HÜRDEN FÜR DEN UMBRUCH

VICENTE PAINEL

ist Historiker und Philosoph. Er ist Mitbegründer einer genossenschaftlichen Gemeinschaftsbank der Mapuche zur Förderung einer endogenen Wirtschaft, basierend auf der genossenschaftlichen Organisation der Unternehmen. Im Mai 2021 war er Regionalgouverneurskandidat für die Araucanía, diese Region war jedoch die einzige, in der ein rechter Kandidat gewann. Für die Wahl am 21. November kandidiert Painel für den Regionalrat der Araucanía.
(Foto: privat)


 

Wie bewerten Sie die Situation, in der sich die chilenische Regierung aktuell befindet?
Wir befinden uns in einer Situation der politischen Unregierbarkeit. Das beunruhigt nicht nur die Menschen, die auf die Straße gehen und mehr soziale Sicherheit, Demokratie und die Achtung der Menschenrechte fordern, sondern auch die Wirtschaft. Eigentlich befinden sich die Unternehmen in einer sehr vorteilhaften Situation. Der Anstieg des Dollarpreises, der im Mai bei 700 Pesos lag und jetzt bei 800 Pesos, und die Erwartungen für den Export von Rohstoffen verlaufen zu ihren Gunsten, die Preise steigen. Wäre da nicht die politisch instabile Lage, für die auch die Geschäftswelt Piñera verantwortlich macht.
Der Präsident befindet sich in einer sehr schwachen und isolierten Position, er ist praktisch allein, da er dem Land keine Stabilität bringt und innerhalb der Bevölkerung sehr diskreditiert ist. Zudem könnte er wegen der Menschenrechtsverletzungen und Korruptionsfälle, in die er verwickelt ist, im Gefängnis landen. Dies ist in Peru der Fall, wo fast alle ehemaligen Präsidenten im Gefängnis sitzen, oder in Argentinien, wo gegen Mauricio Macri wegen ähnlicher Vorfälle ermittelt wird. Damit könnte ein Kreislauf der Straflosigkeit beendet werden, der in Chile seit mehreren Jahrzehnten besteht. Außerdem hat er praktisch keine Chance, politische Reformen anzustoßen, um aus der Situation heraus zu kommen.

Wie ist die Regierung in diese Situation geraten?
Es ist ein Teufelskreis: Jede Maßnahme, die Piñera ergreift, stößt auf Proteste, und das einzige, was die Regierung tut, ist zu unterdrücken und die Menschenrechte zu verletzen, was wiederum noch mehr Feindseligkeit erzeugt. Das grundlegende Problem ist aber die drohende soziale Krise der privaten Haushaltsschulden. Im Zuge der Rückkehr zur Demokratie versuchte die Concertación por la Democracia, die Koalition der demokratischen Parteien mit Ausnahme der Kommunistischen Partei, die Unzufriedenheit und Armut zu bekämpfen, indem sie die Konsumfähigkeit der Bevölkerung durch deren Verschuldung erhöhte. Dieser Mechanismus schuf ein Gefühl des wirtschaftlichen Wohlstands, das sich seit 2010 in einer ständigen Krise befindet. Diese kann auf herkömmliche Weise bekämpft werden, indem die Einkommen etwas besser verteilt werden, etwa durch eine höhere Steuer auf den Bergbau und mehr Sozialhilfe, oder indem das Wirtschaftsmodell durch eine vierte industrielle Revolution geändert wird, also durch den Übergang zu einer auf künstlicher Intelligenz basierenden Produktionsweise. Das würde aber bedeuten, dass wir in Innovation investieren müssten.

Zu Beginn des Jahres hat die Regierung mehrere Sozialleistungen eingeführt, wie das Familiennotstandsgeld (IFE), das eine Art universelles Grundeinkommen auf sehr niedrigem Niveau ist, oder auch Lohnsubventionen. Warum funktioniert das nicht?
Der IFE wurde gemeinsam mit den Parteien der Ex-Concertación konzipiert und ist eine Antwort auf die Art und Weise, wie die Regierung von Michelle Bachelet die soziale Krise lösen oder abfedern wollte. Etwa durch Boni, die das Wirtschaftsmodell nicht berühren, sondern nur den Rückgang des Konsums ersetzen. Der IFE ist jedoch ein schwaches Instrument, und seine Wirkung nimmt aufgrund der steigenden Inflation ab. Heute ist ein starker Anstieg der Ölpreise zu verzeichnen, der sich mittelfristig auf alle Bereiche der Wirtschaft auswirken wird.

Anstatt sich auf diese Krise zu konzentrieren, hat die Regierung kürzlich den Ausnahmezustand in der Araucanía ausgerufen und das Militär in das Mapuche-Gebiet geschickt, um Brandanschläge auf Forstunternehmen zu bekämpfen. Dabei wurden unlängst Zivilist*innen durch Schüsse des Militärs umgebracht.
Der Ausnahmezustand und die Entsendung des Militärs dienen einerseits der Einschüchterung der Mapuche-Bevölkerung der Region. Andererseits kam es seit der Entsendung des Militärs zu weiteren Anschlägen auf Forstmaschinen und sogar auf einen Zug, der Zellulose transportierte. Er hat also nicht zu mehr Kontrolle über das Gebiet geführt, und die Regierung weiß das. In ihren Erklärungen spricht sie deshalb von einem „erhöhten Sicherheitsgefühl“, das die militärische Präsenz vermitteln soll. Gleichzeitig sind die chilenischen Offiziere in einigen Fällen erfahrener als die Regierung selbst. Aus ihrer Zeit als Blauhelme in Haiti sind sie mit dem Völkerrecht vertraut und wissen, dass Menschenrechtsverletzungen auf internationaler Ebene verfolgt werden können. Daher sind ihre Aktivitäten in der Region recht gering. Mit Ausnahme der Marine, die bislang nicht an Auslandseinsätzen teilgenommen hat. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass die Schüsse auf zivile Personen an einem Kontrollposten von Marinesoldaten kamen.
Seit dem Mord an Camilo Catrillanca im Jahr 2018 behauptet die Regierung, dass der einzige Grund für die Gewalt die ausländische Intervention, der sogenannte „Drogenterrorismus“ und „überideologisierte Mapuche“ seien. Damit verschleiert sie die wahren Probleme: Solange es Armut gibt, wird es Rebellion geben. Das ist für mich eine historische Tatsache. Immer, wenn es große Armut und Ungleichheit gibt, gibt es auch kriminelle Aktivitäten und politische Gewalt gegen diese Situation. Die Araucanía ist die ärmste Region in Chile: Es fand eine militärische Besetzung statt, den Mapuche wurden ihre Ländereien mit Gewalt genommen. Zusätzlich scheiterten bislang alle Wirtschaftsprojekte für die Siedler. Seit der Militärdiktatur herrscht eine Politik, die die Araucanía unterentwickelt, Unternehmen der lokalen Entwicklung schliesst und sie zu einem Lieferanten von Zellulose herabsetzt.

Zurzeit tagt der Verfassungskonvent, der eine neue Verfassung ausarbeiten soll, um die aus der Militärdiktatur abzulösen. Wie kommt er seiner Aufgabe bislang nach?
Der Konvent hat keinen staatsgründenden Charakter und wird durch geltende Gesetze und internationale Verträge eingeengt. Dennoch macht er Fortschritte. Allein die Tatsache, dass eine Mapuche-Frau Präsidentin ist, bedeutet etwas. Nun hängt es davon ab, ob die Delegierten in der Lage sind, zumindest einige der Erwartungen zu erfüllen, die in den Konvent gesteckt wurden. Ein Problem ist jedoch, dass seine Mitglieder ohne klare politische Strategie gewählt wurden und viele von ihnen politisch wenig erfahren sind. Sie bedienen vielmehr eine emotionale Unzufriedenheit.

Der Konvent wird derzeit von einer neofaschistischen Rechten angegriffen, die offen eine diktatoriale Politik vorschlägt. Ihr Präsidentschaftskandidat, José Antonio Kast will die Möglichkeit eines Ausnahmezustands einführen, bei dem es klandestine Gefängnissen geben soll, und fordert den Austritt aus der UNO, um nicht mehr für Menschenrechtsverletzungen belangt zu werden. Wie schätzen Sie diesen rechten Flügel ein?
Der rechte Flügel ist isoliert und spielt seine letzten Karten aus, um die eigenen Privilegien zu erhalten. Er hat nicht nur keine mehrheitsfähige Unterstützung, sondern ist auch in mehreren Wahllisten gespalten, was nach dem derzeitigen Wahlsystem dazu führen wird, dass sie noch mehr Sitze verlieren werden. Das wird eine Katastrophe für die Rechte sein. Der Kandidat der weniger extremen Rechten, Sebastián Sichel, der die meisten Spenden aus der Wirtschaft erhalten hat, aber kaum in der Lage ist, die Wahlen zu gewinnen, überließ es den Abgeordneten seiner Koalition, für andere Kandidaten zu stimmen und Werbung zu machen. Für die Wirtschaft bedeutet dies, dass die christdemokratische Kandidatin Yasna Provoste dem Land offenbar mehr Stabilität und Regierbarkeit verheißt als der rechte Flügel. Dieser Ausschluss könnte die Rechte jedoch in eine terroristische Rechte verwandeln. Mit direkten Angriffen auf die Bevölkerung wird sie versuchen, Veränderungen zu verhindern. Dies wird eine echte Gefahr für die künftige Regierung darstellen.

Es besteht eine gute Chance, dass der Kandidat Ihres Parteienbündnisses, Apruebo Dignidad, diese Wahlen gewinnt. Sie vertreten jedoch einen Sektor, der den Kandidaten der Kommunistischen Partei, Daniel Jadue, bevorzugt hätte, weil er die Programmvorschläge des aktuellen Kandidaten Gabriel Boric zu moderat findet.
Es ist gut möglich, dass Boric die Wahlen im November gewinnt. Er gehört zu einem Sektor, der sich immer dafür eingesetzt hat, dass die ehemalige Concertación ihr eigenes Demokratisierungsprogramm erfüllt, das sie am Ende der Diktatur vorgeschlagen hatte. In diesem Sinne steht er für eine erneuerte Concertación und wird wahrscheinlich mit dem von ihm vorgeschlagenen Programm konsequent sein. Auf jeden Fall ist es wichtig, dass Boric oder die Christdemokratin Provoste an die Macht kommen, denn mit ihnen haben wir die Gewissheit, dass der Konvent seine Arbeit friedlich beenden kann. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die nächste Regierung nur zwei Jahre Bestand haben wird, denn mit Annahme der neuen Verfassung, mitsamt einer neuen Regierungsform, weniger präsidial, weniger zentralistisch, werden vermutlich Neuwahlen angesetzt.

Wenn Sie sagen, dass der Konvent nur mit zwei der Präsidentschaftskandidat*innen in der Lage sein wird, seine Arbeit reibungslos zu erledigen, bedeutet dies, dass der rechte Flügel den Prozess boykottieren wird.
Der rechte Flügel hat sich derzeit mit 20 bis 30 Prozent der Wählerstimmen etabliert. Die faschistische Rechte wurde in der chilenischen Geschichte nur einmal gestoppt, und zwar in den Dreißigerjahren von der traditionellen Rechten, die damals von Präsident Arturo Alessandri vertreten wurde. Darüber hinaus, sei es während der Regierung der Unidad Popular von Allende oder während der Militärdiktatur, war der Staat nicht in der Lage, ihr entgegenzutreten. Während der Diktatur agierte sie sogar im Sinne des Staates. Ich denke, die radikale Rechte muss zurückgedrängt werden, um die Rechtsstaatlichkeit durchsetzen zu können. Aber die Carabineros sind genauso unfähig, sich mit diesem Thema zu befassen, wie die Kriminalpolizei PDI. Auch die Streitkräfte werden die extreme Rechte nicht unterdrücken. Um diese Aufgabe zu bewältigen, wäre eine Strukturreform notwendig. Deshalb gibt es keinen anderen Ausweg, als auf die Selbstverteidigung zu setzen.

Sie selbst treten bei der Wahl im November als Kandidat für den Regionalrat der Araucanía an. Der Regionalrat ist ein eher unbedeutendes Gremium, das vor allem über die Verteilung bestimmter Gelder entscheidet. Warum diese Position?
Der Regionalrat ist, anders als viele glauben, einer der wichtigsten Erfolge der Dezentralisierungspolitik der letzten zehn Jahre. In den kommenden Jahren wird eine Reihe von Zuständigkeiten an die neuen Regionalgouverneure übertragen, die im Mai 2021 zum ersten Mal gewählt wurden. Hier wird der Regionalrat eine große Bedeutung für die Stärkung der Regionen gegenüber der Zentralmacht haben. Es gibt eine Vielzahl von Herausforderungen, vor allem auf regionaler Ebene, wie etwa die Förderung einer endogenen Entwicklung, die nicht vom Zentralstaat oder der Ausbeutung natürlicher Ressourcen abhängt. Von der Region aus können wir am besten die Umgestaltung vorantreiben und neue Institutionen schaffen, zum Beispiel eine Föderation der Regionalgouverneure, die die Dezentralisierung weiter vorantreiben würde. Ich glaube, dass von diesem Ort aus ein noch radikalerer Wandel möglich ist, als vom verfassungsgebenden Prozess aus.

FREI WIE DER ALBATROS

Widerständig Das “Anti-Denkmal” in Puerto Resistencia (Foto: Remux via Wikimedia Commons – CC BY-SA 4-0)

Auf dem Bildschirm taucht zuerst Nahuel auf: Sein Bild zeigt ein schlicht eingerichtetes Zimmer, irgendwo in Santiago de Chile. Ein junger Typ mit dunklen Locken, Brille und Ohrringen fängt an zu erzählen:

Nahuel: Hey, ich bin Nahuel Herane, 19 Jahre alt. Ich war bei der Revolte vom 18. Oktober 2019 in der primera línea dabei. Am 21. Dezember des gleichen Jahres – ich war 17 – haben mich sieben Schrotkugeln der Carabineros getroffen. Sechs auf den Körper und eine ins Auge. Bis heute kann ich auf dem linken Auge nichts mehr sehen.

Inzwischen ist auch Rolando Quintero da. Sein Bild wackelt, er ist auf dem Fahrrad in Puerto Resistencia unterwegs. Die Kreuzung war einer der zentralen Orte des kolumbianischen Nationalstreiks in Cali und ist heute ein Ort der Selbstorganisation von unten. Hier ist Rolando besser als El Profe (Der Lehrer) bekannt.

Profe: Hallo, ich bin Rolando, viele nennen mich el Profesor Papas oder el Profesor P. Ich habe an der Universidad del Valle Politikwissenschaften und Konfliktlösung studiert. Hier an dieser Kreuzung, früher Puerto Rellena und heute Puerto Resistencia genannt, habe ich mich am 28. April 2021 dem Generalstreik angeschlossen.

Der Profe ist an einer großen Baustelle angekommen. Hier entstehe ein riesiges Infrastrukturprojekt, erzählt er. Auf der Mitte des Platzes ragt eine große Hand in die Höhe – das „Anti-Denkmal der primera línea“, wie er es nennt.

LN: Wie kam es eigentlich dazu, dass ihr in der primera línea seid?
Nahuel: Ist es okay, wenn ich anfange, Profe?

Profe: Na klar, erzähl!

Nahuel: Also zu Beginn der Revolte war ich noch in der Oberstufe. Schon meine Familie hat eine sehr politische Geschichte: Mein Großvater war vor der Diktatur bei der Ermittlungspolizei PDI und 1973 als Personenschützer von Präsident Allende im Regierungspalast. Auch in der Diktatur waren meine Familienangehörigen in Widerstandsorganisationen wie der MIR aktiv. Mein politisches Bewusstsein hat in der Mittelstufe angefangen, also mit 14 oder 15. Ich fand die Politik der Regierungen schlecht, ging auf die Demos der Studierenden und Schüler und fand mich in einer anderen Welt wieder. Und dann kam der estallido social (so wird in Chile der Beginn der Revolte im Oktober 2019 bezeichnet, Anm. d. Red.). Erst da lernte ich die primera línea kennen. Die Tage nach dem 18. Oktober 2019 liefen immer gleich ab: Aufstehen, etwas essen und zur Plaza de la Dignidad, dem zentralen Ort der Proteste, laufen. Am späten Nachmittag kam ich nach Hause, habe gechillt und etwas gegessen, dann ging es auch schon wieder los zur Digni: zum Material suchen, andere Dinge vorbereiten. Es waren die chaotischsten Tage meines Lebens. Das ging zwei Monate, bis das mit dem Auge geschah. Von da an übernahm ich ruhigere Aufgaben.

Profe: Oft erwacht das Bewusstsein über gesellschaftliche, politische oder wirtschaftliche Zusammenhänge ja an der Uni oder am Arbeitsplatz. In meinem Fall war das an der Universidad del Valle. Dort wurde mir die soziale Ungerechtigkeit in Kolumbien bewusst, die an vielen Orten unseres Subkontinents eine systematische Geschichte hat, die mit den Interessen nationaler und transnationaler Akteure zusammenhängt. Aus diesem Bewusstsein entwickelte sich in meiner Studienzeit ein Kampf – zuerst sehr persönlich. Schließlich habe ich beschlossen, dass dieser Kampf mein Platz in der Welt zum Sein, zum Denken und zum Fühlen ist. Das alles war vor dem 28. April 2021. An diesem Tag haben uns die Indigenen eine große Lektion erteilt: Dass Dinge geschehen, wenn man sie selbst in die Hand nimmt. Die Indigenen haben für das Niederreißen der Statue des sogenannten Gründers von Cali, Santiago de Cali, gesorgt. In dem Moment, als diese Statue fiel, fingen wir an, unser Anti-Denkmal, die Hand der Würde, zu errichten. Mit allem, was wir heute tun, knüpfen wir an die Kämpfe unserer indigenen Vorfahren an, die wir niemals begraben und vergessen können. Puerto Resistencia ist heute zu unserem Territorium geworden, auf dem wir diese Erfahrungen gemeinsam mit kämpferischen Menschen säen und düngen.

