeschleust worden. Die Vorstellung, dass die USA eine Cyberattacke durchführen, ohne dabei Spuren zu hinterlassen, bezeichnete der Computerexperte Kalev Leetaru im US-amerikanischen Wirtschaftsmagazin Forbes am 9. März als „durchaus realistisch“.

Für die These der Sabotage spricht vor allem der aus oppositioneller Sicht günstige Zeitpunkt der Blackouts. Der Plan, Präsident Nicolás Maduro zu stürzen, war Anfang März bereits gehörig ins Stocken geraten. Das Szenario eines anhaltenden Stromausfalls ist in Handbüchern für Regime Change beschrieben und fand auch vor dem Putsch gegen Salvador Allende in Chile 1973 Anwendung.

Unmittelbar nach Beginn des Stromausfalls am 7. März versuchten rechte Opposition und US-Regierung denn auch, politisch Kapital aus dem Vorfall zu ziehen. Floridas Senator, Marco Rubio, heizte die Stimmung durch dramatisierende Tweets und Falschmeldungen an und erweckte durch einzelne Äußerungen den Verdacht, bereits vorab von dem Blackout gewusst zu haben.

Belege für ihre jeweiligen Theorien haben bisher aber weder Regierung noch Opposition geliefert. Und es ist kaum vorstellbar, dass irgendein Beweis die jeweils andere Seite überzeugen würde. Maduro entließ mittlerweile den bisherigen Energieminister Luis Motta Domínguez, der zu Beginn des Blackouts am 7. März noch versichert hatte, dieser werde innerhalb von drei Stunden behoben sein. Zum neuen Minister und Chef des staatlichen Energieversorger Corpoelec ernannte der Präsident den Ingenieur Igor Gavidia, der langjährige Erfahrung im Stromsektor mitbringt. Bereits Mitte März hatte Maduro angekündigt, sein Kabinett grundlegend umzugestalten, nannte bisher jedoch keine weiteren Namen.

Nachdem die Opposition an Schwung verloren hat, gehen die Regierung und die von ihr kontrollierten Institutionen nun verstärkt gegen Guaidó und sein Umfeld vor. Bereits am 21. März verhaftete die Geheimdienstpolizei Sebin Guaidós Büroleiter Roberto Marrero. Der Vorwurf lautet, er habe gemeinsam mit anderen Mitgliedern von Guaidós Partei Voluntad Popular terroristische Anschläge geplant. Eine Woche später verhängte der Rechnungshof gegen Guaidó ein 15-jähriges Verbot, öffentliche Ämter zu bekleiden. Begründet wurde dies mit finanziellen Unregelmäßigkeiten.

Am 2. April dann hob die regierungstreue Verfassunggebende Versammlung (ANC), die weitgehend die Funktionen des von der Opposition dominierten Parlamentes (Nationalversammlung) ausübt, Guaidós parlamentarische Immunität auf. Ermittelt wird gegen ihn wegen Missachtung der Verfassung im Zuge seiner Selbstausrufung als Interimspräsident und wegen mutmaßlicher Sabotage des Stromnetzes.

Damit könnte Guaidó früher oder später festgenommen werden. Mit diesem Schritt war bereits Anfang März gerechnet worden, nachdem er sich gegen ein gerichtlich verhängtes Ausreiseverbot widersetzt hatte. Am 22. Februar war er nach Kolumbien gereist, um die Hilfslieferungen nach Venezuela zu bringen. Nach einer zehntägigen Lateinamerika-Reise, auf der er mehrere Präsidenten der Region besuchte, kehrte er unbehelligt nach Venezuela zurück. Die Frage ist, welche Auswirkungen eine Festnahme haben würde. Innerhalb der Opposition rechnen einige damit, dass dies die Proteste erneut anheizen könnte. Andererseits könnte es aber auch das Ende des jüngsten Umsturzversuchs bedeuten. Viel dürfte davon abhängen, ob sich die Drohungen aus den USA als real oder als heiße Luft entpuppen werden.

US-Senator Rubio schrieb auf Twitter, eine mögliche Inhaftierung Guaidós sollte „von jedem Land, das ihn als legitimen Interimspräsidenten Venezuelas anerkannt hat, als Putsch betrachtet werden.“ Damit hätte jede Seite einmal mehr ihre eigene Wirklichkeit. Für die einen wäre Guaidó Putschist, für die anderen Opfer eines Staatsstreichs.

 

RÜCKSCHLAG FÜR GUAIDÓ

Aussicht vom alten Militärmuseum: Die kontrastreiche Skyline von Caracas (Foto: John M Shorack)

Es waren brachiale Bilder. Bei dem Versuch, die Einfuhr von Hilfsgütern zu erzwingen, kam es an den Grenzen Venezuelas am 23. Februar zu schweren Ausschreitungen. Tausende Freiwillige hatten im kolumbianischen Cúcuta mehrere Lastwagen bis zur Grenze begleitet, wo das venezolanische Militär unter dem Einsatz von Tränengas und Gummigeschossen jedoch ein Weiterkommen verhinderte. Auf der kolumbianischen Seite ließen die Sicherheitskräfte derweil auch Protestierende gewähren, die mit Steinen und Molotowcocktails ausgestattet waren. Laut schwer zu überprüfenden Medienberichten wurden fast 300 Menschen verletzt, zudem brannten zwei Lastwagen aus. Beide Seiten beschuldigen sich gegenseitig, die Hilfsgüter bewusst in Brand gesetzt zu haben. In der venezolanischen Stadt Santa Elena de Uairén an der Grenze zu Brasilien erlitten laut der venezolanischen Nichtregierungsorganisation Foro Penal 34 Protestierende Schussverletzungen, mindestens vier Menschen starben. Demon­stra­tionen von Regierungsanhänger*innen und der rechten Opposition in Caracas blieben hingegen friedlich.

Guaidó und die USA betrachten die humanitäre Hilfe vor allem als Hebel für einen regime change

Seit Wochen hatte der selbsternannte Interimspräsident Juan Guaidó den 23. Februar zum Tag der Entscheidung hochstilisiert, an dem die humanitäre Hilfe „unter allen Umständen“ ins Land kommen solle. Er selbst und Vertreter der US-Regierung forderten die venezolanischen Soldat*innen nahezu täglich dazu auf, die Hilfsgüter passieren zu lassen und drohten andernfalls mit Konsequenzen. Laut Informationen der kolumbianischen Migrationsbehörde desertierten seit dem 23. Februar mehr als 400 Militärs – angesichts von bis zu 200.000 aktiven Soldat*innen eine überschaubare Zahl. Das Kalkül der rechten Opposition bestand darin, dass die Regierung am Ende gewesen wäre, wenn venezolanische Militärs sich massenhaft den Befehlen Maduros widersetzt hätten. Dieser hatte die vermeintliche humanitäre Hilfe als „Show“ bezeichnet, die das alleinige Ziel verfolge, einer militärischen Intervention das Feld zu bereiten. Um die schwierige Versorgungslage zu verbessern, fordert Maduro stattdessen die Aufhebung der US-Sanktionen, die das Land ein Vielfaches der von den USA in Aussicht gestellten Hilfsgüter kosten. Tatsächlich machen Guaidó und die US-Regierung kaum einen Hehl daraus, dass sie die humanitäre Hilfe vor allem als Hebel für den von ihnen angestrebten regime change in Caracas betrachten. Sowohl die Vereinten Nationen als auch das Rote Kreuz hatten aufgrund der Politisierung der Hilfe im Vorfeld eine Beteiligung an der Aktion abgelehnt.

