POONAL – vernetzte Nachrichten

Bündelung von Agenturen

Sie verstehen sich als alternative Medien, die im Gegensatz zu den herkömmlichen Agenturen aus Sicht der Bevölkerung und nicht im Sinne der Herrschenden informieren wollen. Repression, soziale Mißstände und das Aufzeigen von Alternativen stehen im Mittelpunkt der Berichterstattung. Viele stehen auch in engem Bezug zu politischen Bewegungen ihrer Heimatländer und arbeiteten auf kommunikativer Ebene für den Sturz diktatorischer Regime. Die wichtigsten unter ihnen waren früher SALPRESS aus El Salvador, die guatemaltekische Agentur CERIGUA, ANN aus Nicaragua, andere stammten aus Uruguay, Chile, Argentinien über Honduras bis hin zu “Prensa Latina” aus Kuba.

Anspruch und Realität

Zum einen sollten sich die bisher isoliert arbeitenden Agenturen gegenseitig darin unterstützen, die persönlichen Kontakte besser zu nutzen. Andererseits sollte durch die gemeinsame Herausgabe von Nachrichtenmaterial der Verbreitungsradius der einzelnen Agenturen erweitert werden. Insbesondere sollte ein Zugang zur bürgerlichen Presse gefunden werden. Zwei Agenturen wurden für ein Jahr für die Koordinierung gewählt, regelmäßige Treffen und Beitragszahlungen vereinbart. Weitere Agenturen sollten hinzugewonnen werden.
Die Ansprüche waren hoch, doch die Umsetzung war schwierig. Erstes Hindernis war die zusätzliche Arbeitsbelastung, die eine solche Koordinierung erforderte. Jede Agentur hatte mit finanziellen und personellen Engpässen zu kämpfen, und die eigene Arbeit hatte stets Priorität vor der Vernetzung. Hinzu kamen, wie leider immer und überall bei linken Projekten, ideologische Differenzen. Auch die Herausgabe eines gemeinsamen Nachrichtendienstes in Mexiko, der die großen Zeitschriften per Fax informierte, konnte nur für kurze Zeit realisiert werden. Die Initiative drohte bald wieder einzuschlafen.

Versuche von Süd-Süd-Kommunikation

Ein Rückblick auf die fortschrittliche “Dritte Welt”-Berichterstattung der letzten Jahrzehnte zeigt, daß auch andere, größere Initiativen vor ähnlichen Problemen standen. Einziges bis heute erfolgreiches Agenturenprojekt ist ips (Inter-Press-Service), das seit 1964 aus und über die “Dritte Welt” berichtet und mit seinen Nachrichtentickern eine vergleichsweise gute Verbreitung gefunden hat. Weniger effektiv war der “pool del tercer mundo”, mit dem seit Mitte der 70er Jahre eine Vielzahl von blockfreien Ländern versucht, die Vorherrschaft der multinationalen Agenturen zu brechen. Trotz weltweiter Konferenzen konnte nie die Idee eines wirklichen Pools realisiert werden. Im Kontext der UNESCO-Forderung nach einer neuen Weltkommunikationsordnung 1983 entstand die lateinamerikanische Agentur ALASEI, die neben politischen auch kulturelle Aspekte verbreiten wollte. Geldmangel ließ auch dieses Projekt nach weniger als zehn Jahren in die Bedeutungslosigkeit abrutschen.
Kleineren Agenturprojekten ist es bisher nicht gelungen, ihre Nischen zu verlassen. Das 1984 in Asien gegründete “Dritte Welt Netzwerk”, dessen lateinamerikanischer Zweig in Uruguay sitzt, verbreitet Nachrichten und Analysen sogar weltweit. Doch es gelingt nicht, kontinuierliche Präsenz zu zeigen. Die Mitarbeit der Mitgliedsmedien fluktuiert stark. Deshalb wurde inzwischen der Anspruch eines umfassenden Netzwerkes aufgegeben: “Das Ganze läuft nur, wenn einzelne die Initiative ergreifen. Dafür stellen wir die Infrastruktur zur Verfügung,” sagt Alberto Brusa, Mitarbeiter des “Dritte Welt Netzwerkes” in Uruguay. Eine ähnliche Einzelinitiative ist die Agentur “apia” in Nicaragua, die aus der österreichischen Solidaritätsbewegung hervorgegangen ist.
Die jüngste Initiative zur Vernetzung von Alternativmedien war der kontinentale Kongreß in Quito im April diesen Jahres, an dem über 60 JournalistInnen aus fast allen lateinamerikanischen Ländern teilnahmen. Schnell zeigte sich, daß trotz ähnlicher Interessen die vielen verschiedenen Medien unterschiedlicher Größe und Professionalität nur schwerlich an einem Strang ziehen können. Zwar war dieses Treffen ein neuer Schritt hin zu mehr Zusammenarbeit, doch mehr als Willensbekunddungen kamen oft nicht dabei heraus.

Basisanbindung und politische Pluralität – ein Problem?

Eine funktionierende Zusammenarbeit bringt zwar eindeutige Vorteile: weniger Vertriebskosten, höherer Verbreitungsgrad, gemeinsame Infrastruktur und schließlich eine Vielfalt von Nachrichten, die gerade für Medien und andere MultiplikatorInnen attraktiv und zugänglich sind. Doch die in der Praxis auftretenden Nachteile erweisen sich bisher als unüberwindbar: Kooperation erfordert ermüdende politische Diskussionen, insbesondere wenn die jeweiligen Medien politischen Organisationen nahestehen; Professionalität und Basisanbindung lassen sich oft nur schwer vereinbaren, Entfernungen und Kommunikationskosten wirken erschwerend. Doch dahinter steht ein wesentliches Problem jeder Vernetzung: Ein aktives Netz erfordert Initiative all seiner Teile – wenn diese nicht stattfindet, wird das Netz zu einem Konzentrationsprozeß zum Vorteil der größeren oder aktiveren Medien. So zeigt auch die bisherige Erfahrung, daß Pools selten funktionieren, während einzelne große und kleine Agenturen lange existieren können, aber kaum eine adäquate Verbreitung finden.
Es überrascht nicht, daß sich die Erfahrungen in Lateinamerika auch auf Seiten der internationalen Solidaritätsbewegung widerspiegeln. Zu der dortigen Vielfalt kommen hier noch ideologische Streitigkeiten hinzu, so daß Interessierte vor einer Unmenge von Publikationen stehen. So wichtig eine gewisse Pluralität ist, so schwer fällt es den meisten, einen Überblick über das Informationsangebot zu bekommen. Konsequenz ist eine wachsende Konkurrenz untereinander.
Ein Versuch, den Agenturen Zentralamerikas eine deutschsprachige Plattform zu geben, war Anfang der 80er Jahre der “mid” (Mittelamerika-Informationsdienst). Finanzielle Unterstützung, Kontakte und der gemeinsame Wille waren vorhanden, und wöchentlich konnten aktuelle Nachrichten aus Nicaragua, Guatemala und El Salvador gelesen werden. Doch auch das klappte nur kurze Zeit. Entscheidendes Hindernis waren die hohen Kosten für die Telex-Standleitung zwischen Managua und Frankfurt/Main. Einzig verbliebene Alternative, Originalnachrichten aus Zentralamerika zu bekommen, war über viele Jahre der “Informationsdienst El Salvador” (ides). Doch war dies ein Projekt von Teilen der bundesdeutschen Solibewegung und spiegelte deren politische Ausrichtung wider – auch wenn der ides mit lateinamerikanischen Quellen arbeitete. Darüber hinaus gingen ab Mitte der 80er einige alternative Agenturen dazu über, eigene Nachrichtendienste in deutscher Sprache herauszugeben, womit sie eine entscheidende Stütze der länderbezogenen Solidarität waren.