Wer sind die Leute links und rechts von euch, wenn ihr in der primera línea steht?
Nahuel: Die Revolte haben wir Oberstufenschüler angefangen, indem wir über die Drehkreuze der U-Bahn gesprungen sind und das ganze Land aufgeweckt haben. Aber in der primera gibt es alles. Oft sehen wir uns gegenseitig nur vermummt. Da weißt du nicht viel über die anderen – nur, dass die anderen Gefährten im Leben und im Kampf sind. Man riskiert sein Leben füreinander und denkt trotzdem kaum darüber nach, mit wem man dort ist. Oft sind es junge Menschen wie ich, aber es gibt auch Ältere, Arbeiter und so weiter. Von den Leuten, mit denen ich organisiert bin, kann ich sagen, dass wirklich alle mitmachen, auch Frauen, Queers, trans Personen, nicht-binäre Personen.

Profe: Das war in den Tagen von Puerto Resistencia auch so. In der primera línea verbündeten sich frühere Feinde, bauten gemeinsam dieses Anti-Denkmal auf und errichteten Barrikaden. Es gab eine 500 Meter lange Barrikade, die sich weder die Polizei noch andere Sicherheitsorgane zu durchbrechen trauten, weil dahinter so viele Menschen waren: 24 Stunden am Tag, 90 Tage lang. Da gab es Leute, die endlich die T-Shirts feindlicher Gruppen ablegten und beschlossen, ihre gewalttätigen oder sogar tödlichen Auseinandersetzungen beiseite zu lassen, um Puerto Resistencia aufzubauen.

Und natürlich dürfen wir den Beitrag der Mütter und Tanten in der Küche, beim Kochen und bei der Wäsche nicht vergessen. [Zeigt auf ein kleines Haus] Dort in diesem Häuschen hatten wir unsere improvisierte Krankenstation. Da gab es alles von Notfallsanitätern bis hin zu ausgebildeten Ärzten, sogar Chirurgen. Besonders bemerkenswert war die Hilfe der Bauarbeiter: Statt nach 14-Stundenschichten nach Hause zu gehen, kamen sie danach zu uns und halfen beim Bauen.

Wände machen Mut “Halte durch, primera línea!” (Foto: Ute Löhning)

Und wie versteht ihr euch mit den Protestierenden außerhalb der primera línea?
Nahuel: Das kommt sehr auf die Protestierenden an. Mich nervt es, wenn Leute auf Demos Alkohol trinken oder kiffen. Das ist nicht der richtige Ort dafür. Manchmal gab es auch nervige Diskussionen um Gewalt. Und trotzdem sorgt man sich natürlich um die Menschen hinter einem: um die Kinder, die Eltern, die alten Leute. Denn auch sie sind ja Gefährten im Kampf. Oft bilden sie die zweite Reihe und sind in den kritischen Momenten für uns da.

Profe: Also in Puerto Resistencia gibt es diese Unterscheidung gar nicht. Die primera línea sind wir alle, primera línea steht für Gemeinschaft. In der primera línea kommen alle zusammen, die für den Kampf um Würde und soziale Gerechtigkeit aus dem Schatten getreten sind. Da wird nicht zwischen den einen und den anderen unterschieden. Und wenn es Gewalt bei Aktionen gab, dann weil sie zur Verteidigung nötig war.

War das schon immer so?
Profe: Die Geschichte der primera línea begann dem Mythos nach vor ungefähr fünf Jahren an der Universidad Nacional de Colombia, der größten Uni des Landes. Dort haben sich ein paar junge Typen ohne militärische Ausbildung und ohne Erfahrung mit Gewalt und Konfrontation zusammengetan, um die Demos zu schützen: gegen die Waffengewalt des Staates, ganz besonders gegen die ESMAD. Die primera línea hatte Gasmasken, Schilder und Bleche dabei – und war gewillt und naiv genug, ihre Leute, die Protestierenden, zu schützen. Damals wurden sie belächelt wie der Albatros im Gedicht von Baudelaire. Heute, nach fünf Jahren, fliegt die primera línea wie ein freier Albatros. Heute werden wir mit Respekt behandelt und die Vertreter von Unternehmen verhandeln mit uns. Wir haben die Vermummung abgenommen. Deshalb sagen wir auch offen, dass wir alle primera línea sind. Stimmts?

Junge aus dem Off: Ich bin primera línea!

Profe: Der Freund hier ist gerade mal 15 Jahre alt und schon unser Menschenrechtskoordinator. Als Mensch, der das alles am eigenen Leib erlebt hat, erfüllt er alle Voraussetzungen, die es für diese Arbeit braucht. Dazu muss er heute unsere Verfassung nicht verstehen oder irgendwelche Artikel lesen – das kommt mit der Zeit. Ich verstehe das als zweite Phase unseres Widerstands: Heute nimmt fast die ganze primera línea an Kursen zu Menschenrechten und politischer Mitbestimmung teil, holt ihre Abschlüsse nach.

Aber habt ihr keine Angst vor Repression?
Profe: Wir haben die Angst verloren. Denn unsere Träume von einem Leben in Würde fliegen hoch wie der Albatros, von dem ich vorhin sprach – zu hoch für die Angst. Das heißt nicht, dass es keine Repression gibt. Wir beobachten, dass Leute aus der primera línea verschwinden oder für Taten verurteilt werden, für die es gar keine Beweise gibt. Manchmal landen sie auch ohne Verurteilung im Gefängnis. Wir aus Puerto Resistencia haben angesichts der willkürlichen Hinrichtungen der Staatsgewalt die Garantie unserer Rechte gefordert – aber das hat zu nichts geführt, denn Präsident Duque ist eine Marionette des Uribismus. Und vom Uribismus kennen wir die Stimmen der 6.402 falsos positivos – unschuldige Jugendliche, die entführt, ermordet und als angebliche von der Armee getötete Guerrilla-Kämpfer dargestellt wurden. Diese Art staatlicher Gewalt gibt es nur in Kolumbien.

Ich selbst bin schon drei Mal Opfer der Staatsgewalt geworden: Meine Freundin wurde von Militärs ermordet, mein Vater von Paramilitärs, weil er Gewerkschafter war. Und im Juni wurde mein Neffe von Polizisten in den Rücken geschossen, als er mit seinem Roller bei Rot über eine Ampel fuhr. Ihm geht es langsam besser, aber eine Zeit lang war er vom Nacken abwärts gelähmt. Trotz dieser Erfahrungen steht für meine Familie fest: Wir werden weiterhin unser Gesicht zeigen und unsere Geschichten erzählen. [Zeigt auf eine Ecke des Platzes] Guckt mal, da drüben sitzt die ESMAD. Sie spielen dort rund um die Uhr auf ihren Smartphones. Der einzige Grund, warum sie hier sind, ist, dass es eine angebliche Bedrohung der öffentlichen Sicherheit gibt. Die ESMAD ist eine systematisch mörderische und kriminelle Institution, die zur Unterdrückung von Protesten geschaffen wurde. Selbst hohe Richter in diesem Land geben zu, dass sie Gewalttäter und Mörder sind. Aber trotzdem wurde bisher keiner von ihnen verurteilt. Warum? Weil sie alle die gleiche schwarze Uniform tragen und es nicht möglich sei, zu sagen, wer von ihnen genau für die grausamen oder sogar tödlichen Handlungen gegen Protestierende verantwortlich ist. Da kommt es zu Gewaltexzessen: Die Leute verlieren ihre Augen oder Gliedmaßen.

Nahuel: Ja, so wie ich. Sie standen auch schon vor meiner Tür und wollten mich festnehmen. Das Justizsystem in Chile ist das Letzte. Und die Bullen werden immer mehr und die Demonstrierenden weniger. Sie haben auch neue Kampfmittel, riesige Wasserwerfer, gigantische LKWs, da wird die Repression immer stärker. Aber wir bleiben trotzdem auf der Straße, das sehen wir als unsere Pflicht den Menschen gegenüber an.

Was erhofft ihr euch davon für die Zukunft?
Nahuel: Ich setze absolut keine Hoffnung mehr in die politischen Parteien dieses neoliberalen Systems. Der wichtigste linke Kandidat für die kommenden Präsidentschaftswahlen ist Gabriel Boric. Das war der, der während der Revolte Piñeras Präsidentschaft gerettet hat, als er mit der Rechten paktiert hat. Und auch im Verfassungskonvent sitzen die gleichen, all das wird in Chile nichts ändern. Deshalb ist meine Hoffnung, dass die Leute wieder auf die Straße gehen und Chile wieder erwacht. Mit dieser Regierung, mit der Rechten werden wir nicht verhandeln, denn sie und ihre neuen Gesetze sind dafür verantwortlich, dass unsere Freunde im Knast sitzen. Also müssen wir wieder auf die Straße – es ist das einzige Mittel, das uns bleibt.

Profe: Das ist hier ein bisschen anders. Wir stellen sogar Kandidaten für den Jugendstadtrat auf und werden unsere Unterstützung für bestimmte Kandidaten öffentlich machen. Eigentlich sind sich alle Widerstandsorganisationen, nicht nur hier in Cali, sondern in ganz Kolumbien, darin einig, dass sie die Präsidentschaftskandidatur von Gustavo Petro und die Koalition Pacto Histórico unterstützen, also die Parteien, Bewegungen und Organisationen, die sich gegen das uribistische System stellen. Damit will ich nicht sagen, dass ganz Puerto Resistencia Petro- oder Pacto Histórico-Anhänger ist, aber dass sich die Menschen hier am ehesten mit den politischen Vorschlägen und progressiven humanistischen Ideen identifizieren können, die Gustavo Petro vorbringt. Wir wollen in dieser politischen Debatte nicht schweigen, denn es geht um unsere Zukunft.

REPRESSION OHNE GRENZEN

“Gerechtigkeit” Die Gesichter der Opfer von Menschenrechtsverletzungen an einer Hauswand in Santiago (Foto: Ute Löhning)

Eine Folge der Repression gegen die sozialen Proteste in Chile seit Oktober 2019 waren Tote und Verletzte, viele Menschen erlitten Augenverletzungen, es gibt Berichte über Folter durch Polizeikräfte. Wie haben Sie bei CODEPU diese Zeit erlebt?
Die Menschen kannten CODEPU noch aus Zeiten der Diktatur, als wir, wie auch die Vicaría de la Solidaridad, uns der zahlreichen Menschenrechtsverletzungen annahmen. Nach dem Beginn der Revolte 2019 kamen sofort zahllose von Polizeiübergriffen Betroffene zu uns. Wir besuchten Festgenommene in Polizeidienststellen und Verletzte in den Krankenhäusern. Wir begannen die Informationen zu systematisieren und errichteten eine eigene – informelle – Gesundheitsstation, in der wir Verletzte betreuten und an Krankenhäuser weiterleiteten. Diese Arbeit führen wir bis heute fort. Wir haben bislang etwa 200 Strafanzeigen wegen Menschenrechtsverletzungen gestellt. Und wir vertreten etwa 60 Menschen anwaltlich, die während der Proteste verhaftet wurden.

Wie verlaufen die Strafverfahren wegen Menschenrechtsverletzungen, die von Angehörigen der staatliche Sicherheitskräfte begangen wurden? Gibt es Verurteilungen?
Seit dem 19. Oktober 2019 wurden tausende Strafanzeigen gestellt. Bislang gibt es erst vier verurteilte Polizisten. Eine dieser Verurteilungen – wegen Folter an einem Demonstranten aus Lo Hermida – haben wir erreicht. Doch die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Wir stellen leider fest, dass die Staatsanwaltschaft mit zweierlei Maß misst: Bei Vorwürfen gegen Protestierende wird schnell und eingehend ermittelt, es gab zahlreiche Verurteilungen und viele Beschuldigte sitzen über lange Zeit in Untersuchungshaft.

Bei Ermittlungen gegen Angehörige der staatlichen Sicherheitskräfte ziehen sich dagegen die Verfahren in die Länge, etwa 40 Prozent der Untersuchungen wurden eingestellt. Staatliche Stellen, die diese Verfahren unterstützen sollten, wie das gerichtsmedizinische Institut SML, wurden personell nicht aufgestockt und sind überfordert. So werden beispielsweise bei Foltervorwürfen notwendige forensische Gutachten verzögert. Das erschwert die Beweis-*führung, führt zu Frustration bei den Betroffenen und einem Glaubwürdigkeitsverlust des Justizsystems.

Sitzen mutmaßliche Täter*innen aus den Reihen der Polizei in Untersuchungshaft?
Einige Wenige. Beispielsweise führen wir Nebenklage im Fall eines am 23. Oktober 2019 in Buin verhafteten Demonstranten, Mario Acuña. Er wurde nach seiner Festnahme von sechs Polizisten schwer verletzt und gefoltert. Seit März dieses Jahres befinden sich nun drei Beschuldigte in Untersuchungshaft. Das ist ein großer Erfolg, denn wir beobachten, dass in vielen sehr bekannten Fällen, wie Gustavo Gatica oder Fabiola Campillay, die ihr Augenlicht verloren haben, die Beschuldigten unter Auflagen auf freiem Fuß sind. Wir hoffen, dass im Fall von Mario Acuña bei der anstehenden Haftprüfung die Untersuchungshaft der Beschuldigten aufrecht erhalten wird. Sie sind eine Gefahr für die Gesellschaft, sie haben im Verfahren nachweislich gelogen und die Ermittlungen behindert. Im Moment sind sie zumindest vom Polizeidienst suspendiert.

Wie viele der verhafteten Demonstrant*innen sitzen derzeit in Untersuchungshaft?
Es gab bis vor einiger Zeit um die 2500 politische Gefangene. Die Anzahl ist nun zurückgegangen, gegenwärtig sitzen noch etwa 70 politische Gefangene in Untersuchungshaft. Von den Gefangenen, die CODEPU vertritt, sind im Moment noch zwei inhaftiert. Wir haben vielfach eine Aufhebung der Untersuchungshaft beantragt. Doch obwohl keinerlei Beweise gegen sie vorliegen, sitzen sie weiterhin im Gefängnis. Das sind keine Einzelfälle: Viele Beschuldigte werden trotz fehlender Beweise nicht aus der Untersuchungshaft entlassen.

Auf politischer Ebene wird derzeit über ein Amnestiegesetz für die politischen Gefangenen debattiert. Wie steht CODEPU dazu?
Wir unterstützen die Forderungen nach einer Amnestie. In einer Stellungnahme haben wir den verfassungsgebenden Konvent dazu aufgefordert, die Problematik der politischen Gefangenschaft zu behandeln. Das Parlament hat eine Abstimmung über den Gesetzesentwurf für eine Amnestie bislang immer wieder verzögert. Formell handelt es sich bei dem Gesetzesentwurf um eine Begnadigung. Es sollen jedoch sowohl bereits Verurteilte wie auch Beschuldigte einbezogen werden, es handelt sich also letztlich um eine Amnestie. Vor einigen Tagen haben Angehörige der politischen Gefangenen einen Hungerstreik begonnen, der so lange aufrechterhalten werden soll, bis das Parlament darüber abstimmt. Ursprünglich gab es weitreichende Unterstützung im Parlament. Jetzt sieht es so aus, als würde eine Abstimmung bis nach den Wahlen hinausgezögert, das wäre kein gutes Zeichen.

Was bedeutet das für die politischen Gefangenen?
Die Gefangenen leiden körperlich und psychisch unter den schlechten Haftbedingungen, die internationalen Standards zuwiderlaufen. Es ist ein Wunder, dass es unter diesen Umständen noch zu keinen Corona-Erkrankungen unter ihnen kam. Viele der Gefängnisse in Chile werden von privaten Unternehmen verwaltet, die Mindeststandards nicht einhalten. Wir haben beim Rechnungshof eine Beschwerde eingereicht, damit der Staat regulierend eingreift und menschenwürdige Haftbedingungen garantiert.

Im vergangenen Juli waren Sie als Vertreterin von CODEPU Teil der internationalen Beobachtungsmission SOS Colombia, die während der sozialen Proteste in Kolumbien begangenen Menschenrechtsverletzungen dokumentiert und darüber einen Bericht verfasst hat. Wie waren Ihre Erfahrungen in Kolumbien?
Vor SOS Colombia haben andere Beobachter*innen Kolumbien besucht: Eine Delegation der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) sowie eine argentinische und eine katalanische Delegation. Sie besuchten einzelne Regionen und waren nur wenige Tage im Land. Unsere Delegation bestand aus 41 Mitgliedern aus 14 Ländern und war vom 3. bis 23. Juli in elf Regionen Kolumbiens unterwegs. Dort konnten wir an geschützten Orten etwa 180 Zeug*innen befragen.

Während der drei bis vier vorangegangenen Monate waren etwa 7.000 Menschen Opfer von Menschenrechtsverletzungen geworden. 8.500 wurden festgenommen, mehr als 800 Menschen sind verschwunden oder ihr Aufenthaltsort war zeitweilig nicht bekannt. Wenn dieses Ausmaß an Staatsterrorismus anhält, kann das zu hunderttausenden von Opfern führen.

