PANDORA PAPERS BELASTEN POLITIKER MEHRERER LÄNDER

14 ehemalige und amtierende Staats- und Regierungschefs aus Lateinamerika stehen nach der Veröffentlichung der Pandora Papers unter Verdacht, einen Teil ihres Vermögens in Briefkastenfirmen vor der Öffentlichkeit versteckt zu haben. Darunter sind die amtierenden Präsidenten Sebastián Piñera (Chile), Guillermo Lasso (Ecuador) und Luis Abinader (Dominikanische Republik). Auch Regierungsmitglieder anderer Länder sind von den Enthüllungen betroffen, wie der brasilianische Wirtschaftsminister Paulo Guedes oder der mexikanische Staatssekretär für Kommunikation und Transport Jorge Arganis Díaz Leal.

Ein Zusammenschluss von mehr als 600 Journalist*innen aus 117 Ländern hatte in einer geheimen Recherche fast 12 Millionen vertrauliche Dokumente ausgewertet. Die Daten wurde dem International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) von einer anonymen Quelle zugespielt. Am 3. Oktober wurden die Ergebnisse ihrer Analysen unter dem Namen Pandora Papers weltweit veröffentlicht. Namhafte internationale Medien wie BBC, die Washington Post oder El País beteiligten sich an den Analysen und deren Veröffentlichung.

Die vertraulichen Dokumente stammen von 14 sogenannten Offshore-Providern. Diese Firmen helfen ihren Kunden dabei, in Steueroasen Briefkastenfirmen zu gründen. Der Besitz einer Offshore-Firma ist nicht illegal, wird aber häufig zur Geldwäsche oder Steuerhinterziehung genutzt. Gerade bei Regierungsmitgliedern wird der Versuch, dem Staat Steuern zu entziehen, als unethisch betrachtet, oft auch gesetzlich sanktioniert.

Brasilien: Wirtschaftsminister besitzt Briefkastenfirma

Paulo Guedes, seit 2019 „Superminister“ für Wirtschaft und Finanzen und neoliberaler Hardliner, wird von den investigativen Recherchen der Pandora Papers belastet. Er wird als Besitzer der Offshore-Firma Dreadnoughts International Group genannt, die in der Steueroase der Britischen Jungferninseln angesiedelt ist. Die Zeitschrift Piauí berichtete am 3. Oktober 2021, dass die Briefkastenfirma im September 2014 eröffnet wurde. Mitgesellschafterin von Guedes war seine Tochter Paula Drumond Guedes. Beide zahlten insgesamt 8 Millionen US-Dollar auf ein Konto der Crédit Suisse in New York ein, indem sie 50.000 mal den Betrag von 160 US-Dollar überwiesen. Bis August 2015 wurde die Einlage auf 9,5 Millionen US-Dollar erhöht.

Nach Aussagen seiner Anwälte verließ Guedes das Management seiner Offshore-Firma im Dezember 2018, bevor er das Amt als Minister antrat. Seither habe er auf jegliche Beteiligung an den finanziellen Entscheidungen des Unternehmens verzichtet und weder Überweisungen auf, noch Abhebungen von Konten im Ausland getätigt. Durch die Abwertung des Real während seiner Amtszeit stieg sein Vermögen in der Landeswährung allerdings von 35 auf 51 Millionen Reais.

In Brasilien ist der Besitz einer Offshore-Firma – auch in Steueroasen – nicht illegal, solange der Besitz der Steuerbehörde gemeldet wird. Dies ist laut Guedes der Fall. Die Opposition spricht jedoch von einem potenziellen Interessenkonflikt, da sich der Wirtschaftsminister indirekt durch seine Politik bereichert haben könnte. Am 6. Oktober wurde im Parlament entschieden, dass der Finanzminister dazu vor dem Plenum und vor zwei Kommissionen Stellung nehmen muss. Gegenüber Journalist*innen sagte Guedes, er sei „sehr gelassen“ und habe nie privat von seinem Amt profitiert.

Am 7. Oktober fanden vor dem Wirtschaftsministerium mehrere Proteste gegen Guedes statt. Morgens regnete es dort Dollar-Spielgeld mit dem Gesicht des Ministers, am Nachmittag wurde das Gebäude mit Slogans wie „Guedes im Paradies und das Volk in der Hölle“ oder „Guedes verdient am Hunger“ besprüht.

Chile: Transaktionen bedrohen Naturschutzgebiet

In Chile deckten die Pandora Papers neue Details zu Geschäften von Präsident Piñera im Zusammenhang mit der geplanten Eisen- und Kupfermine Minera Dominga auf. Der Milliardär Piñera war zu Beginn seiner ersten Amtszeit Hauptaktionär des Projekts, verkaufte jedoch Ende 2010 seine Anteile für 152 Millionen US-Dollar an seinen Schulfreund Carlos Alberto Délano. Davon wurden 138 Millionen mittels einer Transaktion auf den Britischen Jungferninseln bezahlt, einer Steueroase in der Karibik. Der Betrag sollte in drei Raten bezahlt werden, die letzte Rate war jedoch nur fällig, sofern das für das Projekt vorgesehene Küstengebiet nahe der Stadt La Higuera nicht zu einem Naturschutzgebiet erklärt würde. Darauf hatte Piñera als Präsident maßgeblichen Einfluss.

Die Region um La Higuera gilt als Hotspot der Biodiversität. Dort, wo für die geplante Mine ein eigener Hafen gebaut werden soll, befindet sich ein wichtiges Brutgebiet der vom Aussterben bedrohten Humboldt-Pinguine, auch Wale und Delfine leben dort. Piñera ignorierte jedoch die Umweltbewegung, die letzte der drei Raten wurde bezahlt und im August 2021 genehmigte die zuständige Behörde das Bergbauprojekt.

Der Präsident bestreitet einen Interessenskonflikt und beruft sich darauf, dass seine Beteiligung an dem Projekt bereits im Jahr 2017 Gegenstand von Ermittlungen gewesen sei, die zu seinem Freispruch führten. Da die Bedingung für die Zahlung der dritten Rate damals jedoch nicht untersucht wurde, hat die Staatsanwaltschaft nun die Wiederaufnahme von Ermittlungen beschlossen. Die Oppositionsparteien haben angekündigt, ein Amtsenthebungsverfahren einzuleiten.

Ecuador: Das Geld zieht um

In Ecuador gibt es seit einem Referendum im Februar 2017 ein Gesetz, welches es politischen Funktionsträgern verbietet, Geld in Steueroasen zu haben. Die Pandora Papers weisen dem amtierenden Präsidenten des Landes, Guillermo Lasso, die Nutzung von 14 verschiedenen Offshore-Firmen nach. Etwa drei Monate nach Erlass des genannten Gesetzes wurden im US-amerikanischen Bundesstaat South Dakota zwei Trusts gegründet, auf die die Anteile der meisten von Lasso angeblich aufgelösten Unternehmen überschrieben wurde. Lasso verteidigte sich damit, keinerlei Besitz, Kontrolle, Nutzen oder Interesse an diesen Einrichtungen zu haben und behauptet, sich immer an geltendes ecuadorianisches Recht gehalten zu haben.

Wie die Süddeutsche Zeitung (SZ) am 3. Oktober 2021 berichtete, hatte Lasso für die Konten in South Dakota keine Adresse in Ecuador, sondern in Florida (USA) angegeben. Mit diesem „Umzug“ nach South
Dakota war Lasso laut SZ in gewisser Weise auch Vorreiter für andere, die nach den Enthüllungen Panama Papers ihre Gelder aus Steueroasen in den US-Bundesstaat brachten.

Aus den in den Pandora Papers enthaltenen Dokumenten soll nicht hervorgehen, wer die Begünstigten der Trusts sind. Sollte Lasso allerdings noch immer Verbindungen zu dem Geld haben, könnte es ungemütlich für ihn werden. Die für Steuerfragen zuständige Kommission im ecuadorianischen Parlament kündigte Untersuchungen gegen Lasso an.

Peru: Ex-Präsident Kuczynski kaufte Offshore

Der Name des neoliberalen peruanischen Ex-Präsidenten Pedro Pablo Kuczynski (2016-2018) taucht ebenfalls in den Pandora Papers auf. Kuczynski (PPK) hatte im Jahr 2004, als er das Amt des Finanzministers unter Alejandro Toledo innehatte, die Offshore-Firma Dorado Asset Management auf den britischen Jungferninseln erworben. Diese soll nicht nur als Holding für Immobilien fungiert haben, sondern auch Finanzberatung zum Ziel gehabt haben, wie das Investigativportal Convoca schreibt.

In die Ermittlungen gegen PPK wegen Geldwäsche im Rahmen von Schmiergeldzahlungen durch das brasilianische Bauunternehmen Odebrecht war Dorado bereits 2019 einbezogen worden. Von Odebrecht als Beratungshonorare getarnte Gelder an PPKs Beraterfirma Westfield Capital sollen von Dorado zum Kauf zweier Immobilien in PPKs Besitz verwendet worden sein. Seit 2019 befindet sich PPK im Hausarrest, die betroffenen Immobilien wurden beschlagnahmt.

Nach Ansicht des zuständigen Staatsanwaltes Domingo Pérez ist das bisher unbekannte Ziel des Unternehmens, die Verschleierung des wahren Zwecks „eindeutig ein Verhalten, das mit Geldwäsche zu tun hat“, wie er gegenüber Convoca angab. Man werde nun weitere Transaktionen von Dorado aus dem Zeitraum von 2004-2014 prüfen. 2014 hatte PPK die Firma unter verändertem Namen nach Peru transferiert.

HOLPRIGER EPOCHENWECHSEL

Gegen die Straflosigkeit Alejandro Muñoz setzt sich für die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen für die Augenverletzungen der Demonstrierenden ein (Foto: Caterina Muñoz)

Transpis und Plakate hängen an der Wand, am Eingangstor ein großes Schild: „Kein Zutritt für Parteien, Abgeordnete des Verfassungskonvents und die Presse“. Gleich daneben: „Micco tritt zurück!“. Das zentrale Büro des Nationalen Instituts für Menschenrechte (INDH) in Santiago, welches die Einhaltung der Menschenrechte in Chile überwachen soll, ist seit knapp zwei Monaten besetzt und Sergio Micco, der Direktor, steht im Zentrum der Kritik.

Während nur wenige Fahrradminuten entfernt, im ehemaligen Parlamentsgebäude, der Verfassungskonvent tagt und von der Geburt eines neuen Chile spricht, ist hier das alte Chile in der Krise. Es geht um die Menschenrechtsverletzungen der Sicherheitskräfte seit Oktober 2019, aber auch um jene der 30 Jahre zuvor, die demokratische Regierungen nicht verhindern konnten. Das Symptom vom Ende einer historischen Epoche, oder doch mehr vom Gleichen?

Auch nach zwei Jahren gibt es noch keine Verurteilungen

Alejandro Muñoz ist seit Beginn der Besetzung vor Ort. Sein Gesicht ist gezeichnet von der Repression der Revolte vom Oktober 2019. Ein Auge ist leicht verschoben und schaut beim Reden ins Leere. Er wurde am 23. Oktober von einer Gasgranate im Gesicht getroffen. Aus nächster Nähe schoss ein Polizist ihm mit einem Granatenwerfer direkt in sein Auge – aus Absicht, wie er vermutet. Seitdem kämpft er für Entschädigung der Opfer, Verurteilung des Schützen und der Verantwortlichen für die Gewaltexzesse der Polizei und Militär. Muñoz ist Mitglied der Coordinadora de Víctimas de Trauma Ocular, einer der Organisationen, die von den mehr als 467 Menschen gegründet wurden, die durch Einwirken von Polizei oder Militär mindestens ein Augenlicht verloren haben.

Mit der Besetzung wollen die Betroffenen auf ihre Situation aufmerksam machen. Knapp zwei Jahre nach den ersten Vorkommnissen gibt es noch immer keine Verurteilungen im Zusammenhang der Menschenrechtsverletzungen seit Oktober 2019, und nur circa ein Prozent aller Anzeigen gegen Staatsbeamte führte zur Identifizierung eines möglichen Schuldigen.

Gleichzeitig sitzen laut Medienberichten mindestens 77 Personen aufgrund von Festnahmen im Zusammenhang mit der Revolte im Gefängnis, 51 warten immer noch auf ein rechtskräftiges Urteil, zum Teil sind sie seit Ende 2019 in Untersuchungshaft. Ihnen wird vorgeworfen, Molotowcocktails geworfen oder öffentliche Unruhe gestiftet zu haben. Für Muñoz und die Besetzenden sind es politische Gefangene. Die langsamen Verfahren, die lange Untersuchungshaft und Skandale, die auf die Manipulation von Beweisen hinweisen, belegen das aus ihrer Sicht.

„Die Kämpfenden werden von den politischen Prozessen ausgeschlossen, ins Gefängnis gesperrt und gefoltert“, ist sich Muñoz sicher. Der verfassungsgebende Prozess sei eine Farce ohne Perspektive. Während Politiker*innen unter sich um die Zukunft des Landes streiten, seien die betroffenen Menschen fallen gelassen worden. Viel Hoffnung setzt Muñoz nicht in die politischen Veränderungen: „Ich glaube nicht, dass das klappt, ich vertraue den politischen Institutionen nicht“, meint er.

Im Institut für Menschenrechte halten sie zusammen. Die Besetzung wird von der Coordinadora, einer Organisation von Gefangenen der Revolte sowie der linksrevolutionären Schüler*innenorganisation ACES (Asamblea Coordinadora de Estudiantes Secundarios) getragen, um weiterhin für Gerechtigkeit zu kämpfen. Konkret bedeute das, „Präsident Sebsatián Piñera muss ins Gefängnis“, fasst Muñoz zusammen.

Gegen hohe Polizeigeneräle und Politker*innen der Regierung laufen derzeit mehrere nationale und internationale Verfahren wegen Menschenrechtsverletzungen. Doch für diese braucht es Beweise – Beweise, die durch Mitarbeiter*innen des Instituts für Menschenrechte zusammengetragen wurden. Doch anstatt sie zu veröffentlichen, beschönigte der christdemokratische Direktor, Sergio Micco, die brutale Staatsgewalt Ende 2019. Deshalb soll auch er zurücktreten, so die Besetzer*innen.

Der INDH-Direktor beschönigte die Gewalt

Weder Micco noch andere offizielle Stellen des INDH haben sich bislang öffentlich zu der Besetzung geäußert. Zumindest mit einer Räumung rechnet bislang niemand. Es würde ein schlechtes Licht auf das Institut werfen, das derzeit noch im Homeoffice arbeitet.

Ganz im Gegenteil dazu haben sich die organisierten Angestellten des INDH an die Besetzenden gewandt und ihre Solidarität bekundet. Sie sehen sich in der Kritik an der Institutsleitung bestätigt. Während sie die Repression am eigenen Leib erleben mussten, lässt das Institut nicht nur die Opfer, sondern auch die eigenen Angestellten fallen. Mehrere Arbeiter*innen, die Beweise für die Menschenrechtsverletzungen in einem Buch veröffentlichten, wurden vor mehr als einem Jahr entlassen.

Luis Guerrero arbeitet weiterhin im INDH. Er ist der Präsident einer von zwei Gewerkschaften, in denen sich die Arbeiter*innen des INDH organisieren, Anwalt und eigentlich für die Lohnzahlungen und Arbeitsverträge im Institut verantwortlich, doch während der Revolte führte die Arbeit auch ihn auf die Straße: Er und seine Kolleg*innen beobachteten die Demonstrationen, besuchten Verletzte in den Krankenhäusern und begutachteten die Situation der Gefangenen. All das sind Kernpunkte der Arbeit des INDH.