Straßenszene in Caracas Einkaufen an einem Samstagmorgen (Foto: John M Shorack)

Auf medialer Ebene tobt nun ein Kampf um die Interpretation der Bilder und Ereignisse, bei dem Guaidó klar im Vorteil ist. Einen Monat nach seiner Selbstausrufung zum Interimspräsidenten steht er dennoch weitgehend mit leeren Händen da. Zwar hat er die Rückendeckung der USA, mehr als 50 weiterer Regierungen – darunter der meisten EU-Staaten – sowie gewichtiger Teile der venezolanischen Bevölkerung. Kompetenzen als Interimspräsident übt er bisher jedoch nur außerhalb Venezuelas aus. Laut dem Verfassungsartikel 233, der die absolute Abwesenheit des Staatspräsidenten behandelt und auf den sich Guaidó maßgeblich beruft, hätten innerhalb von 30 Tagen Neuwahlen stattfinden müssen. Der Umsturzversuch droht sich somit in die Liste der glücklosen Versuche der letzten Jahre einzureihen, Maduro zu stürzen. Spätestens wenn sich das Gefühl durchsetzt, dass die rechte Opposition wieder einmal unrealistische Erwartungen geweckt hat, dürften die internen Streitereien erneut aufbrechen und Guaidó wäre am Ende. Er muss also um jeden Preis die Spannung hochhalten, damit der oppositionelle Protest nicht wieder einschläft. Bei einem Treffen von Guaidó mit US-Vizeminister Mike Pence und den Außenminister*innen lateinamerikanischer Staaten der so genannten Lima-Gruppe wurde am 25. Februar aber deutlich, dass es anscheinend gar keinen Plan B gibt. Sowohl die US-Regierung als auch Guaidó haben sich offensichtlich verschätzt, indem sie davon ausgingen, das venezolanische Militär würde zeitnah die Seiten wechseln. Zudem vernachlässigen sie, dass Maduro keineswegs nur die Militärführung, sondern noch immer mehrere Millionen Anhänger*innen hinter sich hat. Hinzu kommt ein Teil der Bevölkerung, der sich als chavistisch versteht und die rechte Opposition ablehnt, ohne aber offen die Regierung zu unterstützen.

Mit dem Scheitern der medienwirksam inszenierten Hilfsaktion wächst die Gefahr einer gewaltsamen Eskalation des Konfliktes weiter. Laut US-Regierung liegen nach wie vor „alle Optionen auf dem Tisch“, das heißt auch eine mögliche Militärintervention. Guaidó hat mittlerweile die US-amerikanische Formulierung übernommen. Innerhalb Lateinamerikas stößt ein mögliches militärisches Eingreifen aber selbst bei rechten Regierungen weitgehend auf Ablehnung, die Lima-Gruppe sprach sich vorerst dagegen aus. Die USA wollen nun weitere Sanktionen beschließen und die Maduro-Regierung wirtschaftlich in die Knie zwingen. Bereits Ende Januar hatte Trump erstmals Sanktionen verhängt, die direkt die Öllieferungen aus Venezuela in die USA treffen. Die Einnahmen landen seitdem auf einem Sperrkonto, auf das Guaidó Zugriff bekommen soll. Leidtragende des immer zynischer ausgetragenen Machtkampfes ist somit in erster Linie die venezolanische Bevölkerung, deren Zugang zu Lebensmitteln und Medikamenten sich voraussichtlich weiter verschlechtern wird. Unklar ist, ob die USA auch ohne Rückendeckung in der Region militärisch eingreifen würden. Wenn es nach der Rhetorik der Hardliner um Präsident Trump herum geht, fehlt dazu nur noch ein konkreter Anlass. Vor allem US-Außenminister Mike Pompeo, der Senator für Florida, Marco Rubio und der nationale Sicherheitsberater von Trump, John Bolton, drohen der Regierung Maduro unverhohlen ein gewaltsames Ende an. Bolton stellte dem venezolanischen Präsidenten einen Aufenthalt im US-Gefangenenlager Guantánamo in Aussicht, Rubio twitterte ein Bild des libyschen Revolutionsführers Muammar al-Gaddafi, das ihn kurz vor dessen Ermordung im Jahr 2011 zeigt. Als Sondergesandter für Venezuela dient mit Elliott Abrams zudem ein alter antikommunistischer Haudegen, der in den 1980er Jahren in die Unterstützung von Todesschwadronen in Zentralamerika und die illegale Finanzierung der nicaraguanischen Contras verwickelt war.

Auch innerhalb Venezuelas dringen mäßigende Stimmen kaum durch. Und es deutet einiges darauf hin, dass Venezuela nur der Anfang sein soll. Sicherheitsberater Bolton spricht mittlerweile in Anspielung auf die von George W. Bush vor Jahren als „Achse des Bösen“ bezeichneten Länder Irak, Iran und Nordkorea von einer „Troika der Tyrannei“. Gemeint sind Venezuela, Kuba und Nicaragua. Die Lage ist vor allem deshalb so gefährlich, weil es in Venezuela bisher keine Anzeichen für eine mögliche Verhandlungslösung gibt. Dass so viele Staaten Guaidó anerkannt haben, der de facto überhaupt keine Macht über den staatlichen Sicherheitsapparat ausübt, ist nicht nur völkerrechtlich höchst fragwürdig. Es führt auch dazu, dass auf internationaler Ebene nur wenige Akteure wie Mexiko und Uruguay glaubhaft auf einen Dialog hinarbeiten könnten. Damit verstärkt sich die Dynamik des Alles oder Nichts, des unbedingten Willens beider politischer Lager, sich gegen das jeweils andere durchzusetzen. Dies aber kann nicht zu einer tragfähigen Lösung der venezolanischen Krise führen. Weder wird Maduro einfach wie bisher weitermachen und die Krise aussitzen können, noch die rechte Opposition nach einem Umsturz gegen den chavistischen Teil der Bevölkerung regieren können.

Auch innerhalb Venezuelas dringen mäßigende Stimmen bisher kaum durch. Aus den Reihen der linken Maduro-Kritiker*innen der Bürgerplattform zur Verteidigung der Verfassung stammt ein Vorschlag, mittels Wahlen und der Neubesetzung der staatlichen Gewalten eine demokratische Lösung der Krise auszuhandeln. Um die dafür nötigen Schritte demokratisch zu legitimieren, solle zunächst ein laut Verfassung mögliches verbindliches Referendum stattfinden. In der Bürgerplattform haben sich mehrere ehemalige Minister*innen unter Chávez sowie kritische linke Akademiker*innen und Aktivist*innen zusammengeschlossen, darunter der bekannte Soziologe Edgardo Lander. Für Kritik innerhalb des chavistischen Spektrums sorgte allerdings ein Treffen mit Guaidó, bei denen Mitglieder der Plattform ihm ihren Vorschlag präsentierten. Der frühere chavistische Bildungsminister Héctor Navarro betonte anschließend, dass die Bürgerplattform Guaidó lediglich als Parlamentspräsidenten anerkenne und den Vorschlag des Referendums ebenso Maduro unterbreiten wolle. Dieser reagierte allerdings nicht auf den Vorstoß. Innerhalb der venezolanischen Linken kontrovers zu diskutieren ist zurzeit ohnehin kaum möglich, Kritik an der Regierung wird meist in die rechte Ecke gestellt. Die wichtigste linke Nachrichtenseite und Debattenplattform Venezuelas, aporrea.org, bei der sowohl Regierungs­anhänger­*innen als auch linke Kritiker*innen Maduros publizieren, wird in Venezuela seit Wochen vom staatlichen Internetanbieter CANTV blockiert. Eine Begründung dafür gibt es nicht.