Sowohl in Kolumbien als auch in Chile wurden die Proteste von staatlicher Seite als „Krieg“ bezeichnet und von internen Feinden gesprochen. Welche Unterschiede und Parallelen gibt es bei der Repression gegen die sozialen Proteste in beiden Ländern?
Bei den Menschenrechtsverletzungen in Chile und Kolumbien gibt es ähnliche Verhaltensmuster der Sicherheitskräfte. Es ist beispielsweise kein Zufall, dass es in Kolumbien, Chile und auch in Ecuador zahlreiche Augenverletzungen gab. In Chile gab es in den beiden vergangen Jahren 500 Opfer von Augenverletzungen. In Kolumbien waren es in drei Monaten bereits 114 Opfer. Auch in Ecuador wurden während der sozialen Proteste mehr als 80 Menschen an den Augen verletzt.

Ich denke, es gibt eine Politik des Staatsterrorismus, die darauf abzielt, die Demonstrierenden zu bestrafen, um die Proteste einzudämmen. In Zeiten der Diktatur sollten die Proteste ganz unterbunden werden. Heute geht es darum, die Zahl der Protestierenden zu verringern, indem ihnen Schmerzen zugefügt werden, indem sie verängstigt werden. Durch jede*n verletzte*n Demonstrierende*n wird Angst geschürt und weniger Menschen beteiligen sich am Protest.

Gibt es auch strukturelle Gemeinsamkeiten?
Chile und Kolumbien erhalten ihre Waffen von denselben Firmen und es sind Sicherheitskräfte aus diesen beiden Ländern, die Schulungen für Polizeikräfte in der gesamten Region durchführen. In beiden Ländern gab es bisher keine Polizeireform. In Chile agiert heute dieselbe Polizei wie zu Zeiten der Pinochet-Diktatur. Die ESMAD (Aufstandsbekämpfungseinheit der kolumbianischen Polizei, Anm. der Red.) wird auf der Grundlage eines Diskurses des „inneren Feindes“ für die Aufstandsbekämpfung instruiert.

Beide Organisationen werden nicht dafür ausgebildet, friedliche soziale Proteste zu begleiten. Ich denke, der Ursprung dieser Haltung liegt in der Escuela de las Américas (Schulungszentrum der USA für lateinamerikanische Polizeikräfte während der lateinamerikanischen Diktaturen, Anm. d. Red.) und dass diese Kooperation in den 1990er Jahren vertieft wurde.

Waren an den Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien und Chile extralegale Gruppen beteiligt, wie Paramilitärs oder andere bewaffnete Einheiten?
Ja, es gibt neben der Nationalpolizei und der ESMAD eine Reihe weiterer extralegaler Gruppen, die in Koordination mit Mitgliedern der Polizei Aktivist*innen einschüchtern und bedrohen. Das gibt es auch in Chile, zum Beispiel die paramilitärische Gruppe APRA, eine faschistische Gruppe, die vor allem in Wallmapu – den Mapuche-Territorien – aktiv ist. Die Aktivitäten solcher Gruppen haben sich dem Beginn der Revolte verstärkt, sie versuchen, Selbstjustiz zu üben, bleiben meist straflos und werden von Polizeikreisen gedeckt.

In Kolumbien sind solche extralegalen Gruppen noch weiter verbreitet. Letztlich agiert die Regierung dort gegen die Bürger*innen und die Institutionen funktionieren schlechter als in Chile. Beispielsweise gibt es in Kolumbien im Bezug auf gewaltsames Verschwindenlassen ein Warn- und Suchsystem. Dieses hat jedoch während der Proteste bei mehr als 800 Fällen von Verschwundenen vollständig versagt. Auch die Staatsanwaltschaften wurden nicht aktiv. Was die Institutionen angeht, sind wir in Chile einen Schritt weiter.

Es heißt, dass sich viele neue soziale Akteur*innen an den Protesten beteiligen. Welche Menschen gehen in Chile und Kolumbien auf die Straße?
Es gibt eine Reihe von neuen sozialen Akteur*innen in diesen Protestbewegungen, die nicht alle gleichermaßen von staatlicher Gewalt betroffen sind. Zu den wichtigsten Akteur*innen zählen in beiden Ländern die Aktivist*innen der primera línea, die besonderer Gewalt und Verfolgung ausgesetzt waren und sind. Unter den Opfern von Menschenrechtsverletzungen in beiden Ländern gab es viele Schüler*innen und Studierende, auch viele politisierte Fußballfans. Die Repression richtete sich gegen queere Menschen, gegen Migrant*innen, gegen medizinische Versorgungsposten auf den Demonstrationen. Besonders stigmatisiert und kriminalisiert wurden auch unabhängige Journalist*innen, die Übergriffe dokumentierten. Ihre Berichterstattung über Menschenrechtsverletzungen war oft nützlich für Strafanzeigen und Ermittlungen. Hier in Chile gab es fünf Fotograf*innen beziehungsweise Kamaraleute, die ein Auge verloren haben.

Der Abschlussbericht von SOS Colombia enthält eine Reihe von Empfehlungen. Welche würden Sie hervorheben?
Zu den besonders dringlichen Empfehlungen gehört die Demilitarisierung der Polizei. Sie sollte nicht mehr dem Verteidigungsministerium unterstehen. Außerdem sollten reale Verhandlungen zwischen dem kolumbianischen Staat und den an den Protesten beteiligten Gruppen geführt werden. Es gab bislang etwa elf Dialogrunden, die ergebnislos beendet wurden. Ebenfalls dringlich sind ein besserer Zugang zur Justiz, eine umfassende Entschädigung der Opfer sowie Garantien, dass sich das Vorgehen nicht wiederholt. Es sollte eine Untersuchungskommission zur Straflosigkeit von Akteur*innen, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben, gegründet werden. Ausländische Investor*innen sollten zur Bedingung machen, dass die staatliche Gewalt endet und die Arbeitsgesetze eingehalten werden. Und als internationale Gemeinschaft sollten wir die Menschenrechtsverletzungen sichtbar machen, um Druck auf die kolumbianische Regierung auszuüben.

PANDORA PAPERS BELASTEN POLITIKER MEHRERER LÄNDER

14 ehemalige und amtierende Staats- und Regierungschefs aus Lateinamerika stehen nach der Veröffentlichung der Pandora Papers unter Verdacht, einen Teil ihres Vermögens in Briefkastenfirmen vor der Öffentlichkeit versteckt zu haben. Darunter sind die amtierenden Präsidenten Sebastián Piñera (Chile), Guillermo Lasso (Ecuador) und Luis Abinader (Dominikanische Republik). Auch Regierungsmitglieder anderer Länder sind von den Enthüllungen betroffen, wie der brasilianische Wirtschaftsminister Paulo Guedes oder der mexikanische Staatssekretär für Kommunikation und Transport Jorge Arganis Díaz Leal.

Ein Zusammenschluss von mehr als 600 Journalist*innen aus 117 Ländern hatte in einer geheimen Recherche fast 12 Millionen vertrauliche Dokumente ausgewertet. Die Daten wurde dem International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) von einer anonymen Quelle zugespielt. Am 3. Oktober wurden die Ergebnisse ihrer Analysen unter dem Namen Pandora Papers weltweit veröffentlicht. Namhafte internationale Medien wie BBC, die Washington Post oder El País beteiligten sich an den Analysen und deren Veröffentlichung.

Die vertraulichen Dokumente stammen von 14 sogenannten Offshore-Providern. Diese Firmen helfen ihren Kunden dabei, in Steueroasen Briefkastenfirmen zu gründen. Der Besitz einer Offshore-Firma ist nicht illegal, wird aber häufig zur Geldwäsche oder Steuerhinterziehung genutzt. Gerade bei Regierungsmitgliedern wird der Versuch, dem Staat Steuern zu entziehen, als unethisch betrachtet, oft auch gesetzlich sanktioniert.

Brasilien: Wirtschaftsminister besitzt Briefkastenfirma

Paulo Guedes, seit 2019 „Superminister“ für Wirtschaft und Finanzen und neoliberaler Hardliner, wird von den investigativen Recherchen der Pandora Papers belastet. Er wird als Besitzer der Offshore-Firma Dreadnoughts International Group genannt, die in der Steueroase der Britischen Jungferninseln angesiedelt ist. Die Zeitschrift Piauí berichtete am 3. Oktober 2021, dass die Briefkastenfirma im September 2014 eröffnet wurde. Mitgesellschafterin von Guedes war seine Tochter Paula Drumond Guedes. Beide zahlten insgesamt 8 Millionen US-Dollar auf ein Konto der Crédit Suisse in New York ein, indem sie 50.000 mal den Betrag von 160 US-Dollar überwiesen. Bis August 2015 wurde die Einlage auf 9,5 Millionen US-Dollar erhöht.

Nach Aussagen seiner Anwälte verließ Guedes das Management seiner Offshore-Firma im Dezember 2018, bevor er das Amt als Minister antrat. Seither habe er auf jegliche Beteiligung an den finanziellen Entscheidungen des Unternehmens verzichtet und weder Überweisungen auf, noch Abhebungen von Konten im Ausland getätigt. Durch die Abwertung des Real während seiner Amtszeit stieg sein Vermögen in der Landeswährung allerdings von 35 auf 51 Millionen Reais.

In Brasilien ist der Besitz einer Offshore-Firma – auch in Steueroasen – nicht illegal, solange der Besitz der Steuerbehörde gemeldet wird. Dies ist laut Guedes der Fall. Die Opposition spricht jedoch von einem potenziellen Interessenkonflikt, da sich der Wirtschaftsminister indirekt durch seine Politik bereichert haben könnte. Am 6. Oktober wurde im Parlament entschieden, dass der Finanzminister dazu vor dem Plenum und vor zwei Kommissionen Stellung nehmen muss. Gegenüber Journalist*innen sagte Guedes, er sei „sehr gelassen“ und habe nie privat von seinem Amt profitiert.

Am 7. Oktober fanden vor dem Wirtschaftsministerium mehrere Proteste gegen Guedes statt. Morgens regnete es dort Dollar-Spielgeld mit dem Gesicht des Ministers, am Nachmittag wurde das Gebäude mit Slogans wie „Guedes im Paradies und das Volk in der Hölle“ oder „Guedes verdient am Hunger“ besprüht.

Chile: Transaktionen bedrohen Naturschutzgebiet

In Chile deckten die Pandora Papers neue Details zu Geschäften von Präsident Piñera im Zusammenhang mit der geplanten Eisen- und Kupfermine Minera Dominga auf. Der Milliardär Piñera war zu Beginn seiner ersten Amtszeit Hauptaktionär des Projekts, verkaufte jedoch Ende 2010 seine Anteile für 152 Millionen US-Dollar an seinen Schulfreund Carlos Alberto Délano. Davon wurden 138 Millionen mittels einer Transaktion auf den Britischen Jungferninseln bezahlt, einer Steueroase in der Karibik. Der Betrag sollte in drei Raten bezahlt werden, die letzte Rate war jedoch nur fällig, sofern das für das Projekt vorgesehene Küstengebiet nahe der Stadt La Higuera nicht zu einem Naturschutzgebiet erklärt würde. Darauf hatte Piñera als Präsident maßgeblichen Einfluss.

Die Region um La Higuera gilt als Hotspot der Biodiversität. Dort, wo für die geplante Mine ein eigener Hafen gebaut werden soll, befindet sich ein wichtiges Brutgebiet der vom Aussterben bedrohten Humboldt-Pinguine, auch Wale und Delfine leben dort. Piñera ignorierte jedoch die Umweltbewegung, die letzte der drei Raten wurde bezahlt und im August 2021 genehmigte die zuständige Behörde das Bergbauprojekt.

Der Präsident bestreitet einen Interessenskonflikt und beruft sich darauf, dass seine Beteiligung an dem Projekt bereits im Jahr 2017 Gegenstand von Ermittlungen gewesen sei, die zu seinem Freispruch führten. Da die Bedingung für die Zahlung der dritten Rate damals jedoch nicht untersucht wurde, hat die Staatsanwaltschaft nun die Wiederaufnahme von Ermittlungen beschlossen. Die Oppositionsparteien haben angekündigt, ein Amtsenthebungsverfahren einzuleiten.

Ecuador: Das Geld zieht um

In Ecuador gibt es seit einem Referendum im Februar 2017 ein Gesetz, welches es politischen Funktionsträgern verbietet, Geld in Steueroasen zu haben. Die Pandora Papers weisen dem amtierenden Präsidenten des Landes, Guillermo Lasso, die Nutzung von 14 verschiedenen Offshore-Firmen nach. Etwa drei Monate nach Erlass des genannten Gesetzes wurden im US-amerikanischen Bundesstaat South Dakota zwei Trusts gegründet, auf die die Anteile der meisten von Lasso angeblich aufgelösten Unternehmen überschrieben wurde. Lasso verteidigte sich damit, keinerlei Besitz, Kontrolle, Nutzen oder Interesse an diesen Einrichtungen zu haben und behauptet, sich immer an geltendes ecuadorianisches Recht gehalten zu haben.

Wie die Süddeutsche Zeitung (SZ) am 3. Oktober 2021 berichtete, hatte Lasso für die Konten in South Dakota keine Adresse in Ecuador, sondern in Florida (USA) angegeben. Mit diesem „Umzug“ nach South
Dakota war Lasso laut SZ in gewisser Weise auch Vorreiter für andere, die nach den Enthüllungen Panama Papers ihre Gelder aus Steueroasen in den US-Bundesstaat brachten.

Aus den in den Pandora Papers enthaltenen Dokumenten soll nicht hervorgehen, wer die Begünstigten der Trusts sind. Sollte Lasso allerdings noch immer Verbindungen zu dem Geld haben, könnte es ungemütlich für ihn werden. Die für Steuerfragen zuständige Kommission im ecuadorianischen Parlament kündigte Untersuchungen gegen Lasso an.

Peru: Ex-Präsident Kuczynski kaufte Offshore

Der Name des neoliberalen peruanischen Ex-Präsidenten Pedro Pablo Kuczynski (2016-2018) taucht ebenfalls in den Pandora Papers auf. Kuczynski (PPK) hatte im Jahr 2004, als er das Amt des Finanzministers unter Alejandro Toledo innehatte, die Offshore-Firma Dorado Asset Management auf den britischen Jungferninseln erworben. Diese soll nicht nur als Holding für Immobilien fungiert haben, sondern auch Finanzberatung zum Ziel gehabt haben, wie das Investigativportal Convoca schreibt.

In die Ermittlungen gegen PPK wegen Geldwäsche im Rahmen von Schmiergeldzahlungen durch das brasilianische Bauunternehmen Odebrecht war Dorado bereits 2019 einbezogen worden. Von Odebrecht als Beratungshonorare getarnte Gelder an PPKs Beraterfirma Westfield Capital sollen von Dorado zum Kauf zweier Immobilien in PPKs Besitz verwendet worden sein. Seit 2019 befindet sich PPK im Hausarrest, die betroffenen Immobilien wurden beschlagnahmt.

Nach Ansicht des zuständigen Staatsanwaltes Domingo Pérez ist das bisher unbekannte Ziel des Unternehmens, die Verschleierung des wahren Zwecks „eindeutig ein Verhalten, das mit Geldwäsche zu tun hat“, wie er gegenüber Convoca angab. Man werde nun weitere Transaktionen von Dorado aus dem Zeitraum von 2004-2014 prüfen. 2014 hatte PPK die Firma unter verändertem Namen nach Peru transferiert.

HOLPRIGER EPOCHENWECHSEL

Gegen die Straflosigkeit Alejandro Muñoz setzt sich für die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen für die Augenverletzungen der Demonstrierenden ein (Foto: Caterina Muñoz)

Transpis und Plakate hängen an der Wand, am Eingangstor ein großes Schild: „Kein Zutritt für Parteien, Abgeordnete des Verfassungskonvents und die Presse“. Gleich daneben: „Micco tritt zurück!“. Das zentrale Büro des Nationalen Instituts für Menschenrechte (INDH) in Santiago, welches die Einhaltung der Menschenrechte in Chile überwachen soll, ist seit knapp zwei Monaten besetzt und Sergio Micco, der Direktor, steht im Zentrum der Kritik.

Während nur wenige Fahrradminuten entfernt, im ehemaligen Parlamentsgebäude, der Verfassungskonvent tagt und von der Geburt eines neuen Chile spricht, ist hier das alte Chile in der Krise. Es geht um die Menschenrechtsverletzungen der Sicherheitskräfte seit Oktober 2019, aber auch um jene der 30 Jahre zuvor, die demokratische Regierungen nicht verhindern konnten. Das Symptom vom Ende einer historischen Epoche, oder doch mehr vom Gleichen?

Auch nach zwei Jahren gibt es noch keine Verurteilungen

Alejandro Muñoz ist seit Beginn der Besetzung vor Ort. Sein Gesicht ist gezeichnet von der Repression der Revolte vom Oktober 2019. Ein Auge ist leicht verschoben und schaut beim Reden ins Leere. Er wurde am 23. Oktober von einer Gasgranate im Gesicht getroffen. Aus nächster Nähe schoss ein Polizist ihm mit einem Granatenwerfer direkt in sein Auge – aus Absicht, wie er vermutet. Seitdem kämpft er für Entschädigung der Opfer, Verurteilung des Schützen und der Verantwortlichen für die Gewaltexzesse der Polizei und Militär. Muñoz ist Mitglied der Coordinadora de Víctimas de Trauma Ocular, einer der Organisationen, die von den mehr als 467 Menschen gegründet wurden, die durch Einwirken von Polizei oder Militär mindestens ein Augenlicht verloren haben.

Mit der Besetzung wollen die Betroffenen auf ihre Situation aufmerksam machen. Knapp zwei Jahre nach den ersten Vorkommnissen gibt es noch immer keine Verurteilungen im Zusammenhang der Menschenrechtsverletzungen seit Oktober 2019, und nur circa ein Prozent aller Anzeigen gegen Staatsbeamte führte zur Identifizierung eines möglichen Schuldigen.