Das Institut wurde 2010 gegründet und soll als von der Regierung unabhängige staatliche Institution die Situation der Menschenrechte in Chile überwachen und für deren Einhaltung und Verbesserung einstehen. Es stellt in der damaligen Logik ein wichtiges Element dar, um das versprochene „Nie Wieder“ der Menschenrechtsverletzungen der Diktatur einzuhalten. Doch die Geschichte kam anders.

Die Vertreter*innen des INDH konnten während der Revolte ihre Arbeit durchführen und das Institut veröffentlichte zu Beginn die genauesten Zahlen zu Verletzten, Gefolterten oder Inhaftierten. Dabei wurden die Mitarbeiter*innen auch selbst Opfer der Gewalt. Guerrero wurde am 6. Dezember 2019 von einer Granate am Oberarm getroffen, als er damit sein Gesicht schützte. Nur durch Glück wurde weder sein Arm gebrochen noch er im Gesicht getroffen. Wie in den allermeisten Fällen ist bis heute kein Polizist für diesen Angriff angeklagt.

“Tritt zurück!” Plakate am Tor des besetzten INDH in Santiago kritisieren die Säumnisse seitens des Leiters (Foto: Malte Seiwerth) 

Der Gewerkschafter Guerrero benennt ein allgemeines Problem: „Obwohl wir eine große Anzahl an Übergriffen feststellen konnten, beteiligt sich das Institut nur bei rund einem Drittel der Anklageschriften.“ Der Grund: Das Institut ist bis heute vom Ausmaß der Gewalt überfordert und kann seine Funktion aufgrund fehlender Mitarbeiter*innen nicht vollständig erfüllen.

Nur die vom INDH Vertretenen wurden jedoch in späteren Berichten des INDH zur offiziellen Zahl der Gewalttaten. Das Institut habe ab Anfang 2020 begonnen, die Situation der Menschenrechte zu beschönigen. „Wir konnten einen gezielten Angriff der Polizei auf Demonstrierende und gezielte sexuelle Gewalt gegenüber jungen, demonstrierenden Frauen feststellen, aber anstatt das so darzustellen, spricht der offizielle Bericht von ‚breiter Gewalt‘.“ Er schlussfolgert: „Damit werden der Angriff auf die demonstrierende Zivilbevölkerung, der Bruch des Versprechens eines ‚Nie Wieder‘ und die Menschenrechtsverletzungen im Allgemeinen weniger klar dargestellt.“ Diese Beschönigung helfe einzig und allein der Regierung, so Guerrero.

Eine mögliche Erklärung für diese Vorgänge ist der Aufbau des Instituts, das von einem Rat aus elf Mitgliedern geleitet wird. Von diesen werden zwei direkt durch den Präsidenten ernannt, jeweils zwei durch die beiden Parlamentskammern, eines durch die Universitäten und vier durch anerkannte Menschenrechtsorganisationen. Das führe, so Guerrero, zu einem politischen Patt. „Heute haben wir sechs Mitglieder, die der rechten Regierung nahestehen und zum Teil nicht einmal auf Menschenrechte spezialisiert sind. Das untergräbt die politische Autonomie des Instituts.“

Die Logik des politischen Patts war während der vergangenen 30 Jahre in Chiles Politik allgemein bestimmend. Das binominale Wahlsystem, das zum letzten Mal im Jahr 2013 angewandt wurde, führte dazu, dass die erst- und zweitstärksten Parteienbündnisse fast unabhängig von dem tatsächlichen Wähler*innenanteil jeweils um die 50 Prozent der Sitze im Parlament erhielten. Diese politische Situation verunmöglichte tiefgreifende Reformen und gab Stabilität auf Basis eines künstlich geschaffenen politischen Gleichgewichtes zwischen den demokratischen Kräften und den diktaturnahen rechten Parteien.

Tiefsitzende Probleme, wie die Struktur der Polizei und des Militärs, konnten daher nicht angepackt werden. Das muss sich nun ändern. Der politische Wind des Wandels, bisher nur im Verfassungskonvent repräsentiert, aber in der Hoffnung von Guerrero nach den Wahlen vom November auch im Parlament und in der Regierung, muss den Übergang zur Demokratie vollenden. Dazu gehört für Guerrero die Gründung einer neuen zivilen Polizei und eine Reform des INDH.

„Wir leben weiterhin in einem Ausnahmezustand“

Wenige Fahrradminuten vom INDH, an der Plaza Dignidad vorbei, liegt der Sitz des Verfassungskonvents. Hier wurde das politische Patt bereits endgültig gebrochen. Bei der Wahl im Mai erlangten die rechten Parteien weniger als ein Drittel der Sitze. Gleich danach hieß es, die Verfassung werde von der Mitte, linken Parteien, Parteilosen und sozialen Bewegungen geschrieben.
Camila Zárate ist eine der Abgeordneten. Die Frau mit den roten Haaren war noch vor kurzem Mitglied der Lista del Pueblo, einer Wahlliste, die sich aus sozialen Bewegungen und Persönlichkeiten der Oktoberrevolte zusammensetzt und damals drittstärkste Kraft im Konvent wurde.

Mittlerweile steht die Liste kurz vor der Auflösung. Zuerst brach ein Streit um die Beteiligung an der kommenden Präsidentschaftswahl aus, später um die oder den Kandidaten für das höchste Amt. Am 26. August lehnte die Wahlbehörde die Kandidatur von Diego Ancalao, dem offiziellem Kandidaten der Liste ab. Mehr als die Hälfte der nötigen Unterstützer*innenunterschriften wurden von einem Notar beglaubigt, der 2018 in Rente ging und Anfang 2021 gestorben war. Die Unterschriften waren vermutlich gefälscht.

Mittlerweile sind mit zwei Ausnahmen alle Delegierten der Lista del Pueblo aus dem Bündnis ausgetreten, Zárate war eine der ersten. Sie schloss die Beteiligung an den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen als einem politischen Prozess, der immer noch durch die Verfassung der Diktatur aus dem Jahr 1980 geprägt ist, von Beginn an aus. Zárate hat dazu eine klare Meinung: „Ich möchte dem alten System keine Legitimität geben, wenn wir hoffentlich in ein bis zwei Jahren eine politische Neuordnung haben.“ Deswegen ist sie im Verfassungskonvent, möchte aber keine Energie auf die kommenden Wahlen „verschwenden“, wie sie es sagt. Zárate meint, in der Umweltbewegung MAT, der sie angehört, hätten sie seit Jahrzehnten für eine neue Verfassung gekämpft. Nach dem Oktoberaufstand habe sich die einmalige Möglichkeit eröffnet, eine neue, demokratische Verfassung zu schreiben. Dies sei ein Eingeständnis der politischen Elite gegenüber der Bevölkerung, die im Oktober 2019 das Land lahmlegte.

Die Besetzung des INDH zeige laut Zárate vor allem eines: „Wir leben weiterhin in einem Ausnahmezustand.“ Nicht nur, dass die Menschenrechtsverletzungen bislang nicht aufgeklärt sind, auch die Forderungen der Bewegung von damals sind noch nicht umgesetzt.
Während das Parlament über ein Amnestiegesetz für die im Zusammenhang von Demonstrationen Verhafteten diskutiert, verabschiedete der Konvent als einen seiner ersten Amtsakte im Juli eine Erklärung, die die Freilassung der „politischen Gefangenen“ und die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen forderte. Ende August verlangte die Menschenrechtskommission des Konvents die Auflösung der aktuellen Militärpolizei, Carabineros de Chile, und die Neugründung einer zivilen Sicherheitskraft. Doch all das sind bislang Vorschläge, die von der rechten Regierung scharf kritisiert werden.

Erneute Demonstrationen gegen die andauernden Probleme bleiben bisher klein und haben mit Polizeirepression zu rechnen. Auch eine nächtliche Ausgangssperre, eigentlich zur Bekämpfung der Coronapandemie eingeführt, bleibt trotz derzeit tiefer Fallzahlen in Kraft. Das Militär patrouilliert bis heute mit Radwagenpanzern durch die nächtliche Stadt und kontrolliert die Grenzen zwischen den einzelnen Regionen des Landes.

Die Gebäude des Verfassungskonvents sind mit Zäunen umringt, öffentliche Plätze in der Nähe gesperrt und jede noch so kleine Protestgruppe wird sofort von der Polizei kontrolliert. Für Zárate geht es um die Entscheidung zwischen zwei möglichen Wegen: Eine Neugestaltung des Landes über die Institutionen oder eine „Aneignung des Prozesses durch die Bevölkerung“. Zárate spricht sich für die zweiten Weg aus, die Bevölkerung soll an der Entscheidungsfindung teilnehmen. Dazu gehören Abstimmungen über umstrittene Artikel und wenn nötig Demonstrationen, um bestimmte Punkte in der Verfassung zu verankern. Eine Strategie, die die Regierung mithilfe der Polizei verhindern will.

Doch die stärksten Proteste beginnen vermutlich erst im Oktober, denn bislang hat der Verfassungskonvent lediglich die eigene Geschäftsordnung geschrieben. Schon dort zeigten die rechten Abgeordneten ihren Anspruch, den Konvent zu boykottieren. Regelmäßig behaupten sie, die Mehrheit im Konvent sei „totalitär“, wenn sie beispielsweise die Leugnung von Menschenrechtsverletzungen oder das Verbreiten von Fake-News verbieten will.
Zárate kümmern diese Äußerungen wenig, „sie sollen sagen, was sie wollen“, meint sie dazu. Schließlich sind die anderen Kräfte in der Mehrheit und die Rechte verteidige einzig ihre Position: die Verhinderung des politischen Wandels. Wenn der Konvent erstmals über den Inhalt der neuen Verfassung diskutiert und im November ein neues Parlament und ein*e neue*r Präsident*in gewählt wird, gibt es sicher neuen Konfliktstoff.

CHILENISCHE DICHTER

Foto: © Suhrkamp Verlag

Ein kleiner Junge steht auf einem Parkplatz mit einem großen Bündel Luftballons in seiner Hand. Hinter ihm spiegeln sich Strahlen der untergehenden Sonne in den Fenstern der Autos. Schön nostalgisch, wären da nicht die Augen des Jungen. Fast ein Vater heißt der Roman des Chilenen Alejandro Zambra, von dessen Cover uns dieser Junge etwas verloren anschaut. Aber wo ist sein Vater?

Zu Beginn des Romans geht es um den Dichter und Dozenten Gonzalo, der seine Jugendliebe Carla wiedertrifft. Sie hat bereits ein Kind und bald formen die drei eine kleine Familie. Obwohl sich seine Beziehung zu ihrem Sohn Vicente vertieft, hadert Gonzalo immer wieder mit seiner (Stief-)Vaterrolle. Und auch in der eigenen Familie kann er sich nicht auf Vorbilder stützen: in einer – sehr unterhaltsam geschriebenen – Szene, besucht Gonzalo auf ausdrücklichen Wunsch seiner Mutter den Geburtstag seines Großvaters, den dessen zahlreiche Töchter und Söhne organisierten. Bei keiner seiner vielen Frauen ist der alte Patriarch lange geblieben. Gonzalo begegnet dem selbstherrlichen Großvater voller Verachtung. Doch wird es ihm selbst gelingen, ein besserer Vater für seinen Stiefsohn Vicente zu sein?

Im dritten Teil des Buches ist der nun erwachsene Vicente die Hauptperson. Gerade mit der Schule fertig geworden, will er Dichter werden, obwohl ihn sein biologischer Vater immer wieder dazu drängt, zur Uni zu gehen. Doch dann verliebt sich Vicente in die schöne US-amerikanische Journalistin Pru. Sie ist durch einen Zufall in der falschen Stadt gelandet und ebenso zufällig findet sie zu ihrem neuen Reportage-Thema: Die chilenische Dichterwelt. Dafür trifft sie sich, feiert und trinkt mit vielversprechenden jungen Poet*innen sowie etablierten Dichter*innen des Landes. Seine Perspektive von außen erlaubt es dem Autor, ein paar Witzeleien über die Szene einzufügen: Zum Beispiel beobachtet Pru, dass die von ihr Befragten Mundgeruch hätten und alle, auch die Frauen, versuchten, mit ihr zu flirten. Auch unter den Freigeistern finden sich verkrustete Männlichkeitsbilder. Der spanischsprachige Titel des Buches Poeta chileno ruft dabei noch mehr die Assoziationen zu Chiles vergangenen Dichtergrößen wie Pablo Neruda hervor, der nicht eben als guter Vater bekannt war.

Zambra begegnet dem chilenischen Dichter*innendasein mit viel Witz, wirft jedoch besonders in Bezug auf Vaterschaft einen gesellschaftskritischen Blick darüber hinaus: Warum geben viele Väter nach einer Trennung den Kontakt zu ihren Kindern auf? Warum kämpfen sie nicht energischer, dieses besondere Band nicht zu verlieren? Und was bedeutet eigentlich eine stille Geburt für einen Vater? Fragen wie diese umkreist der Autor elegant mit seinen vielschichtigen Figuren, ohne dabei in zu einfache Erklärungen abzurutschen. Zambra, der bisher vor allem für schmale Romane bekannt war, ist auch mit diesem, mit mehr als 400 Seiten, ein mitreißendes und dazu sehr aktuelles Werk gelungen.

ZUM ZWEITEN MAL GEFLOHEN, ZUM ZWEITEN MAL GEFASST

In Chile gesucht, von der argentinischen Polizei gefasst Der Ex-Offizier Walther Klug (Foto: Policía Federal Argentina

Nach dem Putsch unter General Pinochet 1973 hatte Klug in den Pferdeställen des 3. Infanterieregiments von Los Ángeles im Süden Chiles ein Folterlager eingerichtet. Hunderte Gefangene wurden dort misshandelt, viele von ihnen ermordet. Überlebende Gefangene beschreiben den damals 23-jährigen Oberleutnant als besonders brutal und sadistisch. Die chilenische Menschenrechtsanwältin Patricia Parra, die Familienangehörige von Opfern gegen Klug vertritt, bezeichnet ihn als einen der Hauptverantwortlichen für Folter und Mord in diesem Militärstützpunkt.

Trotz der von ihm begangenen Verbrechen konnte Klug seine Karriere auch nach dem Ende der Diktatur 1990 fortsetzen und stieg bis zum Oberst auf. Erst im Oktober 2014, kurz nach seiner Pensionierung, verurteilte der Oberste Gerichtshof Chiles ihn im sogenannten Fall Endesa rechtskräftig zu einer Haftstrafe von zehn Jahren. Die Richter sahen es als erwiesen an, dass Klug 1973 am Mord von sieben und dem Verschwindenlassen von 14 weiteren Arbeitern beteiligt war, die in den Wasserkraftwerken El Toro und El Abanico der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft Endesa in der Nähe der Stadt Los Ángeles tätig waren.

Schon bald nach seiner Verurteilung entzog sich Klug der chilenischen Justiz und seiner Haftstrafe, indem er sich nach Deutschland absetzte. Möglich machte das ein deutscher Reisepass, den Klug, dessen Großvater aus Deutschland stammte, im November 2014 in der deutschen Botschaft in Santiago de Chile erhielt. Auf die Frage, ob die Botschaft die Ausgabe des Reisepasses an Klug hätte verweigern können, heißt es aus dem Auswärtigen Amt, die Auslandsvertretungen prüften, „ob der Antragsteller im deutschen Fahndungsbuch gelistet ist“, da nur das einen Hinderungsgrund für die Ausstellung oder Ausgabe eines Passes darstellen könne. Mit Fahndungslisten der Gastländer finde hingegen kein Abgleich statt.

2014 in Deutschland angekommen, lebte Klug bis 2019 unbehelligt in der beschaulichen Kleinstadt Vallendar am Rhein, wie seine damalige Vermieterin bestätigte, und pflegte auch Kontakt zur dort ansässigen katholischen Schönstattbewegung.