„Zusammen mit Maduro gestaltet das Volk Zukunft” Wandbild in Caracas (Foto: John M Shorack)

Eine weitere Eskalation könnte bereits kurz bevorstehen. Denn seit dem 22. Februar, als er in Cúcuta ein unter dem Motto „Venezuela Aid Live“ organisiertes Konzert besuchte, befindet sich Guaidó außer Landes. Da er sich damit einem gerichtlich verhängten Ausreiseverbot widersetzte, könnte er bei der Wiedereinreise festgenommen werden. Maduro betonte bereits, dass sich Guaidó in diesem Fall „der Justiz stellen muss“. Der selbsternannte Interimspräsident zeigte sich zunächst unbeeindruckt. „Ein Gefangener bringt niemandem etwas, aber ein exilierter Präsident auch nicht“, versicherte er und kündigte seine baldige Rückkehr an. Eine Inhaftierung komme einem Staatsstreich gleich und werde seitens der Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft „eine beispiellose Antwort“ nach sich ziehen, drohte Guaidó. Nicht bekannt ist, welche Garantien er für diesen Fall seitens der US-Regierung erhalten hat. Aber bis auf Weiteres liegen alle Optionen auf dem Tisch.

 

SCHEITERN DER ERDÖLGESELLSCHAFT

Seit sich Juan Guaidó in Venezuela am 23. Januar eigenhändig zum Interimspräsidenten erklärt hat, beherrscht das südamerikanische Land die Schlagzeilen. Die US-Regierung drängt auf einen Sturz des amtierenden Präsidenten Nicolás Maduro und hält sich erklärtermaßen auch eine militärische Option offen. Doch jenseits dieser aus linker Perspektive strikt abzulehnenden Politik steht die 1999 unter Hugo Chávez begonnene und nach dessen Tod 2013 von Maduro weitergeführte „Bolivarische Revolution“ vor einem Scherbenhaufen. Zwar war der politische Prozess von Beginn an mit gehörigen internen und externen Widerständen konfrontiert. Doch könne das Scheitern „nur dann adäquat verstanden werden, wenn man sich mit den Folgen der Rohstoffabhängigkeit für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft beschäftigt“, schreibt der Politikwissenschaftler Stefan Peters in seinem neuen Buch „Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Venezuela“.
Dieses erklärt, wie die venezolanische Wirtschaft seit fast 100 Jahren um die Verteilung der Erdöleinnahmen kreist. Dadurch haben sich wirtschaftliche, soziale und kulturelle Muster verfestigt, die nur schwer zu durchbrechen sind. Die wirtschaftlichen Akteur*innen richten ihre Anstrengungen vornehmlich darauf aus, sich ein Stück des staatlich verwalteten Erdölreichtums einzuverleiben. Dementsprechend basiert ökonomischer Erfolg „nicht primär auf Innovation und Produktivitätssteigerungen, sondern auch und vor allem auf dem privilegierten Zugang zum Staat.“
An dem Ziel, die Wirtschaft zu diversifizieren, sind in den vergangenen Jahrzehnten mehrere Regierungen unterschiedlicher ideologischer Couleur gescheitert. Unter Chávez bedeutete dies, dass viel Geld in landwirtschaftliche und urbane Kooperativen sowie staatliche Unternehmen geflossen ist, von denen sich die meisten nicht annähernd alleine erhalten konnten. Tatsächlich glich dessen Wirtschaftspolitik in vielen Punkten jener seiner Vorgänger, war also, wie der Autor resümiert „weitaus weniger revolutionär als Anhänger wie Gegner unterstellen.“ Dazu zählen auch die Devisen- und Preiskontrollen, die für Venezuelas nichts grundsätzliches Neues sind und die negativen Effekte einer Rentenökonomie bis ins Unermessliche steigern, indem sie enorme Mitnahmeeffekte ermöglichen.
Mit der rechten Opposition würde sich an den strukturellen Problemen nichts ändern, sondern schlicht eine andere Klientel an die Erdöltöpfe gelangen. Einen zeitnahen Regierungswechsel hält Peters in seinem vor der jüngsten Eskalation geschriebenen Buch für das wahrscheinlichste Szenario. Nach einem dann absehbaren Aufschwung werde aber ebenso sicher „auch die nächste Krise kommen.“
Der Autor widmet sich einem Thema, das in der Debatte über Venezuela auf eine gewisse Art und Weise schon immer präsent gewesen ist, mit dem sich aber die Wenigsten tiefergehend beschäftigt haben. Mit seiner glänzenden Analyse der bolivarischen Revolution zeigt Peters eindrücklich auf, dass deren Niedergang weder die Folge von „Sozialismus“ noch eines „Wirtschaftskrieges“ ist, sondern sich aus den Strukturen der erdölbasierten Rentengesellschaft heraus erklären lässt. Dabei hat er stets die Bedeutung für andere rohstoffreiche Länder des globalen Südens im Blick. Diese sollten sich das venezolanische Beispiel genau ansehen, um aus dessen Fehlern für zukünftige soziale Transformationsprozesse zu lernen.

 

ZWISCHEN PUTSCH UND DIALOG

Wimmelbild: Wer ist Präsident? Juan Guaidó jedenfalls ist der zweite von links (Foto: OEA-OAS (CC BY-NC-ND 2.0)

Der 23. Januar ist für Venezuela ein geschichtsträchtiges Datum. An diesem Tag im Jahr 1958 stürzte ein Massenaufstand die Militärdiktatur unter Marcos Pérez Jiménez. Die rechte Opposition würde das Datum nun gerne für ihre ganz eigenen Zwecke vereinnahmen: Als den Tag, an dem sie nach 20 Jahren Chavismus wieder die Macht übernommen hat. Bisher gilt dies jedoch nur theoretisch. Praktisch sind die Dinge komplizierter. Noch Ende Dezember schien der venezolanische Präsident Nicolás Maduro angesichts einer intern zerstrittenen Opposition relativ fest im Sattel zu sitzen. Doch am 23. Januar mobilisierten die Regierungsgegner*innen erstmals seit anderthalb Jahren wieder erfolgreich auf die Straße.
Der Mann, der die Opposition binnen weniger Wochen in Hoffnung versetzt hat, ist Parlamentspräsident Juan Guaidó. Bis vor kurzem war der 35-jährige Ingenieur auch in Venezuela kaum jemandem ein Begriff. Mittlerweile halten ihn viele jedoch für den neuen Staatspräsidenten, weil er sich in Caracas selbst vereidigt hat. „Am heutigen 23. Januar schwöre ich, als ausführender Präsident formell die Kompetenzen der Nationalen Exekutive zu übernehmen, um die Usurpation zu beenden“, rief Guaidó auf der oppositionellen Großdemonstration tausenden jubelnden Anhängern im wohlhabenden Osten der Hauptstadt zu.

Guaidó hat auch im Ausland Unterstützer. Kurz nach seiner Proklamation teilte US-Präsident Donald Trump per Twitter mit, Guaidó offiziell als Interimspräsidenten anzuerkennen. US-Vizepräsident Mike Pence hatte den Anhänger*innen der Opposition im Vorfeld der Demonstration bereits die Unterstützung der USA gegen den als „Diktator“ bezeichneten Maduro zugesichert. Rasch erhielt Guaidó die Anerkennung weiterer lateinamerikanischer Länder, darunter Venezuelas rechts regierte Nachbarstaaten Brasilien und Kolumbien sowie unter anderem Argentinien, Chile, Ecuador, Peru und Paraguay. Auch die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) erkannte in Person ihres Generalsekretärs Luís Almagro Guaidó umgehend an. Die Europäische Union vollzog diesen formellen Schritt zwar bisher nicht, stärkt dem selbst ernannten Interimspräsidenten aber den Rücken und fordert Neuwahlen. Bundesaußenminister Heiko Maas etwa positionierte sich gegenüber der Deutschen Welle eindeutig: „Wir sind nicht neutral in dieser Frage, wir stehen auf der Seite von Guaidó“. Für die Regierungen Kubas, Nicaraguas, El Salvadors, Mexikos, der Türkei, Irans, Russlands und Chinas heißt der legitime venezolanische Präsident hingegen weiterhin Nicolás Maduro.