POONAL – Der Schritt nach Deutschland

1990 entstand die Idee, die Nachrichten der POONAL-Agenturen in einem gemeinsamen Dienst in deutscher Sprache herauszugeben. So entstand der “Wöchentliche Nachrichtendienst lateinamerikanischer Agenturen – POONAL”, der seit über zwei Jahren Nachrichten und Artikel der Mitgliedsagenturen veröffentlicht. In Mexiko wird das Material bis Freitagabend übersetzt, dann per Datenfernübertragung nach Köln geschickt, wo es journalistisch bearbeitet wird. Schließlich wird der Nachrichtendienst am Montag in Berlin gedruckt und verschickt – derzeit knapp 300 Exemplare in Deutschland, Österreich und in die Schweiz. Wichtigstes Ziel: Die Vereinzelung der Agenturen sollte aufgehoben werden und ein gemeinsamer Nachrichtendienst aus Lateinamerika durch seine Vielzahl an Themen und Ländern auch für Institutionen und etablierte Medien interessant und brauchbar werden.
Obwohl sich der POONAL-Nachrichtendienst etabliert hat, steht er in der Praxis kaum überwindbaren Problemen gegenüber. Verhältnismäßig glimpflich sieht es noch auf der Vertriebsseite aus. Die journalistische Qualität läßt zwar zu wünschen übrig, aber die Informationen stoßen auf Interesse. Auch konnten einige Institutionen und Medien als AbonnentInnen gewonnen werden, die bisher kaum Zugang zu diesen basisnahen Agenturen hatten. Dennoch bleibt das Hauptproblem bestehen: Auch POONAL hat einen begrenzten AbnehmerInnenkreis und die Präsenz in etablierten Medien ist unbedeutend.
Doch gerade da, wo es um die Koordination geht, nehmen die Schwierigkeiten existenzielle Ausmaße an. Wie oben erwähnt, liegt die Zusammenarbeit der POONAL-Agenturen in Mexiko derzeit auf Eis. Aus der lateinamerikanischen Initiative ist immer mehr eine deutsche geworden, der Vertrieb in Deutschland wurde zur treibenden Kraft. Hinzu kommt, daß viele Agenturen aus dem Exil in ihre Länder zurückgegangen sind, wodurch einige Mitglieder des Pools sich weniger beteiligen und die Kommunikation untereinander sehr spärlich geworden ist. Statt einer Zusammenarbeit findet eher Zuarbeit für ein Projekt statt, da die wenigen in Mexiko ansässigen Agenturen die Entscheidungen treffen. Nur einige Agenturen beteiligen sich, dazu unregelmäßig, daran, so es daß POONAL noch nicht gelungen ist, das Geschehen im gesamten Kontinent widerzuspiegeln.
Obwohl der hohe Anspuch nicht aufrechterhalten werden kann, hält POONAL an der Idee und daran, daß Vernetzung versucht werden muß, fest. Oft klagen gerade kleinere Medien, daß der Zugang zu alternativen Quellen sehr aufwendig ist. Die Konsequenz muß also sein, weiter aus den bisherigen Erfahrungen zu lernen.

Bezug des POONAL-Nachrichtendienstes:
Nachrichtenpool Lateinamerika e.V.
c/o FCDL
Gneisenaustr. 2
10961 Berlin
Fax: 030 / 692 65 90
Jahresbezugspreis:
110,– DM für Institutionen
75,– DM für Einzelpersonen

Eindrucksvolles Geisterhaus

Der Putsch in Chile ’73 war für Isabel Allende ein wichtiges Thema in ihrem Buch “Das Geisterhaus”. Das Buch, in viele Sprachen übersetzt, gehört zu den Weltbestsellern. Daß versucht wurde, diesen Bestseller zu verfilmen, kann als große Herausforderung betrachtet werden. Leicht ist es nicht, eines der erfolgreichsten Bücher der Welt zu einem gelungenen Spielfilm zu machen. Einen großen Vorteil hat die deutsch-dänische-portugiesische Produktion schon mit der Besetzung. Jeremy Irons, Meryl Streep, Glenn Close, Winona Ryder und Mambo King Antonio Banderas gehören derzeit zu den besten SchauspielerInnen der Welt. Zwei von Ihnen, Jeremy Irons und Meryl Streep haben sogar einen Oscar auf dem Nachtkästchen stehen. Ob dieser Film die Besucherzahl von Jurassic Park überholen wird, ist noch abzuwarten.
Die Geschichte erstreckt sich über drei Generationen, und fängt ganz harmlos, am Anfang des Jahrhunderts an und führt uns zu dem Haus einer Familie der chilenischen Oberschicht. Estéban Trueba (Jeremy Irons), ein hart arbeitender Bergmann, hat die Absicht, Rosa, die älteste Tochter der Familie del Valle, zur glücklichsten Frau der Welt zu machen. Mit der Hochzeit wird aber noch gewartet, weil der in den Minen des Norden arbeitende Estéban voller Hingabe nach Gold sucht. Seine Hingabe lohnt sich, als er auf die lang erwartete Goldader stößt. Aber leider ist seine geliebte Verlobte inzwischen ermordet worden. Ein Schluck von einem geschenkten Schnaps wurde ihr zum Verhängnis und vermutlich wurde der tragische Mordanschlag wegen der politischen Überzeugung ihres Vaters verübt. Der Tod war von der kleinen übersinnlich begabten Schwester, Clara, vorausgesehen worden. Nach dem Todesfall entschloß sie sich, nicht mehr zu sprechen.
Der enttäuschte Verlobte, Estéban, zieht voll Bitterkeit nach “Tres Marías” und wird mit “Hilfe” der einheimischen Bevölkerung ein erfolgreicher, aber jähzorniger, Viehzüchter. Der respekt- und morallose Estéban ist fest entschlossen, Karriere zu machen.
Wegen des Todes seiner Mutter kehrt er wieder heim und begegnet der jetzt erwachsenen Clara. Die beiden heiraten und ziehen zusammen sehr glücklich nach “Tres Marías”. Die bei Estéban nicht sehr beliebte Schwester Férula (Glenn Close) kommt mit und ist tagsüber als Hausfrau im Haus beschäftigt. Férula wird eine sehr gute Freundin von Clara und eine zweite Mutter für Blanca (Winona Ryder). Férula wird aber von dem eifersüchtigen Bruder aus dem Haus geschickt und stirbt unglücklich.
Estébans und Claras Tochter Blanca wächst in “Tres Marías” auf und freundet sich mit Pedro García, einem Bauernsohn, an. Pedro wird Revolutionär der People’s Party (sic!) und ist eine Gefahr für die Konservative Partei und dadurch auch für Estéban. Als er hört, daß Blanca und Pedro auch noch ein Liebespaar sind, treibt er die zwei gewalttätig auseinander. Clara zieht mit ihrer schwangeren Tochter in die Stadt und redet nie wieder mit ihrem Mann. Als Gutsbesitzer und Senator kommt Estébans politische Karriere zum Höhepunkt, als er zum Anführer der Konservativen ernannt wird.
Der politische Umschwung in Chile ereignet sich, als die People’s Party eine überzeugende Mehrheit bei den Wahlen erhält. Estéban, alt, grau und voller Narben, findet im Alter Trost bei seiner Frau, die aber trotzdem ihr Versprechen, nie wieder mit ihm zu reden, einhält. Statt die Enttäuschung ihres Mannes zu teilen, ist Clara mit der Sieg der People’s Party einverstanden. Viel Mitleid kann sie ihm leider nicht mehr geben, weil sie stirbt.
An dem Tag, an dem sie begraben wird, ziehen Panzer und Truppen in die Stadt und verhaften hemmungslos die Bürger. Der Putsch ’73 hat sich ereignet. Blanca, jetzt Mutter eines Kindes, wird verhaftet wegen ihrer Beziehung zu dem verschwundenen Pedro.
Blanca wird im Gefängnis peinlich an ihren Halbbruder, das uneheliche Kind ihres Vaters erinnert. Der Sohn Estébans, der mit finanzieller Unterstützung seines Vaters ein erfolgreicher Militär geworden ist, versucht, Pedros Versteck mit Hilfe von Folter und Gewalt zu erfahren. Als sie halb tot in ihrem Folterkeller liegt, besucht der Geist ihrer Mutter die Zelle und gibt ihr neue Hoffnung. Kurz danach kommt sie frei mit Hilfe einer “Freundin” ihres Vaters. Mit Tochter und Vater fährt sie zurück nach Tres Marías.
Von Anfang an hat man das Gefühl, daß der Regisseur in sehr kurzer Zeit alle Einzelheiten des Buches verfilmen will. Drei Generationen verfliegen und die HauptdarstellerInnen werden sehr schnell alt. Wenn man den abgerissenen Kopf von Claras Mutter nach einem Autounfall über die Leinwand fliegen sieht, zweifelt man an der Seriosität des Filmes. Doch machen die genialen Leistungen der SchauspielerInnen diesen Film zu einem großen Erfolg. Nicht nur die SchauspielerInnen, auch die Bilder zeigen die Professionalität der Filmemacher. Immer wieder interessante Charakterstudien der Menschen werden auch im Geisterhaus hervorragend gezeigt. Estéban Trueba, der Schreckliche, gegenüber der Freundlichkeit und Heiterkeit von Clara. Leider ist die politische Botschaft nicht sehr deutlich, aber trotzdem vorhanden. Die schrecklichen Folgen des Putsches werden mit militärischen Übergriffen und Folter eindrucksvoll gezeigt.