In Artikel 16 Absatz 2 des Grundgesetzes ist festgeschrieben, dass deutsche Staatsangehörige nicht an Staaten außerhalb der EU ausgeliefert werden. So fand der Doppelstaatler Klug in Deutschland ein sicheres Rückzugsgebiet und ist dabei kein Einzelfall. Als weitere prominente Fälle sind der Arzt der Colonia Dignidad, Hartmut Hopp (siehe LN 533), und der deutsch-argentinische Folterer Luis Esteban Kyburg (siehe LN 557) bekannt.

In den Jahren von 2014 bis 2019 wurden gegen Klug auch keine eigenständigen strafrechtlichen Ermittlungen seitens der deutschen Justiz eingeleitet. Die Staatsanwaltschaft Koblenz hatte im März 2016 zwar die Aufnahme von Ermittlungen gegen Klug geprüft – diese aber verworfen. Laut Oberstaatsanwalt Rolf Wissen habe damals nur ein Interpol-Festnahmeersuchen für Klug im Zusammenhang mit einem anderen laufenden Gerichtsverfahren vorgelegen. Dabei ging es um den Fall des verschwundenen Studentenführers Luis Cornejo, und es habe geheißen, „dass der Gesuchte 1973 in Chile ein Lager geleitet haben soll, in das eine Person verbracht worden sei, die danach nicht wieder aufgetaucht sei“. Diese Tatvorwürfe seien nach deutschem Recht aber verjährt; nur ein Mordvorwurf wäre es nicht. Dafür habe es jedoch keine ausreichenden Anhaltspunkte gegeben, so der Oberstaatsanwalt, „da nicht klar ist, ob, wo, wie und durch wen die in Chile verschwundene Person umgebracht worden ist“.

So wurde der über Interpol gesuchte Ex-Offizier erst 2019 bei einer Reise nach Italien verhaftet und 2020 nach Chile ausgeliefert. Diese Auslieferung galt zunächst allerdings nicht für die rechtskräftige Verurteilung zu zehn Jahren Haft im Fall Endesa, sondern nur für das noch laufende Gerichtsverfahren wegen des verschwundenen Studenten Luis Cornejo. Deswegen kam Klug dann in Chile für ein Jahr in Untersuchungshaft, wurde zwischenzeitlich aber mit Meldeauflagen und einem Ausreiseverbot auf freien Fuß gesetzt.

Als „grob fahrlässig“ bezeichnet das der Menschenrechtsanwalt Francisco Bustos, denn spätestens seit Klugs Flucht nach Deutschland 2014 sei klar gewesen, dass Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr in seinem Fall dringend geboten sei. „Das war wie die Chronik eines angekündigten Todes, es war abzusehen, dass er wieder fliehen wollte“, erklärt Anwältin Patricia Parra, „wir haben ein Problem fehlender Koordination. Richter und verschiedene Instanzen kommunizieren nicht ausreichend“.

Sie kritisiert, dass Chile über Jahre keinen internationalen Haftbefehl wegen Klugs rechtskräftiger Verurteilung zu zehn Jahren Haft im Fall Endesa erwirkt hatte. Da die Antwort Italiens auf das zweite Auslieferungsverfahren für diesen Fall noch ausstand, musste Klug diese Haftstrafe in Chile immer noch nicht antreten. Das änderte sich am 26. Mai 2021, als Italiens Oberster Gerichtshof schließlich Klugs Auslieferung an Chile auch für den Fall der ermordeten Arbeiter grundsätzlich zustimmte und die chilenischen Behörden darüber informierte.

Wie einer inzwischen auf Twitter veröffentlichten Recherche des Journalisten Luis Narváez zu entnehmen ist, ließen das chilenische Außenministerium und der Oberste Gerichtshof kostbare Zeit verstreichen. Klug wurde weder inhaftiert noch wurden sonstige Maßnahmen ergriffen, die seine erneute Flucht verhindert hätten.

Klugs Verteidiger hatten ihren Mandanten vermutlich viel schneller über den italienischen Auslieferungsbeschluss informiert. Jedenfalls floh der agile 70-Jährige schon Ende Mai aus Chile über die grüne Grenze Richtung Argentinien. Der immer gut gekleidete, mit deutschem Pass reisende Klug, der als pensionierter Offizier eine staatliche Pension von monatlich rund 1.500 Euro plus Zulagen erhält, versuchte, den Wettlauf mit der Zeit zu gewinnen. Nach Informationen von Página 12 soll er bereits am 1. Juni versucht haben, über den Flughafen von Buenos Aires nach Madrid und weiter nach Deutschland zu fliegen, das ihm ja bereits von 2014 bis 2019 ein sicheres Rückzugsgebiet geboten hatte.

Dass der Ex-Offizier bei der Flucht aus Chile keinen offiziellen Grenzübergang passiert und somit keine Einreisebestätigung nach Argentinien erhalten hatte, wurde ihm dabei zum Verhängnis. Bei einer Kontrolle am Flughafen-Check-In Richtung Europa stoppten argentinische Migrationsbeamte Klug wegen fehlender Einreisedokumentation und wegen eines alten Interpolvermerks. Sie konnten ihn nicht verhaften, aber seitdem hatten argentinische Polizeieinheiten ihn auf dem Radar, konnten seine Unterkunft identifizieren und ihn beobachten.

In Chile schlugen die Menschenrechtsorganisationen rund um den Gedenkort des früheren Folterzentrums Londres38 Alarm. Sie informierten ab dem 8. Juni via Twitter über Klugs Flucht. Anwält*innen und Medienvertreter*innen schlossen sich an, es kam zu einer breiten Mobi-*lisierung über Social Media. „Da musste sich auch die chilenische Justiz bewegen“, erklärt die Rechtsanwältin der Nebenklage Patricia Parra. Am 9. Juni erwirkte die zuständige Richterin Paola Plaza einen internationalen Haftbefehl, der über Interpol verbreitet wurde.

Mit diesem wurde Klug am 12. Juni schließlich auch in Buenos Aires festgenommen und nach einer Verzögerung durch eine Infektion mit SARS-CoV-2 am 28. Juni nach Chile überstellt. Dort befindet er sich momentan in der Kaserne des Heeresregiments „Chacabuco“ nahe Concepción in Südchile. Er habe erneut den Status eines Untersuchungshäftlings im Verfahren um den verschwundenen Studenten Luis Cornejo und genieße als Ex-Offizier in der Kaserne privilegierte Haftbedingungen, erklärt Opferanwältin Parra sarkastisch. Da die schriftliche Begründung Italiens für den Auslieferungsbeschluss der chilensichen Justiz bisher nicht vorliege, könne die zehnjährige Strafe im Fall Endesa immer noch nicht gegen Klug vollstreckt werden, so Parra weiter. Dass er darum nochmals herumkommt, scheint dennoch ausgeschlossen.

Schon 2005 hatte die argentinische Polizei den flüchtigen Anführer der Colonia Dignidad, Paul Schäfer, festgenommen. Mit Klugs Verhaftung ist es nun wieder die argentinische Polizei, die für den chilenischen – und in gewisser Weise auch für den deutschen – Justiz- und Polizeiapparat die Kohlen aus dem Feuer holt.

Deutschland als sicheres Rückzugs-gebiet für Diktaturverbrecher

So drängt die Interamerikanische Menschenrechtskommission auch Chile zu stärkerem Einsatz gegen die Straflosigkeit und forderte es jüngst auf, in Fällen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit keinen Straferlass zu gewähren.

Von Deutschland fordert der UN-Ausschuss gegen das Verschwindenlassen die Einführung eines eigenen Straftatbestandes für das Ver-*schwindenlassen von Menschen. Laut einer 2010 in Kraft getretenen Konvention stellt die systematische Praxis des Verschwindenlassens ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar. „Deutsch-*land hat als Vertragspartei der Konvention die zentrale Verpflichtung, einen eigenen Straftatbestand einzuführen“, sagt Barbara Lochbihler. Die frühere Grünen-Europapolitikerin ist seit 2019 Mitglied im UN-Ausschuss.

Im Juni 2020 legte die Bundesregierung den UN einen Bericht über die Fortschritte auf diesem Gebiet vor. Demnach vertritt das Justizministerium allerdings die Auffassung, „dass die bestehenden deutschen Straftatbestände und sonstigen Gesetze ausreichen, um Fälle von Verschwindenlassen angemessen aufzuklären und zu ahnden“.

Barbara Lochbihler bezeichnet das als „das falsche rechtspolitische Signal“. Sie kritisiert, das würde die Glaubwürdigkeit Deutschlands beschädigen. Denn die deutsche Regierung sei „sich schon bewusst, da sie ja sehr aktiv ist in internationalen Menschenrechtsgremien, dass es wichtig ist, dass man eine Konvention auch umsetzt, wenn man sie ratifiziert. Das hat auch eine Vorbildwirkung für andere Staaten, von denen man ja auch fordert, dass sie sie ordentlich umsetzen.“

LUISA TOLEDO ODER: DIE WÜRDE VON CHILE

Der 6. Juli 2021 war ein trauriger Tag für die sozialen Bewegungen in Chile. An diesem Tag erlag Luisa Toledo, Mutter der während der zivil-militärischen Diktatur unter Augusto Pinochet ermordeten Brüder Vergara Toledo, mit 82 Jahren einem Krebsleiden. Im engen Kreis verabschiedete sich ihre Familie in ihrem Haus im Arbeiter*innenviertel Villa Francia in Santiago von der „Mutter der kämpferischen Jugend“: „Mit Stolz verabschieden wir diese unermüdliche, ewige, unverzichtbare Frau. Obwohl Luisa nicht mehr unter uns ist, hat ihr Vermächtnis eine tiefe Spur in der Geschichte derer hinterlassen, die kämpfen – auch über die Grenzen dieses Gebietes namens Chile hinaus“.

Es war der 29. März 1985, der das Leben der Familie Vergara Toledo für immer veränderte. An diesem Tag wurden der 18-jährige Rafael und der 20-jährige Eduardo Vergara Toledo, Mitglieder der Bewegung der revolutionären Linken (MIR), während eines Polizeieinsatzes in Villa Francia mit mehreren Schüssen in den Rücken ermordet. Erst im Jahr 2008 verurteilte ein Gericht die drei geständigen Polizisten zu mehrjährigen Haftstrafen, zwei von ihnen wurden jedoch vorzeitig auf Bewährung entlassen. Dem an den Brüdern Vergara Toledo verübten Verbrechen wird in Chile jedes Jahr mit einem Kampf- und Gedenktag, dem „Tag des jungen Kämpfers“ gedacht.

Am 5. November 1988 dann erschütterte ein weiterer Todesfall das Leben von Toledo: Gemeinsam mit dem 26-jährigen Araceli Romo wurde ihr jüngerer Sohn Pablo Vergara Toledo nach einer angeblichen Bombenexplosion in Temuco tot aufgefunden. Obwohl mittlerweile als sicher gilt, dass es sich dabei um eine Inszenierung des Geheimdienstes CNI zur Exekution der linken Aktivisten handelte, bleibt der Fall bislang straflos.

Geprägt von diesem großen Verlust wurden Luisa Toledo und ihr Mann Manuel Vergara zu Symbolfiguren des Kampfes für Gerechtigkeit. In ihrem Viertel, der emblematischen Villa Francia in Estación Central, widmete Toledo ihr Leben der Organisation des barrios und den Kämpfen für die Rechte der Armen. Ob es für Menschenrechte oder gegen die Repression der Polizei ging, Toledo war ständig an widerständigen Aktionen beteiligt, immer an vorderster Front, um zur Rebellion gegen die Ungerechtigkeiten des postdiktatorischen Chile zu ermutigen.

Während des jüngsten Aufstands im Oktober 2019, der auch die Risse in Chiles Geschichte offengelegt hat, tauchte die Figur von Luisa Toledo wieder als Beispiel für Würde und Kampf auf. Für viele war Luisa Quelle revolutionärer Kraft. Um mit ihren Worten zu schließen: „Für mich bedeutet die Revolte sehr viel, denn irgendwann begann ich mich zu fragen, ob es die vielen Opfer wert war, den vielen Tod, die vielen Verschwundenen, all die Menschen, die in der Zeit der Diktatur gelitten haben. Als ich mir diese Frage stellte, kam plötzlich der estallido social (etwa: „sozialer Knall“), laut wie ein überall widerhallender Schrei. Er erlaubte es, aufzuatmen, Hoffnung zu schöpfen und endlich meine Söhne in diesen Kämpfen wieder vertreten zu sehen. Von da an war ich mir wieder sicher, dass es all die Opfer wert ist, die erbracht werden, um diese Gesellschaft zu verändern“. ¡Luisa Toledo presente, ahora y siempre!

LÖWINNEN GEGEN WOLFSRUDEL

© Fabula

„Wie viele Frauen sind verschwunden, wie viele hat die Erde verschluckt?“ fragt Ana Tijoux im Titelsong zu La Jauría (Die Meute). In der Serie ist es die Jugendliche Blanca Ibarra, deren Verschwinden acht spannende Folgen füllt.

Alles beginnt mit Protesten an einer katholischen Privatschule, die sich mit Missbrauchsvorwürfen mehrerer Schüler*innen gegen einen Lehrer konfrontiert sieht. Ganz im Stil der zahlreichen feministischen Schul- und Universitätsbesetzungen im Jahr 2018 (siehe LN 528) blockieren die Schüler*innen die Eingänge und fordern Aufklärung. Als mit Blanca ihre Anführerin verschwindet, steht fest: Die Protestierenden werden nicht aufhören, bis der beschuldigte Lehrer entlassen und ihre Freundin zurück ist.

Nicht nur die Jugendlichen, auch die Kommissarinnen der chilenischen Ermittlungspolizei PDI, eindrucksvoll gespielt von Antonia Zegers, María Gracia Omegna und Daniela Vega (rechtes Bild), sehen sich im Fall Blanca Ibarra mit den immer gleichen Narrativen konfrontiert. Sie hätte es doch gewollt, durch ihr Auftreten provoziert, es gebe keine Beweise, sonst würde man den jungen Frauen natürlich sofort glauben, so verkünden es die Mitschüler aus der Rugbymannschaft, der Priester und Schulleiter und der Polizeichef. Auch dann noch, als ein Video auftaucht, auf dem Blanca von mehreren Männern vergewaltigt wird.

Statt eines großen gesellschaftlichen Aufschreis bräuchte man einfach eine Festnahme, so die hohen Tiere in den Behörden – allesamt Männer. Doch die Ermittlungen zeigen schon bald, dass Blanca kein Einzelfall ist. Tatsächlich entspinnt sich ein Netz von Verbrechen, die vom „Spiel des Wolfes“, einem männerbündischen digitalen Netzwerk mit Anführer, ausgehen. Die Suche nach dem Wolf und seinen Rudeln aus hasserfüllten Männern dringt nicht nur in das Privatleben und die Vergangenheit der Kommissarinnen ein, sondern bringt auch Blancas Schwester Celeste, stark verkörpert von Paula Luchsinger, in Gefahr.

Das Produzent*innenteam um die Brüder um Juan de Dios und Pablo Larraín hat für dieses besondere Projekt weite Teile der chilenischen Filmprominenz um sich versammelt. Die schon in Pablo Larraíns Ema (siehe LN 557) überzeugende Mariana di Girolamo ist ebenso dabei wie ihre Tante, die bekannte Fernsehschauspielerin und Theaterregisseurin Claudia di Girolamo. Daniela Vega aus Una mujer fantástica brilliert diesmal als geniale Kommissarin. Und auch Ana Tijoux tritt nicht nur als Sängerin der Titelmelodie auf. Umso erfreulicher also, dass die Serie, die zuerst auf Chiles staatlichem Fernsehsender TVN ausgestrahlt wurde, nun auch international zu sehen ist.