Heiko Maas ist auf der Seite von Guaidó

Bei seiner Selbstvereidigung bezog sich Guaidó neben den Artikeln 333 und 350, die das Recht auf Widerstand gegen verfassungswidrige Handlungen und undemokratische Regime festschreiben, auf Artikel 233 der Verfassung. Dieser behandelt die dauerhafte Abwesenheit des Staatspräsidenten in Fällen wie Tod, Krankheit oder Abberufung durch ein Referendum. Auf den vorliegenden Fall lässt sich der Artikel somit nur mit viel Fantasie anwenden.

(Foto: David Hernández (CC BY-SA 2.0))

Auf der zeitgleich stattfindenden Demonstration von Regierungsanhänger*innen im Westen von Caracas, gab sich Diosdado Cabello, Vorsitzender der regierungstreuen Verfassunggebenden Versammlung (ANC) kämpferisch: „Wer Präsident sein will, soll uns in (dem Präsidentenpalast, Anm. d. Red.) Miraflores suchen, denn dort wird die Bevölkerung Nicolás Maduro verteidigen.“ Daraufhin zogen die Chavisten vor den Präsidentenpalast. „Hier ergibt sich niemand“, rief Präsident Maduro seinen Anhänger*innen vom „Balkon des Volkes“ aus zu. Der US-Regierung warf er vor, eine „Marionettenregierung“ installieren zu wollen und brach die diplomatischen Beziehungen zu den USA ab. Den in Caracas ansässigen US-Diplomaten gab er 72 Stunden Zeit, das Land zu verlassen.

Guaidó reagierte umgehend und bat darum, sich den Anweisungen zu widersetzen. Die US-Regierung zog in den folgenden Tagen zwar einen Teil des Botschaftspersonals ab, kündigte jedoch an, sich dem Ultimatum, nicht beugen zu wollen. Die Maduro-Regierung rückte daraufhin von ihrem 72-Stunden-Ultimatum ab. Stattdessen solle nun über – wie es hieß – Interessenvertretungen in den jeweiligen Hauptstädten verhandelt werden, teilte das Außenministerium in Caracas mit. Sollte es darüber jedoch binnen 30 Tagen keine Einigung geben, müssten die verbliebenen US-amerikanischen Diplomaten das Land verlassen.

Mit der Installierung eines Parallelpräsidenten eskaliert der Konflikt zwischen der Regierung Maduro und der rechten Opposition auf gefährliche Weise. Es ist der vorläufige Höhepunkt eines Machtkampfes, der seit dem oppositionellen Wahlsieg bei den Parlamentswahlen Ende 2015 mit harten Bandagen geführt wird. Die Opposition setzte von da an alles auf einen Sturz Maduros und schürte bei ihren Anhänger*innen unrealistische Erwartungen auf einen zeitnahen Machtwechsel.

Die Regierung hingegen griff bei der Ernennung von Verfassungsrichter*innen und der Festlegung von Wahlterminen tief in die juristische Trickkiste, um sich an der Macht zu halten. Maduros Wahl im Mai vergangenen Jahres betrachten Opposition und zahlreiche Staaten als illegitim, unter anderem weil potenzielle Kandidat*innen nicht antreten durften. Die meisten Parteien hatte damals zum Boykott aufgerufen. Bei einer historisch niedrigen Wahlbeteiligung von 46 Prozent blieben die drei Gegenkandidaten dann auch chancenlos. Glaubhafte Hinweise auf Wahlbetrug gab es zwar nicht, die Umstände spielten jedoch eindeutig Maduro in die Hände. Die umstrittene Verfassunggebende Versammlung, die seit Mitte 2017 praktisch die Funktionen des Parlamentes übernahm, hatte den Wahltermin in einer Schwächephase der Opposition von Dezember auf Mai vorgezogen.

Nach Maduros erneuter Amtseinführung am 10. Januar kochte der Konflikt erneut hoch und die zuvor notorisch zerstrittene Opposition versammelte sich hinter Guaidó. Der frühere Studierendenaktivist sitzt seit 2011 als Hinterbänkler in der Nationalversammlung und wurde am 5. Januar allein aus Mangel an Alternativen zum Präsidenten der juristisch kalt gestellten Nationalversammlung gewählt. Laut Absprache der vier größten Oppositionsparteien steht das Amt dieses Jahr der rechten Partei Voluntad Popular zu. Weil deren erste Garde um Leopoldo López, Freddy Guevara und Carlos Vecchio entweder unter Hausarrest steht oder sich im Exil befindet, kam Guaidó zum Zug. Bereits auf einer öffentlichen Versammlung in Caracas am 11. Januar deutete er an, als Interimspräsident bereit zu stehen, sofern er die Unterstützung der Bevölkerung, des Militärs und der internationalen Gemeinschaft hätte. Eine kurzzeitige Festnahme Guaidós durch die Geheimdienstpolizei Sebin am 13. Januar verschaffte diesem zusätzlichen Rückenwind. Die Regierung Maduro gab anschließend kein gutes Bild ab, als sie erklärte, die Agenten seien angeblich auf eigene Faust tätig geworden. Dass Guaidó bisher kaum jemand kannte, scheint dabei eine seiner größten Stärken zu sein. Denn er wirkt jung und frisch, obwohl er politisch überhaupt nichts Neues zu bieten hat. Jenseits der radikalen Ablehnung des Chavismus und einer Rückkehr der alten Eliten an die Erdöltöpfe, verfügen weder Guaidó noch der Rest der rechten Opposition über ein überzeugendes Programm.

Schulterschluss zwischen Opposition und USA könnte Maduro helfen

Der Schulterschluss zwischen Opposition und US-Regierung könnte Maduro helfen, die eigenen Reihen zu schließen. Viele Chavisten sind von der Regierung zwar enttäuscht, würden jedoch keinesfalls tatenlos einen rechten Putsch mit US-Unterstützung akzeptieren. Bei dem kurzzeitigen Staatsstreich gegen Hugo Chávez im April 2002 hatte der Druck der Bevölkerung dazu geführt, dass der überwiegende Teil der Soldaten den Putschisten die Gefolgschaft verweigerte.

Sicher ist, dass Guaidó für eine tatsächliche Machtübernahme auf die Unterstützung des Militärs angewiesen ist. In den vergangenen Wochen hatte er die Streitkräfte wiederholt dazu aufgerufen, „die verfassungsmäßige Ordnung“ wiederherzustellen und ihnen für diesen Fall eine Amnestie zugesichert, die er mittlerweile auch Maduro selbst im Falle eines Rücktritts in Aussicht stellte. Außer einer kurzzeitigen Erhebung einiger Nationalgardisten am frühen Morgen des 21. Januars verhallten die Aufrufe bisher jedoch ungehört. Verteidigungsminister Vladimir Padrino López stellte sich seit dem 23. Januar mehrmals demonstrativ hinter die Regierung Maduro.

Tatsächlich ist es unwahrscheinlich, dass sich die Militärführung auf Guaidós Seite schlägt. Denn sie profitiert von einer engen politischen und wirtschaftlichen Verflechtung mit der Regierung. Doch es ist unklar, wie es in den unteren Rängen aussieht und welche Auswirkungen weitere Proteste oder eine Eskalation der Gewalt haben könnten. Seit der kurzzeitigen Erhebung der Nationalgardisten kam es täglich zu lokalen Anti-Maduro-Protesten in verschiedenen Städten. Davon betroffen waren in Caracas auch Stadtteile, die bisher als sichere Bank für die Chavisten galten. Dabei sollen nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen landesweit bereits 29 Menschen ums Leben gekommen und hunderte festgenommen worden sein. Dennoch blieb der befürchtete große Gewaltausbruch bisher aus und Guaidó befindet sich nach wie vor auf freiem Fuß.