Gleichzeitig sitzen laut Medienberichten mindestens 77 Personen aufgrund von Festnahmen im Zusammenhang mit der Revolte im Gefängnis, 51 warten immer noch auf ein rechtskräftiges Urteil, zum Teil sind sie seit Ende 2019 in Untersuchungshaft. Ihnen wird vorgeworfen, Molotowcocktails geworfen oder öffentliche Unruhe gestiftet zu haben. Für Muñoz und die Besetzenden sind es politische Gefangene. Die langsamen Verfahren, die lange Untersuchungshaft und Skandale, die auf die Manipulation von Beweisen hinweisen, belegen das aus ihrer Sicht.

„Die Kämpfenden werden von den politischen Prozessen ausgeschlossen, ins Gefängnis gesperrt und gefoltert“, ist sich Muñoz sicher. Der verfassungsgebende Prozess sei eine Farce ohne Perspektive. Während Politiker*innen unter sich um die Zukunft des Landes streiten, seien die betroffenen Menschen fallen gelassen worden. Viel Hoffnung setzt Muñoz nicht in die politischen Veränderungen: „Ich glaube nicht, dass das klappt, ich vertraue den politischen Institutionen nicht“, meint er.

Im Institut für Menschenrechte halten sie zusammen. Die Besetzung wird von der Coordinadora, einer Organisation von Gefangenen der Revolte sowie der linksrevolutionären Schüler*innenorganisation ACES (Asamblea Coordinadora de Estudiantes Secundarios) getragen, um weiterhin für Gerechtigkeit zu kämpfen. Konkret bedeute das, „Präsident Sebsatián Piñera muss ins Gefängnis“, fasst Muñoz zusammen.

Gegen hohe Polizeigeneräle und Politker*innen der Regierung laufen derzeit mehrere nationale und internationale Verfahren wegen Menschenrechtsverletzungen. Doch für diese braucht es Beweise – Beweise, die durch Mitarbeiter*innen des Instituts für Menschenrechte zusammengetragen wurden. Doch anstatt sie zu veröffentlichen, beschönigte der christdemokratische Direktor, Sergio Micco, die brutale Staatsgewalt Ende 2019. Deshalb soll auch er zurücktreten, so die Besetzer*innen.

Der INDH-Direktor beschönigte die Gewalt

Weder Micco noch andere offizielle Stellen des INDH haben sich bislang öffentlich zu der Besetzung geäußert. Zumindest mit einer Räumung rechnet bislang niemand. Es würde ein schlechtes Licht auf das Institut werfen, das derzeit noch im Homeoffice arbeitet.

Ganz im Gegenteil dazu haben sich die organisierten Angestellten des INDH an die Besetzenden gewandt und ihre Solidarität bekundet. Sie sehen sich in der Kritik an der Institutsleitung bestätigt. Während sie die Repression am eigenen Leib erleben mussten, lässt das Institut nicht nur die Opfer, sondern auch die eigenen Angestellten fallen. Mehrere Arbeiter*innen, die Beweise für die Menschenrechtsverletzungen in einem Buch veröffentlichten, wurden vor mehr als einem Jahr entlassen.

Luis Guerrero arbeitet weiterhin im INDH. Er ist der Präsident einer von zwei Gewerkschaften, in denen sich die Arbeiter*innen des INDH organisieren, Anwalt und eigentlich für die Lohnzahlungen und Arbeitsverträge im Institut verantwortlich, doch während der Revolte führte die Arbeit auch ihn auf die Straße: Er und seine Kolleg*innen beobachteten die Demonstrationen, besuchten Verletzte in den Krankenhäusern und begutachteten die Situation der Gefangenen. All das sind Kernpunkte der Arbeit des INDH.

Das Institut wurde 2010 gegründet und soll als von der Regierung unabhängige staatliche Institution die Situation der Menschenrechte in Chile überwachen und für deren Einhaltung und Verbesserung einstehen. Es stellt in der damaligen Logik ein wichtiges Element dar, um das versprochene „Nie Wieder“ der Menschenrechtsverletzungen der Diktatur einzuhalten. Doch die Geschichte kam anders.

Die Vertreter*innen des INDH konnten während der Revolte ihre Arbeit durchführen und das Institut veröffentlichte zu Beginn die genauesten Zahlen zu Verletzten, Gefolterten oder Inhaftierten. Dabei wurden die Mitarbeiter*innen auch selbst Opfer der Gewalt. Guerrero wurde am 6. Dezember 2019 von einer Granate am Oberarm getroffen, als er damit sein Gesicht schützte. Nur durch Glück wurde weder sein Arm gebrochen noch er im Gesicht getroffen. Wie in den allermeisten Fällen ist bis heute kein Polizist für diesen Angriff angeklagt.

“Tritt zurück!” Plakate am Tor des besetzten INDH in Santiago kritisieren die Säumnisse seitens des Leiters (Foto: Malte Seiwerth) 

Der Gewerkschafter Guerrero benennt ein allgemeines Problem: „Obwohl wir eine große Anzahl an Übergriffen feststellen konnten, beteiligt sich das Institut nur bei rund einem Drittel der Anklageschriften.“ Der Grund: Das Institut ist bis heute vom Ausmaß der Gewalt überfordert und kann seine Funktion aufgrund fehlender Mitarbeiter*innen nicht vollständig erfüllen.

Nur die vom INDH Vertretenen wurden jedoch in späteren Berichten des INDH zur offiziellen Zahl der Gewalttaten. Das Institut habe ab Anfang 2020 begonnen, die Situation der Menschenrechte zu beschönigen. „Wir konnten einen gezielten Angriff der Polizei auf Demonstrierende und gezielte sexuelle Gewalt gegenüber jungen, demonstrierenden Frauen feststellen, aber anstatt das so darzustellen, spricht der offizielle Bericht von ‚breiter Gewalt‘.“ Er schlussfolgert: „Damit werden der Angriff auf die demonstrierende Zivilbevölkerung, der Bruch des Versprechens eines ‚Nie Wieder‘ und die Menschenrechtsverletzungen im Allgemeinen weniger klar dargestellt.“ Diese Beschönigung helfe einzig und allein der Regierung, so Guerrero.

Eine mögliche Erklärung für diese Vorgänge ist der Aufbau des Instituts, das von einem Rat aus elf Mitgliedern geleitet wird. Von diesen werden zwei direkt durch den Präsidenten ernannt, jeweils zwei durch die beiden Parlamentskammern, eines durch die Universitäten und vier durch anerkannte Menschenrechtsorganisationen. Das führe, so Guerrero, zu einem politischen Patt. „Heute haben wir sechs Mitglieder, die der rechten Regierung nahestehen und zum Teil nicht einmal auf Menschenrechte spezialisiert sind. Das untergräbt die politische Autonomie des Instituts.“

Die Logik des politischen Patts war während der vergangenen 30 Jahre in Chiles Politik allgemein bestimmend. Das binominale Wahlsystem, das zum letzten Mal im Jahr 2013 angewandt wurde, führte dazu, dass die erst- und zweitstärksten Parteienbündnisse fast unabhängig von dem tatsächlichen Wähler*innenanteil jeweils um die 50 Prozent der Sitze im Parlament erhielten. Diese politische Situation verunmöglichte tiefgreifende Reformen und gab Stabilität auf Basis eines künstlich geschaffenen politischen Gleichgewichtes zwischen den demokratischen Kräften und den diktaturnahen rechten Parteien.

Tiefsitzende Probleme, wie die Struktur der Polizei und des Militärs, konnten daher nicht angepackt werden. Das muss sich nun ändern. Der politische Wind des Wandels, bisher nur im Verfassungskonvent repräsentiert, aber in der Hoffnung von Guerrero nach den Wahlen vom November auch im Parlament und in der Regierung, muss den Übergang zur Demokratie vollenden. Dazu gehört für Guerrero die Gründung einer neuen zivilen Polizei und eine Reform des INDH.

„Wir leben weiterhin in einem Ausnahmezustand“

Wenige Fahrradminuten vom INDH, an der Plaza Dignidad vorbei, liegt der Sitz des Verfassungskonvents. Hier wurde das politische Patt bereits endgültig gebrochen. Bei der Wahl im Mai erlangten die rechten Parteien weniger als ein Drittel der Sitze. Gleich danach hieß es, die Verfassung werde von der Mitte, linken Parteien, Parteilosen und sozialen Bewegungen geschrieben.
Camila Zárate ist eine der Abgeordneten. Die Frau mit den roten Haaren war noch vor kurzem Mitglied der Lista del Pueblo, einer Wahlliste, die sich aus sozialen Bewegungen und Persönlichkeiten der Oktoberrevolte zusammensetzt und damals drittstärkste Kraft im Konvent wurde.

Mittlerweile steht die Liste kurz vor der Auflösung. Zuerst brach ein Streit um die Beteiligung an der kommenden Präsidentschaftswahl aus, später um die oder den Kandidaten für das höchste Amt. Am 26. August lehnte die Wahlbehörde die Kandidatur von Diego Ancalao, dem offiziellem Kandidaten der Liste ab. Mehr als die Hälfte der nötigen Unterstützer*innenunterschriften wurden von einem Notar beglaubigt, der 2018 in Rente ging und Anfang 2021 gestorben war. Die Unterschriften waren vermutlich gefälscht.

Mittlerweile sind mit zwei Ausnahmen alle Delegierten der Lista del Pueblo aus dem Bündnis ausgetreten, Zárate war eine der ersten. Sie schloss die Beteiligung an den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen als einem politischen Prozess, der immer noch durch die Verfassung der Diktatur aus dem Jahr 1980 geprägt ist, von Beginn an aus. Zárate hat dazu eine klare Meinung: „Ich möchte dem alten System keine Legitimität geben, wenn wir hoffentlich in ein bis zwei Jahren eine politische Neuordnung haben.“ Deswegen ist sie im Verfassungskonvent, möchte aber keine Energie auf die kommenden Wahlen „verschwenden“, wie sie es sagt. Zárate meint, in der Umweltbewegung MAT, der sie angehört, hätten sie seit Jahrzehnten für eine neue Verfassung gekämpft. Nach dem Oktoberaufstand habe sich die einmalige Möglichkeit eröffnet, eine neue, demokratische Verfassung zu schreiben. Dies sei ein Eingeständnis der politischen Elite gegenüber der Bevölkerung, die im Oktober 2019 das Land lahmlegte.

Die Besetzung des INDH zeige laut Zárate vor allem eines: „Wir leben weiterhin in einem Ausnahmezustand.“ Nicht nur, dass die Menschenrechtsverletzungen bislang nicht aufgeklärt sind, auch die Forderungen der Bewegung von damals sind noch nicht umgesetzt.
Während das Parlament über ein Amnestiegesetz für die im Zusammenhang von Demonstrationen Verhafteten diskutiert, verabschiedete der Konvent als einen seiner ersten Amtsakte im Juli eine Erklärung, die die Freilassung der „politischen Gefangenen“ und die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen forderte. Ende August verlangte die Menschenrechtskommission des Konvents die Auflösung der aktuellen Militärpolizei, Carabineros de Chile, und die Neugründung einer zivilen Sicherheitskraft. Doch all das sind bislang Vorschläge, die von der rechten Regierung scharf kritisiert werden.

Erneute Demonstrationen gegen die andauernden Probleme bleiben bisher klein und haben mit Polizeirepression zu rechnen. Auch eine nächtliche Ausgangssperre, eigentlich zur Bekämpfung der Coronapandemie eingeführt, bleibt trotz derzeit tiefer Fallzahlen in Kraft. Das Militär patrouilliert bis heute mit Radwagenpanzern durch die nächtliche Stadt und kontrolliert die Grenzen zwischen den einzelnen Regionen des Landes.

Die Gebäude des Verfassungskonvents sind mit Zäunen umringt, öffentliche Plätze in der Nähe gesperrt und jede noch so kleine Protestgruppe wird sofort von der Polizei kontrolliert. Für Zárate geht es um die Entscheidung zwischen zwei möglichen Wegen: Eine Neugestaltung des Landes über die Institutionen oder eine „Aneignung des Prozesses durch die Bevölkerung“. Zárate spricht sich für die zweiten Weg aus, die Bevölkerung soll an der Entscheidungsfindung teilnehmen. Dazu gehören Abstimmungen über umstrittene Artikel und wenn nötig Demonstrationen, um bestimmte Punkte in der Verfassung zu verankern. Eine Strategie, die die Regierung mithilfe der Polizei verhindern will.

Doch die stärksten Proteste beginnen vermutlich erst im Oktober, denn bislang hat der Verfassungskonvent lediglich die eigene Geschäftsordnung geschrieben. Schon dort zeigten die rechten Abgeordneten ihren Anspruch, den Konvent zu boykottieren. Regelmäßig behaupten sie, die Mehrheit im Konvent sei „totalitär“, wenn sie beispielsweise die Leugnung von Menschenrechtsverletzungen oder das Verbreiten von Fake-News verbieten will.
Zárate kümmern diese Äußerungen wenig, „sie sollen sagen, was sie wollen“, meint sie dazu. Schließlich sind die anderen Kräfte in der Mehrheit und die Rechte verteidige einzig ihre Position: die Verhinderung des politischen Wandels. Wenn der Konvent erstmals über den Inhalt der neuen Verfassung diskutiert und im November ein neues Parlament und ein*e neue*r Präsident*in gewählt wird, gibt es sicher neuen Konfliktstoff.

CHILENISCHE DICHTER

Foto: © Suhrkamp Verlag

Ein kleiner Junge steht auf einem Parkplatz mit einem großen Bündel Luftballons in seiner Hand. Hinter ihm spiegeln sich Strahlen der untergehenden Sonne in den Fenstern der Autos. Schön nostalgisch, wären da nicht die Augen des Jungen. Fast ein Vater heißt der Roman des Chilenen Alejandro Zambra, von dessen Cover uns dieser Junge etwas verloren anschaut. Aber wo ist sein Vater?

Zu Beginn des Romans geht es um den Dichter und Dozenten Gonzalo, der seine Jugendliebe Carla wiedertrifft. Sie hat bereits ein Kind und bald formen die drei eine kleine Familie. Obwohl sich seine Beziehung zu ihrem Sohn Vicente vertieft, hadert Gonzalo immer wieder mit seiner (Stief-)Vaterrolle. Und auch in der eigenen Familie kann er sich nicht auf Vorbilder stützen: in einer – sehr unterhaltsam geschriebenen – Szene, besucht Gonzalo auf ausdrücklichen Wunsch seiner Mutter den Geburtstag seines Großvaters, den dessen zahlreiche Töchter und Söhne organisierten. Bei keiner seiner vielen Frauen ist der alte Patriarch lange geblieben. Gonzalo begegnet dem selbstherrlichen Großvater voller Verachtung. Doch wird es ihm selbst gelingen, ein besserer Vater für seinen Stiefsohn Vicente zu sein?

Im dritten Teil des Buches ist der nun erwachsene Vicente die Hauptperson. Gerade mit der Schule fertig geworden, will er Dichter werden, obwohl ihn sein biologischer Vater immer wieder dazu drängt, zur Uni zu gehen. Doch dann verliebt sich Vicente in die schöne US-amerikanische Journalistin Pru. Sie ist durch einen Zufall in der falschen Stadt gelandet und ebenso zufällig findet sie zu ihrem neuen Reportage-Thema: Die chilenische Dichterwelt. Dafür trifft sie sich, feiert und trinkt mit vielversprechenden jungen Poet*innen sowie etablierten Dichter*innen des Landes. Seine Perspektive von außen erlaubt es dem Autor, ein paar Witzeleien über die Szene einzufügen: Zum Beispiel beobachtet Pru, dass die von ihr Befragten Mundgeruch hätten und alle, auch die Frauen, versuchten, mit ihr zu flirten. Auch unter den Freigeistern finden sich verkrustete Männlichkeitsbilder. Der spanischsprachige Titel des Buches Poeta chileno ruft dabei noch mehr die Assoziationen zu Chiles vergangenen Dichtergrößen wie Pablo Neruda hervor, der nicht eben als guter Vater bekannt war.

Zambra begegnet dem chilenischen Dichter*innendasein mit viel Witz, wirft jedoch besonders in Bezug auf Vaterschaft einen gesellschaftskritischen Blick darüber hinaus: Warum geben viele Väter nach einer Trennung den Kontakt zu ihren Kindern auf? Warum kämpfen sie nicht energischer, dieses besondere Band nicht zu verlieren? Und was bedeutet eigentlich eine stille Geburt für einen Vater? Fragen wie diese umkreist der Autor elegant mit seinen vielschichtigen Figuren, ohne dabei in zu einfache Erklärungen abzurutschen. Zambra, der bisher vor allem für schmale Romane bekannt war, ist auch mit diesem, mit mehr als 400 Seiten, ein mitreißendes und dazu sehr aktuelles Werk gelungen.

ZUM ZWEITEN MAL GEFLOHEN, ZUM ZWEITEN MAL GEFASST

In Chile gesucht, von der argentinischen Polizei gefasst Der Ex-Offizier Walther Klug (Foto: Policía Federal Argentina

Nach dem Putsch unter General Pinochet 1973 hatte Klug in den Pferdeställen des 3. Infanterieregiments von Los Ángeles im Süden Chiles ein Folterlager eingerichtet. Hunderte Gefangene wurden dort misshandelt, viele von ihnen ermordet. Überlebende Gefangene beschreiben den damals 23-jährigen Oberleutnant als besonders brutal und sadistisch. Die chilenische Menschenrechtsanwältin Patricia Parra, die Familienangehörige von Opfern gegen Klug vertritt, bezeichnet ihn als einen der Hauptverantwortlichen für Folter und Mord in diesem Militärstützpunkt.