Menem – ein neuer Perón?

Durch das Votum gestärkt ging Menem in der Woche nach der Wahl in den Senat und bekam dort durch den offensichtlichen Kauf von Senatoren eine Zweidrittel-Mehrheit für seine Verfassungsreform. Für den 21. November hat der Präsident nun eine Volksbefragung angesetzt. Er erhofft sich die Unterstützung der Bevölkerung, die dann die Zustimmung der Abgeordneten erzwingen soll.

Repressalien und Skandale vor der Wahl

In der Zeit des Wahlkampfs verschärfte sich die innenpolitische Situation. KritikerInnen, Oppositionelle und regierungskritische JournalistInnen wurden reihenweise eingeschüchtert, zusammengeschlagen oder mit dem Tode bedroht. Angst und Schrecken herrschten in den Wochen vor den Wahlen in einem Maße, das an Zustände während der letzten peronistischen Regierung in Argentinien 1974-76 erinnerte.
Nach nur wenigen Monaten im Amt trat Innenminister Gustavo Béliz zurück. Nach eigenen Aussagen war er frustriert über die Diskussion der Verfassungsreform in der Regierung. Offenbar gebe es dort eine Mehrheit, die die umstrittene Reform mit allen Mitteln durchsetzen wolle. Er aber könne sich nicht mit Einschüchterungsmaßnahmen und dem Kauf von Abgeordneten einverstanden erklären. Leider habe er erst jetzt erkannt, worin die eigentliche Aufgabe eines Innenminister in dieser Zeit besteht: die Wiederwahl Menems auf Gedeih und Verderb durchzusetzen, koste es was es wolle. Präsident Menem, der vom Schritt seines Ministers offensichtlich überrascht und sehr enttäuscht war, ersetzte diesen innerhalb von wenigen Stunden durch Carlos Ruckauf. Dieser zeigte sich in den letzten Wochen durchaus Willens, die in ihn gesetzten Hoffnungen zu erfüllen.
Ein Skandal im Verfassungsgericht bewies außerdem die Abhängigkeit der Justiz vom Menemismus. Ein Urteil gegen einzelne Maßnahmen der Wirtschaftsreform verschwand spurlos aus den Akten. Auf die heftige Kritik reagierte Menem mit einem Angebot an die UCR, das Gericht kurzerhand aufzulösen und es gemeinsam mit den Radikalen neu zu besetzen.

Die politische Auseinandersetzung

Um politische Inhalte wurde zwischen den großen Parteien kaum gestritten. Die Programme der PeronistInnen, Radikalen und Liberalen (UCeDe) unterschieden sich nur in den Details.
Derzeit markiert die UCR den Unterschied zu den PeronistInnen lediglich durch die Forderung nach einer sozialeren und weniger brutalen Privatisierung. Die generelle Linie – Dollar-Bindung des argentinischen Peso, Privatisierung aller Staatsbetriebe, Heruntersetzung der Lohnnebenkosten durch Abbau von Sozialleistungen – war kaum Gegenstand der Auseinandersetzung.
Erstmals landesweit angetreten war die Rechtspartei MODIN (Movimiento por la Dignidad e Independencia), die vom ehemaligen Carapintada-Putschisten Aldo Rico geführt wird. Sie hat eine ultra-nationalistische Programmatik, und wurde mit ihren sieben Abgeordneten im Bundesparlament dritte politische Kraft im Lande. lhr charismatischer Führer will 1995 persönlich als Präsidentschaftskandidat gegen Menem (oder Duhalde) antreten. Seine Forderungen sind: Nationalisierung aller Industrien, Abschottung gegen Arbeitsimmigration, Direktwahl des Präsidenten, aller Gouverneure und Bürgermeister und eine harte Hand bei Grenzstreitigkeiten mit Chile.

Alle Macht dem Präsidenten

Eigentlicher Brennpunkt der innenpolitischen Auseinandersetzung der letzten Monate ist die Machtfülle von Menem und seinem Team. Vielen im Land flößt eine mögliche Wiederwahl Menems Angst ein. Er hat Ambitionen, die Kultfigur des Juan Domingo Perón aus dem Gedächtnis des Volkes zu löschen und sich selbst als den größten argentinischen Präsidenten an seinen Platz zu stellen.
Heute schon kontrolliert Menem praktisch Legislative, Exekutive und Jurisdiktion. Die Gewerkschaften wurden von ihm als politischer Faktor ausgeschaltet, die Wirtschaft steht aufgrund seiner Reformen hinter ihm, und selbst die Militärs sind in Argentinien kein ernstzunehmendes Potential mehr. Zusätzlich stehen große Teile der Medien unter seinem Einfluß, und kritische Berichterstatter werden bestraft, etwa durch Entzug staatlicher Anzeigen.