Dabei ist beeindruckend, wie viele hochaktuelle Dimensionen geschlechtsspezifischer Gewalt La Jauría auf die Bildschirme bringt. Es geht eben nicht um Gewalt an Frauen als „Liebesdrama“, wie es allzu oft dargestellt wird, sondern um jene Strukturen und Narrative, die sie immer wieder und in dieser Größenordnung möglich und meist straflos machen: Männerbünde, Incel-Culture und digitale Gewalt werden ebenso problematisiert wie der alltägliche Sexismus in Gesellschaft, Kirche und Polizei. Gerade in Chile, wo das Thema seit einigen Jahren mehr Aufmerksamkeit erhält (siehe LN 547, 555/556), ist dies eine wichtige Aussage.

Zwar wirkt die Kulisse von La Jauría mit dem Reichenviertel Las Condes in Santiago etwas austauschbar und macht die Gewalt in ärmeren Gesellschaftsschichten in vielen Szenen unsichtbar. Hier und da driftet die Serie in klassische Krimimuster ab und büßt dafür an Realitätsnähe ein. Doch spannend ist La Jauría trotzdem, dafür sorgt neben zahlreichen Twists auch ein packender Soundtrack.

Immer wieder wird deutlich, dass das Thema der weiblichen Selbstbestimmung die Gesellschaft spaltet. Da fragt die Mutter eines beschuldigten Schülers Kommissarin Fernández in der Vernehmung eiskalt und spöttisch: „Meinen Sie etwa, wir erleben jetzt hier einen Moment der Schwesternschaft?“. Die gibt es hingegen unter den Schüler*innen umso öfter. Es ist das yo sí te creo hermana, „Ich glaube dir, Schwester“ und die geteilten Erfahrungen, die sie aus der Wut immer wieder Kraft schöpfen lassen. Dass die Serie junge Frauen nicht nur als passive Opfer, sondern vor allem als mutige Löwinnen darstellt, ist besonders wichtig.

So hinterlässt die erste Staffel das Fazit, dass gegen eine misogyne Meute nur eines hilft: sich zuhören, Vertrauen schenken, verbünden, zusammen jede Art von Gewalt sichtbar machen und dagegen kämpfen. Auf die Rache an den Wölfen in den angekündigten Staffeln 2 und 3 lässt sich schon jetzt hoffen. Ob die so radikal wird, wie der Soundtrack es andeutet, bleibt abzuwarten: „Nein zur Kirche, nein zum Staat, dieser ganze komplizenhafte Apparat ist schuld. Über meinen Körper bestimme ich, deine Gesetze will ich nicht. Über meinen Körper bestimme ich!“

ZWISCHEN INDIVIDUELLER UND KOLLEKTIVER ERINNERUNG

San Felipe VI, 2005-2018 Konfrontation mit dem Großvater im Kunstwerk © Yoel Díaz Vázquez

Mit welchen Thematiken beschäftigt ihr euch in eurer künstlerischen Arbeit?
María Linares: In meinen Arbeiten beschäftige ich mich hauptsächlich mit Diskriminierung und Rassismus. Die Mittel, die ich verwende, sind verschieden. Ich arbeite gerne im oder mit dem öffentlichen Raum, mit der Öffentlichkeit. Oft arbeite ich auch mit Videos.
Daniela Lehmann Carrasco: Die Hauptthematik meiner Arbeit sind Symbolbilder des Kollektivgedächtnisses. Im Grunde archaische, ikonografische Bilder, die im kollektiven Gedächtnis eingebrannt sind und in Beziehung zu individuellen Erinnerungsbildern stehen. Ich als Autor schaue auf die Welt und entdecke die kollektive Bilderwelt und meine eigene Wahrnehmung.
Ana María Millán: Im Mittelpunkt meiner Arbeit stehen die Beziehungen zwischen Politik, Animation und Video in Bezug auf Propaganda, politische Propaganda, Gewalt und Gender.
Yoel Díaz Vázquez: Die Arbeit, die ich in dieser Ausstellung zeige, ist ein fotografisches Projekt, das ich mit meinem Großvater durchgeführt habe. Darin reflektiere ich die zentralen politischen Widersprüche zwischen verschiedenen Generationen von Kubanern bezüglich ihrer Wahrnehmungen der kubanischen Revolution. Ich wollte verschiedene Perspektiven aufzeigen, in diesem Fall die Generation meines Großvaters und meine als Künstler. Für dieses Projekt habe ich meinen Großvater gefragt, ob ich ihn vor der Kamera bei der Interaktion mit zwei Objekten unterschiedlicher Verwendung und unterschiedlicher Symboliken darstellen könne. Das eine ist ein Diplom, das er für seine damalige gute Arbeit als Gastronom erhielt. Er erhielt überhaupt viele Diplome im Laufe seines Lebens, man könnte sagen, er war ein echter Held der Arbeit. Das andere ist eine Saugglocke fürs Badezimmer, die ich absichtlich ausgewählt habe, um ihn ein wenig zu provozieren, um Gefühle der Introspektion, sogar der Ablehnung hervorzurufen.

 

RENOMBREMOS EL 12 DE OCTUBRE, 2019 Teilnahme im partizipativen Projekt, © María Linares

 

María, deine Arbeit RENOMBREMOS EL 12 DE OCTUBRE (2019), die du in Berlin zeigst, enthält eine Petition und eine Datenbank zur Umbenennung des „Tags der Rasse“. Wie verläuft dein Arbeitsprozess und was ist dafür zentral?
ML: Die Arbeit gehört zu meiner Promotion als Künstlerin, wo ich mich seit Längerem mit Rassismus und dem, was „Rasse“ heißt, auseinandergesetzt habe. Ich bin Kolumbianerin, ich bin dort aufgewachsen und habe dabei tausendmal den sogenannten „Tag der Rasse“ mitgefeiert. Heute sehe ich mich ein bisschen in einem Niemandsland bezüglich der Sprache und so ist es auch mit dem Dasein: Ich bin hier fremd und habe einen fremden Blick, genauso bin ich aber in Kolumbien fremd, wo ich seit 25 Jahren nicht mehr lebe. Ich glaube, wenn ich noch dort wäre, wäre mir das mit dem „Tag der Rasse“ nicht aufgefallen. Dieser Blick entsteht nur durch diese Kontextverschiebung, die dieses im Niemandsland-Sein ermöglicht. Der Vorteil des Künstlerseins ist, dass man Sachen sieht, die man nicht sieht, wenn man tief drin ist.

Der 12. Oktober hat unterschiedliche Namen in verschiedenen Ländern Lateinamerikas. Woher kam der Anstoß zur Umbenennung?
ML: Als man sich auf die Fünfhundertjahrfeier der „Entdeckung“ vorbereitete, sagte die mexikanische Kommission: wir sind die Kommission „del Encuentro de dos Mundos“ (Begegnung zweier Welten). In Mexiko heißt der Tag noch immer so. Aber auch das ist nicht gut gegangen, mittlerweile haben Minderheiten ihre Stimme erhoben. Ab den 90er Jahren fand ein Paradigmenwechsel statt, in dem Multikulturalität im Zentrum stand. In Argentinien heißt der Tag heute „Día de las Culturas“. Dort gibt es eine Soziologin, die sagt, es heißt jetzt zwar „Tag der Kulturen“, aber das ist nur eine Maske für dasselbe, ein Weißwaschen. Für jeden Namen, der umgesetzt wurde, gibt es eine Gegenkritik, die die Assimilation entlarvt.
In der Datenbank hat der „Abya Yala Tag“ die meisten Stimmen. Meine These ist, dass das wieder ein ganz anderes Paradigma aufweist, das auf globaler Ebene an Bedeutung gewinnt: Es ist nicht mehr der Mensch im Zentrum. Sprechen wir vom „Tag der Kulturen“, sprechen wir vom „Tag des indigenen Widerstands“, wie in Venezuela, dann sind immer noch Menschen im Zentrum des Diskurses. Abya Yala lässt den Menschen weg, es bezieht sich auf die Geografie, auf die Umgebung, auf die Natur. Da könntest du auch einen Fluss feiern.

 

Círculo, 2021 Verbindet kollektive und individuelle Erinnerungen, Videostill, © Daniela Lehman Carrasco

 

Daniela, in deine Videoarbeiten Le Glück Quantitativ (2010) und Círculo (2021) sind Dokumentarfilme eingeflossen, wie La Batalla de Chile von Patricio Guzmán. Was ist die Idee dahinter?
DLC: Guzmán hat ja alles dokumentiert, was in der Allende-Zeit passiert ist, es gibt aber nur wenig filmische Dokumente aus der Putschzeit. La Batalla de Chile ist eigentlich das einzige Zeugnis dieser Zeit, das ich kenne. Man hat ja wenig privat gefilmt früher und mir war es wichtig, die Gewalt und die Erinnerungen daran zu zeigen. Le Glück Quantitativ zeigt die sozialen Utopien der 60er Jahre – gerechte Verteilung für alle, damit bin ich groß geworden. Die neue Arbeit heißt Círculo, weil ich gesehen habe, dass sich viele Dinge wiederholen, sowohl von der Gewalt, die das Militär gegenüber den Studenten, oder Schülern vielmehr, aufgebracht hat, als aber auch diese ganze utopische Kraft der Menschen, die jetzt dazu geführt hat, dass sie eine neue Verfassung schreiben, was ich ja ganz großartig finde.

Du stellst ganz bewusst nicht nur die beiden Zeiten, sondern auch die beiden Länder in einen Dialog. Basiert das auf einer Außenperspektive oder ist das auch deine Geschichte?
DLC: Also, ich bin Deutsch-Chilenin. Meine Eltern sind nach Deutschland exiliert, wir waren da noch sehr klein und ich bin in Frankfurt aufgewachsen, aber meine deutschen Berliner Großeltern väterlicherseits sind wegen der Nazis nach Chile ausgewandert. Meine Oma ist Jüdin gewesen. Dieses Zurückbesinnen hat etwas damit zu tun, in welchem Kontext ich aufgewachsen bin, in der Frankfurter Soli-Bewegung für die chilenischen Gefangenen. Die chilenische Community, die linke, egal welcher Partei du angehörtest, war sehr eng, hat sehr viel gemeinsam unternommen, hat sich stark orientiert aneinander. Ich bin aber ein bisschen anders aufgewachsen als viele anderen Chilenen, weil ich auch diesen deutschen Part habe. Ich bin mit den „Deutschland im Herbst“-Sachen (deutscher Episodenfilm von 1978 über die RAF-Zeit, Anm. d. Red.) aufgewachsen. Wir waren auf Demos und Kundgebungen, deshalb habe ich das zusammengemischt. Es geht in dieser Arbeit um meine Kindheit und Jugendzeit, ich habe das Trauma darin gesucht.

 

Elevación, 2019 Politik und Animation, Video Still © Ana María Millan

 

Ana María, warum hast du einen kollaborativen Prozess als Grundlage für deine Animation Elevación (2019) gewählt? Wie gehst du bei deiner Arbeit vor?
AMM: Ich habe begonnen, die Themen politische Propaganda, Gewalt und Geschlecht aus dem Studio heraus zu bearbeiten. Ich habe mit Materialen in Bezug auf bestimmte politische Narrative experimentiert. Mit der Zeit habe ich eine partizipative Methodik gefunden: Ich führe Rollenspiele mit Leuten durch, wir lesen einen Text und die Leute kreieren Charaktere, um die historischen Situationen, die in diesem Text genannt werden, zu bewältigen. In diesem Fall geht es um die Frage, wie der Widerstand in Kolumbien entstanden ist. Durch den kollaborativen Prozess suchen wir gemeinsam nach Lösungen. Hier werden diese in Bilder übersetzt, in einem anderen Fall können es spezifische Richtlinien sein, es ist ein pädagogischer Prozess. Außerdem zeige ich dieses Werk gerne hier, weil Deutschland einer der Garanten des Friedensprozesses in Kolumbien ist. So ist es auch ein Hilferuf, dass das Friedensabkommen erfüllt wird.

Wie verhalten sich Realität und Fiktionalität in deiner Arbeit zueinander? Ist das Medium des Videos eine Möglichkeit, sich die Realität anzueignen? Deine Arbeit basiert außerdem auf einem Comic, wie ist die Verbindung?
AMM: Die Fiktion ist eine Möglichkeit durch fiktive Figuren in eine Erzählung und in die Realität einzutreten, um an einen unbewussten Vorgang zu appellieren, der von einem historischen Prozess spricht. Marquetalia. Raices de la Resistencia (Wurzeln des Widerstands) ist ein Comic, der sich auf die erste unabhängige Republik der Bauern in Kolumbien bezieht und zeigt, wie die Gewalt des Staates sie zerstörte. Der Comic ist ein beliebtes Werkzeug, denn er kann pädagogisch verstanden werden und uns zum Reden bringen, zum Aufwerfen von Fragen zum Friedensprozess. Die Gewalt des Staates hört bis heute nicht auf. Es ist, als würde sich die Geschichte immer wieder wiederholen. Kolumbien ist eines der wenigen Länder, das noch keine Agrarreform hatte und dafür gibt es einen großen Kampf. Denn das Problem ist nach wie vor die Abhängigkeit von dem Land, das vier kolumbianischen Familien gehört. Eine Landreform ist dringend notwendig. Kunst hat die Fähigkeit, das Problem anzuprangern, zu kommunizieren, zu verkünden, was dieser Comic tut.

Yoel, du zeigst deine fotografische Arbeit San Felipe (2005-2018). Setzt du dich in deinen Arbeiten mehr mit der Geschichte deiner Familie oder eher mit einer kollektiven Geschichte Kubas auseinander?
YDV: Es ist eine kollektive Geschichte. Ich komme aus einer einfachen Familie, mein Großvater war ein Arbeiter, der auf dem Bau arbeitete, sogar in den Zuckerrohrfeldern, und er folgte, wie viele seiner Generation, dem Líder Fidel. Das ist die große Geschichte Kubas: Fidel Castro war eine Persönlichkeit mit viel Charisma und gewann die Sympathie des kubanischen Volkes. Das Ziel der Revolution war in erster Linie die Errichtung der Demokratie in Kuba, die Wiederherstellung der Verfassung von 1940 und natürlich die Absetzung des Diktators Fulgencio Batista. Und was ist passiert? Mit all diesen Zielen gewann Castro die Sympathie des ganzen Volkes, der kubanischen Mittelschicht und sogar der amerikanischen Mittelschicht, die auch die kubanische Revolution mitfinanzierte.
Mein Großvater hat durch die Revolution keine Art von Verlust erlebt und er spürte, dass die Reden, die Fidel hielt, für ihn waren. Fidels Rede lösten in ihm viele Erwartungen für sein Leben und für das Leben seiner Familie aus. Mit anderen Worten: All der Wohlstand, den Fidel ihm versprochen hat, für Kuba, für das Volk im Allgemeinen, für seine Kinder, für seine Enkelkinder, ist etwas, das wir Enkel jetzt nicht mehr sehen. Und das ist die Enttäuschung, die ich mit diesem Objekt der Saugglocke hervorrufe. Ich konfrontiere meinen Großvater ein wenig mit einem symbolischen politischen Dialog, denn ein normaler Dialog ist unmöglich.

Wie ist es für dich, ein Werk hier in Deutschland auszustellen, das so viel kubanische Geschichte und so viel gesellschaftlichen Kontext enthält? Wie sind die Reaktionen?
YDV: Hier war es schon immer sehr einfach, politische Arbeiten auszustellen. Alle Künstler, die dem Aktivismus nahestehen, haben in Deutschland eine ideale Plattform, um ihre Kunst zu zeigen. Ich habe hier immer ein offenes Publikum vorgefunden, vor allem wegen der Geschichte, die uns verbindet, nämlich die Geschichte der DDR. Das heißt, ein Teil der Deutschen hat diese Erfahrung, die ich in vielen meiner Arbeiten in Bezug auf Kuba erzähle, schon gemacht.
Es ist eine Frage, die ich mir immer gestellt habe: Wann werden wir in unseren nicht-westlichen Ländern das Vergnügen haben, ohne Angst vor Unterdrückung aufzutreten, unsere Ideen, unsere Kunst auszustellen, ohne Angst, verurteilt und eingesperrt zu werden.