Trotz der von ihm begangenen Verbrechen konnte Klug seine Karriere auch nach dem Ende der Diktatur 1990 fortsetzen und stieg bis zum Oberst auf. Erst im Oktober 2014, kurz nach seiner Pensionierung, verurteilte der Oberste Gerichtshof Chiles ihn im sogenannten Fall Endesa rechtskräftig zu einer Haftstrafe von zehn Jahren. Die Richter sahen es als erwiesen an, dass Klug 1973 am Mord von sieben und dem Verschwindenlassen von 14 weiteren Arbeitern beteiligt war, die in den Wasserkraftwerken El Toro und El Abanico der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft Endesa in der Nähe der Stadt Los Ángeles tätig waren.

Schon bald nach seiner Verurteilung entzog sich Klug der chilenischen Justiz und seiner Haftstrafe, indem er sich nach Deutschland absetzte. Möglich machte das ein deutscher Reisepass, den Klug, dessen Großvater aus Deutschland stammte, im November 2014 in der deutschen Botschaft in Santiago de Chile erhielt. Auf die Frage, ob die Botschaft die Ausgabe des Reisepasses an Klug hätte verweigern können, heißt es aus dem Auswärtigen Amt, die Auslandsvertretungen prüften, „ob der Antragsteller im deutschen Fahndungsbuch gelistet ist“, da nur das einen Hinderungsgrund für die Ausstellung oder Ausgabe eines Passes darstellen könne. Mit Fahndungslisten der Gastländer finde hingegen kein Abgleich statt.

2014 in Deutschland angekommen, lebte Klug bis 2019 unbehelligt in der beschaulichen Kleinstadt Vallendar am Rhein, wie seine damalige Vermieterin bestätigte, und pflegte auch Kontakt zur dort ansässigen katholischen Schönstattbewegung.

In Artikel 16 Absatz 2 des Grundgesetzes ist festgeschrieben, dass deutsche Staatsangehörige nicht an Staaten außerhalb der EU ausgeliefert werden. So fand der Doppelstaatler Klug in Deutschland ein sicheres Rückzugsgebiet und ist dabei kein Einzelfall. Als weitere prominente Fälle sind der Arzt der Colonia Dignidad, Hartmut Hopp (siehe LN 533), und der deutsch-argentinische Folterer Luis Esteban Kyburg (siehe LN 557) bekannt.

In den Jahren von 2014 bis 2019 wurden gegen Klug auch keine eigenständigen strafrechtlichen Ermittlungen seitens der deutschen Justiz eingeleitet. Die Staatsanwaltschaft Koblenz hatte im März 2016 zwar die Aufnahme von Ermittlungen gegen Klug geprüft – diese aber verworfen. Laut Oberstaatsanwalt Rolf Wissen habe damals nur ein Interpol-Festnahmeersuchen für Klug im Zusammenhang mit einem anderen laufenden Gerichtsverfahren vorgelegen. Dabei ging es um den Fall des verschwundenen Studentenführers Luis Cornejo, und es habe geheißen, „dass der Gesuchte 1973 in Chile ein Lager geleitet haben soll, in das eine Person verbracht worden sei, die danach nicht wieder aufgetaucht sei“. Diese Tatvorwürfe seien nach deutschem Recht aber verjährt; nur ein Mordvorwurf wäre es nicht. Dafür habe es jedoch keine ausreichenden Anhaltspunkte gegeben, so der Oberstaatsanwalt, „da nicht klar ist, ob, wo, wie und durch wen die in Chile verschwundene Person umgebracht worden ist“.

So wurde der über Interpol gesuchte Ex-Offizier erst 2019 bei einer Reise nach Italien verhaftet und 2020 nach Chile ausgeliefert. Diese Auslieferung galt zunächst allerdings nicht für die rechtskräftige Verurteilung zu zehn Jahren Haft im Fall Endesa, sondern nur für das noch laufende Gerichtsverfahren wegen des verschwundenen Studenten Luis Cornejo. Deswegen kam Klug dann in Chile für ein Jahr in Untersuchungshaft, wurde zwischenzeitlich aber mit Meldeauflagen und einem Ausreiseverbot auf freien Fuß gesetzt.

Als „grob fahrlässig“ bezeichnet das der Menschenrechtsanwalt Francisco Bustos, denn spätestens seit Klugs Flucht nach Deutschland 2014 sei klar gewesen, dass Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr in seinem Fall dringend geboten sei. „Das war wie die Chronik eines angekündigten Todes, es war abzusehen, dass er wieder fliehen wollte“, erklärt Anwältin Patricia Parra, „wir haben ein Problem fehlender Koordination. Richter und verschiedene Instanzen kommunizieren nicht ausreichend“.

Sie kritisiert, dass Chile über Jahre keinen internationalen Haftbefehl wegen Klugs rechtskräftiger Verurteilung zu zehn Jahren Haft im Fall Endesa erwirkt hatte. Da die Antwort Italiens auf das zweite Auslieferungsverfahren für diesen Fall noch ausstand, musste Klug diese Haftstrafe in Chile immer noch nicht antreten. Das änderte sich am 26. Mai 2021, als Italiens Oberster Gerichtshof schließlich Klugs Auslieferung an Chile auch für den Fall der ermordeten Arbeiter grundsätzlich zustimmte und die chilenischen Behörden darüber informierte.

Wie einer inzwischen auf Twitter veröffentlichten Recherche des Journalisten Luis Narváez zu entnehmen ist, ließen das chilenische Außenministerium und der Oberste Gerichtshof kostbare Zeit verstreichen. Klug wurde weder inhaftiert noch wurden sonstige Maßnahmen ergriffen, die seine erneute Flucht verhindert hätten.

Klugs Verteidiger hatten ihren Mandanten vermutlich viel schneller über den italienischen Auslieferungsbeschluss informiert. Jedenfalls floh der agile 70-Jährige schon Ende Mai aus Chile über die grüne Grenze Richtung Argentinien. Der immer gut gekleidete, mit deutschem Pass reisende Klug, der als pensionierter Offizier eine staatliche Pension von monatlich rund 1.500 Euro plus Zulagen erhält, versuchte, den Wettlauf mit der Zeit zu gewinnen. Nach Informationen von Página 12 soll er bereits am 1. Juni versucht haben, über den Flughafen von Buenos Aires nach Madrid und weiter nach Deutschland zu fliegen, das ihm ja bereits von 2014 bis 2019 ein sicheres Rückzugsgebiet geboten hatte.

Dass der Ex-Offizier bei der Flucht aus Chile keinen offiziellen Grenzübergang passiert und somit keine Einreisebestätigung nach Argentinien erhalten hatte, wurde ihm dabei zum Verhängnis. Bei einer Kontrolle am Flughafen-Check-In Richtung Europa stoppten argentinische Migrationsbeamte Klug wegen fehlender Einreisedokumentation und wegen eines alten Interpolvermerks. Sie konnten ihn nicht verhaften, aber seitdem hatten argentinische Polizeieinheiten ihn auf dem Radar, konnten seine Unterkunft identifizieren und ihn beobachten.

In Chile schlugen die Menschenrechtsorganisationen rund um den Gedenkort des früheren Folterzentrums Londres38 Alarm. Sie informierten ab dem 8. Juni via Twitter über Klugs Flucht. Anwält*innen und Medienvertreter*innen schlossen sich an, es kam zu einer breiten Mobi-*lisierung über Social Media. „Da musste sich auch die chilenische Justiz bewegen“, erklärt die Rechtsanwältin der Nebenklage Patricia Parra. Am 9. Juni erwirkte die zuständige Richterin Paola Plaza einen internationalen Haftbefehl, der über Interpol verbreitet wurde.

Mit diesem wurde Klug am 12. Juni schließlich auch in Buenos Aires festgenommen und nach einer Verzögerung durch eine Infektion mit SARS-CoV-2 am 28. Juni nach Chile überstellt. Dort befindet er sich momentan in der Kaserne des Heeresregiments „Chacabuco“ nahe Concepción in Südchile. Er habe erneut den Status eines Untersuchungshäftlings im Verfahren um den verschwundenen Studenten Luis Cornejo und genieße als Ex-Offizier in der Kaserne privilegierte Haftbedingungen, erklärt Opferanwältin Parra sarkastisch. Da die schriftliche Begründung Italiens für den Auslieferungsbeschluss der chilensichen Justiz bisher nicht vorliege, könne die zehnjährige Strafe im Fall Endesa immer noch nicht gegen Klug vollstreckt werden, so Parra weiter. Dass er darum nochmals herumkommt, scheint dennoch ausgeschlossen.

Schon 2005 hatte die argentinische Polizei den flüchtigen Anführer der Colonia Dignidad, Paul Schäfer, festgenommen. Mit Klugs Verhaftung ist es nun wieder die argentinische Polizei, die für den chilenischen – und in gewisser Weise auch für den deutschen – Justiz- und Polizeiapparat die Kohlen aus dem Feuer holt.

Deutschland als sicheres Rückzugs-gebiet für Diktaturverbrecher

So drängt die Interamerikanische Menschenrechtskommission auch Chile zu stärkerem Einsatz gegen die Straflosigkeit und forderte es jüngst auf, in Fällen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit keinen Straferlass zu gewähren.

Von Deutschland fordert der UN-Ausschuss gegen das Verschwindenlassen die Einführung eines eigenen Straftatbestandes für das Ver-*schwindenlassen von Menschen. Laut einer 2010 in Kraft getretenen Konvention stellt die systematische Praxis des Verschwindenlassens ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar. „Deutsch-*land hat als Vertragspartei der Konvention die zentrale Verpflichtung, einen eigenen Straftatbestand einzuführen“, sagt Barbara Lochbihler. Die frühere Grünen-Europapolitikerin ist seit 2019 Mitglied im UN-Ausschuss.

Im Juni 2020 legte die Bundesregierung den UN einen Bericht über die Fortschritte auf diesem Gebiet vor. Demnach vertritt das Justizministerium allerdings die Auffassung, „dass die bestehenden deutschen Straftatbestände und sonstigen Gesetze ausreichen, um Fälle von Verschwindenlassen angemessen aufzuklären und zu ahnden“.

Barbara Lochbihler bezeichnet das als „das falsche rechtspolitische Signal“. Sie kritisiert, das würde die Glaubwürdigkeit Deutschlands beschädigen. Denn die deutsche Regierung sei „sich schon bewusst, da sie ja sehr aktiv ist in internationalen Menschenrechtsgremien, dass es wichtig ist, dass man eine Konvention auch umsetzt, wenn man sie ratifiziert. Das hat auch eine Vorbildwirkung für andere Staaten, von denen man ja auch fordert, dass sie sie ordentlich umsetzen.“

LUISA TOLEDO ODER: DIE WÜRDE VON CHILE

Der 6. Juli 2021 war ein trauriger Tag für die sozialen Bewegungen in Chile. An diesem Tag erlag Luisa Toledo, Mutter der während der zivil-militärischen Diktatur unter Augusto Pinochet ermordeten Brüder Vergara Toledo, mit 82 Jahren einem Krebsleiden. Im engen Kreis verabschiedete sich ihre Familie in ihrem Haus im Arbeiter*innenviertel Villa Francia in Santiago von der „Mutter der kämpferischen Jugend“: „Mit Stolz verabschieden wir diese unermüdliche, ewige, unverzichtbare Frau. Obwohl Luisa nicht mehr unter uns ist, hat ihr Vermächtnis eine tiefe Spur in der Geschichte derer hinterlassen, die kämpfen – auch über die Grenzen dieses Gebietes namens Chile hinaus“.

Es war der 29. März 1985, der das Leben der Familie Vergara Toledo für immer veränderte. An diesem Tag wurden der 18-jährige Rafael und der 20-jährige Eduardo Vergara Toledo, Mitglieder der Bewegung der revolutionären Linken (MIR), während eines Polizeieinsatzes in Villa Francia mit mehreren Schüssen in den Rücken ermordet. Erst im Jahr 2008 verurteilte ein Gericht die drei geständigen Polizisten zu mehrjährigen Haftstrafen, zwei von ihnen wurden jedoch vorzeitig auf Bewährung entlassen. Dem an den Brüdern Vergara Toledo verübten Verbrechen wird in Chile jedes Jahr mit einem Kampf- und Gedenktag, dem „Tag des jungen Kämpfers“ gedacht.

Am 5. November 1988 dann erschütterte ein weiterer Todesfall das Leben von Toledo: Gemeinsam mit dem 26-jährigen Araceli Romo wurde ihr jüngerer Sohn Pablo Vergara Toledo nach einer angeblichen Bombenexplosion in Temuco tot aufgefunden. Obwohl mittlerweile als sicher gilt, dass es sich dabei um eine Inszenierung des Geheimdienstes CNI zur Exekution der linken Aktivisten handelte, bleibt der Fall bislang straflos.

Geprägt von diesem großen Verlust wurden Luisa Toledo und ihr Mann Manuel Vergara zu Symbolfiguren des Kampfes für Gerechtigkeit. In ihrem Viertel, der emblematischen Villa Francia in Estación Central, widmete Toledo ihr Leben der Organisation des barrios und den Kämpfen für die Rechte der Armen. Ob es für Menschenrechte oder gegen die Repression der Polizei ging, Toledo war ständig an widerständigen Aktionen beteiligt, immer an vorderster Front, um zur Rebellion gegen die Ungerechtigkeiten des postdiktatorischen Chile zu ermutigen.

Während des jüngsten Aufstands im Oktober 2019, der auch die Risse in Chiles Geschichte offengelegt hat, tauchte die Figur von Luisa Toledo wieder als Beispiel für Würde und Kampf auf. Für viele war Luisa Quelle revolutionärer Kraft. Um mit ihren Worten zu schließen: „Für mich bedeutet die Revolte sehr viel, denn irgendwann begann ich mich zu fragen, ob es die vielen Opfer wert war, den vielen Tod, die vielen Verschwundenen, all die Menschen, die in der Zeit der Diktatur gelitten haben. Als ich mir diese Frage stellte, kam plötzlich der estallido social (etwa: „sozialer Knall“), laut wie ein überall widerhallender Schrei. Er erlaubte es, aufzuatmen, Hoffnung zu schöpfen und endlich meine Söhne in diesen Kämpfen wieder vertreten zu sehen. Von da an war ich mir wieder sicher, dass es all die Opfer wert ist, die erbracht werden, um diese Gesellschaft zu verändern“. ¡Luisa Toledo presente, ahora y siempre!

LÖWINNEN GEGEN WOLFSRUDEL

© Fabula

„Wie viele Frauen sind verschwunden, wie viele hat die Erde verschluckt?“ fragt Ana Tijoux im Titelsong zu La Jauría (Die Meute). In der Serie ist es die Jugendliche Blanca Ibarra, deren Verschwinden acht spannende Folgen füllt.

Alles beginnt mit Protesten an einer katholischen Privatschule, die sich mit Missbrauchsvorwürfen mehrerer Schüler*innen gegen einen Lehrer konfrontiert sieht. Ganz im Stil der zahlreichen feministischen Schul- und Universitätsbesetzungen im Jahr 2018 (siehe LN 528) blockieren die Schüler*innen die Eingänge und fordern Aufklärung. Als mit Blanca ihre Anführerin verschwindet, steht fest: Die Protestierenden werden nicht aufhören, bis der beschuldigte Lehrer entlassen und ihre Freundin zurück ist.

Nicht nur die Jugendlichen, auch die Kommissarinnen der chilenischen Ermittlungspolizei PDI, eindrucksvoll gespielt von Antonia Zegers, María Gracia Omegna und Daniela Vega (rechtes Bild), sehen sich im Fall Blanca Ibarra mit den immer gleichen Narrativen konfrontiert. Sie hätte es doch gewollt, durch ihr Auftreten provoziert, es gebe keine Beweise, sonst würde man den jungen Frauen natürlich sofort glauben, so verkünden es die Mitschüler aus der Rugbymannschaft, der Priester und Schulleiter und der Polizeichef. Auch dann noch, als ein Video auftaucht, auf dem Blanca von mehreren Männern vergewaltigt wird.

Statt eines großen gesellschaftlichen Aufschreis bräuchte man einfach eine Festnahme, so die hohen Tiere in den Behörden – allesamt Männer. Doch die Ermittlungen zeigen schon bald, dass Blanca kein Einzelfall ist. Tatsächlich entspinnt sich ein Netz von Verbrechen, die vom „Spiel des Wolfes“, einem männerbündischen digitalen Netzwerk mit Anführer, ausgehen. Die Suche nach dem Wolf und seinen Rudeln aus hasserfüllten Männern dringt nicht nur in das Privatleben und die Vergangenheit der Kommissarinnen ein, sondern bringt auch Blancas Schwester Celeste, stark verkörpert von Paula Luchsinger, in Gefahr.

Das Produzent*innenteam um die Brüder um Juan de Dios und Pablo Larraín hat für dieses besondere Projekt weite Teile der chilenischen Filmprominenz um sich versammelt. Die schon in Pablo Larraíns Ema (siehe LN 557) überzeugende Mariana di Girolamo ist ebenso dabei wie ihre Tante, die bekannte Fernsehschauspielerin und Theaterregisseurin Claudia di Girolamo. Daniela Vega aus Una mujer fantástica brilliert diesmal als geniale Kommissarin. Und auch Ana Tijoux tritt nicht nur als Sängerin der Titelmelodie auf. Umso erfreulicher also, dass die Serie, die zuerst auf Chiles staatlichem Fernsehsender TVN ausgestrahlt wurde, nun auch international zu sehen ist.

Dabei ist beeindruckend, wie viele hochaktuelle Dimensionen geschlechtsspezifischer Gewalt La Jauría auf die Bildschirme bringt. Es geht eben nicht um Gewalt an Frauen als „Liebesdrama“, wie es allzu oft dargestellt wird, sondern um jene Strukturen und Narrative, die sie immer wieder und in dieser Größenordnung möglich und meist straflos machen: Männerbünde, Incel-Culture und digitale Gewalt werden ebenso problematisiert wie der alltägliche Sexismus in Gesellschaft, Kirche und Polizei. Gerade in Chile, wo das Thema seit einigen Jahren mehr Aufmerksamkeit erhält (siehe LN 547, 555/556), ist dies eine wichtige Aussage.