Das Wahlergebnis

Die Wahlbeteiligung am 3. Oktober lag bei 76,1 Prozent, bei bestehender Wahlpflicht. Dies stellt einen neuen Tiefpunkt seit Wiedereinführung der Demokratie 1983 dar. 3,7 Prozent der WählerInnen gaben einen weißen Stimmzettel ab.
Die PeronistInnen (PJ) konnten 42,3 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen und siegten in 16 der 23 Provinzen. An die Radikale Bürgerunion (UCR) gingen Córdoba, Santiago del Estero, Rio Negro und Catamarca. Überwältigend war der Sieg der Menemisten in der größten und wichtigsten Provinz des Landes, Buenos Aires. Der ehemalige Vizepräsident Argentiniens, Eduardo Duhalde (und heutige Gouverneur dieser Provinz) errang mit seinem Spitzenkandidaten, dem Fraktionsvositzenden der Peronisten im Landesparlament, fast die Hälfte aller Stimmen, zwanzig Prozentpunkte mehr als die Radikalen unter Federico Storani. Ein Sieg, der keineswegs in dieser Höhe erwartet worden war. Duhalde qualifizierte sich damit als politischer Kronprinz Menems, für den Fall, daß dieser die Verfassungsreform nicht durchsetzen könnte. Obwohl enger politischer Freund und Gefährte Menems, zeigte Duhalde bei der Aufstellung der Wahllisten Unabhängigkeit, indem er exponierte Menemisten nicht aufstellte. Auch sein Spitzenkandidat, Alberto Pierri, ist nicht gerade als Menem-Freund bekannt.
In der nach Buenos Aires zweitwichtigsten Provinz Córdoba siegte der dortige Gouverneur Eduardo César Angeloz. Dabei besiegte der seit 1983 regierende Angeloz den Peronisten Juan Schiaretti, der von Wirtschaftsminister Cavallo selbst protegiert wurde. Das eher konservative und traditionelle Córdoba jedoch blieb dem charismatischen Angeloz treu. Jetzt ist Angeloz nahezu sicherer Präsidentschaftskandidat seiner Partei für 1995, wo er wahrscheinlich zum zweiten Mal nach 1989 gegen Menem antreten wird.
Möglich wurde die herausragende Position Angeloz’ in der UCR durch die Wahlniederlagen seiner innerparteilichen GegnerInnen. In der Bundeshauptstadt verlor die Schriftstellerin Martha Mercander, Kandidatin seines stärksten Gegenspielers, des Senatoren Fernando de la Rúa . Die große Überraschung der Wahl war der knappe Sieg des ehemaligen Verteidigungsministers und engen Vertrauten Menems, Erman González. In keiner der unzähligen Umfragen vor der Wahl war ein derartiges Ergebnis prognostiziert worden.
Allgemein erwartet worden war ein Stimmenzuwachs für die Rechtspartei MODIN. Aldo Rico persönlich war Spitzenkandidat in der Provinz Buenos Aires und erreichte dort knapp 11 Prozent und vier Abgeordnetensitze. Dieselbe Zahl von Abgeordenten erreichte der Zusammenschluß linker Parteien und Gruppierungen, die Frente Grande, was als sehr gutes Ergebnis zu werten ist.

Jetzt läuft die Kampagne zur Wiederwahl

Die Wahl hat Präsident Menem gestärkt und der Verfassungsänderung ein gutes Stück nähergebracht Es ist ihm gelungen, das Volk glauben zu machen, daß wirtschaftliche Stabilität mit seiner Person verknüpft sei.
Die erste Oppositionskraft, die UCR, ist deutlich geschwächt. Sie hat es nicht vermocht, eine politische Alternative zu Menem präsentieren. Ihr wahrscheinlicher Präsidentschaftskandidat, Córdobas Gouverneur Angeloz, hat 1995 nur dann Chancen, wenn sich die Partei nicht weiterhin in Flügelkämpfen verstrickt. Die liberale UCD unter dem ehemaligen Wirtschaftsminister Alvaro Alsogaray hat ihre politische Bedeutung auf nationaler Ebene verloren und wurde durch den rechtsnationalen MODIN unter Aldo Rico als dritte Kraft ersetzt. Aber auch der MODIN hat sein maximales Wählerpotential (bis 12 Prozent) wahrscheinlich bereits erreicht. Große Veränderungen sind auch bei den Linksparteien Frente Grande und Unidad Socialista nicht zu erwarten.
Das nächste wichtige Datum ist nun der 21. November 1993, Tag der Volksbefragung, deren Ausgang nicht klar vorhersehbar ist. Derzeit läuft eine der größten und teuersten Kampagnen in der argentinischen Geschichte. Es geht darum, ob sich Menem durch eine Wiederwahl unvergeßlich in die Geschichte des Landes “einmeißeln” kann.

Schwarzer Frühling

Nach einem Banküberfall flüchteten die TäterInnen in einen Bus des öffentlichen Nahverkehrs und zwangen den Fahrer, mit den Fahrgästen an Bord ohne Halt weiterzufahren. Eine fast klassische Situation von Geiselnahme. Noch im Umfeld des Tatorts fing ein Einsatzwagen der Polizei den Bus ab und brachte ihn zum Stehen. Ein Polizist, der sich dem Bus näherte, kam sofort zu Tode. War es mörderischer Dilettantismus oder militarisiertes Denken – über drei Minuten lang feuerte die Polizei auf den Bus mit BankräuberInnen und PassagierInnen: der Bus wies anschließend über 16o Einschüsse von außen auf… Das Ergebnis: sechs Tote, über ein Dutzend Verletzte im Bus.
Für die Polizei war klar (seit welchem Moment des Einsatzes?), daß es sich bei den TäterInnen um “TerroristInnen”, Mitglieder der Stadtguerilla Lautaro, handelte. Entsprechend wurden auch die Verletzten be- bzw. mißhandelt, teilweise mit Handschellen in die Krankenhäuser eingeliefert. So weit, so schlimm.

Regierung billigt Massaker

Schlimmer aber war die erste Reaktion der Regierung auf den Polizeieinsatz – weder Innenminister Krauss noch Präsident Aylwin fanden irgendeinen Anlaß, das Vorgehen der Polizei zu kritisieren. Das Totschlag-Wort “Terrorismus”-Bekämpfung blendete offenbar jede weitere Überlegung aus…
Erst die Recherchen der Medien ergaben im Anschluß, daß von den Opfern im Bus nur drei “Lautaristas” waren, die anderen drei jedoch unbeteiligte Fahrgäste, unter den Verletzten waren zwölf Passagiere…Für die Einschätzung des Polizeieinsatzes sollte es keine Rolle spielen, aber es soll nicht unterschlagen werden – bei ihrem Überfall hatten die Lautaristas sofort einen Bankwächter erschossen.

Kleine Fragezeichen

Wären alle Opfer tatsächlich “Terroristen” gewesen, hätten wohl nur wenige ChilenInnen noch weitere Fragen gestellt So aber, angesichts der unbeteiligten Fahrgäste, fragten nicht nur einige Medien, sondern auch PolitikerInnen des Regierungsbündnisses “Concertación” nach der Angemessenheit des Polizeieinsatzes. Und auch die Regierung ließ erkennen, daß sie das Vorgehen der Polizei nicht einfach unhinterfragt weiter billigen wollte – sie verlangte von der Polizei einen detaillierten Bericht… und sie beantragte die Einsetzung eines Sonderrichters zur Untersuchung der Vorgänge, und das bedeutet: den Überfall der Lautaristas und das Verhalten der Polizei. Wird ihm dieses Bündel von Aufgaben den Blick auf die zivilen Opfer freilassen?
Weitere politische Konsequenzen sind für diese Regierungsperiode nicht zu erwarten. Die Frage nach dem möglichen Rücktritt des verantwortlichen Ministers erledigt sich damit, daß die Polizei – Folge der Militärdiktatur -, sowohl dem Innen- wie dem Verteidigungsminister unterstellt ist. Die Praxis zeigt, sie untersteht keiner wirklichen Kontrolle, sondern agiert autonom – ein für eine demokratische Gesellschaft unhaltbarer Zustand.
Aber hier stellt sich eine weitere Frage – als wie unerträglich wird das Vorgehen der Polizei in Chile empfunden? Nach einer im Regierungsauftrag durchgeführten nicht-repräsentativen Umfrage findet etwa die Hälfte der befragten ChilenInnen an dieser Art, die Gesellschaft zu schützen, nichts auszusetzen. Und die berüchtigten Gespräche im Taxi oder auch Zufallsgespräche im Bus lassen dieses Ergebnis sogar glaubwürdig erscheinen…
Als am 3. November schon wieder Polizisten der Finger zu locker am Abzug der Maschinenpistole lag, war das Opfer weder “Terrorist” noch bloßer Passant, sondern erwies sich als Angehöriger der rivalisierenden Kripo (Investigaciones). Unter diesen Umständen war es unmöglich, einfach zur Tagesordnung überzugehen oder sich mit einer fadenscheinigen Rechtfertigung zu begnügen.
Die rasche Reaktion der obersten Polizeiführung – die sofortige Entlassung der drei beteiligten Polizisten aus dem Dienst und Neuordnung von Zuständigkeiten – berührt das zentrale Problem natürlich überhaupt nicht: Welche Grundsätze gelten für den Waffengebrauch der Polizei? Wer entscheidet über die Politik der inneren Sicherheit im Lande?
In einer längeren Erklärung, die man als Armuts- wie als Ohnmachtszeugnis verstehen kann, bekannte Innenminister Krauss am 6. November, daß sein Ministerium aufgrund der Rechtslage den Einsatz von Carabineros und Investigaciones nur “koordinieren” kann, aber diese Koordination “bezieht sich nicht auf operative Einsätze und bedeutet schon gar keine wirkliche Befehlsgewalt (mando efectivo) über die polizeilichen Institutionen”.
Die Feststellung ist sachlich richtig, aber in diesem Zusammenhang fast bedeutungslos. Weder Krauss noch Aylwin können sich aus ihrer politischen Verantwortung stehlen: schließlich waren sie es, die das Vorgehen der Polizei gegen DemonstrantInnen am 11. September und beim Massaker in Las Condes ausdrücklich rechtfertigten.