// DIE WEICHEN SIND GESTELLT

„Die Geschichte gehört uns, es sind die Menschen, die sie machen.“ Diese Worte sprach Salvador Allende in seiner berühmten letzten Rede am 11. September 1973, nur wenige Stunden vor seinem Tod. Auch mit Gewalt und Verbrechen könne man die gesellschaftlichen Prozesse nicht aufhalten. Heute, 48 Jahre später, geben ihm die Ereignisse in Chile recht: Mit der Wahl des Verfassungskonvents sind die Weichen für tiefgreifende strukturelle Veränderungen gestellt; die neoliberale Ära, die mit dem Militärputsch Pinochets 1973 begann, scheint vorbei zu sein. Die Menschen schreiben die Geschichte ihres Landes neu.

Karina Nohales, Sprecherin der feministischen Coordinadora 8M, sagte bei einer Veranstaltung, diese Wahl sei die bedeutendste seit Allendes Wahlsieg 1970. Allende wurde damals mit nur knapp 37 Prozent der Stimmen Präsident, für das Militär drei Jahre später eine willkommene Rechtfertigung, gegen seine Regierung zu putschen. Bei dem Plebiszit im vergangenen Jahr haben dagegen fast 80 Prozent der Wähler*innen für eine neue Verfassung gestimmt. Bei der Wahl der 155 Mitglieder des Verfassungskonvents entschieden sich nun mehr als zwei Drittel für Kandidat*innen links der Mitte, unter ihnen viele junge Menschen aus den sozialen Bewegungen. Zwar stimmten die Chilen*innen 1970 für ein sozialistisches Programm und heute gegen eine neoliberale Verfassung. Aber die Ausgangsbedingungen für einen nachhaltigen Erfolg progressiver Ideen sind heute deutlich besser.

Selbst der kleinste gemeinsame Nenner unter den linken gewählten Delegierten läuft auf ein Ende des seit Pinochet herrschenden neoliberalen Systems hinaus. Es gibt klare Mehrheiten für mehr staatliche Daseinsvorsorge und Bürgerrechte, dazu zählt etwa die von den sozialen Bewegungen seit langem geforderte Entprivatisierung der Renten, der Bildung und des Gesundheitssystems. Auch das Recht auf legale Abtreibung, die Vergesellschaftung der privatisierten Wasserrechte und mehr LGBTIQ*-Rechte erreichen im Konvent voraussichtlich die für Beschlüsse notwendige Zweidrittelmehrheit. Für die indigene Bevölkerung könnten erstmals substanzielle Rechte, wie politische und territoriale Autonomie, festgeschrieben werden. Dass die Hälfte des Konvents aus Frauen besteht, ist für sich genommen schon ein historischer Erfolg.

Es ist ein Moment der großen Chancen, um eine gerechtere Gesellschaft in Chile zu gestalten. Bis eine neue Verfassung formuliert und in Kraft gesetzt ist und konkrete Politik und Gesetze formuliert worden sind, ist es aber noch ein langer Weg. Allein mit einer neuen Verfassung ist es nicht getan, die Bevölkerung und die sozialen Bewegungen werden auch in den kommenden Monaten und Jahren weiter um ihre Forderungen kämpfen müssen. Für einen andauernden Erfolg wird es auch darauf ankommen, ihnen einen festen Platz im politischen System zu geben. Eine Änderung des Wahlrechts in der neuen Verfassung, so dass Parteilose in Zukunft auch bei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen reale Erfolgschancen hätten, wäre ein erster Schritt in diese Richtung.

Auf der anderen Seite wird die chilenische Rechte mit allen Mitteln versuchen, einen links-progressiven Umbau des Landes zu verhindern. Doch die Voraussetzungen für ein politisches Projekt für mehr soziale Gerechtigkeit sind so gut wie noch nie in der jüngeren Geschichte. 1973 wie heute gilt in Chile: ¡El pueblo unido, jamás será vencido!

“SICH NICHT ZUM SCHWEIGEN BRINGEN LASSEN”

“La Negra” wurde ermordet! Wahrheit und Gerechtigkeit für Macarena Valdés

Illustration: Coordinadora de Justicia para Macarena Valdés, @justiciaparamacarenavaldes


Wie kam es dazu, dass du in feministischen Kontexten im Allgemeinen und speziell in der Koordinationsgruppe „Gerechtigkeit für Maca-*rena Valdés“ arbeitest?

So wie viele andere Frauen habe ich zuerst im Haus von Rubén, dem Partner von Macarena Valdés, geholfen. Das war ungefähr vor vier Jahren. Mit der Zeit wurde ich Teil der Gruppe, die Arbeiten im Haus und die Betreuung der Kinder übernimmt. Auch das war für mich schon Teil des Kampfes für die Gerechtigkeit für Maracena, seitdem gehöre ich zur Koordinationsgruppe.

Welche Bedeutung hatte diese gegenseitige Unterstützung in einer schwierigen Zeit?
Wir in der Gemeinde sind glücklich, dass Macarenas Familie so viel Unterstützung bekommen hat. Die größte Sorge in der Gemeinde war, dass Rubén und die Kinder allein dastehen würden. Ich persönlich glaube, dass die Kinder am wichtigsten sind, Macarenas Söhne. Mit der Zeit habe ich eine Art Mutterrolle für sie eingenommen, sie aufgezogen und mich um sie gekümmert. Es fühlt sich so an, als wären sie meine Kinder. Ich bin Teil ihres Kampfes geworden, aber auch Teil ihres Schmerzes. Ich habe ihnen dabei geholfen, nach und nach zu heilen. Ich denke, das war das Wichtigste nach Macarenas Tod: ihren Kindern bei der Heilung zu helfen. Auch in der Gemeinde waren viele sehr verletzt nach Macarenas Tod.

Woran arbeitet eure Gruppe aktuell?
Die Koordinationsgruppe versucht, dem Fall mehr Aufmerksamkeit zu geben. Dieses Jahr haben wir zum vierten Todestag von Macarena viele virtuelle Aktionen gestartet. Generell verbreiten wir das ganze Jahr über Illustrationen und die Arbeiten unserer Unterstützer*innen.

Hat die Pandemie eure Arbeit verändert?
Kaum. Aber die Krise hat uns dahingehend getroffen, dass wir uns nicht mehr ins Gesicht schauen können. Eine virtuelle Unterhaltung ist nicht das Gleiche, es fehlt die Wärme. Und das, was wir sagen, fühlt sich durch so einen digitalen Apparat manchmal sehr kalt an.

Was bedeutet der Tod von Macarena Valdés im Zusammenhang mit der Gewalt gegen Frauen in der Region?
Für uns in der Gemeinde ist es sehr deutlich, dass ihr Tod eine Warnung war. Die Warnung, dass uns das gleiche passieren kann, wenn wir weiterhin unsere Stimme erheben. Sie wollten Angst stiften, haben aber nicht gemerkt, dass Macarena bereits einen Samen des Widerstands in jeder Frau gesät hatte. Auch wenn sie sie getötet haben, so erblüht er jetzt in jeder von uns. Für Macarenas Familie und ihre Freundinnen war es ein großes Leid, aber aus der Wut heraus konnten sie Kräfte sammeln, um für sie zu kämpfen. Für sie und gegen die Straflosigkeit.

Das heißt, Macarenas Tod hat euch Frauen keine Angst gemacht?
Nein, im Gegenteil! Die Frauen in der Gemeinde sammelten daraus noch mehr Kraft, um zu demonstrieren und für ihre Rechte einzustehen. Sie wollen sich angesichts all dieser Ungerechtigkeiten nicht zum Schweigen bringen lassen.

Macarena war Frau, Mapuche und Umweltaktivistin. Wie ist das miteinander verbunden?
Bei den Mapuche ist die Frau diejenige, die am stärksten mit der Erde verbunden ist. Deswegen verstehe ich sehr gut, dass Macarena ihre natürliche Umgebung und den Fluss als gleichwertiges Wesen verteidigen wollte. Sie war Mapuche, aber eben auch Frau und Mutter. Deswegen hat sie für eine bessere Zukunft für ihre Kinder und Enkel gekämpft. Zu ihrer Vorstellung von dieser Zukunft gehörten keine Wasserkraftwerke. Macarena wollte nicht, dass die Erde als ökonomisches Gut ausgebeutet wird.

Welche Formen von Gewalt erleben Frauen in deiner Umgebung?
Die Mapuche erleben von Kindesbeinen an Gewalt: Rassismus, Diskriminierung, die Vertreibung vom eigenen Land, die Polizeigewalt. Der chilenische Staat deckt all das. Und das erleben Frauen, Kinder und Männer – alle gleich.

Wie wehrt ihr euch gegen diese Gewalt?
Wir Frauen kümmern uns gegenseitig um uns und unterstützen Frauen, die Gewalt erfahren haben. Gleichzeitig versuchen wir, Selbstverteidigungskurse zu organisieren. Wenn es nötig ist, habe ich zumindest irgendeine Art von Waffe dabei, um mich zu verteidigen. Ich laufe immer mit einem Messer herum, es ist mein Schutz. Ich musste es aber noch nie benutzen.

Welche Art von Selbstverteidigung lernt ihr?
Wir haben ein paar Mal zusammen mit anderen Frauen die Mapuche-Kampfsportart kollellaullin geübt. Auch Macarenas Söhne trainieren darin.

Gibt es in der Gemeinde eigene Wege, um mit Fällen von Gewalt gegen Frauen umzugehen?
Als Macarena noch lebte, fanden in ihrem Haus Kurse für Menschen aus der Gemeinde statt, die die Schule nicht abgeschlossen hatten. Viele brauchten den Abschluss jedoch für die Arbeit, um den Führerschein zu machen oder für andere Angelegenheiten. Wenn Macarena in diesem Zusammenhang davon mitbekam, dass manche Männer ihren Frauen und der Beziehung nicht die angemessene Bedeutung zukommen ließen, gingen sie das Thema aus der Perspektive der Kosmovision der Mapuche an. Dabei waren sie immer darum bemüht, die Identität und Integrität der Frau zu bewahren.

Was kritisiert ihr an der juristischen Aufarbeitung des Falles von Macarena Valdés?
Bis jetzt hat die chilenische Justiz nichts, aber auch gar nichts unternommen. Sie hat nicht einmal ein Blatt Papier bewegt. Im Gegenteil: Sie wollten die Untersuchungen abschließen, schon drei Mal sind die Berichte der Autopsie verloren gegangen. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, uns zu widersprechen, obwohl internationale Gutachten zeigen, dass Macarena umgebracht wurde.

Was fordert oder erwartet ihr von den chilenischen Gerichten und der Polizei?
Wir fordern, dass es Gerechtigkeit gibt und dass die Mörder von Macarena gefunden und für ihr brutales Verbrechen bestraft werden. Und natürlich hoffen wir, dass unser Kampf dazu führt, dass sich so etwas nicht wiederholt. Eigentlich fordern wir ja nur, dass der chilenische Staat und seine juristischen Institutionen ihre Arbeit machen – schließlich werden sie dafür bezahlt.

„DAS REFERENDUM HAT EIN UMDENKEN BEWIRKT“

Rosario Olivares ist Feministin, Dozentin für Philosophie an der Universität von Santiago de Chile und Teil des Netzwerks feministischer Lehrer*innen (Red Docentes Feministas). Sie ist eine der Sprecherinnen der feministischer Bewegung und Mitglied in der Feministischen Plurinationalen Versammlung (Asamblea Feminista Plurinacional) (Foto: Privat)


Herzlichen Glückwunsch zum Ergebnis des Referendums! Wie fühlt sich das an?
Für uns, die wir uns nun lange Zeit für das Referendum eingesetzt haben, ist es in erster Linie eine große Freude. Schon seit Jahrzehnten gab es die Idee einer Verfassungsänderung, aber bislang nie die Bedingungen, um sie durchzusetzen. Die sozialen Proteste seit dem 18. Oktober 2019 waren aber so stark, dass es nun gelungen ist, einen tiefgreifenden Diskussionsprozess loszutreten. Unsere derzeitige Verfassung beraubt uns unserer sozialen Rechte, aber nun reden wir endlich nicht mehr von kleinen Modifizierungen, sondern von tiefgreifenden Veränderungen. Diese neue Art, Politik zu machen, war vor einem Jahr noch undenkbar. Ich bin daher mit dem Abstimmungsergebnis sehr zufrieden, das war eine historische Zustimmung. Nicht nur weil wir „Ja“ zu einer neuen Verfassung gesagt haben, sondern auch weil etwa 80 Prozent für einen verfassungsgebenden Konvent gestimmt haben, der einzigartig sein wird: Je 50 Prozent der Mitglieder werden Männer und Frauen sein und alle werden demokratisch gewählt – die andere Option war, dass das Parlament die Hälfte ernennt.

Was erwarten Sie sich von einer neuen Verfassung für die chilenische Gesellschaft?
Eine neue Verfassung wird natürlich nicht auf einen Schlag das Leben der Menschen verändern. Aber im Moment haben wir eine illegitime Verfassung, die nicht demokratisch zustande kam, sondern von einer Diktatur mit brachialer Gewalt verabschiedet wurde. Letztendlich diente das zur Durchsetzung des Neoliberalismus, der die gesamte Gesellschaft durchdrungen und uns unsere Rechte geraubt hat, zum Beispiel das Recht auf Gesundheit und auf Bildung. Die Achtung dieser Rechte mag andernorts der Normalzustand sein, in Chile existieren diese Rechte jedoch nicht. Es wäre also ein wichtiger Fortschritt, wenn die Verfassung diese Dinge festschreiben könnte. Wir haben aber weitere Forderungen, beispielsweise soll Chile ein plurinationaler Staat werden, denn die Nation besteht nicht nur aus Chilenen und Chileninnen.

Welche Ziele hat die Feministische Plurinationale Versammlung im Hinblick auf eine neue Verfassung?
Wir wollen, dass Chile ein plurinationaler Staat wird, in dem ein Leben ohne Gewalt gegen cis und trans Frauen möglich wird. In Chile ist es bisher sehr schwer gewesen, sexuelle und reproduktive Rechte voranzubringen. Unser Abtreibungsrecht erlaubt einen Schwangerschaftsabbruch gegenwärtig nur bei Lebensgefahr für die Mutter, Nicht-Überlebensfähigkeit des Fötus oder nach einer Vergewaltigung. Zu diesem beschränkten Abtreibungsrecht kommen weitere Beschränkungen durch Krankenhäuser. Es gibt keine Gesetze, die Frauen umfassend vor Gewalt schützen, sondern nur ein unzureichendes Gesetz gegen Femizide, das eine Einzelfallbetrachtung vorsieht. Wir kämpfen gerade für ein umfassendes Gesetz zur Sexualerziehung. Es gab in letzter Zeit viele lesbophobe und transphobe Morde und „Korrekturvergewaltigungen“. Wir brauchen einen Staat, der das Leben von Frauen und sexuellen Minderheiten schützt. Und dafür brauchen wir die Anerkennung von reproduktiver Arbeit, das Recht auf Wohnen, das Recht auf Gesundheit, das Recht auf Bildung. Es ist unglaublich, dass wir diese Rechte in Chile nicht haben und deshalb kämpfen wir nun auf diesem Wege dafür.