Unabhängig vom Ausgang des Machtkampfes verfügt keines der beiden großen politischen Lager über wirkliche Lösungen, um die politische und wirtschaftliche Krise zu überwinden. Insbesondere der Bevölkerung in den Armenvierteln, die sich kulturell überwiegend dem Chavismus zugehörig fühlt, hat die Opposition wenig anzubieten. Die Regierung Maduro hingegen zeigt in den barrios durch Lebensmittelkisten und unregelmäßige Bonuszahlungen nach wie vor Präsenz. Doch ihre seit Mitte vergangenen Jahres umgesetzten Wirtschaftsreformen hatten kaum einen Effekt, jede Erhöhung des Mindestlohnes wird umgehend von der Hyperinflation aufgefressen.

Klar ist, dass eine Überwindung der tiefgreifenden politischen und wirtschaftlichen Krise nicht durch ein Beharren auf einzelne Verfassungsartikel beigelegt werden kann, die beide Seiten für ihre Zwecke instrumentalisieren. Eine Lösung kann nur im Dialog erreicht werden. Dafür müssten beide Seiten jedoch zu ernsthaften Kompromissen bereit sein. Als Vermittler boten sich bereits die Regierungen Mexikos und Uruguays an. Während sich Maduro offen für Gespräche zeigte, erteilte Guaidó dem „falschen Dialog“ eine Absage. Stattdessen kündigte er weitere Proteste an.

 

UNERWARTETER RÜCKSCHLAG

Die Ergebnisse überraschten. Entgegen den Vorwahlprognosen gewann die regierende Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) bei den Regionalwahlen am 15. Oktober in 18 von 23 Staaten. Landesweit holte sie etwa 54 Prozent der Stimmen. Das rechte Oppositionsbündnis Tisch der Demokratischen Einheit (MUD) errang mit fünf Gouverneursposten zwar zwei mehr als bei den vorangegangenen Wahlen 2012. Doch angesichts der tief greifenden Wirtschaftskrise und verbreiteten Unzufriedenheit in der Bevölkerung hatten sich die Regierungsgegner*innen deutlich mehr erhofft.

Laut Verfassung hätten die Regionalwahlen eigentlich bereits Ende 2016 stattfinden müssen. Mit fast einem Jahr Verspätung wurden nun zumindest die Gouverneur*innen, nicht aber die legislativen Vertretungen gewählt. Die Opposition konnte immerhin die beiden strategisch bedeutsamen Staaten Zulia und Táchira an der Grenze zu Kolumbien für sich entscheiden. Darüber hinaus gewannen MUD-Kandidat*innen im angrenzenden Mérida, dem zentralen Anzoátegui sowie dem Inselstaat Nueva Esparta. Der PSUV dagegen gelang eine symbolischer Erfolg im bisher oppositionell regierten Küstenstaat Miranda. Hier setzte sich der Nachwuchspolitiker Héctor Rodríguez durch.

Noch am Wahlabend sah es zunächst danach aus, als weise der MUD die Wahlergebnisse geschlossen zurück: „Zum jetzigen Zeitpunkt erkennen wir keines der Resultate an“, verkündete der Leiter der oppositionellen Wahlkampagne, Gerardo Blyde. Vereinzelt sprachen MUD-Vertreter*innen direkt von Betrug.

Vor allem sah sich die Opposition aber bereits im Vorfeld der Wahl benachteiligt. Dem Nationalen Wahlrat (CNE) warf sie vor, auf die Demobilisierung ihrer Wählerschaft hingearbeitet zu haben. Unter anderem hatte der CNE 212 Wahllokale (knapp 1,5 Prozent) „aus Sicherheitsgründen“ kurzfristig verlegt, häufig von Hochburgen der Opposition in chavistisch dominierte Viertel. Zudem durfte die Opposition ihre in internen Vorwahlen unterlegenen Kandidat*innen nicht löschen, so dass diese auf den Bildschirmen der Wahlcomputer erschienen, obwohl sie eigentlich gar nicht mehr zur Wahl standen.

Die Opposition sah sich im Vorfeld der Wahl benachteiligt.

Die Beteiligung stieg gegenüber den letzten Regionalwahlen zwar um sieben Prozentpunkte auf gut 61 Prozent, dass die Opposition im Vergleich zur Parlamentswahl Ende 2015 jedoch fast drei Millionen Stimmen verlor, liegt allerdings vor allem an eigenen Fehlern. Die von Anfang April bis Ende Juli andauernden Proteste, bei denen mindestens 120 Menschen ums Leben kamen, hatten dem MUD außer auf internationalem Pakett keinerlei Erfolg eingebracht. Eine unklare Strategie, interne Uneinigkeit und die offene Diskreditierung des Wahlsystems dürfte zudem viele Wähler*innen verprellt haben. Die beiden rechts außen stehenden kleineren Parteien Vente Venezuela und Alianza Bravo Pueblo hatten die Regionalwahlen außerdem von vornherein boykottiert und fühlen sich nun bestätigt.

Nach einem aus Sicht der Opposition völlig verkorksten Jahr zeigt sich, wie schwach der Zusammenhalt bei den Regierungsgegner*innen ist. Nur wenige Tage nach den verlorenen Regionalwahlen brach offener Streit über den Umgang mit der Regierung und die zukünftige Teilnahme an Wahlen aus. Auslöser war zunächst die Haltung der früheren sozialdemokratischen Regierungspartei Acción Democratica (AD), die vier der insgesamt fünf oppositionellen Gouverneursposten erringen konnte. Deren gewählte Gouverneur*innen Laidy Gómez (Táchira), Juan Barreto Sira (Mérida), Alfredo Díaz (Nueva Esparta) und Ramón Guevara (Anzoátegui) leisteten ihren Amtseid zwei Tage nach der Wahl vor der umstrittenen Verfassunggebenden Versammlung ab. Die Regierung hatte andernfalls mit Neuwahlen in den betroffenen Staaten gedroht. Der fünfte oppositionelle Gouverneur, Juan Pablo Guanipa von der Partei Primero Justicia (PJ, Zulia), weigerte sich hingegen und darf sein Amt nun nicht antreten.

Die Verfassungsgebende Versammlung wurde unter dem Boykott der Opposition gewählt.


Hintergrund ist, dass die Opposition die Verfassunggebende Versammlung nicht anerkennt. Diese war Ende Juli unter Boykott aller Oppositionsparteien gewählt worden und steht laut ihren Statuten über allen anderen staatlichen Gewalten. Die vier oppositionellen Gouverneur*innen brachen den bisherigen Konsens innerhalb des MUD, wonach die Verfassung-gebende Versammlung eine illegale Institution sei und gegen die bestehende Verfassung verstoße. Bereits bei deren Wahl, an der sich laut offiziellen Angaben gut 41 Prozent der Wähler*innen beteiligt hatten, gab es Betrugsvorwürfe. Im Gegensatz zu den Regionalwahlen waren Vertreter*innen der Opposition damals allerdings nicht in den Abstimmungslokalen präsent.