Ein Neuer bei Interpol

Während der Regierung Allende genoß Mery noch den Ruf, der Unidad Popular nahezustehen. Mit dem Putsch aber scheinen sich für ihn die Zeiten gewandelt zu haben. VertreterInnen chilenischer Menschenrechtsorganisationen und ehemalige politische Gefangene geben an, Mery sei eine der Schlüsselfiguren für die Organisation der Repression in der Region Linares gewesen, deren Kriminalpolizei er seinerzeit leitete.

Merys Grill

In dieser Position organisierte er im Verbund mit der berüchtigten Geheimpolizei DINA und dem militärischen Geheimdienst SIM die Verhaftung von GewerkschafterInnen und Linken, die dann in den Kellern der Artillerieschule von Linares inhaftiert wurden. Seine Beteiligung an den Folterungen wurde bereits in der Ende 1992 herausgegebenen Dokumentation “Labradores de la esperanza” des CODEPU (Comité de defensa de los derechos del pueblo) benannt und wird nun unter dem Titel “Merys Grill” erneut in der September-Ausgabe der Zeitschrift “Punto Final” herausgestellt.
In den meisten Berichten der Opfer wird Mery nicht als der unmittelbare Folterer bezeichnet. Er bestimmte, wer verhaftet und wer gefoltert wurde. Im Zusammenhang mit den Folterungen selbst nahm er vor allem die Rolle des “Guten” ein, der selbst keine Gewalt anwendete, sondern nach der Folter den Weg zur Kooperation und zur Aussage ebnen sollte. “Mery war der Ideologe während der Folter und des Verhörs. Er war immer vor dem Folterraum, aber er entschied, wann der Zeitpunkt gekommen war, an dem die Folter beendet und die Kooperation versucht wurde”, so Solidia Leiva von der Vereinigung der Familienangehörigen von Verschwundenen. Silvia Sepúlveda, in den 70er Jahren Vorsitzende der Bauerngewerkschaft Luciano Cruz und in Linares gefangen und gefoltert, beschreibt, daß Mery den Gefangenen klarzumachen versuchte, Schweigen sei sinnlos. “Mery hat mir gesagt, ich solle alles sagen, was ich weiß, dann würde ich schnell freigelassen.”
Frau Sepúlveda berichtet weiter, sie habe gesehen, wie Mery den Gefangenen Alejandro Mella dazu bringen wollte, eine Erklärung über seine Freilassung zu unterschreiben. Gefangene, die eine solche Erklärung unterschrieben, wurden häufig sofort danach umgebracht. Derartige Dokumente gehörten ins feste Repertoire des Verschwindenlassens: So konnte die Polizei ihre Hände in Unschuld waschen, da sie nachweisen konnte, den Gefangenen freigelassen zu haben.

Ahnungslose Interpol?

Sicher kann man nicht annehmen, daß sämtliche Delegierte der Interpol-Generalversammlung über die Rolle des chilenischen Kripo-Chefs informiert waren. Kein Grund allerdings, gegenüber einem Sicherheitsbeamten aus der Zeit der chilenischen Diktatur nicht generell vorsichtig zu sein. In einer Organisation, die sich in Artikel 2 ihrer Statuten ausdrücklich auf die Erklärung der Menschenrechte bezieht, ist eine solche Wahl mehr als eine Kleinigkeit.
Die Versuche, Folterer und andere Verantwortliche für schwerste Menschenrechtsverletzungen durch Amnestien vor einer Verurteilung zu bewahren, das Beharren der Militärs auf einer Teilhabe an der Macht im Land, sind in allen seriösen Zeitungen nachzulesen. Mit der Wahl Mery Figueroas in eine Schlüsselposition beteiligt sich die Interpol-Generalversammlung an der nachträglichen Rechtfertigung der Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur.
Die nach Kontinenten gewählten Delegierten sollen vor allem die polizeiliche Zusammenarbeit in ihrer Region fördern – ein Vorhaben, das Interpol seit den 80er Jahren verstärkt betreibt. Als einer der zwei Delegierten für Amerika im Exekutivkomitee übernimmt Mery eine bedeutende Position in der einzigen weltweiten Polizeiorganisation, der mittlerweile über 170 Länder angehören. Das Exekutivkomitee von Interpol hat die Aufgabe, die Arbeit des Generalsekretariats in Lyon zu überwachen. Mery dürfte dafür kaum der geeignete Mann sein, denn auch unabhängig von seiner Rolle während der Militärdiktatur des Generals Pinochet hätte der chilenische Kripo-Chef bei den Herren von Interpol auf gesteigertes Interesse stoßen müssen. So veröffentlichte z.B. die chilenische Zeitschrift “Apsi” in ihrer Ausgabe vom 21.9.92 einen längeren Bericht über den Drogenhandel in Chile. Darin findet sich ein Foto, das ihn in freundlicher Begrüßungsszene mit Cabro Carrera zeigt. Der Handschlag der beiden, so betont das Blatt, sei keineswegs ein Einzelfall gewesen. Carreras Name steht in Chile für Drogenhandel, illegales Glücksspiel und andere Dinge, die Hans-Ludwig Zachert, Präsident des BKA und ebenfalls neu gekürtes Mitglied des Interpol-Exekutivkomitees, hierzulande sonst als “organisierte Kriminalität” bezeichnet.

Bearb. Vorabdruck aus “Bürgerrechte und Polizei/CILIP”, Nr.46 (3/93)

Zwanzig Jahre danach

Staatspräsident Aylwin versuchte verkrampft den Anschein zu erwecken, er wolle es allen Recht machen. Das konnte aber immer weniger die Tatsache verbergen, daß die demokratisch gewählte Regierung die Machtposition der Militärs im Sinne einer “Verbesserung der zivil-militärischen Beziehungen” akzeptiert.
Gleichzeitig wurde in den vergangenen Wochen der Verzicht auf Wahrheit und Gerechtigkeit bei der Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen der Diktatur wieder so offensichtlich, daß diejenigen, die die Aufklärung und Verurteilung der Verantwortlichen fordern, umso heftiger die Regierungspolitik kritisierten (vgl. LN231/232).
Es war vorauszusehen, daß sich an diesem zwanzigsten Jahrestag des Putsches die Konflikte deutlich zeigen würden.