Wie ist die Zusammenarbeit der feministischen Bewegung mit anderen Bewegungen, die sich für eine neue Verfassung einsetzen?
In Chile und anderswo sprechen wir von Feminismen: Es gibt verschiedenste feministische Ausprägungen, in Kämpfen für Umweltschutz und gegen Extraktivismus, im Kampf der indigenen Frauen, im Bildungsbereich etc. Wir verstehen den Feminismus als umfassenden Kampf, da er das Leben aller betrifft. Früher gab es im Rahmen von Gender-Politik kleine Fortschritte in manchen Bereichen, aber keine strukturellen Reformen. Wir als Feministinnen denken, dass wir im Kampf um eine neue Verfassung eine zentrale Rolle gespielt haben. Die Demo am 8. März war nicht nur eine der größten Demonstrationen in der Geschichte Chiles, sie war auch kreativ. Sie hat die Machtstrukturen herausgefordert, sie hatte durch Performances einen großen Bildungscharakter und hat klar gemacht, um was es uns geht. Heute ist die Stimme der feministischen Bewegung in allen gesellschaftlichen Bereichen stark.

Welche sind aus Sicht der sozialen Bewegungen, wie der Feministischen Plurinationale Ver-sammlung, die nächsten Schritte im verfas-sungsgebenden Prozess?
Schon weit vor dem Referendum haben sich auf Stadtteilebene Nachbarschaftsversammlungen, sogenannte Cabildos, gegründet, die diskutierten, wie ein neues Chile aussehen könnte. Aus unserer Sicht ist es wichtig, diese strategischen Diskussionen weiterzuführen in den Stadtteilen, an den Schulen, in den Universitäten. Nur so werden jene in die verfassungsgebende Versammlung gewählte Vertreter*innen, die an der Seite der Menschen stehen, nicht nur sich selbst, sondern die gesamte Bewegung repräsentieren können. Die Bildungsarbeit ist sehr wichtig. Ich bin zum Beispiel Teil einer Organisation feministischer Lehrender. Es gibt kaum bürgerschaftliche Bildung in Chile. Die Menschen müssen lernen, wie in den Institutionen des Staates diskutiert wird, welche Konzepte von Staat es gibt, was Demokratie bedeutet, wie ein plurinationaler Staat aussehen kann. Wir müssen uns auch die verschiedenen verfassungsgebenden Prozesse und Erfahrungen in Lateinamerika anschauen. Es gibt große Aufgaben im Bereich der Pädagogik, gleichzeitig muss weiter auf die Straße gegangen und demonstriert werden, sonst wird es nicht die Verfassung werden, die wir wollen. Und es gibt verschiedene ausstehende Initiativen im Parlament, die mit Unterstützung der sozialen Bewegung weitergeführt werden müssen. Zum Beispiel müssen Sitze für indigene Vertreter*innen in der verfassungsgebenden Versammlung festgeschrieben werden oder auch für Menschen mit Behinderungen. Es wird auch gerade diskutiert, wie Lesben, Schwule, trans Personen angemessen repräsentiert werden können. Ich denke, das ist der Weg, um den Traum von einem anderen Land zu verwirklichen.

Wo sehen Sie dabei Herausforderungen für die sozialen Bewegungen?
Das politische System ist heute auf die Parteienlandschaft ausgerichtet. Es fällt uns schwer, Kandidat*innenlisten für den Verfassungskonvent aufzustellen, die unseren Kampf auch widerspiegeln, damit nicht letztlich die selben Parteifunktionär*innen wie immer die Sitze ausfüllen. Der Verfassungsprozess bietet uns keine Sicherheiten, aber wir wollen versuchen, massiv Einfluss zu nehmen, damit er demokratisch wird. Dann gibt es hunderte politische Gefangene, die seit einem Jahr ohne Verfahren inhaftiert sind. Es besteht die Sorge, dass der Prozess uns zu politischer Gefangenschaft und, wie damals nach der Diktatur, zu Straflosigkeit führt. Wir brauchen Wahrheit und Gerechtigkeit in Hinblick auf die Menschenrechtsverletzungen.

Sie sind Universitätsdozentin. Haben Ihre Studierenden andere Erwartungen als Sie?
Ich denke, dass diese neue Generation einen riesigen Beitrag geleistet hat. Wir, die wir während der Diktatur geboren wurden und mit Ängsten groß geworden sind, hatten im Hinblick auf die Organisierung nicht dieselbe Kraft wie diese jungen Menschen. Ich bin beispielsweise erst im Alter von über 30 zum ersten Mal wählen gegangen. Nicht weil ich unpolitisch war, sondern weil ich keine Hoffnung hatte, dass das irgendetwas ändern würde. Und am Wahlsonntag gingen so viele junge Leute wählen, das passiert normalerweise nicht, normalerweise gehen die Älteren wählen. Chile wurde von den Ereignissen der Pinochet-Diktatur stark geprägt und von der Art wie der unter Salvador Allende begonnene demokratische Prozess zerstört wurde. Viele von uns haben diese Ereignisse und die Gefahr, dass sich so etwas wiederholen könnte, ständig im Kopf. Aber die jungen Menschen haben dazu eine gewisse Distanz aufgebaut, sie organisieren sich und gehen auf die Straße und das trotz der Pandemie.

Es gab einen sehr schönen Prozess der Selbstermächtigung. Am Tag nach dem Referendum traf ich in meinem Kurs an der Universität eine Studentin aus La Pintana. Dies ist eines der ärmsten Stadtviertel, das staatlicherseits viel Gewalt ausgesetzt ist und wo es viel Drogenhandel gibt. Und es waren diese Viertel der Peripherie, in denen die Wahlbeteiligung bei diesem Referendum gestiegen ist. Das gleiche geschah in Gemeinden, die großer Umweltverschmutzung ausgesetzt sind, die wir in Chile Opferzonen nennen. Dort fand die Option einer neuen Verfassung die größte Zustimmung. Die Kämpfe dieser Leute spiegelten sich in ihrem Wahlverhalten wider. Und meine Studentin sagte mir am Tag nach dem Referendum: ‚Jetzt haben wir gezeigt, dass wir Armen nicht dumm sind.‘ Wir haben uns informiert, uns ausgetauscht und dann unsere Stimme abgegeben. Früher war es in Chile so, dass die Wahlbeteiligung in der Oberschicht groß war und unter den Armen gering. Denn die Armen glaubten nicht, dass ihre Stimme Veränderungen bewirken könnten. Da hat das Referendum also ein Umdenken bewirkt, und das verdanken wir aus meiner Sicht der kollektiven Organisierung, den Cabildos, einer Repolitisierung durch politische Diskussionen in den Stadtvierteln. Die Tatsache, dass die Wahlbeteiligung an den prekarisiertesten Orten Chiles am höchsten war, ist gerade für mich als Lehrende ein riesiger Erfolg. Und die meisten dieser Menschen stimmten für eine neue Verfassung, in manchen Gemeinden bis zu 89 Prozent.

DIE ZERSTÖRUNG EINES POLTISCHEN PROJEKTS

Politische Veteran*innen der Allende-Zeit Die Lebensgeschichten von Annie Leal, Joel Asenjo und Ida Sepúlveda (von oben nach unten) bieten einen Schlüssel zum Verständnis der jüngeren chilenischen Geschichte (Fotos: Daniel Stahl)

Als im November 2019 die Proteste in Chile ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten, waren es in Valdivia in der südchilenischen Región de Los Ríos wie überall im Land die jungen Menschen, die das Geschehen dominierten. Das Stadtzentrum war voller Schüler*innen und Student*innen, die ihre Forderungen nach politischem Wandel mit Straßenblockaden bekräftigten.

Doch jeden Freitag um Punkt zwölf Uhr, kaum zu bemerken im Tosen des jugendlichen Protests, fand sich am Rande der zentralen Plaza in solidarischer Absicht ein Grüppchen in die Jahre gekommener Demonstrant*innen ein. Sie alle hatten jener heterogenen Bewegung angehört, die Allende vor 50 Jahren an die Macht gebracht hatte. Dass die Themen, mit denen ihre Laufbahn als politische Aktivist*innen begonnen hatte – die Forderung nach Verstaatlichung und die Kritik an Großkonzernen – irgendwann noch einmal einen signifikanten Teil der Gesellschaft mobilisieren würden, hatten sie kaum noch zu hoffen gewagt. Die Lebensgeschichten dieser politischen Veteran*innen der Allende-Zeit bieten einen Schlüssel zum Verständnis der jüngsten chilenischen Geschichte.

Annie Leal war schon früh dabei. Sie wurde 1935 in eine politisch aktive Familie hineingeboren. Die Eltern waren Mitglieder der verbotenen kommunistischen Partei und gehörten wie so viele Kommunist*innen und Sozialist*innen der evangelischen Minderheit an. Im alltäglichen Leben verschränkten sich politisches Engagement, patriarchalische Rollenbilder und protestantische Askese: „Der Vater musste als Sozialist ein guter Versorger und Hausherr sein. Deshalb rauchte und trank er nicht“, erzählt Leal.

Diese Haltung übernahm auch die Tochter. Mit 15 Jahren trat sie der ebenfalls verbotenen kommunistischen Jugendorganisation bei. Fortan wurde von ihr erwartet, ein unbescholtenes Leben zu führen und selbst in Partnerschaftsfragen die Partei zu konsultieren. Ausschlaggebend für ihre Entscheidung, politisch aktiv zu werden, war die Armut, die sie um sich herum beobachtete.

Zu den wichtigsten Aktivitäten der Jugendorganisation gehörte es während der 50er und 60er Jahre, in den umliegenden Ortschaften mit der Landbevölkerung über gesellschaftspolitische Themen zu sprechen, Alphabetisierungskurse anzubieten und sie mit den kommunistischen Ideen vertraut zu machen. Annie Leal verstand ihr Engagement immer als verbindlich, als Anfang der 60er Jahre ihre Tochter geboren wurde, bat sie die Partei förmlich um Beurlaubung.

Ida Sepúlveda gründete als 15-Jährige eine eigene Schule

Auch Joel Asenjo begann seine politische Arbeit schon als 15-Jähriger. Ende der 60er Jahre trat er wie sein Vater der sozialistischen Partei bei. Asenjos Familie lebte in bescheidenen, aber keineswegs prekären Verhältnissen. Mittags pflegte er seinem Vater, der als Schreiner arbeitete, das Essen auf die Arbeit zu bringen. „Einmal fragte ich ihn: ‚Wann kommt der Tag, an dem du zu Hause zu Mittag essen wirst?‘ Und er antwortete: ‚Wenn Allende Präsident ist‘“, erinnert sich Asenjo.

Asenjo hatte große Freude an der theoretischen Auseinandersetzung mit den großen sozialen Fragen. Die Schriften Che Guevaras, Pamphlete über die Verstaatlichung des Bergbaus und die Geschichte der chilenischen Arbeiterbewegung – das war die Literatur, die ihn begeisterte. Schnell stieg er in Führungspositionen auf. Anfang der 70er Jahre wurde er Studierendenführer und Vorsitzender der sozialistischen Jugend.

Das universitäre Umfeld, in dem Asenjo aktiv war, hatte kaum etwas mit der Lebenswelt Ida Sepúlvedas gemeinsam. Ihr Vater und Großvater arbeiteten im Osten von Valdivia für Großgrundbesitzer, die in den Anden Forstunternehmen betrieben. Beide waren in der Gewerkschaft. Sepúlveda war schon als Kind davon beeindruckt, wie die Landarbeiter*innen trotz fehlender Bildung ihre soziale Lage reflektierten und Forderungen artikulierten. Ende der 60er Jahre entschied sie sich, eine Schule in ihrem Ort aufzubauen. Zu diesem Zeitpunkt war sie gerade einmal 15 Jahre alt.

Zwei Jahre später heiratete sie den sieben Jahre älteren Forstarbeiter Rudemir Saavedra. „Für mich war er der Genosse Saavedra. Er nannte mich nicht seine Frau, sondern Genossin Ida.“ Das klingt aus Sepúlvedas Mund zwar zärtlich, war aber vor allem Ausdruck dessen, dass beide ihre Ehe als ein Bündnis im Kampf für soziale Gerechtigkeit verstanden: „Ich glaube, das war uns wichtiger als unsere Beziehung und gemeinsame Kinder.“ Saavedra trat bald darauf der MIR, Bewegung der Revolutionären Linken, bei.

Ermutigt durch den Wahlsieg Allendes im Oktober 1970 begann das Ehepaar zusammen mit anderen Forstarbeiter*innen die von der Regierung angekündigte Verstaatlichung der in Großgrundbesitz befindlichen Ländereien selbst in die Hand zu nehmen: Sie besetzten die Zentralen privater Forstunternehmen und hissten dort unter dem Absingen der National-Hymne die chilenische Fahne. „Dabei stießen wir auf gar keinen Widerstand“, wundert sich Sepúlveda noch heute. „Darauf wären wir kaum vorbereitet gewesen.“

Die Militärs hatten eine ganze Generation politischer Aktivist*innen gebrochen

Die wahr gewordene Utopie einer sich selbst ermächtigenden Landbevölkerung währte jedoch nur kurz. Am 11. September 1973 putschte das Militär gegen Allende. Drei Tage später wurde „Genosse Saavedra“ verhaftet, drei Wochen später war er tot. Soldaten durchsuchten die Hütte der jungen Familie. Einer von ihnen flüsterte der schwangeren Mutter zweier Kleinkinder zu, dass er an ihrer Stelle verschwinden würde – und das tat sie. In Valdivia lebte sie mehrere Jahre im Untergrund und hielt ihre kleine, schwer mitgenommene Familie mit Putzarbeiten über Wasser.

Auch für Annie Leal und Joel Asenjo beendete der Putsch eine Entwicklung, die sie für unumkehrbar gehalten hatten. Asenjo wurde noch im selben Jahr verhaftet, gefoltert und als zerschlagenes Bündel vor der Haustür seiner Eltern liegen gelassen, nur um bald darauf erneut verhaftet und gefoltert zu werden.

Dennoch nahm er nach der endgültigen Freilassung 1975 seine politische Arbeit wieder auf und ging in den Untergrund. Anders als vor dem Putsch, als eine gerechtere Gesellschaft in unmittelbarer Reichweite schien, waren die Ziele jedoch bescheiden: „Wir mussten überhaupt erst wieder eine Organisationsstruktur schaffen. Und wir sammelten Informationen über Menschenrechtsverletzungen.“

Ähnliches versuchten die Kommunist*innen. Annie Leal setzte ihr Engagement nach dem Putsch im Untergrund fort. Versammlungen und Alphabetisierungskurse kamen nicht mehr infrage. Man traf sich in kleinen Gruppen von maximal fünf Personen. Im Wesentlichen ging es dabei um Informationsaustausch. Wer lebte noch, wer war verhaftet worden, welche Verbrechen beging das Regime? Einige Mitglieder des Untergrunds kamen durch ihre Kontakte zu Soldaten an wertvolle Informationen über bevorstehende Militäraktionen und Repressionsmaßnahmen und konnten Mitstreiter*innen warnen. Nicht so im Fall von Leal. Ihre Widerstandszelle wurde 1986 verraten. Weil sich unter den zwölf Verhafteten mit Beatriz Brinkmann auch eine deutsche Staatsbürgerin befand, entging die Gruppe dank Aktionen der europäischen Chile-Solidarität dem sicheren Tod. Die Militärs hatten bereits die Ermordung in Form einer inszenierten Schießerei geplant.
Während Annie Leal noch im Gefängnis saß, rang eine erstarkende Opposition Pinochet 1988 ein Referendum über die Frage ab, ob dieser weiter regieren solle. Eine Mehrheit stimmte dagegen, es fanden freie Wahlen statt, die der oppositionelle Christdemokrat Patricio Aylwin gewann. Von Beginn an Gegner des sozialistischen Projekts Allendes, hielt Aylwin nach der Rückkehr zur Demokratie am neoliberalen Wirtschaftsmodell aus Diktaturzeiten fest.