Zwar wirkt die Kulisse von La Jauría mit dem Reichenviertel Las Condes in Santiago etwas austauschbar und macht die Gewalt in ärmeren Gesellschaftsschichten in vielen Szenen unsichtbar. Hier und da driftet die Serie in klassische Krimimuster ab und büßt dafür an Realitätsnähe ein. Doch spannend ist La Jauría trotzdem, dafür sorgt neben zahlreichen Twists auch ein packender Soundtrack.

Immer wieder wird deutlich, dass das Thema der weiblichen Selbstbestimmung die Gesellschaft spaltet. Da fragt die Mutter eines beschuldigten Schülers Kommissarin Fernández in der Vernehmung eiskalt und spöttisch: „Meinen Sie etwa, wir erleben jetzt hier einen Moment der Schwesternschaft?“. Die gibt es hingegen unter den Schüler*innen umso öfter. Es ist das yo sí te creo hermana, „Ich glaube dir, Schwester“ und die geteilten Erfahrungen, die sie aus der Wut immer wieder Kraft schöpfen lassen. Dass die Serie junge Frauen nicht nur als passive Opfer, sondern vor allem als mutige Löwinnen darstellt, ist besonders wichtig.

So hinterlässt die erste Staffel das Fazit, dass gegen eine misogyne Meute nur eines hilft: sich zuhören, Vertrauen schenken, verbünden, zusammen jede Art von Gewalt sichtbar machen und dagegen kämpfen. Auf die Rache an den Wölfen in den angekündigten Staffeln 2 und 3 lässt sich schon jetzt hoffen. Ob die so radikal wird, wie der Soundtrack es andeutet, bleibt abzuwarten: „Nein zur Kirche, nein zum Staat, dieser ganze komplizenhafte Apparat ist schuld. Über meinen Körper bestimme ich, deine Gesetze will ich nicht. Über meinen Körper bestimme ich!“

ZWISCHEN INDIVIDUELLER UND KOLLEKTIVER ERINNERUNG

San Felipe VI, 2005-2018 Konfrontation mit dem Großvater im Kunstwerk © Yoel Díaz Vázquez

Mit welchen Thematiken beschäftigt ihr euch in eurer künstlerischen Arbeit?
María Linares: In meinen Arbeiten beschäftige ich mich hauptsächlich mit Diskriminierung und Rassismus. Die Mittel, die ich verwende, sind verschieden. Ich arbeite gerne im oder mit dem öffentlichen Raum, mit der Öffentlichkeit. Oft arbeite ich auch mit Videos.
Daniela Lehmann Carrasco: Die Hauptthematik meiner Arbeit sind Symbolbilder des Kollektivgedächtnisses. Im Grunde archaische, ikonografische Bilder, die im kollektiven Gedächtnis eingebrannt sind und in Beziehung zu individuellen Erinnerungsbildern stehen. Ich als Autor schaue auf die Welt und entdecke die kollektive Bilderwelt und meine eigene Wahrnehmung.
Ana María Millán: Im Mittelpunkt meiner Arbeit stehen die Beziehungen zwischen Politik, Animation und Video in Bezug auf Propaganda, politische Propaganda, Gewalt und Gender.
Yoel Díaz Vázquez: Die Arbeit, die ich in dieser Ausstellung zeige, ist ein fotografisches Projekt, das ich mit meinem Großvater durchgeführt habe. Darin reflektiere ich die zentralen politischen Widersprüche zwischen verschiedenen Generationen von Kubanern bezüglich ihrer Wahrnehmungen der kubanischen Revolution. Ich wollte verschiedene Perspektiven aufzeigen, in diesem Fall die Generation meines Großvaters und meine als Künstler. Für dieses Projekt habe ich meinen Großvater gefragt, ob ich ihn vor der Kamera bei der Interaktion mit zwei Objekten unterschiedlicher Verwendung und unterschiedlicher Symboliken darstellen könne. Das eine ist ein Diplom, das er für seine damalige gute Arbeit als Gastronom erhielt. Er erhielt überhaupt viele Diplome im Laufe seines Lebens, man könnte sagen, er war ein echter Held der Arbeit. Das andere ist eine Saugglocke fürs Badezimmer, die ich absichtlich ausgewählt habe, um ihn ein wenig zu provozieren, um Gefühle der Introspektion, sogar der Ablehnung hervorzurufen.

 

RENOMBREMOS EL 12 DE OCTUBRE, 2019 Teilnahme im partizipativen Projekt, © María Linares

 

María, deine Arbeit RENOMBREMOS EL 12 DE OCTUBRE (2019), die du in Berlin zeigst, enthält eine Petition und eine Datenbank zur Umbenennung des „Tags der Rasse“. Wie verläuft dein Arbeitsprozess und was ist dafür zentral?
ML: Die Arbeit gehört zu meiner Promotion als Künstlerin, wo ich mich seit Längerem mit Rassismus und dem, was „Rasse“ heißt, auseinandergesetzt habe. Ich bin Kolumbianerin, ich bin dort aufgewachsen und habe dabei tausendmal den sogenannten „Tag der Rasse“ mitgefeiert. Heute sehe ich mich ein bisschen in einem Niemandsland bezüglich der Sprache und so ist es auch mit dem Dasein: Ich bin hier fremd und habe einen fremden Blick, genauso bin ich aber in Kolumbien fremd, wo ich seit 25 Jahren nicht mehr lebe. Ich glaube, wenn ich noch dort wäre, wäre mir das mit dem „Tag der Rasse“ nicht aufgefallen. Dieser Blick entsteht nur durch diese Kontextverschiebung, die dieses im Niemandsland-Sein ermöglicht. Der Vorteil des Künstlerseins ist, dass man Sachen sieht, die man nicht sieht, wenn man tief drin ist.

Der 12. Oktober hat unterschiedliche Namen in verschiedenen Ländern Lateinamerikas. Woher kam der Anstoß zur Umbenennung?
ML: Als man sich auf die Fünfhundertjahrfeier der „Entdeckung“ vorbereitete, sagte die mexikanische Kommission: wir sind die Kommission „del Encuentro de dos Mundos“ (Begegnung zweier Welten). In Mexiko heißt der Tag noch immer so. Aber auch das ist nicht gut gegangen, mittlerweile haben Minderheiten ihre Stimme erhoben. Ab den 90er Jahren fand ein Paradigmenwechsel statt, in dem Multikulturalität im Zentrum stand. In Argentinien heißt der Tag heute „Día de las Culturas“. Dort gibt es eine Soziologin, die sagt, es heißt jetzt zwar „Tag der Kulturen“, aber das ist nur eine Maske für dasselbe, ein Weißwaschen. Für jeden Namen, der umgesetzt wurde, gibt es eine Gegenkritik, die die Assimilation entlarvt.
In der Datenbank hat der „Abya Yala Tag“ die meisten Stimmen. Meine These ist, dass das wieder ein ganz anderes Paradigma aufweist, das auf globaler Ebene an Bedeutung gewinnt: Es ist nicht mehr der Mensch im Zentrum. Sprechen wir vom „Tag der Kulturen“, sprechen wir vom „Tag des indigenen Widerstands“, wie in Venezuela, dann sind immer noch Menschen im Zentrum des Diskurses. Abya Yala lässt den Menschen weg, es bezieht sich auf die Geografie, auf die Umgebung, auf die Natur. Da könntest du auch einen Fluss feiern.

 

Círculo, 2021 Verbindet kollektive und individuelle Erinnerungen, Videostill, © Daniela Lehman Carrasco

 

Daniela, in deine Videoarbeiten Le Glück Quantitativ (2010) und Círculo (2021) sind Dokumentarfilme eingeflossen, wie La Batalla de Chile von Patricio Guzmán. Was ist die Idee dahinter?
DLC: Guzmán hat ja alles dokumentiert, was in der Allende-Zeit passiert ist, es gibt aber nur wenig filmische Dokumente aus der Putschzeit. La Batalla de Chile ist eigentlich das einzige Zeugnis dieser Zeit, das ich kenne. Man hat ja wenig privat gefilmt früher und mir war es wichtig, die Gewalt und die Erinnerungen daran zu zeigen. Le Glück Quantitativ zeigt die sozialen Utopien der 60er Jahre – gerechte Verteilung für alle, damit bin ich groß geworden. Die neue Arbeit heißt Círculo, weil ich gesehen habe, dass sich viele Dinge wiederholen, sowohl von der Gewalt, die das Militär gegenüber den Studenten, oder Schülern vielmehr, aufgebracht hat, als aber auch diese ganze utopische Kraft der Menschen, die jetzt dazu geführt hat, dass sie eine neue Verfassung schreiben, was ich ja ganz großartig finde.

Du stellst ganz bewusst nicht nur die beiden Zeiten, sondern auch die beiden Länder in einen Dialog. Basiert das auf einer Außenperspektive oder ist das auch deine Geschichte?
DLC: Also, ich bin Deutsch-Chilenin. Meine Eltern sind nach Deutschland exiliert, wir waren da noch sehr klein und ich bin in Frankfurt aufgewachsen, aber meine deutschen Berliner Großeltern väterlicherseits sind wegen der Nazis nach Chile ausgewandert. Meine Oma ist Jüdin gewesen. Dieses Zurückbesinnen hat etwas damit zu tun, in welchem Kontext ich aufgewachsen bin, in der Frankfurter Soli-Bewegung für die chilenischen Gefangenen. Die chilenische Community, die linke, egal welcher Partei du angehörtest, war sehr eng, hat sehr viel gemeinsam unternommen, hat sich stark orientiert aneinander. Ich bin aber ein bisschen anders aufgewachsen als viele anderen Chilenen, weil ich auch diesen deutschen Part habe. Ich bin mit den „Deutschland im Herbst“-Sachen (deutscher Episodenfilm von 1978 über die RAF-Zeit, Anm. d. Red.) aufgewachsen. Wir waren auf Demos und Kundgebungen, deshalb habe ich das zusammengemischt. Es geht in dieser Arbeit um meine Kindheit und Jugendzeit, ich habe das Trauma darin gesucht.

 

Elevación, 2019 Politik und Animation, Video Still © Ana María Millan

 

Ana María, warum hast du einen kollaborativen Prozess als Grundlage für deine Animation Elevación (2019) gewählt? Wie gehst du bei deiner Arbeit vor?
AMM: Ich habe begonnen, die Themen politische Propaganda, Gewalt und Geschlecht aus dem Studio heraus zu bearbeiten. Ich habe mit Materialen in Bezug auf bestimmte politische Narrative experimentiert. Mit der Zeit habe ich eine partizipative Methodik gefunden: Ich führe Rollenspiele mit Leuten durch, wir lesen einen Text und die Leute kreieren Charaktere, um die historischen Situationen, die in diesem Text genannt werden, zu bewältigen. In diesem Fall geht es um die Frage, wie der Widerstand in Kolumbien entstanden ist. Durch den kollaborativen Prozess suchen wir gemeinsam nach Lösungen. Hier werden diese in Bilder übersetzt, in einem anderen Fall können es spezifische Richtlinien sein, es ist ein pädagogischer Prozess. Außerdem zeige ich dieses Werk gerne hier, weil Deutschland einer der Garanten des Friedensprozesses in Kolumbien ist. So ist es auch ein Hilferuf, dass das Friedensabkommen erfüllt wird.

Wie verhalten sich Realität und Fiktionalität in deiner Arbeit zueinander? Ist das Medium des Videos eine Möglichkeit, sich die Realität anzueignen? Deine Arbeit basiert außerdem auf einem Comic, wie ist die Verbindung?
AMM: Die Fiktion ist eine Möglichkeit durch fiktive Figuren in eine Erzählung und in die Realität einzutreten, um an einen unbewussten Vorgang zu appellieren, der von einem historischen Prozess spricht. Marquetalia. Raices de la Resistencia (Wurzeln des Widerstands) ist ein Comic, der sich auf die erste unabhängige Republik der Bauern in Kolumbien bezieht und zeigt, wie die Gewalt des Staates sie zerstörte. Der Comic ist ein beliebtes Werkzeug, denn er kann pädagogisch verstanden werden und uns zum Reden bringen, zum Aufwerfen von Fragen zum Friedensprozess. Die Gewalt des Staates hört bis heute nicht auf. Es ist, als würde sich die Geschichte immer wieder wiederholen. Kolumbien ist eines der wenigen Länder, das noch keine Agrarreform hatte und dafür gibt es einen großen Kampf. Denn das Problem ist nach wie vor die Abhängigkeit von dem Land, das vier kolumbianischen Familien gehört. Eine Landreform ist dringend notwendig. Kunst hat die Fähigkeit, das Problem anzuprangern, zu kommunizieren, zu verkünden, was dieser Comic tut.

Yoel, du zeigst deine fotografische Arbeit San Felipe (2005-2018). Setzt du dich in deinen Arbeiten mehr mit der Geschichte deiner Familie oder eher mit einer kollektiven Geschichte Kubas auseinander?
YDV: Es ist eine kollektive Geschichte. Ich komme aus einer einfachen Familie, mein Großvater war ein Arbeiter, der auf dem Bau arbeitete, sogar in den Zuckerrohrfeldern, und er folgte, wie viele seiner Generation, dem Líder Fidel. Das ist die große Geschichte Kubas: Fidel Castro war eine Persönlichkeit mit viel Charisma und gewann die Sympathie des kubanischen Volkes. Das Ziel der Revolution war in erster Linie die Errichtung der Demokratie in Kuba, die Wiederherstellung der Verfassung von 1940 und natürlich die Absetzung des Diktators Fulgencio Batista. Und was ist passiert? Mit all diesen Zielen gewann Castro die Sympathie des ganzen Volkes, der kubanischen Mittelschicht und sogar der amerikanischen Mittelschicht, die auch die kubanische Revolution mitfinanzierte.
Mein Großvater hat durch die Revolution keine Art von Verlust erlebt und er spürte, dass die Reden, die Fidel hielt, für ihn waren. Fidels Rede lösten in ihm viele Erwartungen für sein Leben und für das Leben seiner Familie aus. Mit anderen Worten: All der Wohlstand, den Fidel ihm versprochen hat, für Kuba, für das Volk im Allgemeinen, für seine Kinder, für seine Enkelkinder, ist etwas, das wir Enkel jetzt nicht mehr sehen. Und das ist die Enttäuschung, die ich mit diesem Objekt der Saugglocke hervorrufe. Ich konfrontiere meinen Großvater ein wenig mit einem symbolischen politischen Dialog, denn ein normaler Dialog ist unmöglich.

Wie ist es für dich, ein Werk hier in Deutschland auszustellen, das so viel kubanische Geschichte und so viel gesellschaftlichen Kontext enthält? Wie sind die Reaktionen?
YDV: Hier war es schon immer sehr einfach, politische Arbeiten auszustellen. Alle Künstler, die dem Aktivismus nahestehen, haben in Deutschland eine ideale Plattform, um ihre Kunst zu zeigen. Ich habe hier immer ein offenes Publikum vorgefunden, vor allem wegen der Geschichte, die uns verbindet, nämlich die Geschichte der DDR. Das heißt, ein Teil der Deutschen hat diese Erfahrung, die ich in vielen meiner Arbeiten in Bezug auf Kuba erzähle, schon gemacht.
Es ist eine Frage, die ich mir immer gestellt habe: Wann werden wir in unseren nicht-westlichen Ländern das Vergnügen haben, ohne Angst vor Unterdrückung aufzutreten, unsere Ideen, unsere Kunst auszustellen, ohne Angst, verurteilt und eingesperrt zu werden.

// DIE WEICHEN SIND GESTELLT

„Die Geschichte gehört uns, es sind die Menschen, die sie machen.“ Diese Worte sprach Salvador Allende in seiner berühmten letzten Rede am 11. September 1973, nur wenige Stunden vor seinem Tod. Auch mit Gewalt und Verbrechen könne man die gesellschaftlichen Prozesse nicht aufhalten. Heute, 48 Jahre später, geben ihm die Ereignisse in Chile recht: Mit der Wahl des Verfassungskonvents sind die Weichen für tiefgreifende strukturelle Veränderungen gestellt; die neoliberale Ära, die mit dem Militärputsch Pinochets 1973 begann, scheint vorbei zu sein. Die Menschen schreiben die Geschichte ihres Landes neu.

Karina Nohales, Sprecherin der feministischen Coordinadora 8M, sagte bei einer Veranstaltung, diese Wahl sei die bedeutendste seit Allendes Wahlsieg 1970. Allende wurde damals mit nur knapp 37 Prozent der Stimmen Präsident, für das Militär drei Jahre später eine willkommene Rechtfertigung, gegen seine Regierung zu putschen. Bei dem Plebiszit im vergangenen Jahr haben dagegen fast 80 Prozent der Wähler*innen für eine neue Verfassung gestimmt. Bei der Wahl der 155 Mitglieder des Verfassungskonvents entschieden sich nun mehr als zwei Drittel für Kandidat*innen links der Mitte, unter ihnen viele junge Menschen aus den sozialen Bewegungen. Zwar stimmten die Chilen*innen 1970 für ein sozialistisches Programm und heute gegen eine neoliberale Verfassung. Aber die Ausgangsbedingungen für einen nachhaltigen Erfolg progressiver Ideen sind heute deutlich besser.