“Allende, das war nicht irgendein Präsident, Salvador Allende war mein Präsident”

General Augusto Pinochet feierte am 23. August den zwanzigsten Jahrestag seiner Ernennung zum Oberkommandierenden der Streitkräfte.
Der Festakt galt gleichzeitig als Auftakt für verschiedene Aktivitäten der Streitkräfte im “Monat des Heeres”, wie der September seit den Jahren der Militärdiktatur genannt wird.
Diese Veranstaltungen und vor allem die weitgehend unkritische Presseberichterstattung darüber stellten für Pinochet die Möglichkeit dar, sich ausführlich zum Putsch zu bekennen. Er bezeichnete wiederholt alle Verhafteten-Verschwundenen als “Banditen” und “Guerrilleros”, woraufhin die Organisationen der Angehörigen Anzeige wegen Verleumdung und Beleidigung erstatteten.
Als Antwort auf den “Monat des Heeres” hatten die Kommunistische Partei und weitere Organisationen der linken Opposition zu einem “Monat des Widerstands” aufgerufen, in dem durch vielfältige Aktionen, Kundgebungen und Demonstrationen an Salvador Allende, die Regierungszeit der Unidad Popular und den Putsch erinnert werden sollte. Der Jahrestag des Putsches sollte zum Anlaß genommen werden, erneut auf die Kontinuität der Politik der Militärs und die fehlende Aufklärung der Verbrechen hinzuweisen.
Die Erinnerung an Salvador Allende ist heute noch so lebendig, daß er weit über die Kreise linker Parteien hinaus als Märtyrer und Symbolfigur gilt. Das Verhalten der Regierung machte deutlich, wie unangenehm ihr diese Tatsache ist.
“Der 11. September ist ein schwieriges Datum, aber das darf nicht Anlaß geben zu Konfrontationen oder Gewalt”, sagte der Generalsekretär der Regierung, Enrique Correa. “Es sollte ein Tag der Erinnerung sein, der Reflektion und des Nachdenkens über die Ursachen des Putsches”, fügte der Präsidentschaftskandidat der Concertación, Eduardo Frei, hinzu.
Jede Erinnerung an Allende, jeder damit verbundene Protest und jede Kritik der aktuellen Situation von linker Seite sollte möglichst schon im Keim erstickt werden.
“Die Carabiñeros haben Anordnung, jede illegale Demonstration oder Versammlung am 11.9. oder vorher aufzulösen, um öffentliche Ruhe und Ordnung zu gewährleisten”, erklärte der Direktor der Carabiñeros General Rodolfo Stange, als er eine Sperrzone für Demonstrationen in der Innenstadt und den Vor-Ausnahmezustand bekanntgab.

Widerstand an den Universitäten

Schon bevor die erste Kundgebung aus Anlaß des Jahrestages an der staatlichen “Universidad de Chile” stattgefunden hatte, beschloß das Erziehungsministerium ohne eine Erklärung abzugeben, die sozialwissenschaftlichen Fakultäten auf dem Campus im Stadtviertel Macul in der Woche vor dem 11.9. geschlossen zu halten.
Am 4. September, dem Jahrestag des Amtsantritts der Regierung Allende und in der darauffolgenden Woche wurden Kundgebungen und Demonstrationen von StudentInnen in Santiago, Valparaiso, Concepción und Antofagasta unter starkem Polizeieinsatz behindert oder aufgelöst. Dabei wurden 75 StudentInnen festgenommen und über zwanzig, mehrheitlich durch Gummigeschosse, verletzt. Der Jurastudent Jaime Lagos von der Privatuniversität Arcis in Santiago wurde duch eine gezielt geschossene Tränengasbombe schwer am Kopf verletzt. Zwei weitere Studenten sind seitdem in Haft.

Frühzeitiger Streit um die Route des Trauerzuges

Die Vorbereitungen des Trauerzuges am 11. September selbst, zu dem das “Comité Pro Anulación de la Ley de Amnistia”, das linke Parteienbündnis MIDA, sowie Menschenrechtsorganisationen aufriefen, zeigten schnell, daß die Regierung auch nicht zu symbolischen Zugeständnissen bereit war. Keinesfalls sollte die Demonstration am Regierungspalast, der Moneda, vorbeiziehen dürfen, um wie traditionell üblich, Blumen vor dem Fenster des ehemaligen Büros Allendes niederzulegen. Auch die Straßen der nächsten Umgebung blieben der Demonstration ohne schlüssige Begründung versperrt. Der Bürgermeister von Santiago Pareto erklärte, er wolle vermeiden, daß “die Hauswand der Moneda wie im vergangenen Jahr beschmiert werde”. Als Kompromiß wurde nur erreicht, daß eine Delegation von 50 VertreterInnen des Organisationskommitees die Sperrzone betreten durften, um Blumen niederzulegen.
Aus Concertaciónskreisen wurde jedoch das Gerücht bekannt, die Beschränkungen für die Demonstration seien als Zeichen des Ausgleichs zu verstehen. Denn die Regierung hatte sich geweigert, den PinochetistInnen das Kongresszentrum Diego Portales für deren Feier zur Verfügung zu stellen.

Rechte Jubelfeiern unter Polizeischutz

Der traditionelle rechte Demonstrationszug, den General Pinochet von seiner Villa zur Escuela Militar begleitet, wo die alljährliche Jubelfeier des Putsches mit anschließender Messe stattfindet, erhielt seine Erlaubnis stattdessen problemlos. An den Feierlichkeiten nahmen dieses Jahr beide rechten Präsidentschaftskandidaten, der vom Parteienbündnis “Pacto por el Progreso” unterstützte Gustavo Allessandri und der unabhängige Jose Piñera, teil. Schon Tage vor dem 11. September versammelten sich Pinochet-AnhängerInnen zu einer “Ehrenwache” vor seinem Haus und schwenkten Transparente mit Aufschriften wie “Danke, Pinochet” oder “Noch ein Putsch, Herr General!”. Fahnenschwenkende Jugendliche, teilweise mit Hakenkreuzbinden am Arm, zogen durch das Nobelviertel Las Condes, während die Carabiñeros den Verkehr umleiteten.