Henrique Capriles von der PJ (Foto: Wikimedia (CC BY-SA 3.0) )

Nach der Vereidigung der oppositionellen Gouverneur*innen traten die schon länger schwelenden internen Spannungen offen zu Tage. Der zweifache Ex-Präsident­schaftskandidat Henrique Capriles Radonski von Primero Justicia warf AD-Chef Henry Ramos Allup vor, seit dem oppositionellen Sieg bei den Parlamentswahlen Ende 2015 nur auf eine eigene Präsidentschaftskandidatur geschielt zu haben und sich bei der Regierung anzubiedern. „Ich spreche nur für mich und nicht meine Partei. So lange Herr Ramos Allup Teil des MUD ist, werde ich dort nicht weitermachen“, verkündete Capriles. Ramos Allup reagierte verschnupft. Für viele sei die Vereidigung der Gouverneur*innen nur ein willkommener Anlass, Acción Democrática anzugreifen, diesbezüglich werde er aber „mit niemandem diskutieren“. Doch eindeutig ist seine Position aber nicht: Hatte der AD-Chef den gewählten Gouverneur*innen kurz nach der Wahl noch frei gestellt, ob sie sich vor der Verfassunggebenden Versammlung vereidigen lassen würden, behauptet er nun, sie hätten gegen die Parteilinie gehandelt und sich daher „selbst ausgeschlossen“.

Der abgewählte Ex-Gouverneur des Staats Lara, Henri Falcón von der Regionalpartei Avanzada Progresista, bezichtigte derweil Primero Justicia und Voluntad Popular bei den Regionalwahlen „gegen ihn gespielt“ zu haben. Als einer der wenigen Oppositionspolitiker gestand er seine Wahlniederlage ein.

Die internen Streitigkeiten spielen der geschwächten Regierung unter Nicolás Maduro in die Hände, die nach einem langen Umfragetief wieder aufatmen kann. Hatte die Regierung die Regionalwahlen noch um fast ein Jahr verzögert, beschloss die Verfassunggebende Versammlung nun, dass die ebenfalls noch ausstehenden Kommunalwahlen bereits am 10. Dezember stattfinden sollen.

Die drei wichtigsten Oppositionsparteien Voluntad Popular, Primero Justicia und Acción Democrática kündigten daraufhin getrennt voneinander an, die anstehenden Wahlen zu boykottieren. Stattdessen wollen sie sich für eine transparente Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr einsetzen. Viele kleinere Parteien des MUD-Bündnisses nehmen an den Kommunalwahlen hingegen teil. Einzelne Mitglieder der größeren Parteien treten zudem auf dem Ticket kleinerer Parteien an.

Der prominenteste Fall ist Yon Goicoechea. Anfang November wurde der junge Politiker der rechten Partei Voluntad Popular überraschend aus der Haft entlassen. Im August vergangenen Jahres war bei ihm im Vorfeld einer geplanten Großdemonstration nach offiziellen Angaben Sprengstoff gefunden worden. Obwohl ein Gericht im darauf folgenden Oktober seine Freilassung angeordnet hatte, verbrachte er über ein Jahr inhaftiert im Hauptsitz des Geheimdienstes Sebin. Nun kündigte Goicoechea an, als Kandidat von Henri Falcons Partei Avanzada Progresista für das Bürgermeisteramt der oppositionellen Hochburg El Hatillo im Großraum von Caracas zu kandidieren. „Es ist ein großer Fehler, nicht an den Kommunalwahlen, dann aber an den Präsidentschaftswahlen teilzunehmen“, begründete er den Schritt. Seine Partei Voluntad Popular wolle er trotz der Diskrepanzen über das taktische Vorgehen jedoch nicht verlassen. Beinahe zeitgleich mit Goicoecheas Freilassung suchte dessen Parteifreund, der Parlamentsabgeordnete Freddy Guevara, Zuflucht in der chilenischen Botschaft. Zuvor hatte das Oberste Gericht seine Immunität aufgehoben, ihm soll wegen Aufrufen zu Gewalt der Prozess gemacht werden.

Goicoecheas Ankündigung sorgte für harsche Kritik seitens der großen Oppositionsparteien. Gleiches gilt für die Kandidatur Manuel Rosales‘ von der viertgrößten Oppositionspartei Un Nuevo Tiempo. Der Präsidentschaftskandidat von 2006 und ehemalige Gouverneur von Zulia will bei der ebenfalls am 10. Dezember stattfindenen Neu-wahl in dem westlichen Bundesstaat antreten. Aufgrund von Korruption dürfte er eigentlich zurzeit keine offiziellen Ämter bekleiden. Kurz nach den Regionalwahlen hob das Oberste Gericht (TSJ) den Beschluss allerdings auf. In einem gemeinsamen Kommunique wendeten sich Voluntad Popular und Primero Justicia gegen Politiker*innen der Opposition, die „die derzeitige Situation ausnutzen, um ihre persönlichen Projekte voranzutreiben“.

Streitigkeiten in der Opposition spielen der geschwächten Regierung in die Hände.

Doch auch der Chavismus tritt nicht überall geschlossen auf. Die kleineren Bündnispartner der PSUV bemängeln, dass die Regierungspartei vielerorts eigenmächtig ihre Leute durchsetze. In Libertador, dem größten Teilbezirk von Caracas, registrierten sich gleich mehrere chavistische Kandidat*innen. Zudem hat sich mit Nicmer Evans ein Vertreter des so genannten kritischen Chavismus eingeschrieben, der die Regierung Maduro ablehnt.

Sollte die Opposition ihre internen Probleme nicht bald in den Griff bekommen, hätte Maduro sogar bei den Präsidentschaftswahlen Ende 2018 reelle Siegchancen. Gefährlicher als der MUD dürfte für ihn vorerst die weitere wirtschaftliche Entwicklung sein. Nach weit verbreiteter Meinung steht Venezuela kurz vor der Staatspleite. Maduro kündigte Anfang November eine Neustrukturierung der Auslandsschulden an, die vor allem China und Russland, aber auch private Banken und Fonds, beträfe. Sollten sich einzelne Gläubiger widersetzen, droht ein sofortiger Zahlungsausfall. Die Ende August verhängten US-Sanktionen erschweren eine weitere Schuldenaufnahme Venezuelas. Auch die EU drängt derzeit auf die Verabschiebung von Sanktionen. Und wenige Tage nach den Kommunal-wahlen wird das Europäische Parlament die „demokratische Opposition“ Venezuelas mit dem diesjährigen Sacharow-Preis für geistige Freiheit ehren. Entgegennehmen soll die mit 50.000 Euro dotierte Auszeichnung Parlamentspräsident Julio Borges von der Partei Primero Justicia. Ob dieser dann überhaupt die Mehrheit der rechten Opposition repräsentiert, darf nach der gerade ausgebrochenen internen Krise bezweifelt werden.

 

„DIE REGIERUNG WILL EINE SIMULIERTE DEMOKRATIE“

GONZÁLO GÓMEZ ist Mitglied bei Marea Socialista (Sozialistische Flut), einer Abspaltung der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV). Im Jahr 2002 gehörte er zu den Mitbegründern der chavistischen Informations- und Debattenplattform Aporrea.org. (Foto: privat)

Herr Gómez, seit Anfang April erlebt Venezuela fast täglich Proteste. Droht eine weitere Eskalation?
Sowohl Regierung als auch Opposition setzen auf Konfrontation, aber niemand kümmert sich um die Probleme des Landes und der Bevölkerung. Die Politiker glauben anscheinend, dass ihnen dieser Faustkampf am Ende Vorteile für eine mögliche Verhandlungslösung verschafft. Dies könnte zu einer sozialen Explosion führen, die weit über die oppositionsnahen Sektoren hinaus geht.

Marea Socialista hat sich bereits 2014 von der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) abgespalten. Warum haben Sie mit der Regierung gebrochen?
Man muss die Regierung vor allem aufgrund ihrer konkreten Politik und nicht aufgrund des Diskurses oder ihrer Herkunft einordnen. In der Praxis betreibt Maduro eine konterrevolutionäre Politik, die durch eine linke, antiimperialistische und gegen die Bourgeoisie gerichtete Sprache verschleiert wird. Die Regierung zieht die Repression dem Dialog vor, wird immer autoritärer und will die partizipative und protagonistische Demokratie durch eine simulierte Demokratie ersetzen.