Selbst der kleinste gemeinsame Nenner unter den linken gewählten Delegierten läuft auf ein Ende des seit Pinochet herrschenden neoliberalen Systems hinaus. Es gibt klare Mehrheiten für mehr staatliche Daseinsvorsorge und Bürgerrechte, dazu zählt etwa die von den sozialen Bewegungen seit langem geforderte Entprivatisierung der Renten, der Bildung und des Gesundheitssystems. Auch das Recht auf legale Abtreibung, die Vergesellschaftung der privatisierten Wasserrechte und mehr LGBTIQ*-Rechte erreichen im Konvent voraussichtlich die für Beschlüsse notwendige Zweidrittelmehrheit. Für die indigene Bevölkerung könnten erstmals substanzielle Rechte, wie politische und territoriale Autonomie, festgeschrieben werden. Dass die Hälfte des Konvents aus Frauen besteht, ist für sich genommen schon ein historischer Erfolg.

Es ist ein Moment der großen Chancen, um eine gerechtere Gesellschaft in Chile zu gestalten. Bis eine neue Verfassung formuliert und in Kraft gesetzt ist und konkrete Politik und Gesetze formuliert worden sind, ist es aber noch ein langer Weg. Allein mit einer neuen Verfassung ist es nicht getan, die Bevölkerung und die sozialen Bewegungen werden auch in den kommenden Monaten und Jahren weiter um ihre Forderungen kämpfen müssen. Für einen andauernden Erfolg wird es auch darauf ankommen, ihnen einen festen Platz im politischen System zu geben. Eine Änderung des Wahlrechts in der neuen Verfassung, so dass Parteilose in Zukunft auch bei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen reale Erfolgschancen hätten, wäre ein erster Schritt in diese Richtung.

Auf der anderen Seite wird die chilenische Rechte mit allen Mitteln versuchen, einen links-progressiven Umbau des Landes zu verhindern. Doch die Voraussetzungen für ein politisches Projekt für mehr soziale Gerechtigkeit sind so gut wie noch nie in der jüngeren Geschichte. 1973 wie heute gilt in Chile: ¡El pueblo unido, jamás será vencido!

“SICH NICHT ZUM SCHWEIGEN BRINGEN LASSEN”

“La Negra” wurde ermordet! Wahrheit und Gerechtigkeit für Macarena Valdés

Illustration: Coordinadora de Justicia para Macarena Valdés, @justiciaparamacarenavaldes


Wie kam es dazu, dass du in feministischen Kontexten im Allgemeinen und speziell in der Koordinationsgruppe „Gerechtigkeit für Maca-*rena Valdés“ arbeitest?

So wie viele andere Frauen habe ich zuerst im Haus von Rubén, dem Partner von Macarena Valdés, geholfen. Das war ungefähr vor vier Jahren. Mit der Zeit wurde ich Teil der Gruppe, die Arbeiten im Haus und die Betreuung der Kinder übernimmt. Auch das war für mich schon Teil des Kampfes für die Gerechtigkeit für Maracena, seitdem gehöre ich zur Koordinationsgruppe.

Welche Bedeutung hatte diese gegenseitige Unterstützung in einer schwierigen Zeit?
Wir in der Gemeinde sind glücklich, dass Macarenas Familie so viel Unterstützung bekommen hat. Die größte Sorge in der Gemeinde war, dass Rubén und die Kinder allein dastehen würden. Ich persönlich glaube, dass die Kinder am wichtigsten sind, Macarenas Söhne. Mit der Zeit habe ich eine Art Mutterrolle für sie eingenommen, sie aufgezogen und mich um sie gekümmert. Es fühlt sich so an, als wären sie meine Kinder. Ich bin Teil ihres Kampfes geworden, aber auch Teil ihres Schmerzes. Ich habe ihnen dabei geholfen, nach und nach zu heilen. Ich denke, das war das Wichtigste nach Macarenas Tod: ihren Kindern bei der Heilung zu helfen. Auch in der Gemeinde waren viele sehr verletzt nach Macarenas Tod.

Woran arbeitet eure Gruppe aktuell?
Die Koordinationsgruppe versucht, dem Fall mehr Aufmerksamkeit zu geben. Dieses Jahr haben wir zum vierten Todestag von Macarena viele virtuelle Aktionen gestartet. Generell verbreiten wir das ganze Jahr über Illustrationen und die Arbeiten unserer Unterstützer*innen.

Hat die Pandemie eure Arbeit verändert?
Kaum. Aber die Krise hat uns dahingehend getroffen, dass wir uns nicht mehr ins Gesicht schauen können. Eine virtuelle Unterhaltung ist nicht das Gleiche, es fehlt die Wärme. Und das, was wir sagen, fühlt sich durch so einen digitalen Apparat manchmal sehr kalt an.

Was bedeutet der Tod von Macarena Valdés im Zusammenhang mit der Gewalt gegen Frauen in der Region?
Für uns in der Gemeinde ist es sehr deutlich, dass ihr Tod eine Warnung war. Die Warnung, dass uns das gleiche passieren kann, wenn wir weiterhin unsere Stimme erheben. Sie wollten Angst stiften, haben aber nicht gemerkt, dass Macarena bereits einen Samen des Widerstands in jeder Frau gesät hatte. Auch wenn sie sie getötet haben, so erblüht er jetzt in jeder von uns. Für Macarenas Familie und ihre Freundinnen war es ein großes Leid, aber aus der Wut heraus konnten sie Kräfte sammeln, um für sie zu kämpfen. Für sie und gegen die Straflosigkeit.

Das heißt, Macarenas Tod hat euch Frauen keine Angst gemacht?
Nein, im Gegenteil! Die Frauen in der Gemeinde sammelten daraus noch mehr Kraft, um zu demonstrieren und für ihre Rechte einzustehen. Sie wollen sich angesichts all dieser Ungerechtigkeiten nicht zum Schweigen bringen lassen.

Macarena war Frau, Mapuche und Umweltaktivistin. Wie ist das miteinander verbunden?
Bei den Mapuche ist die Frau diejenige, die am stärksten mit der Erde verbunden ist. Deswegen verstehe ich sehr gut, dass Macarena ihre natürliche Umgebung und den Fluss als gleichwertiges Wesen verteidigen wollte. Sie war Mapuche, aber eben auch Frau und Mutter. Deswegen hat sie für eine bessere Zukunft für ihre Kinder und Enkel gekämpft. Zu ihrer Vorstellung von dieser Zukunft gehörten keine Wasserkraftwerke. Macarena wollte nicht, dass die Erde als ökonomisches Gut ausgebeutet wird.

Welche Formen von Gewalt erleben Frauen in deiner Umgebung?
Die Mapuche erleben von Kindesbeinen an Gewalt: Rassismus, Diskriminierung, die Vertreibung vom eigenen Land, die Polizeigewalt. Der chilenische Staat deckt all das. Und das erleben Frauen, Kinder und Männer – alle gleich.

Wie wehrt ihr euch gegen diese Gewalt?
Wir Frauen kümmern uns gegenseitig um uns und unterstützen Frauen, die Gewalt erfahren haben. Gleichzeitig versuchen wir, Selbstverteidigungskurse zu organisieren. Wenn es nötig ist, habe ich zumindest irgendeine Art von Waffe dabei, um mich zu verteidigen. Ich laufe immer mit einem Messer herum, es ist mein Schutz. Ich musste es aber noch nie benutzen.

Welche Art von Selbstverteidigung lernt ihr?
Wir haben ein paar Mal zusammen mit anderen Frauen die Mapuche-Kampfsportart kollellaullin geübt. Auch Macarenas Söhne trainieren darin.

Gibt es in der Gemeinde eigene Wege, um mit Fällen von Gewalt gegen Frauen umzugehen?
Als Macarena noch lebte, fanden in ihrem Haus Kurse für Menschen aus der Gemeinde statt, die die Schule nicht abgeschlossen hatten. Viele brauchten den Abschluss jedoch für die Arbeit, um den Führerschein zu machen oder für andere Angelegenheiten. Wenn Macarena in diesem Zusammenhang davon mitbekam, dass manche Männer ihren Frauen und der Beziehung nicht die angemessene Bedeutung zukommen ließen, gingen sie das Thema aus der Perspektive der Kosmovision der Mapuche an. Dabei waren sie immer darum bemüht, die Identität und Integrität der Frau zu bewahren.

Was kritisiert ihr an der juristischen Aufarbeitung des Falles von Macarena Valdés?
Bis jetzt hat die chilenische Justiz nichts, aber auch gar nichts unternommen. Sie hat nicht einmal ein Blatt Papier bewegt. Im Gegenteil: Sie wollten die Untersuchungen abschließen, schon drei Mal sind die Berichte der Autopsie verloren gegangen. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, uns zu widersprechen, obwohl internationale Gutachten zeigen, dass Macarena umgebracht wurde.

Was fordert oder erwartet ihr von den chilenischen Gerichten und der Polizei?
Wir fordern, dass es Gerechtigkeit gibt und dass die Mörder von Macarena gefunden und für ihr brutales Verbrechen bestraft werden. Und natürlich hoffen wir, dass unser Kampf dazu führt, dass sich so etwas nicht wiederholt. Eigentlich fordern wir ja nur, dass der chilenische Staat und seine juristischen Institutionen ihre Arbeit machen – schließlich werden sie dafür bezahlt.

„DAS REFERENDUM HAT EIN UMDENKEN BEWIRKT“

Rosario Olivares ist Feministin, Dozentin für Philosophie an der Universität von Santiago de Chile und Teil des Netzwerks feministischer Lehrer*innen (Red Docentes Feministas). Sie ist eine der Sprecherinnen der feministischer Bewegung und Mitglied in der Feministischen Plurinationalen Versammlung (Asamblea Feminista Plurinacional) (Foto: Privat)


Herzlichen Glückwunsch zum Ergebnis des Referendums! Wie fühlt sich das an?
Für uns, die wir uns nun lange Zeit für das Referendum eingesetzt haben, ist es in erster Linie eine große Freude. Schon seit Jahrzehnten gab es die Idee einer Verfassungsänderung, aber bislang nie die Bedingungen, um sie durchzusetzen. Die sozialen Proteste seit dem 18. Oktober 2019 waren aber so stark, dass es nun gelungen ist, einen tiefgreifenden Diskussionsprozess loszutreten. Unsere derzeitige Verfassung beraubt uns unserer sozialen Rechte, aber nun reden wir endlich nicht mehr von kleinen Modifizierungen, sondern von tiefgreifenden Veränderungen. Diese neue Art, Politik zu machen, war vor einem Jahr noch undenkbar. Ich bin daher mit dem Abstimmungsergebnis sehr zufrieden, das war eine historische Zustimmung. Nicht nur weil wir „Ja“ zu einer neuen Verfassung gesagt haben, sondern auch weil etwa 80 Prozent für einen verfassungsgebenden Konvent gestimmt haben, der einzigartig sein wird: Je 50 Prozent der Mitglieder werden Männer und Frauen sein und alle werden demokratisch gewählt – die andere Option war, dass das Parlament die Hälfte ernennt.

Was erwarten Sie sich von einer neuen Verfassung für die chilenische Gesellschaft?
Eine neue Verfassung wird natürlich nicht auf einen Schlag das Leben der Menschen verändern. Aber im Moment haben wir eine illegitime Verfassung, die nicht demokratisch zustande kam, sondern von einer Diktatur mit brachialer Gewalt verabschiedet wurde. Letztendlich diente das zur Durchsetzung des Neoliberalismus, der die gesamte Gesellschaft durchdrungen und uns unsere Rechte geraubt hat, zum Beispiel das Recht auf Gesundheit und auf Bildung. Die Achtung dieser Rechte mag andernorts der Normalzustand sein, in Chile existieren diese Rechte jedoch nicht. Es wäre also ein wichtiger Fortschritt, wenn die Verfassung diese Dinge festschreiben könnte. Wir haben aber weitere Forderungen, beispielsweise soll Chile ein plurinationaler Staat werden, denn die Nation besteht nicht nur aus Chilenen und Chileninnen.

Welche Ziele hat die Feministische Plurinationale Versammlung im Hinblick auf eine neue Verfassung?
Wir wollen, dass Chile ein plurinationaler Staat wird, in dem ein Leben ohne Gewalt gegen cis und trans Frauen möglich wird. In Chile ist es bisher sehr schwer gewesen, sexuelle und reproduktive Rechte voranzubringen. Unser Abtreibungsrecht erlaubt einen Schwangerschaftsabbruch gegenwärtig nur bei Lebensgefahr für die Mutter, Nicht-Überlebensfähigkeit des Fötus oder nach einer Vergewaltigung. Zu diesem beschränkten Abtreibungsrecht kommen weitere Beschränkungen durch Krankenhäuser. Es gibt keine Gesetze, die Frauen umfassend vor Gewalt schützen, sondern nur ein unzureichendes Gesetz gegen Femizide, das eine Einzelfallbetrachtung vorsieht. Wir kämpfen gerade für ein umfassendes Gesetz zur Sexualerziehung. Es gab in letzter Zeit viele lesbophobe und transphobe Morde und „Korrekturvergewaltigungen“. Wir brauchen einen Staat, der das Leben von Frauen und sexuellen Minderheiten schützt. Und dafür brauchen wir die Anerkennung von reproduktiver Arbeit, das Recht auf Wohnen, das Recht auf Gesundheit, das Recht auf Bildung. Es ist unglaublich, dass wir diese Rechte in Chile nicht haben und deshalb kämpfen wir nun auf diesem Wege dafür.

Wie ist die Zusammenarbeit der feministischen Bewegung mit anderen Bewegungen, die sich für eine neue Verfassung einsetzen?
In Chile und anderswo sprechen wir von Feminismen: Es gibt verschiedenste feministische Ausprägungen, in Kämpfen für Umweltschutz und gegen Extraktivismus, im Kampf der indigenen Frauen, im Bildungsbereich etc. Wir verstehen den Feminismus als umfassenden Kampf, da er das Leben aller betrifft. Früher gab es im Rahmen von Gender-Politik kleine Fortschritte in manchen Bereichen, aber keine strukturellen Reformen. Wir als Feministinnen denken, dass wir im Kampf um eine neue Verfassung eine zentrale Rolle gespielt haben. Die Demo am 8. März war nicht nur eine der größten Demonstrationen in der Geschichte Chiles, sie war auch kreativ. Sie hat die Machtstrukturen herausgefordert, sie hatte durch Performances einen großen Bildungscharakter und hat klar gemacht, um was es uns geht. Heute ist die Stimme der feministischen Bewegung in allen gesellschaftlichen Bereichen stark.

Welche sind aus Sicht der sozialen Bewegungen, wie der Feministischen Plurinationale Ver-sammlung, die nächsten Schritte im verfas-sungsgebenden Prozess?
Schon weit vor dem Referendum haben sich auf Stadtteilebene Nachbarschaftsversammlungen, sogenannte Cabildos, gegründet, die diskutierten, wie ein neues Chile aussehen könnte. Aus unserer Sicht ist es wichtig, diese strategischen Diskussionen weiterzuführen in den Stadtteilen, an den Schulen, in den Universitäten. Nur so werden jene in die verfassungsgebende Versammlung gewählte Vertreter*innen, die an der Seite der Menschen stehen, nicht nur sich selbst, sondern die gesamte Bewegung repräsentieren können. Die Bildungsarbeit ist sehr wichtig. Ich bin zum Beispiel Teil einer Organisation feministischer Lehrender. Es gibt kaum bürgerschaftliche Bildung in Chile. Die Menschen müssen lernen, wie in den Institutionen des Staates diskutiert wird, welche Konzepte von Staat es gibt, was Demokratie bedeutet, wie ein plurinationaler Staat aussehen kann. Wir müssen uns auch die verschiedenen verfassungsgebenden Prozesse und Erfahrungen in Lateinamerika anschauen. Es gibt große Aufgaben im Bereich der Pädagogik, gleichzeitig muss weiter auf die Straße gegangen und demonstriert werden, sonst wird es nicht die Verfassung werden, die wir wollen. Und es gibt verschiedene ausstehende Initiativen im Parlament, die mit Unterstützung der sozialen Bewegung weitergeführt werden müssen. Zum Beispiel müssen Sitze für indigene Vertreter*innen in der verfassungsgebenden Versammlung festgeschrieben werden oder auch für Menschen mit Behinderungen. Es wird auch gerade diskutiert, wie Lesben, Schwule, trans Personen angemessen repräsentiert werden können. Ich denke, das ist der Weg, um den Traum von einem anderen Land zu verwirklichen.

Wo sehen Sie dabei Herausforderungen für die sozialen Bewegungen?
Das politische System ist heute auf die Parteienlandschaft ausgerichtet. Es fällt uns schwer, Kandidat*innenlisten für den Verfassungskonvent aufzustellen, die unseren Kampf auch widerspiegeln, damit nicht letztlich die selben Parteifunktionär*innen wie immer die Sitze ausfüllen. Der Verfassungsprozess bietet uns keine Sicherheiten, aber wir wollen versuchen, massiv Einfluss zu nehmen, damit er demokratisch wird. Dann gibt es hunderte politische Gefangene, die seit einem Jahr ohne Verfahren inhaftiert sind. Es besteht die Sorge, dass der Prozess uns zu politischer Gefangenschaft und, wie damals nach der Diktatur, zu Straflosigkeit führt. Wir brauchen Wahrheit und Gerechtigkeit in Hinblick auf die Menschenrechtsverletzungen.