Repression wie in den Zeiten der Diktatur

Am Vormittag des 11. September fand in der Kapelle der Moneda eine von der Regierung veranstaltete Trauermesse zu Ehren der Toten des Putsches statt, an der die Witwe Salvados Allendes, Hortensia Bussi, weitere Familienangehörige, sowie VerterterInnen der Concertacions-Parteien teilnahmen. Staatspräsident Aylwin ließ sich durch Innenminister Krauss und den Generalsekretär der Regierung Enrique Correa vertreten.
Gleichzeitig hielt die Sozialistische Partei eine eigene Kundgebung ab und hatte beschlossen, die Ehrung am Grab des Sozialisten Allende auf den nächsten Tag zu verschieben.
Zur selben Zeit versammelte sich der Trauerzug auf der Hauptstraße Santiagos, der Alameda. Nach dem Ende einer Messe in der nahegelegenen Kirche San Ignacio, sollte die Demonstration, an der auch der Präsidentschaftskandidat des MIDA, Eugenio Pizarro, teilnahm, von der Innenstadt zum Cementerio General führen, dem Friedhof, auf dem Salvador Allende begraben ist. Dort sollte eine Abschlußkundgebung stattfinden, um danach Blumen an seinem Grab niederzulegen.
Die Straßen rings um das Regierungsgebäude waren abgesperrt und teilweise vollständig durch Polizeifahrzeuge, Wasserwerfer, sogar Traktoren und Baustellenfahrzeuge blockiert. Seit dem frühen Vormittag kreisten ununterbrochen Hubschrauber über der Innenstadt.
Aufgrund eines starken Polizeieinsatzes mit Wasserwerfern, Tränengas und Knüppeln schon kurz nach Beginn der Demonstration, konnte nur ein kleiner Demonstrationszug die genehmigte Route fortsetzen und eine Zwischenkundgebung am Frauengefängnis Santo Domingo abhalten. Damit sollte die Solidarität mit Belinda Zubicueta Carmona ausgedrückt werden, der einzigen Frau der noch 21 politischen Gefangenen der Diktatur.
Die Mehrzahl der TeilnehmerInnen konnte nur in kleinen Gruppen den Polizeisperren ausweichen und zum Friedhof gelangen.
Auf dem Weg zum Kundgebungsort gab es regelrechte Hetzjagden der Militärpolizei auf Gruppen von DemonstrantInnen, hauptsächlich in der Innenstadt. Dabei gab es Verletzte, vor allem durch Gummigeschosse und Tränengasbomben. In einem Bereich der Alameda, wo sich zu diesem Zeitpunkt keine DemonstrantInnen befanden, wurde ein 67-jähriger Rentner beim Überqueren der Straße von einem Wasserwerfer zu Boden geworfen und überrollt. (Siehe Kasten)

Zwischen Wut und Trauer

Bei der Abschlußkundgebung drängten sich die Menschen auf dem Platz vor dem Friedhofseingang. Die Rede der Präsidentin der Angehörigenorganisation AFDD, Sola Sierra, wurde plötzlich durch die Nachricht unterbrochen, es habe einen Toten auf der Alameda gegeben. Der darauffolgenden Rednerin Gladys Marin von der Kommunistischen Partei gelang es aber, die Anwesenden soweit zu beruhigen, daß alle bereit waren, erst die Kundgebung zu beenden, um dann gemeinsam in die Innenstadt zurückzuziehen.
In diesem Moment wurden die ersten Tränengasbomben direkt hinter die Bühne geschossen. Alle Zufahrten zum Friedhofsvorplatz waren von der Polizei besetzt. Fast panisch versuchte sich die Menge in alle Richtungen zu zerstreuen, viele quälten sich hustend und tränend durch die Gaswolke, die den Zugang zum Friedhof versperren sollte.
Draußen wurde, knapp 100 m vom Friedhofseingang entfernt, scharf geschossen. Der 18-jährige Jose Ortiz Araya, Mitglied der Kommunistischen Jugend, wurde von einem 9mm-Projektil am Hals getroffen und verblutete beim Transport mit einem Privatauto ins nächste Krankenhaus. Mehrere andere DemonstrationsteilnehmerInnen wurden durch Schüsse verletzt.
Die Versammlung, die währenddessen auf dem Friedhof stattfand, wurde ebenfalls abgebrochen, als von allen Seiten Carabiñeros auftauchten, die auch hier mit Gasbomben und Gummigeschossen auf die Anwesenden zielten. Der Friedhof wurde solange unter Tränengas gesetzt, bis sich nur noch vereinzelte kleine Gruppen von ehemaligen DemonstrationsteilnehmerInnen, BesucherInnen gleich, auf die Ausgänge zubewegten.
Noch während eine Delegation der DemonstrationsorganisatorInnen der Demonstration am Nachmittag vergeblich eine Stellungnahme des Innenministeriums forderte ging die Militärpolizei in der Innenstadt weiter mit Wasserwerfern und Tränengas gegen einzelne Gruppen von DemonstrantInnen vor. Als Reaktion darauf wurde durch Steinwürfe Sachschaden angerichtet.

Straßenkämpfe in der Nacht

Den ganzen Tag über hatten sich schon Menschen am Nationalstadion versammelt, das 1973 als Konzentrationslager der Militärs gedient hatte. Mit Kerzen erinnerten sie an die dort Gefolterten und Getöteten und die von dort Verschwundenen. Der populäre Musiker Victor Jara wurde ebenfalls hier ermordet.
Gegen Abend wurden in den Poblaciones, vor allem im Süden und Osten Santiagos Kerzen für die Ermordeten der Diktatur angezündet. Später errichteten vor allem Jugendliche wie auch schon in den vergangenen Jahren brennende Barrikaden, die die Carabiñeros daran hinderten, die Viertel zu betreten. “Klar waren wir wütender dieses Jahr. Zwanzig Jahre nach dem Putsch, und außerdem wegen der Toten am Nachmittag”, erzählt Manuel aus der Poblacion La Victoria.
Die Carabiñeros reagierten auf Steinwürfe und Molotowcocktails gegen Polizeifahrzeuge und Räumpanzer, indem sie ganze Stadtviertel unter Tränengas setzten.

Spontane Schuldzuweisungen

Insgesamt wurden 127 Menschen, überwiegend Jugendliche, während der Ereignisse festgenommen. Es gab 55 Verletzte, hauptsächlich mit Schußverletzungen, Verletzungen durch Tränengasbomben oder Knüppel. Zwei Schwerverletzte wurden einen Tag lang im Krankenhaus mit Handschellen ans Bett gefesselt, ohne daß Haftbefehle gegen sie vorlagen.
Sieben Polizisten wurden verletzt. Noch am selben Abend forderten die OrganisatorInnen der Demonstration den Rücktritt von Innenminister Krauss und Luis Pareto, dem Bürgermeister von Santiago, die sie für die Repression verantwortlich machten. Außerdem forderten die OrganisatorInnen die Berufung eines Untersuchungsrichters zur Aufklärung der Vorgänge und kündigten gleichzeitig im Namen der Angehörigen der beiden Toten eine Anzeige gegen Carabiñeros an. Der Vertreter der Alianza Humanista Verde, Gabriel Feres, der selbst auf der Bühne durch mehrere Gummigeschosse am Kopf verletzt worden war, bezeichnete die Polizeiaktion als einen “im voraus strukturierten Plan, die Ehrungen des Ex-Präsidenten Allende zu verhindern”.
Demgegenüber beeilten sich die Regierung und weite Kreise der Concertación, die Kommunistische Partei für die Ereignisse verantwortlich zu machen, forderten ihrerseits jedoch ebenfalls einen Untersuchungsrichter. Noch bevor die formellen Schritte dafür in die Wege geleitet waren, bezeichnete aber Innenminister Krauss das Verhalten der Militärpolizei als angemessen und beschuldigte die außerparlamentarische Linke, “Veranstaltungen zu organisieren, ohne die Möglichkeit zu haben, die TeilnehmerInnen unter Kontrolle zu halten”.
Der Direktor der Carabiñeros, General Rodolfo Stange, rechtfertigte das Verhalten seiner Untergebenen, indem er daran erinnerte, daß schon Tage vorher davor gewarnt worden war, die “öffentliche Ordnung zu gefährden”. Er bezeichnete den Waffengebrauch der Polizei als angemessen, um eine Demonstration aufzulösen, wenn die Polizisten dabei persönlich gefährdet seien.