Annie Leal, Joel Asenjo und Ida Sepúlveda – sie alle setzten ihr politisches Engagement auch nach der Diktatur fort. Um jedoch den Kampf für soziale Reformen oder eine Revolution wiederaufzunehmen und für eine Abkehr vom neoliberalen Wirtschaftsmodell zu streiten, fehlten ihnen die Netzwerke und die Kraft. Asenjo versuchte zwar, in der Partei wieder Fuß zu fassen. Doch dort hatten aus Europa zurückgekehrte „sozialdemokratisierte“ Exilierte das Sagen. Sie wollten nicht mehr an die Politik der 70er Jahre anknüpfen.

Typischer für die Überlebenden des Staatsterrors war der Weg, den Leal und Sepúlveda nach 1990 einschlugen. Sie konzentrierten sich darauf, den entstandenen Schaden zu begrenzen, indem sie für die strafrechtliche Verfolgung der Militärs, für Wiedergutmachungszahlungen und die kostenlose psychische und medizinische Betreuung von Folteropfern kämpften.

Dass ein Anknüpfen an das Projekt der Ära Allende in den Jahrzehnten nach 1990 so verhalten blieb, hatte viel damit zu tun, dass nach dem Kalten Krieg der Sozialismus als Gesellschaftsmodell aus der Sicht vieler diskreditiert war. Doch ein entscheidender Grund lag auch in der Repression des untergegangenen Regimes. Die drei Lebensläufe zeigen beispielhaft, wie gründlich das Pinochet-Regime jene Bewegung zerstört hatte. Nach 1990 waren nicht nur Tausende Regimegegner*innen tot – offizielle Schätzungen gehen von mehr als 3.000 Ermordeten aus. Die Militärs hatten eine ganze Generation politischer Aktivist*innen gebrochen und psychisch und physisch so stark versehrt, dass nur wenigen die Kraft für Utopien blieb. Die Wunden zu versorgen, war das einzige, wozu sie noch in der Lage waren. Die so entstandene Lücke macht sich bis in die Gegenwart hinein bemerkbar.

Ida Sepúlveda gibt die Hoffnung nicht auf, dass die kommende Generation den heruntergefallenen Staffelstab wieder aufheben wird. Die Proteste, die seit Oktober 2019 anhalten, sieht sie als positives Signal. Bereitwillig stellt sie Schüler*innengruppen die Räumlichkeiten des jetzt zum Gedenkort umfunktionierten ehemaligen Folterzentrums zur Verfügung, damit diese ihre Demonstrationen organisieren können.

„Diese junge Generation weiß nicht mehr, was es heißt, Angst vor den Carabineros zu haben“, bemerkt Sepúlveda. Denn obwohl die Polizei Carabineros stark militarisiert und mit äußerster Brutalität gegen die Demonstrierenden vorgeht (siehe LN 547) – die massenhafte Folter und das Verschwindenlassen der Diktatur kennen sie nur aus Erzählungen. Doch möglicherweise sind es gerade diese Unterschiede zwischen den verschiedenen Generationen, die das Potenzial haben, die gegenwärtigen Proteste zu einer Zeitenwende in Chile werden zu lassen.

EXPLOSION IM LABOR DES NEOLIBERALISMUS

Foto: UNRAST Verlag

„Der Neoliberalismus wurde in Chile geboren und hier wird er sterben“, so lautet schon lange die Hoffnung vieler, die in Chile auf die Straßen gehen. Was genau sich hinter dieser Losung verbirgt, die auf Banner geschrieben und an Wände gesprüht steht, wird selten ausführlich erklärt. Die Autorin Sophia Boddenberg, die seit einigen Jahren vor Ort lebt, betont bereits im Vorwort, dass Revolte in Chile Informationen aus Jahren journalistischer Recherche versammelt. So schafft sie es, treffende Analyse mit ausdrucksstarken Zitaten von Protestierenden unterschiedlichster Strömungen zu verbinden.

Insbesondere die Kapitel zur jüngeren wirtschaftlichen Geschichte des Landes erweisen sich als wertvoll. Gründlich wird erklärt, wie Chile zum „Musterland des Neoliberalismus“ wurde und welche Probleme dieses „Laborexperiment“ seit der Diktatur aufgeworfen hat. Dazu gehören auch bisher spärlicher beleuchtete, aber strukturelle Probleme sozialer Ungleichheit wie die massive Verschuldung junger Menschen oder die hohen Depressions- und Suizidraten. Der zweite Teil des Buches betrachtet die einzelnen sozialen Kämpfe, die sich gegen dieses System gebildet und seit der „sozialen Explosion“ (estallido social) im Oktober 2019 vereint entladen haben.

Statt diese Ereignisse in detaillierter Chronik und Einzelheit dokumentieren zu wollen, berichtet Revolte in Chile von der Vielfältigkeit des Protests und seiner Hintergründe – seien es die Schüler*innen, feministische Asambleas in der Hauptstadt Santiago, die bedrohte Kleinfischerei auf der südchilenischen Insel Chiloé oder die indigenen Mapuche, die für das Recht auf das ihnen zustehende Land kämpfen.

Zahlreiche Aktivist*innen kommen selbst zu Wort. Sie dokumentieren die Brutalität, mit der der Staat auf die Proteste reagiert hat – so etwa die zahlreichen Fotos von Menschen mit Augenverletzungen nach dem Beschuss mit „Gummigeschossen“ oder Tränengasgranaten der Carabineros (siehe LN 547). Ihnen hat Boddenberg ihr Buch gewidmet.

So ist Revolte in Chile eine wertvolle Sammlung von Informationen, Eindrücken und Analysen. An manchen Stellen werden Leser*innen klarere thematische Überleitungen oder Ausdifferenzierungen vermissen. Doch die Autorin erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Im Buch wird klar: Die Ereignisse rund um die neue Verfassung stehen in einer einzigartigen historischen Kontinuität gesellschaftlicher Mobilisierung gegen Ungerechtigkeit und fehlende Mitbestimmung, die auch nach dem Referendum nicht vorbei ist.

Boddenbergs entschlossenes antikapitalistisches Fazit zeigt sich damit als einzig logische Konsequenz der aufregenden Geschichte Chiles. Und wer weiß: Vielleicht wird ja „aus dem Labor des Neoliberalismus das Labor seines Umsturzes“, wie schon der Klappentext vermeldet.

VOCES DE LAS PROTESTAS 2.0

 

“Apruebo la Asamblea Consituyente” Demonstración en Valparaiso (Foto: Martin Yebra)

Ha pasado un año del gran levantamiento social, producto de las grandes desigualdades y abusos de  este sistema capitalista neoliberal y como consecuencia de aquello, aún se mantienen privados de su libertad más de 4.000 presas y presos jóvenes heroicos de la revuelta popular, sin pruebas y tanto que muchas acusaciones ya están desestimadas porque se comprobó que eran montajes. Sin embargo, igual se modificaron algunas cosas, pero no han sido suficientes. Quiero destacar que uno de los logros de la presión ciudadana ha sido la realización del plebiscito que pese a estar en cuarentena, toques de queda, en medio de una pandemia, campaña del terror por parte de la derecha, nada impidió que el pueblo se pronuncie en las urnas y gane por mayoría absoluta por la opción del apruebo y se dé el primer paso para cambiar el contenido de la constitución para matar al neoliberalismo en Chile, también lograr que se reconozca constitucionalmente a los pueblos originarios y a su lucha histórica contra la opresión colonial y capitalista mediante el estado de Chile. En el contexto regional nos encontramos en cuarentena como comuna de Coyhaique, lo que nos ha limitado en nuestras actividades normales y en lo organizativo, ya que todo se está haciendo por internet y en muchos lugares la señal es de mala calidad, pero no ha sido impedimento para continuar trabajando y creando redes con dirigentes y comunidades ya que somos mujeres de campo, pueblos originarios, urbanos en lucha por la defensa de nuestros derechos y, por sobre todo, por nuestro territorio. En estos días estamos enfrentando una nueva arremetida de una familia privilegiada en complicidad de los entes del Estado, que están solicitando concesión de uso oneroso de largo plazo de tierras con acceso a los reservorios de agua dulce, como lo es el glaciar montt, en tiempo record y que pretenden favorecer a los grandes en desmedro de campesinos que están hace más de 30 años solicitando estas tierras en el sector de Tortel al Estado chileno sin respuesta alguna. Por todo esto creemos necesario que en la nueva constitución también se priorice la defensa de los territorios, la producción campesina con semillas nativas, agroecología para la soberanía alimentaria, una reforma agraria y que todos los recursos naturales sean protegidos de los depredadores del medio ambiente que son los grandes causantes de los problemas medioambientales existentes en nuestro país.

// Alejandra Carrillo Manriquz, mujer campesina, Coyhaique, Región de Aysén

„TODO PARA LOS PUEBLOS INDÍGENAS, PERO SIN LOS PUEBLOS INDÍGENAS”

AUCÁN HUILCAMÁN
es abogado y encargado de relaciones internacionales de la organización Mapuche Aukiñ Wallmapu Ngulam (Consejo de Todas las Tierras). Investiga cómo los Mapuche pueden utilizar las relaciones internacionales y normas jurídicas para la lucha por sus derechos. Es uno de las protagonistas del proceso constituyente Mapuche. (Foto: Martin Schäfer)



¿Cómo evalúa el estallido social de octubre del 2019?

A raíz del modelo económico y político instalado en Chile, la situación prácticamente explotó el día 18 de octubre de 2019. El pueblo chileno no soportó más la desigualdad económica, la exclusión social, la exclusión en los ámbitos de educación y de salud, la política de privatización y el modelo económico sin límite, en donde las personas no tienen ningún valor. Las leyes tienen por objeto resguardar el capital nacional y transnacional sin dar importancia al ser humano. Por lo tanto, eso explotó y nos parece muy bien que haya sucedido así.

La bandera de los Mapuche estuvo muy presente en las movilizaciones durante el año pasado. ¿Qué piensa sobre esto?

Que hayan tomado la bandera Mapuche como un símbolo ha sido verdaderamente significativo. No me lo esperaba, porque yo fui el autor material e intelectual de esa bandera en el ’92 y estuve seis meses en la carcel por esa bandera. Me acusaron de asociación ilícita en contra del Estado de Chile. Pensaban que yo iba a instaurar un Estado Mapuche en contra de los chilenos. Sin embargo, la bandera simplemente tenía tres propósitos: afirmar el derecho de autodetermincacion, apoyar el proceso de restitucion de tierras, y ser un símbolo que exteriorizara la vigencia de los Mapuche en el mundo contemporáneo. Nunca hubiera pensando que el símbolo, por el cual estuve en la cárcel, podría llegar a tener tanta dimensión en el mundo hoy, lo cual como persona me deja muy conforme.

¿Cuál es la situación actual de los Mapuche en el sur de Chile?

Hay un conflicto de gran dimensión, en donde operan el capital nacional y transnacional, las empresas mineras, las centrales hidroeléctricas y las forestales, aún cuando algunos forestales se han abierto a dialogar con los Mapuche. Ya no es la misma posición que la de hace 20 años atrás. Hoy día los Mapuche estamos envueltos en un gran conflicto con el Estado chileno y no hay ninguna forma de entendernos o dialogar. El Estado de Chile niega su responsabilidad por los actos militares, denominados la “Pacificación de la Araucanía”, en los que se cometió el genocidio contra el pueblo Mapuche, la confiscación de su territiorio y el proceso de Chilenización, es decir, la domesticación y el colonialismo interno que ha dañado culturalmente al pueblo Mapuche.

El Estado sostiene que siempre ha habido un estado de derecho y esto es una gran mentira. Hemos planteado la necesidad de instaurar en Chile una Comisión de la Verdad. Necesitamos un estándar de la verdad, necesitamos que se repare el daño causado y que se haga justicia con las víctimas, sean Mapuche u otros sujetos que pudieran ser afectados en lo que es más de un siglo de “pospacificación” de la Araucanía. Mientras no haya verdad, justicia y reparación en la Araucanía será difícil la paz.

¿Cómo se expresa actualmente la represión estatal hacia los Mapuche?

Hoy día, a raíz de la pandemia del Covid-19, hay un estado de excepción constitucional. Hay presencia militar a lo largo y ancho del país y un toque de queda. Nadie puede transitar, excepto en situaciones especiales con un permiso. En la Araucanía hay también una situación excepcional a raíz del conflicto, ya que el gobierno del presidente Piñera ha desplegado unidades militares en las regiones del Biobío, de la Araucanía, de los Lagos y de los Ríos  ̶  cuatro regiones en donde están las comunidades Mapuche. Por lo tanto, hay una atmósfera represiva. Esta pandemia le ha servido al Estado chileno para militarizar el territorio Mapuche, para impulsar una mayor tensión en las comunidades Mapuche.

¿Cuál es la situación de los presos políticos Mapuche?

Hoy día sigue habiendo medio centenar de Mapuche en distintas cárceles. Hace unos meses atrás terminó una de las huelgas de hambre más grandes de la lucha Mapuche. Y se sigue aplicando la Ley Antiterrorista que permite el testigo sin rostro. Es terriblemente grave que una persona no tenga el derecho a la debida o legítima defensa en un tribunal, porque quien acusa lo hace en el anonimato. Un testigo puede ser un policía, un uniformado de civil, y en la condición que esté su testimonio, de manera abstracta, es considerada válida, prueba definitiva. Y no hay manera de refutarla. Esta es una situación perversa, que tiene como objecto ensuciar la legítima causa del pueblo Mapuche. El Estado chileno sigue aplicando medidas represivas a los Mapuche, porque los niega como pueblo y niega sus derechos.

¿Hay un paralelo entre las luchas de los chilenos y de los Mapuche?

Hay una similitud, hay un paralelo. El Estado chileno con su política de violencia, conculcación, genocidio, despojo, nos llevó a la situación nuestra. Al pueblo chileno se le instaló un modelo económico que benefició a algunas personas y excluyó a la mayoría. Por lo tanto, hay cuestiones en las que tenemos similitudes, pero hay cuestiones que son completamente diferentes. Por ejemplo, la autodeterminación no la vamos a resolver con el pueblo chileno, ni con el Estado chileno, ni con el gobierno. Ese es un tema que radica exclusivamente en la capacidad de los Mapuche, si lo implementamos o no.

¿Cuál es su postura sobre el proceso constituyente chileno?

Nosotros apoyamos el proceso constitucional del pueblo chileno. No vamos a entorpecer, ni vamos a tomar posición del rechazo o del apruebo. Nosotros tenemos nuestro propio proceso de autodeterminación, que es diferente. No es contrario, se pueden encontrar, se pueden armonizar, pero uno no sustituye al otro.

El proceso constituyente chileno tiene condicionantes: el quórum de los dos tercios, la ley que no permite modificar los acuerdos económicos multilaterales, y una ley de partidos políticos, elaborada para los partidos y no para los que participaron del estallido social. Aun cuando se ha agregado el proceso constituyente independiente, hay impedimentos a la hora de inscribirse. La ley de partidos políticos está hecha para el bloque que está gobernando y para la oposición.

Hay un proceso tramposo, porque la clase política armó una legislación para beneficiarse excluyendo a la gran mayoría. Pero con la voluntad soberana del 78% del plesbicito tendrían que estar obligados a cambiar la ley de partidos políticos. Si los independientes tuviesen mayor participación y se eliminase la ley que prohibe derogar los acuerdos económicos, yo diría: sí. Pero, tal cual están las cosas, no hay certeza de que vaya a haber una constitución nueva en Chile.

La nueva constitución también abriría la posibilidad de definir a Chile como Estado plurinacional y así reconocer formalmente a los pueblos indígenas. ¿Qué opina al respecto?