Sie sind Universitätsdozentin. Haben Ihre Studierenden andere Erwartungen als Sie?
Ich denke, dass diese neue Generation einen riesigen Beitrag geleistet hat. Wir, die wir während der Diktatur geboren wurden und mit Ängsten groß geworden sind, hatten im Hinblick auf die Organisierung nicht dieselbe Kraft wie diese jungen Menschen. Ich bin beispielsweise erst im Alter von über 30 zum ersten Mal wählen gegangen. Nicht weil ich unpolitisch war, sondern weil ich keine Hoffnung hatte, dass das irgendetwas ändern würde. Und am Wahlsonntag gingen so viele junge Leute wählen, das passiert normalerweise nicht, normalerweise gehen die Älteren wählen. Chile wurde von den Ereignissen der Pinochet-Diktatur stark geprägt und von der Art wie der unter Salvador Allende begonnene demokratische Prozess zerstört wurde. Viele von uns haben diese Ereignisse und die Gefahr, dass sich so etwas wiederholen könnte, ständig im Kopf. Aber die jungen Menschen haben dazu eine gewisse Distanz aufgebaut, sie organisieren sich und gehen auf die Straße und das trotz der Pandemie.

Es gab einen sehr schönen Prozess der Selbstermächtigung. Am Tag nach dem Referendum traf ich in meinem Kurs an der Universität eine Studentin aus La Pintana. Dies ist eines der ärmsten Stadtviertel, das staatlicherseits viel Gewalt ausgesetzt ist und wo es viel Drogenhandel gibt. Und es waren diese Viertel der Peripherie, in denen die Wahlbeteiligung bei diesem Referendum gestiegen ist. Das gleiche geschah in Gemeinden, die großer Umweltverschmutzung ausgesetzt sind, die wir in Chile Opferzonen nennen. Dort fand die Option einer neuen Verfassung die größte Zustimmung. Die Kämpfe dieser Leute spiegelten sich in ihrem Wahlverhalten wider. Und meine Studentin sagte mir am Tag nach dem Referendum: ‚Jetzt haben wir gezeigt, dass wir Armen nicht dumm sind.‘ Wir haben uns informiert, uns ausgetauscht und dann unsere Stimme abgegeben. Früher war es in Chile so, dass die Wahlbeteiligung in der Oberschicht groß war und unter den Armen gering. Denn die Armen glaubten nicht, dass ihre Stimme Veränderungen bewirken könnten. Da hat das Referendum also ein Umdenken bewirkt, und das verdanken wir aus meiner Sicht der kollektiven Organisierung, den Cabildos, einer Repolitisierung durch politische Diskussionen in den Stadtvierteln. Die Tatsache, dass die Wahlbeteiligung an den prekarisiertesten Orten Chiles am höchsten war, ist gerade für mich als Lehrende ein riesiger Erfolg. Und die meisten dieser Menschen stimmten für eine neue Verfassung, in manchen Gemeinden bis zu 89 Prozent.

DIE ZERSTÖRUNG EINES POLTISCHEN PROJEKTS

Politische Veteran*innen der Allende-Zeit Die Lebensgeschichten von Annie Leal, Joel Asenjo und Ida Sepúlveda (von oben nach unten) bieten einen Schlüssel zum Verständnis der jüngeren chilenischen Geschichte (Fotos: Daniel Stahl)

Als im November 2019 die Proteste in Chile ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten, waren es in Valdivia in der südchilenischen Región de Los Ríos wie überall im Land die jungen Menschen, die das Geschehen dominierten. Das Stadtzentrum war voller Schüler*innen und Student*innen, die ihre Forderungen nach politischem Wandel mit Straßenblockaden bekräftigten.

Doch jeden Freitag um Punkt zwölf Uhr, kaum zu bemerken im Tosen des jugendlichen Protests, fand sich am Rande der zentralen Plaza in solidarischer Absicht ein Grüppchen in die Jahre gekommener Demonstrant*innen ein. Sie alle hatten jener heterogenen Bewegung angehört, die Allende vor 50 Jahren an die Macht gebracht hatte. Dass die Themen, mit denen ihre Laufbahn als politische Aktivist*innen begonnen hatte – die Forderung nach Verstaatlichung und die Kritik an Großkonzernen – irgendwann noch einmal einen signifikanten Teil der Gesellschaft mobilisieren würden, hatten sie kaum noch zu hoffen gewagt. Die Lebensgeschichten dieser politischen Veteran*innen der Allende-Zeit bieten einen Schlüssel zum Verständnis der jüngsten chilenischen Geschichte.

Annie Leal war schon früh dabei. Sie wurde 1935 in eine politisch aktive Familie hineingeboren. Die Eltern waren Mitglieder der verbotenen kommunistischen Partei und gehörten wie so viele Kommunist*innen und Sozialist*innen der evangelischen Minderheit an. Im alltäglichen Leben verschränkten sich politisches Engagement, patriarchalische Rollenbilder und protestantische Askese: „Der Vater musste als Sozialist ein guter Versorger und Hausherr sein. Deshalb rauchte und trank er nicht“, erzählt Leal.

Diese Haltung übernahm auch die Tochter. Mit 15 Jahren trat sie der ebenfalls verbotenen kommunistischen Jugendorganisation bei. Fortan wurde von ihr erwartet, ein unbescholtenes Leben zu führen und selbst in Partnerschaftsfragen die Partei zu konsultieren. Ausschlaggebend für ihre Entscheidung, politisch aktiv zu werden, war die Armut, die sie um sich herum beobachtete.

Zu den wichtigsten Aktivitäten der Jugendorganisation gehörte es während der 50er und 60er Jahre, in den umliegenden Ortschaften mit der Landbevölkerung über gesellschaftspolitische Themen zu sprechen, Alphabetisierungskurse anzubieten und sie mit den kommunistischen Ideen vertraut zu machen. Annie Leal verstand ihr Engagement immer als verbindlich, als Anfang der 60er Jahre ihre Tochter geboren wurde, bat sie die Partei förmlich um Beurlaubung.

Ida Sepúlveda gründete als 15-Jährige eine eigene Schule

Auch Joel Asenjo begann seine politische Arbeit schon als 15-Jähriger. Ende der 60er Jahre trat er wie sein Vater der sozialistischen Partei bei. Asenjos Familie lebte in bescheidenen, aber keineswegs prekären Verhältnissen. Mittags pflegte er seinem Vater, der als Schreiner arbeitete, das Essen auf die Arbeit zu bringen. „Einmal fragte ich ihn: ‚Wann kommt der Tag, an dem du zu Hause zu Mittag essen wirst?‘ Und er antwortete: ‚Wenn Allende Präsident ist‘“, erinnert sich Asenjo.

Asenjo hatte große Freude an der theoretischen Auseinandersetzung mit den großen sozialen Fragen. Die Schriften Che Guevaras, Pamphlete über die Verstaatlichung des Bergbaus und die Geschichte der chilenischen Arbeiterbewegung – das war die Literatur, die ihn begeisterte. Schnell stieg er in Führungspositionen auf. Anfang der 70er Jahre wurde er Studierendenführer und Vorsitzender der sozialistischen Jugend.

Das universitäre Umfeld, in dem Asenjo aktiv war, hatte kaum etwas mit der Lebenswelt Ida Sepúlvedas gemeinsam. Ihr Vater und Großvater arbeiteten im Osten von Valdivia für Großgrundbesitzer, die in den Anden Forstunternehmen betrieben. Beide waren in der Gewerkschaft. Sepúlveda war schon als Kind davon beeindruckt, wie die Landarbeiter*innen trotz fehlender Bildung ihre soziale Lage reflektierten und Forderungen artikulierten. Ende der 60er Jahre entschied sie sich, eine Schule in ihrem Ort aufzubauen. Zu diesem Zeitpunkt war sie gerade einmal 15 Jahre alt.

Zwei Jahre später heiratete sie den sieben Jahre älteren Forstarbeiter Rudemir Saavedra. „Für mich war er der Genosse Saavedra. Er nannte mich nicht seine Frau, sondern Genossin Ida.“ Das klingt aus Sepúlvedas Mund zwar zärtlich, war aber vor allem Ausdruck dessen, dass beide ihre Ehe als ein Bündnis im Kampf für soziale Gerechtigkeit verstanden: „Ich glaube, das war uns wichtiger als unsere Beziehung und gemeinsame Kinder.“ Saavedra trat bald darauf der MIR, Bewegung der Revolutionären Linken, bei.

Ermutigt durch den Wahlsieg Allendes im Oktober 1970 begann das Ehepaar zusammen mit anderen Forstarbeiter*innen die von der Regierung angekündigte Verstaatlichung der in Großgrundbesitz befindlichen Ländereien selbst in die Hand zu nehmen: Sie besetzten die Zentralen privater Forstunternehmen und hissten dort unter dem Absingen der National-Hymne die chilenische Fahne. „Dabei stießen wir auf gar keinen Widerstand“, wundert sich Sepúlveda noch heute. „Darauf wären wir kaum vorbereitet gewesen.“

Die Militärs hatten eine ganze Generation politischer Aktivist*innen gebrochen

Die wahr gewordene Utopie einer sich selbst ermächtigenden Landbevölkerung währte jedoch nur kurz. Am 11. September 1973 putschte das Militär gegen Allende. Drei Tage später wurde „Genosse Saavedra“ verhaftet, drei Wochen später war er tot. Soldaten durchsuchten die Hütte der jungen Familie. Einer von ihnen flüsterte der schwangeren Mutter zweier Kleinkinder zu, dass er an ihrer Stelle verschwinden würde – und das tat sie. In Valdivia lebte sie mehrere Jahre im Untergrund und hielt ihre kleine, schwer mitgenommene Familie mit Putzarbeiten über Wasser.

Auch für Annie Leal und Joel Asenjo beendete der Putsch eine Entwicklung, die sie für unumkehrbar gehalten hatten. Asenjo wurde noch im selben Jahr verhaftet, gefoltert und als zerschlagenes Bündel vor der Haustür seiner Eltern liegen gelassen, nur um bald darauf erneut verhaftet und gefoltert zu werden.

Dennoch nahm er nach der endgültigen Freilassung 1975 seine politische Arbeit wieder auf und ging in den Untergrund. Anders als vor dem Putsch, als eine gerechtere Gesellschaft in unmittelbarer Reichweite schien, waren die Ziele jedoch bescheiden: „Wir mussten überhaupt erst wieder eine Organisationsstruktur schaffen. Und wir sammelten Informationen über Menschenrechtsverletzungen.“

Ähnliches versuchten die Kommunist*innen. Annie Leal setzte ihr Engagement nach dem Putsch im Untergrund fort. Versammlungen und Alphabetisierungskurse kamen nicht mehr infrage. Man traf sich in kleinen Gruppen von maximal fünf Personen. Im Wesentlichen ging es dabei um Informationsaustausch. Wer lebte noch, wer war verhaftet worden, welche Verbrechen beging das Regime? Einige Mitglieder des Untergrunds kamen durch ihre Kontakte zu Soldaten an wertvolle Informationen über bevorstehende Militäraktionen und Repressionsmaßnahmen und konnten Mitstreiter*innen warnen. Nicht so im Fall von Leal. Ihre Widerstandszelle wurde 1986 verraten. Weil sich unter den zwölf Verhafteten mit Beatriz Brinkmann auch eine deutsche Staatsbürgerin befand, entging die Gruppe dank Aktionen der europäischen Chile-Solidarität dem sicheren Tod. Die Militärs hatten bereits die Ermordung in Form einer inszenierten Schießerei geplant.
Während Annie Leal noch im Gefängnis saß, rang eine erstarkende Opposition Pinochet 1988 ein Referendum über die Frage ab, ob dieser weiter regieren solle. Eine Mehrheit stimmte dagegen, es fanden freie Wahlen statt, die der oppositionelle Christdemokrat Patricio Aylwin gewann. Von Beginn an Gegner des sozialistischen Projekts Allendes, hielt Aylwin nach der Rückkehr zur Demokratie am neoliberalen Wirtschaftsmodell aus Diktaturzeiten fest.

Annie Leal, Joel Asenjo und Ida Sepúlveda – sie alle setzten ihr politisches Engagement auch nach der Diktatur fort. Um jedoch den Kampf für soziale Reformen oder eine Revolution wiederaufzunehmen und für eine Abkehr vom neoliberalen Wirtschaftsmodell zu streiten, fehlten ihnen die Netzwerke und die Kraft. Asenjo versuchte zwar, in der Partei wieder Fuß zu fassen. Doch dort hatten aus Europa zurückgekehrte „sozialdemokratisierte“ Exilierte das Sagen. Sie wollten nicht mehr an die Politik der 70er Jahre anknüpfen.

Typischer für die Überlebenden des Staatsterrors war der Weg, den Leal und Sepúlveda nach 1990 einschlugen. Sie konzentrierten sich darauf, den entstandenen Schaden zu begrenzen, indem sie für die strafrechtliche Verfolgung der Militärs, für Wiedergutmachungszahlungen und die kostenlose psychische und medizinische Betreuung von Folteropfern kämpften.

Dass ein Anknüpfen an das Projekt der Ära Allende in den Jahrzehnten nach 1990 so verhalten blieb, hatte viel damit zu tun, dass nach dem Kalten Krieg der Sozialismus als Gesellschaftsmodell aus der Sicht vieler diskreditiert war. Doch ein entscheidender Grund lag auch in der Repression des untergegangenen Regimes. Die drei Lebensläufe zeigen beispielhaft, wie gründlich das Pinochet-Regime jene Bewegung zerstört hatte. Nach 1990 waren nicht nur Tausende Regimegegner*innen tot – offizielle Schätzungen gehen von mehr als 3.000 Ermordeten aus. Die Militärs hatten eine ganze Generation politischer Aktivist*innen gebrochen und psychisch und physisch so stark versehrt, dass nur wenigen die Kraft für Utopien blieb. Die Wunden zu versorgen, war das einzige, wozu sie noch in der Lage waren. Die so entstandene Lücke macht sich bis in die Gegenwart hinein bemerkbar.

Ida Sepúlveda gibt die Hoffnung nicht auf, dass die kommende Generation den heruntergefallenen Staffelstab wieder aufheben wird. Die Proteste, die seit Oktober 2019 anhalten, sieht sie als positives Signal. Bereitwillig stellt sie Schüler*innengruppen die Räumlichkeiten des jetzt zum Gedenkort umfunktionierten ehemaligen Folterzentrums zur Verfügung, damit diese ihre Demonstrationen organisieren können.

„Diese junge Generation weiß nicht mehr, was es heißt, Angst vor den Carabineros zu haben“, bemerkt Sepúlveda. Denn obwohl die Polizei Carabineros stark militarisiert und mit äußerster Brutalität gegen die Demonstrierenden vorgeht (siehe LN 547) – die massenhafte Folter und das Verschwindenlassen der Diktatur kennen sie nur aus Erzählungen. Doch möglicherweise sind es gerade diese Unterschiede zwischen den verschiedenen Generationen, die das Potenzial haben, die gegenwärtigen Proteste zu einer Zeitenwende in Chile werden zu lassen.

EXPLOSION IM LABOR DES NEOLIBERALISMUS

Foto: UNRAST Verlag

„Der Neoliberalismus wurde in Chile geboren und hier wird er sterben“, so lautet schon lange die Hoffnung vieler, die in Chile auf die Straßen gehen. Was genau sich hinter dieser Losung verbirgt, die auf Banner geschrieben und an Wände gesprüht steht, wird selten ausführlich erklärt. Die Autorin Sophia Boddenberg, die seit einigen Jahren vor Ort lebt, betont bereits im Vorwort, dass Revolte in Chile Informationen aus Jahren journalistischer Recherche versammelt. So schafft sie es, treffende Analyse mit ausdrucksstarken Zitaten von Protestierenden unterschiedlichster Strömungen zu verbinden.

Insbesondere die Kapitel zur jüngeren wirtschaftlichen Geschichte des Landes erweisen sich als wertvoll. Gründlich wird erklärt, wie Chile zum „Musterland des Neoliberalismus“ wurde und welche Probleme dieses „Laborexperiment“ seit der Diktatur aufgeworfen hat. Dazu gehören auch bisher spärlicher beleuchtete, aber strukturelle Probleme sozialer Ungleichheit wie die massive Verschuldung junger Menschen oder die hohen Depressions- und Suizidraten. Der zweite Teil des Buches betrachtet die einzelnen sozialen Kämpfe, die sich gegen dieses System gebildet und seit der „sozialen Explosion“ (estallido social) im Oktober 2019 vereint entladen haben.

Statt diese Ereignisse in detaillierter Chronik und Einzelheit dokumentieren zu wollen, berichtet Revolte in Chile von der Vielfältigkeit des Protests und seiner Hintergründe – seien es die Schüler*innen, feministische Asambleas in der Hauptstadt Santiago, die bedrohte Kleinfischerei auf der südchilenischen Insel Chiloé oder die indigenen Mapuche, die für das Recht auf das ihnen zustehende Land kämpfen.

Zahlreiche Aktivist*innen kommen selbst zu Wort. Sie dokumentieren die Brutalität, mit der der Staat auf die Proteste reagiert hat – so etwa die zahlreichen Fotos von Menschen mit Augenverletzungen nach dem Beschuss mit „Gummigeschossen“ oder Tränengasgranaten der Carabineros (siehe LN 547). Ihnen hat Boddenberg ihr Buch gewidmet.

So ist Revolte in Chile eine wertvolle Sammlung von Informationen, Eindrücken und Analysen. An manchen Stellen werden Leser*innen klarere thematische Überleitungen oder Ausdifferenzierungen vermissen. Doch die Autorin erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Im Buch wird klar: Die Ereignisse rund um die neue Verfassung stehen in einer einzigartigen historischen Kontinuität gesellschaftlicher Mobilisierung gegen Ungerechtigkeit und fehlende Mitbestimmung, die auch nach dem Referendum nicht vorbei ist.

Boddenbergs entschlossenes antikapitalistisches Fazit zeigt sich damit als einzig logische Konsequenz der aufregenden Geschichte Chiles. Und wer weiß: Vielleicht wird ja „aus dem Labor des Neoliberalismus das Labor seines Umsturzes“, wie schon der Klappentext vermeldet.

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