Was meinen Sie mit simulierter Demokratie?
Die Kunst besteht darin, eine breite Partizipation vorzugaukeln, obwohl die Regierungspartei PSUV alle Fäden in der Hand hält. Während Referenden behindert und die Regionalwahlen verschoben werden, will Maduro eine Verfassunggebende Versammlung gegen die offensichtliche Mehrheit der Bevölkerung durchsetzen (siehe Kasten). Aber es geht ihm nicht darum, mit der Revolution voranzukommen und die Rechte der Bevölkerung auszuweiten. Vielmehr soll die Verfassung von Chávez demontiert werden. Denn obwohl die Regierung ständig dagegen verstößt, stellt diese eine gewisse Bremse auf dem Weg in den Autoritarismus dar. Die vom Nationalen Wahlrat beschlossenen Regeln für die Wahl der Verfassunggebenden Versammlung verschaffen der Regierung einen klaren Vorteil und die Bevölkerung darf nicht einmal in einem Referendum darüber entscheiden, ob sie überhaupt eine neue Verfassung will. All dies nimmt dem Vorhaben die Legitimität.

Die rechte Opposition lehnt die Verfassunggebende Versammlung mit ähnlichen Argumenten ab …
… aber sie war es, die während des Putsches 2002 die aktuelle Verfassung abgeschafft hat! Erst der Autoritarismus der Regierung hat sie dazu gebracht, auf die demokratische Karte zu setzen, das ist opportunistisch und verlogen. Wir haben heute eine klassische Rechte, die sich im „Tisch der demokratischen Einheit“ (MUD) organisiert und eine neue Rechte, die in der Regierung sitzt. Natürlich sind sie nicht identisch, aber beide konkurrieren um Geschäfte und die Macht, manchmal überlagern und kreuzen sich die Interessen dabei. Die Regierung setzt längst eine Strukturanpassung durch, aber mit chavistischen Symbolen und sozialer Kontrolle.

Wie äußert sich dies?
Maduro führt die Versorgungskrise auf einen Wirtschaftskrieg zurück. Ich bestreite nicht, dass es diesen gibt. Aber es ist eine freiwillig getroffene Entscheidung der PSUV-Regierung, die Importe, auch von Lebensmitteln und Medizin, extrem zu beschränken, und gleichzeitig illegitime Schulden zu bedienen, die vermutlich zu einem großen Teil durch Korruption entstanden sind. Dies über die Bedürfnisse der Bevölkerung zu stellen, hat nichts mit Sozialismus zu tun. Viele Leute aus dem Umfeld der Regierung besitzen prall gefüllte Bankkonten, Luxusanwesen und Landgüter in den USA. Transnationalen Bergbaukonzernen stellt Maduro im Süden Venezuelas ein Gebiet von der Größe Portugals zur Verfügung. Wirtschaftliche Ansätze, von denen Chávez gesprochen hat, wie „endogene Entwicklung“ oder „Ernährungssouveränität“ wurden hingegen größtenteils zerstört.

Trägt dafür denn alleine die aktuelle Regierung die Verantwortung?
Sowohl den Privatunternehmern als auch den Bürokraten der Regierung geht es in erster Linie darum, schnelle Profite zu machen, zum Beispiel, indem sie das System der unterschiedlichen Wechselkurse auf betrügerische Art und Weise ausnutzen. Die Regierung Maduro tut nichts dagegen. Die Ansätze der Arbeiterkontrolle, die Chávez in einigen verstaatlichten Unternehmen eingeführt hat, sind verkümmert, Funktionäre und Militärs führen die Unternehmen, als seien sie ihr Privatbesitz.
Chávez hat diese bürokratisierenden Prozesse zwar bekämpft, aber nicht ausreichend. Kurz vor seinem Tod forderte er in einer programmatischen Rede, „das Steuer herumzureißen“, das heißt, den Beginn eines neuen Zyklus der Revolution einzuleiten. Maduro hat sich davon abgewendet.

Wie ließe sich die schwere Wirtschaftskrise lösen?
Das ist in diesem Stadium alles andere als einfach, da die Krise eine gewisse Eigendynamik angenommen hat, die im völligen Chaos zu enden droht. Aber es gibt ein paar Elemente: Zuallererst brauchen wir einen Dialog. Dieser darf sich aber nicht auf die Parteiführungen von PSUV und MUD beschränken, da diese einen Großteil der Bevölkerung nicht repräsentieren. In diesem Rahmen muss die Gewalt beendet werden und zwar sowohl seitens der Opposition, als auch der Sicherheitskräfte und regierungsnaher Gruppen. Das Recht auf freie Wahlen und die Einhaltung der Verfassung von 1999 müssen garantiert und die Verfassunggebende Versammlung zurückgenommen werden, es sei denn, die Bevölkerung entscheidet über deren Einberufung per Referendum.
Und die Regierung muss dringend Notfallmaßnahmen ergreifen, um die tragische Unterversorgung bei Lebensmitteln und Medikamenten abzumildern. Dazu sollte sie die Zahlung illegitimer Schulden einstellen und die Vermögen, die durch Korruption entstanden sind, konfiszieren, so wie es unsere Verfassung ermöglicht. Das alles muss umgehend geschehen, aber was wir dann brauchen, ist ein politisches Projekt. Wir müssen aus dem extraktivistischen Erdöl- und Bergbaumodell ausbrechen, die Landwirtschaft stärken und die Lebensmittelproduktion erhöhen.

Wie gelingt es Maduro in dieser schwierigen Situation sich weiterhin an der Macht zu halten?
Zu einem guten Teil hat das mit der Chávez-Nostalgie zu tun und der Hoffnung, die bolivarianische Revolution wiederzubeleben. Die Regierung macht sich die in weiten Teilen der Bevölkerung verbreitete Angst vor der klassischen Rechten und den Wunsch zunutze, die sozialen Errungenschaften der Chávez-Ära zu erhalten. Die Sozialprogramme etwa sind zwar deutlich weniger ausgeprägt als früher, dienen aber noch immer als Stoßdämpfer gegenüber der katastrophalen Lage.
Ein weiterer Grund ist das klientelistische Netz von Staatsangestellten und anderen Personen, die direkt von der Regierung abhängen. Dies betrifft auch die Führung vieler Organisationen und Bewegungen sowie das Militär. Und das Gespenst des Putsches von 2002 und der Erdölsabotage 2003/2004 führt dazu, dass viele Venezolaner und Venezolanerinnen, die mit der Regierung brechen, sich nicht der rechten Opposition anschließen. Laut Umfragen und Analysen verortet sich die Mehrheit der Bevölkerung mittlerweile in keinem der großen Lager mehr.

Dennoch erscheint die politische Landschaft noch immer stark polarisiert. Warum hat sich bisher keine politische Alternative herausgebildet?
Das hat zum einen mit der geringen Sichtbarkeit der Personen zu tun, die diese Alternative verkörpern könnten, mit dem langwierigen Prozess, eigene Organisationsstrukturen aufzubauen und den Hindernissen seitens des Autoritarismus. Unsere Partei Marea Socialista hat zum Beispiel keine Zulassung bekommen. Viele Bewegungen sind von der Regierung kooptiert und die Leute verbringen viel Zeit damit, ihr Überleben zu sichern und in Schlangen für Lebensmittel anzustehen. Die Bevölkerung wartet ab und könnte früher oder später auf den Plan treten, sofern Regierung und Opposition uns nicht vorher erdrücken.