En América Latina ya han habido procesos constituyentes originarios y reformas, hay una experiencia de 50 años de reconocimientos constitucionales y no han sido eficaces. Al contrario, ha sido una manera en que los gobiernos de turno toman posesión sobre los indígenas, implementan de manera más eficáz el colonialismo y la domesticación de ese Estado con los pueblos indígenas. Y en cuanto al concepto de Estado plurinacional, en Bolivia y en Ecuador, que son las dos grandes experiencias, nos reportan que el reconocimiento de Estado plurinacional es un reconocimiento formal, genérico e incluso hasta folclórico. Hablar de un Estado plurinacional me parece que es un simbolismo, una consigna carente de contenido.

Una forma para conservar los intereses indígenas pueden ser los escaños reservados para los indígenas en la convención constituyente…

Los escaños reservados no van a ayudar a resolver las tensiones y controversias en la Araucanía. Sustituyen al pueblo indígena y le anulan su derecho al consentimiento quedando éste radicado en los constituyentes de origen indígena. Un constituyente Mapuche puede tener un pensamiento neoliberal de derecha. El constituyente indígena, bajo la figura de escaño reservado, no tiene ningún mandato del pueblo. Sin embargo, habla y decide por el pueblo.

En segundo lugar, puede dejar a las presentes y futuras generaciones Mapuche amarradas al destino del pueblo chileno, porque van a quedar subordinadas institucionalmente en la constitución. En Ecuador, los indígenas hicieron un levantamiento en el 2019, porque no estaban de acuerdo con el concepto plurinacional. Dicen que fue un fraude político y jurídico. Ahora les dice el gobierno: “participaron de la nueva constitución, no se pueden retirar, porque ya son parte del Estado plurinacional de Ecuador”. Mañana a los Mapuche se les dirá: “primero son chilenos y sólo después son Mapuche”. Esto es complicado.

Todo para los pueblos indígenas, pero sin los pueblos indígenas. Esa es la consigna que pudiera caracterizar este proceso de escaños reservados. Yo le he estado recomendando a los Mapuche que quieran participar del proceso constituyente que lo hagan bajo la figura de los cupos independientes. De esta manera, los Mapuche se reservan el derecho a consentir o no y siguen en su ruta de autodeterminación.

Usted promueve la formación de un autogobierno Mapuche a través de una asamblea constituyente Mapuche (véase LN 538). ¿Cuánto ha avanzado ese proceso?

El proceso constituyente Mapuche es previo al proceso constituyente chileno, son dos procesos completa y absolutamente distintos. Nosotros ingresamos ya a una etapa de redacción del estatuto de autodeterminación Mapuche. Por lo tanto, estamos legislando por nosotros mismos, aunque no con la misma formalidad que el Estado chileno. Cuando terminemos de redactar el estatuto, estaremos a un paso de formar un gobierno. Seguramente habrá grandes tensiones en la formación de ese gobierno. Si vemos en el proceso constituyente del pueblo chileno una amenaza a los derechos del pueblo Mapuche, inmediatamente vamos a formar un gobierno provisional en los meses siguientes. Pero si el Estado actúa respetuosamente con nosotros, vamos a buscar maneras de entendernos.

¿Ve posibilidades reales de que resulte un gobierno propio de los Mapuche?

Hace un mes el presidente de la República formó un comité que se llama Wallmapu. Esto indica que está reconociendo una realidad diferente al país. Lo que nos está dando argumentos para decir que del Biobío al Sur es otra realidad y que no tiene nada que ver con Chile. Eso es reciente, logrado a raíz de la lucha. Yo lo tomé positivamente.

Los Mapuche tenemos tratados que reconocen una frontera territorial. Y la Declaración Americana (sobre los Derechos de los Pueblos Indígenas, nota de la redacción) dice que cuando las partes tienen una interpretación diferente de los tratados, pueden recurir a los órganos jurisdiccionales. Si formamos un gobierno provisional, que es mi meta personal, como primer acto vamos a ir a la Corte Interamericana o a la Corte Internacional a discutir el tema del territorio.

ADIÓS GENERAL

Foto: Diego Reyes Vielma

Chile despertó, Chile aprobó („Chile ist aufgewacht, Chile hat zugestimmt“), tönt es am 25. Oktober durch Santiagos Straßen, als das Ergebnis des Referendums über eine neue Verfassung feststeht: Gut 78 Prozent der abgegebenen Stimmen sind auf das Apruebo, auf das „Ja“, entfallen.

„Adiós General“ heißt es auf einem Transparent an der Plaza de la Dignidad, dem Platz der Würde, womit der Abschied von einer Verfassung, die bereits unter General Augusto Pinochet während der Militärdiktuatur in Kraft getreten ist, zum Ausdruck kommen soll. Mit Hupkonzerten und Autokorsos, mit Parolen und cacerolazos (lautstarke Protestform, bei der auf Töpfe und Pfannen geschlagen wird), mit Trommeln und Gesang feiern die Chilen*innen diesen überwältigenden Sieg der Zustimmung zu einem Prozess, an dessen Ende das Land in zwanzig Monaten, Mitte 2022, sehr wahrscheinlich eine neue Verfassung verabschieden wird.

„Dieser Tag ist für uns sehr wichtig, ein historischer Prozess. Die Bevölkerung will einen Wandel, eine neue Verfassung, nicht mehr die aus unserer düstersten Zeit, der Pinochet-Diktatur“, sagt Luis Balboa mit strahlenden Augen. Er ist zusammen mit seiner Schwester Marta zwischen vielen anderen Feiernden auf der Plaza Ñuñoa in Santiago unterwegs. Die aktuell gültige Verfassung wurde 1980 unter der Führung des Diktaturideologen Jaime Guzmán ohne demokratische Legitimierung geschrieben. In ihr wird das das Recht auf Eigentum stärker gewichtet als Menschenrechte, wodurch damals auch der Grundstein für eine neoliberale Politik gelegt wurde, die bis heute in der chilenischen Wirtschaft verankert ist. Über die Zeit hat die aktuelle Verfassung jedoch immer stärker an Legitimität in der Bevölkerung eingebüßt, die endlich die langen Schatten der Diktatur abschütteln will. „Vor Jahren haben wir gegen Pinochet gestimmt“, erinnert sich Marta Balboa an das Referendum von 1988, in dessen Folge die Diktatur ein offizielles Ende fand. „Jetzt stimmen wir für eine Verfassung von der Bevölkerung für die Bevölkerung. Aber wir müssen weitermachen, denn es wird ein schwieriger Weg.“

Tausende Chilen*innen hatten seit dem 18. Oktober 2019 an vielen Orten Chiles demonstriert. Schüler*innen und Studierende, Feminist*innen, Mapuche und soziale Bewegungen kamen zunächst gegen die prekären Pensionsfonds AFP zusammen. Aus dieser Einheit erwuchs eine ungeahnte Stärke: Am 25. Oktober 2019 waren über eine Million Menschen in Santiagos Zentrum auf der Straße – trotz des von Präsident Sebastián Piñera verhängten Ausnahmezustandes. In Nachbarschaftsversammlungen wie asambleas territoriales oder cabildos entdeckten Menschen, dass sie mit ihren Problemen nicht allein waren.

„Dieser Tag ist für uns sehr wichtig, ein historischer Prozess“

Am 15. November dann beschlossen Parteien von rechts bis links – außer der kommunistischen PC – das „Abkommen für den Frieden und für eine neue Verfassung“. Gefeiert von den einen als einzig möglicher Kompromiss, um endlich die Verfassung der Diktatur hinter sich zu lassen. Abgelehnt von den anderen, denn in dem Abkommen ist nicht vorgesehen, die oft geforderte Verfassungsgebende Versammlung einzurichten, die sich aus Basisorganisationen zusammensetzt und die neue Verfassung entwirft. Stattdessen wird ein verfassungsgebender Konvent eingerichtet, dessen Mitglieder nach chilenischem Verhältniswahlrecht gewählt werden – und das begünstigt politische Parteien. Ein tiefer Riss geht seitdem durch die Bewegung.

Das Plebiszit war zunächst für April 2020 geplant. Covid-19 kam dazwischen, weshalb es auf Oktober verschoben werden musste (siehe LN 550). Im Oktober ist die Ansteckungsrate in Chile zwar erneut auf hohem Niveau, aber stabilisiert. Nachts gilt noch die Ausgangssperre, tagsüber gehen die Menschen aber wieder auf die Straße – und eben auch protestieren.

In den Wochen vor dem Referendum überschlagen sich die Ereignisse. Am 18. Oktober, dem Jahrestag des estallido social, wie die Massenproteste vor einem Jahr genannt werden, demonstrieren Zehntausende im Zentrum Santiagos. Am Abend brennen zwei Kirchen, die Bilder gehen in Windeseile um die Welt. Später wird bekannt, dass ein Militärangehöriger dabei gewesen sein soll. Weniger Beachtung fand der Tod des 26-jährigen Aníbal Villarroel durch die Kugel eines Polizisten im marginalisierten Stadtviertel La Victoria am selben Abend. Seine Familie hat Anzeige erstattet und fordert Aufklärung. Das chilenische Menschenrechtsinstitut INDH bezeichnet die von staatlichen Organen im vergangenen Jahr begangenen Menschenrechtsverletzungen als die schwersten seit Ende der Diktatur 1990. Der Staatsanwaltschaft liegen seither 8.575 Strafanzeigen in diesem Zusammenhang vor. Allein das INDH hat 2.520 Anzeigen, vor allem gegen die Militärpolizei Carabineros, erstattet. In nur ein Prozent dieser Fälle wird konkret gegen Angehörige der Sicherheitsorgane ermittelt.

Diskussionen um das Plebiszit waren derweil überall spürbar. Aus vielen Fenstern hängen Fahnen und Transparente, auf Häuserwänden und unzähligen Plakaten steht es geschrieben: Apruebo („Ich stimme zu“). Bei Kundgebungen wird erklärt, wie das Plebiszit funktioniert, um Transparenz zu schaffen, auch wenn es nur zwei Fragen zu beantworten gab. Das Ziel: Demokratisierung der Diskussion.

Schwerste Menschenrechtsverletzungen seit Ende der Diktatur

Die erste Frage „Wollen Sie eine neue Verfassung?“ ist leicht mit Apruebo oder Rechazo („Ich lehne es ab“) zu beantworten. Bei der zweiten Frage geht es um die Zusammensetzung des Gremiums, das einen Verfassungstext verabschieden soll. Zur Wahl stand ein Konvent, dessen Mitglieder eigens gewählt werden, um einen neuen Verfassungstext zu schreiben (Convención Constitucional) oder einer, der zur Hälfte mit Abgeordneten besetzt und für den nur die andere Hälfte der Mitglieder von den Chilen*innen gewählt wird (Convención Mixta). In jedem Fall wird der Konvent quotiert und damit zu gleichen Teilen von Frauen und Männern besetzt sein.

Vor dem Referendum mobilisierte die politische Rechte überwiegend für das Rechazo und das hauptsächlich in reichen Gegenden. Am Wochenende vor dem Plebiszit marschieren etwa 3.000 teils mit Helmen und Schilden mit religiösen Symbolen ausgerüstete Menschen durch Santiagos Nobelviertel Las Condes. „Solange Chile existiert, wird es niemals marxistisch sein“, rufen sie. Ein „zweites Venezuela“, fürchten ihre Teilnehmer*innen, manchen gilt auch schon Argentinien als sozialistisches Schreckensszenario, wo eine für ihre äußerst wirtschaftsliberale Politik bekannte Regierung an der Macht ist. Die Protestbewegung für eine neue Verfassung sehen sie als vom Ausland gesteuerte Aktion. Manche Rechazo-Anhänger*innen tragen T-Shirts mit Pinochet-Aufdruck. Zu sehen sind Zeichen rechtsextremer Gruppen wie der Patria y Libertad (Vaterland und Freiheit). Es ist sogar die Rede von einer Neugründung dieser nationalistischen Organisation, die 1973 den Putsch mit vorbereitete.

Am Morgen des 25. Oktober bilden sich vor vielen Wahllokalen lange Schlangen. Viele junge Leute, die nie zuvor gewählt haben, und ältere Menschen, die sich noch an die Zeit der demokratisch gewählten Regierung der Unidad Popular unter Salvador Allende und den Putsch 1973 erinnern, kommen hier zusammen. Nelda Aguilar (86), deren Bruder 1973 verhaftet wurde und seitdem verschwunden ist, lebte selbst jahrelang im Exil. „Ich gehe voller Freude zu dieser Wahl“, sagt sie bewegt. „Ich hoffe, dass das Apruebo gewinnt und dass etwas Positives für unser Land und für ganz Lateinamerika entsteht. Denn diese Wahl hat historische Bedeutung.“

Der Rechtsanwalt Francisco Rodríguez arbeitet als Freiwilliger in einem Wahllokal und hat bereits am Morgen seine Stimme abgegeben – für Rechazo: „Die Militärregierung hat ab 1973 die Bedingungen dafür geschaffen, dass Chile von einem der ärmsten Länder zur Nummer eins in Lateinamerika aufsteigen konnte“, sagt er. Venezuela hingegen sei durch strukturelle Änderungen vom reichsten Land des lateinamerikanischen Kontinents zu einem der ärmsten geworden. „Genau dieses Modell soll uns durch das Plebiszit aufgezwungen werden“, meint er. Tatsächlich hält ein Prozent der chilenischen Bevölkerung ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts.

Am Ende des Tages kann das Rechazo-Lager sich nur in fünf Kommunen durchsetzen – nämlich genau dort, wo sich Reichtum und Macht konzentrieren. 78,27 Prozent der abgegebenen Stimmen entfallen auf das Apruebo, noch mehr (78,99 Prozent) für die Convención Constitucional, also ein verfassungsgebender Konvent, der von der Bevölkerung gewählt wird. Das deutliche Wahlergebnis bedeutet nicht nur einen starken Rückhalt weitreichender Veränderungen in der Verfassung, sondern beweist auch das große Misstrauen gegenüber den politischen Parteien und deren Klientelismus. So werden nun die 155 Mitglieder des Verfassungskonvents im April 2021 gewählt. Die Entscheidung, ob Sitze für Indigene reserviert werden, steht noch aus. Der Konvent hat dann maximal ein Jahr Zeit, um einen neuen Verfassungstext zu schreiben. Alle Artikel müssen mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden.

Die eigentliche Herausforderung beginnt also erst jetzt: Die sozialen Bewegungen beanspruchen eine möglichst große Beteiligung am verfassungsgebenden Prozess. So fordern etwa die 200 Organisationen, die in der Plattform Unidad Social vereint sind, die politischen Parteien auf, Plätze auf ihren Wahllisten für Vertreter*innen sozialer Bewegungen zu reservieren.

Es stellen sich nun zwei entscheidende Fragen. Zum einen, ob es der organisierten Rechten gelingt, ein Drittel der Plätze im verfassungsgebenden Konvent zu stellen. Damit hätte sie eine Sperrminorität und könnte – so kündigte es Pablo Longueira, Abgeordneter der rechtskonservativen Partei UDI, bereits an – durchsetzen, dass die neue Verfassung inhaltlich nicht grundlegend anders ausfallen würde als die jetzige. Und zweitens: Werden die Mitte-Links-Parteien eine faire Kooperation mit den sozialen Bewegungen eingehen und zusammen zumindest diesen kleinen Konsens durchsetzen, der in der Bevölkerung schon längst gesetzt ist: der Post-Pinochet-Ära und dem Credo des Neoliberalismus ein Ende zu setzen?

Klar scheint jedenfalls, dass es dazu Bündnisse und Druck von unten braucht. Mit Demonstrationen, kulturellen Aktivitäten, Diskussionen, Mobilisierung und breiter Organisierung in cabildos und asambleas. Wann, wenn nicht jetzt: „Adiós General!“

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