Welche Rolle spielt in diesem Kontext der so genannte kritische Chavismus, dem sich auch Marea Socialista zugehörig fühlt?
Es geht uns zunächst vor allem darum, die Demokratie zu verteidigen und zu verhindern, dass die Gewalt überhand nimmt. Wir haben zum Beispiel schon im vergangenen Jahr eine Plattform zur Verteidigung der Verfassung und eine weitere zur Aufhebung des Bergbaudekretes gegründet. Obwohl wir uns weder an den Demonstrationen für noch gegen die Regierung beteiligen, erkennen wir an, dass es auf beiden Seiten Sektoren gibt, mit denen wir ins Gespräch kommen können. Wir wollen eine demokratische, antibürokratische und antikapitalistische Alternative aufbauen, die das Positive der Revolution rettet und die Fehler über Bord wirft. Daran arbeiten wir bei Marea Socialista gemeinsam mit einer Reihe chavistischer Ex-Ministerinnen und Ministern, Aktivistinnen und Aktivisten, Intellektuellen und Militärs im Ruhestand, die an Chávez’ Putschversuch 1992 teilgenommen haben.

Anhänger*innen der Regierung werfen Marea Socialista und anderen kritischen Chavist*innen häufig vor, der Rechten in die Hände zu spielen. Wie reagieren Sie auf solche Kritik?
Es kommt darauf an, wer so etwas äußert. Ich kann nachvollziehen, dass einige chavistische Sektoren eine Machtübernahme der Rechten fürchten. Wir debattieren darüber, wie man verhindern kann, dass die Oligarchie die Überbleibsel der Revolution zerstört. Aber was sollen wir schon jenen sagen, die uns als Agenten der CIA bezeichnen, weil wir innerhalb der Revolution Kritik üben, die sich aber gleichzeitig gemeinsam mit kapitalistischen Sektoren illegal bereichern?
So etwas anzuprangern ist notwendig und positiv für die Revolution. Wir dürfen nicht in die Falle tappen, dass wir Autoritarismus und Korruption akzeptieren, um uns gegen den Imperialismus zu verteidigen. Nicht die Kritik, sondern die schlechte Regierung gibt der Rechten Auftrieb. Darüber sollte auch ein Teil der internationalen Linken einmal nachdenken.

Im Jahr 2002 haben Sie das chavistische Internetportal Aporrea.org mitbegründet. Heute fällt auf, dass dort sowohl Befürworter*innen als auch Gegner*innen der Regierung publizieren. Welche Rolle kann Aporrea künftig spielen?
Man könnte meinen, Aporrea habe sich verändert, aber tatsächlich haben sich das Land, der Chavismus und die Haltung der Bevölkerung verändert. Als wir uns in Verteidigung der legitimen Regierung von Chávez 2002 gründeten, war unser Slogan: „¡Rompiendo el cerco mediático!“ – „Die mediale Belagerung durchbrechen“. Heute verwenden wir den Plural und sprechen von „Belagerungen“. Denn zusätzlich zur privat-kapitalistischen medialen Hegemonie gibt es eine bürokratisch-staatliche. Die staatlichen Sender haben nicht mehr die Durchlässigkeit, die sie für die sozialen Bewegungen zu Chávez’ Zeiten hatten. Daher ist unsere Rolle nun mehr denn je, Meinungen und Debatten Raum zu geben, die in den privaten wie staatlichen Sender kaum vorkommen. Wir bilden die Widersprüche des Chavismus und der bolivarianischen Revolution ab.

// ZUM SCHEITERN VERURTEILT

Die Idee an sich klingt gut. Mittels einer Verfassunggebenden Versammlung (VV) will der venezolanische Präsident Nicolás Maduro den politischen Machtkampf in Venezuela beenden. „Heute gebe ich die Macht in die Hände der Bevölkerung“, sagte er bei der Übergabe des entsprechenden Dekretes an den Nationalen Wahlrat (CNE). Dass damit die nach Hugo Chávez’ Amtsantritt als Präsident erarbeitete „beste Verfassung der Welt“ von 1999 abgeschafft werden soll, sehen die Chavist*innen keineswegs als Widerspruch an. Vielmehr solle diese der gesellschaftlichen Realität angepasst werden, indem etwa die vielfältigen Sozialprogramme und Selbstverwaltungsstrukturen Verfassungsrang bekommen.
Doch hinterlässt Maduros Ankündigung jede Menge Fragezeichen. Sie erfolgt mitten in einer tief greifenden politischen und wirtschaftlichen Krise, in der die gesellschaftliche Polarisierung vollends in Gewalt umzuschlagen droht. Gewissheit gibt es nicht, doch spricht einiges dafür, dass die Regierung momentan kaum eine Chance hätte, eine demokratische Wahl zu gewinnen. Die Zusammensetzung einer VV kann in diesem Kontext nur zugunsten der chavistischen Kräfte ausfallen, wenn einzelne Gruppen Sonderrechte erhalten oder die Opposition den Prozess boykottiert. In beiden Fällen würde einer neuen Verfassung bereits vor ihrer Verabschiedung ein Makel anhaften. Denn eine Magna Charta braucht vor allem eines: Legitimität.
Die Krise, in der sich Venezuela befindet, lässt sich auf diese Art und Weise nicht lösen. Die rechte Opposition, für die demokratische Regeln immer schon eine allenfalls taktische Rolle gespielt haben, bezeichnet Maduro mittlerweile offen als Diktator. Sie will nur dann an den Verhandlungstisch treten, wenn sie zuvor die Zusage zu sofortigen Neuwahlen erhalten hat. Die venezolanische Regierung warnt ihrerseits vor Umsturzplänen, agiert immer autoritärer und interpretiert die bestehende Verfassung nach ihrem Gusto. Dass unter diesen Bedingungen ein fruchtbarer gesellschaftlicher Dialog erwächst, ist mehr als fraglich. Eher vertieft der Vorstoß die ohnehin schon kaum mehr zu kontrollierende Polarisierung.
Dass die Regierung derart diskreditiert ist, liegt nicht zuletzt an eigenen Fehlern. Die Schuld an der gravierenden Wirtschafts- und Versorgungskrise lastet Maduro einseitig dem niedrigen Erdölpreis und einer Sabotage seitens der Privatwirtschaft an, ohne jedoch die strukturellen Ursachen anzugehen. Kritik ist auch aus den eigenen Reihen unerwünscht, eine offene Debatte gibt es schon lange nicht mehr. Letztlich hat Maduros Regierungspolitik nur noch wenig mit mit dem unter Chávez begonnenen „bolivarianischen Prozess“ zu tun, in dem es vor allem um politische Teilhabe und soziale Gerechtigkeit ging.
Es scheint kaum mehr möglich, dass die Regierung von innen heraus zu einer progressiven Ausrichtung des Chavismus zurückfindet. Eine Machtübernahme durch die rechte Opposition hätte für die politische Stabilität des Landes und die Situation der ärmeren Bevölkerungsmehrheit indes fatale Konsequenzen. Hoffnung böte alleine das Emporkommen einer linken Alternative, die in Verbindung mit sozialen Bewegungen als dritter politischer Akteur die lähmende Polarisierung aufbricht. Bisher gibt es dafür nur vereinzelte Ansätze wie etwa den so genannten kritischen Chavismus, zu dem sich die PSUV-Abspaltung Marea Socialista („Sozialistische Flut“), einige von Chávez’ Ex-Minister*innen und eine Reihe prominenter Intellektueller zählen. Obwohl sich laut Umfragen mittlerweile die Mehrheit der Bevölkerung keinem der beiden großen Lager mehr zurechnet, werden bisher jegliche Ansätze jenseits der beiden großen Blöcke durch die Polarisierung zerrieben. Kurzfristig scheint ein Bündnis aus kritischen Chavist*innen und konstruktiven Oppositionellen, die es durchaus auch gibt, unrealistisch. Mittelfristig ist dies die einzige Möglichkeit, die positiven Seiten des chavistischen Erbes zu retten.

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