Die Ermittlungen suchen schuldige Einzelpersonen …

Am 13.9. ernannte das Oberste Gericht Richter Umberto Espejo als verantwortlichen Untersuchungsrichter, die Ereignisse während der Demonstration aufzuklären.
In den darauffolgenden Tagen erstatteten bei ihm sowohl die Angehörigen des überfahrenen Sergio Calderon wie auch die Menschenrechtsorganisation CODEPU Anzeige gegen die Verantwortlichen am Tod Jose Arayas und Sergio Calderons, außerdem wegen Körperverletzung in mehreren Fällen sowie Mißhandlung und Bedrohung von Festgenommenen. Mehrere Jugendliche hatten ausgesagt, nach ihrer Festnahme auf den Polizeiwachen gefoltert worden zu sein.
Die Untersuchungen Umberto Espejos richten sich nun darauf, verantwortliche Einzelpersonen für die Ereignisse zu benennen. Dazu gehörte beispielsweise, festzustellen, aus wessen Waffe der tödliche Schuß auf José Araya abgegeben wurde. Die Spurensicherung am Tatort war jedoch mangelhaft und die Waffen der beteiligten Polizisten wurden erst Tage später untersucht.
Logischerweise bestritt der verantwortliche General der Carabiñeros, Oscar Tapia, gegenüber der Presse dann auch die Verantwortung seiner Leute am Tod José Arayas. “Ich weiß nicht, welcher Carabiñero das gewesen sein sollte”, war sein Kommentar auf die Frage nach dem Täter.

… anstatt die Institutionen verantwortlich zu machen

Noch viel weniger als die Benennung von einzelnen Verantwortlichen ist zu erwarten, daß die Untersuchungen die Strategie und das Verhalten der Militärpolizei insgesamt in Frage stellen. Zu schnell und zu explizit haben sich Regierungsparteien und rechte Opposition hinter die Verantwortlichen gestellt. Auch als bekannt wurde, daß sich Maximiliano Leon Urbina, der Verantwortliche des Bezirks, in dem der Friedhof liegt, nach dem Putsch 1973 als Folterer in Buin und Umgebung hervorgetan hatte, wurden kaum kritische Stimmen innerhalb der Concertación laut, die auf personelle und institutionelle Kontinuitäten der Diktatur hinwiesen.
Nur zwei Vertreter der Concertación, die Abgeordneten Vivente Sotta (PPD) und Camilo Escalona (PS) kritisierten offen die paradoxe Situation, daß das Innenministerium zwar für die “öffentliche Ordnung zuständig sei, gleichzeitig aber keine Kontrolle über die Carabiñeros hat, die vom Verteidigungsministerium abhängen”.
JournalistInnen der konservativen Tageszeitung “Epoca” waren Augenzeugen, als ein Carabiñero aus einem Wagen ausstieg und direkt auf DemonstrantInnen schoß. Trotzdem wurde in den Medien fast einstimmig die Verantwortung der OrganisatorInnen für die Demonstration betont und versucht, das repressive Verhalten der Militärpolizei zu rechtfertigen, indem auf verletzte Polizisten und den angerichteten Sachschaden verwiesen wurde, den sie als gewöhnlichen “Ausbruch linker GewalttäterInnen” bezeichneten.
Rechtsanwälte der verletzten Carabiñeros drohten sogar damit, Anzeige gegen die OrganisatorInnen der Demonstration, speziell gegen Gladys Marin, zu erstatten, um damit exemplarisch Schuldige für Körperverletzung an Polizisten und Sachschaden zu verurteilen.
Im nachhinein erscheint die Zahl der Toten und Verletzten erstaunlich gering, gemessen an der Zahl der eingesetzten Militärpolizisten und der Brutalität ihres Vorgehens.
Selbst wenn die Untersuchungen Umberto Espejos einzelne Carabiñeros für ihr Verhalten verurteilen sollten, hat die Reaktion der Regierung Aylwin gezeigt, daß sie nicht bereit ist, die Ideologie und die Machtstrukturen des Repressionsapparates der Diktatur zu kritisieren oder gar zu verändern. Vielmehr bedient sie sich weiterhin dieser repressiven Institutionen, um Kritik zum Schweigen zu bringen und scheinbare politische Stabilität zu erzeugen. Der 11. September war ein Tag, der zeigte, wie wenig sich geändert hat in den vier Jahren des “Übergangs zur Demokratie”.

Kasten:

Das Ehepaar Victor Espinoza Aviles und Marisol Arriagada Godoy beobachteten das Geschehen auf der Alameda, als sie um ca. 13 Uhr auf der Nordseite der Straße auf den Bus warteten. Ein Gruppe von ungefähr 25 anderen Personen befand sich ebenfalls am Tatort.
Sergio Leopoldo Calderon befand sich auf dem Rückweg vom Einkaufen und überquerte gerade die Straße, auf der kein Verkehr war. Der Wasserwerfer LA 12 befand sich gegen die Fahrtrichtung der Straße auf dem Weg in die Innenstadt. Er beschleunigte plötzlich in Richtung auf den Fußgänger, warf ihn mit der Stoßstange zu Boden und fuhr mit dem linken Vorderrad über Kopf und Oberkörper des Rentners. Nachdem er kurz angehalten hatte, beschleunigte er die Fahrt erneut und verschwand. Auch die Polizisten der Patrouille Z-735, die an der Kreuzung stehend Augenzeugen des Vorgangs wurden, stiegen in ihr Fahrzeug und fuhren davon. Kurz darauf fuhren mehrere Polizeifahrzeuge und Motorräder vorbei, ohne anzuhalten.
Erst ca. 15 Minuten später kamen mehrere Mannschaftswagen an den Tatort, deren Besatzung die PassantInnen auseinandertrieb und einen Kreis um den Toten bildete. Dabei bedrohten sie mehrfach ZeugInnen mit ihren Waffen.
Nachdem die beiden AugenzeugInnen vor laufender Kamera der Fernsehkanäle 7 und 13 das Geschehen beschrieben hatten, näherte sich ihnen einer der befehlshabenden Carabiñeros mit den Worten “Redet weiter- und wir machen euch fertig!”
Erst Minuten später wurde die Leiche mit einer Plastikfolie abgedeckt, bis ein Krankenwagen sie schließlich nach einer dreiviertel Stunde abtransportierte. Sofort darauf tauchte ein anderer Wasserwerfer auf, der die Blutspuren von der Straße spritzte, um gleich danach mit dem Strahl die Menschenmenge auseinanderzutreiben.
In den Tagen nach dem 11. September wurden die beiden AugenzeugInnen mehrfach telefonisch bedroht, so daß sie in der darauffolgenden Woche Polizeischutz gestellt bekamen.

Exil zwischen Solidarität und Bevormundung

Der Militärputsch am 11. September 1973 ist nicht nur ein für die chilenische Geschichte einschneidendes Ereignis, sondern er markiert auch den Beginn für die größte Flucht und Migrationsbewegung in Lateinamerika seit den Unabhängigkeitsbestrebungen Anfang des 19. Jahrhunderts. Schätzungen der chilenischen Menschenrechtsorganisation CODEPU (Comite de Defensa de los Derechos del Pueblo) zufolge haben in den Jahren nach dem Militärputsch insgesamt 1,6 Millionen ChilenInnen ihre Heimat verlassen, außerdem mehr als 700.000 ArgentinierInnen nach dem Staatsstreich im Jahr 1976. Schließlich folgten die Fluchtbewegungen aus Uruguay und Peru mit jeweils rund 500.000 Menschen.
Das politische Exil hat in den siebziger und achtziger Jahren die lateinamerikanischen Migrationsbewegungen bestimmt. Heute hat die Emigration dagegen ihre eindeutig politische Konnotation verloren. An die Stelle der offenen Gewaltanwendung gegenüber politisch Andersdenkenden ist die Gewalt der neoliberalen Wirtschaftspolitik getreten. Die Menschen fliehen nicht mehr primär vor dem Militärterror und den Todesschwadronen, sondern vor der wirtschaftlichen Verelendung, von der heute bis zu 40 Prozent der Bevölkerung betroffen sind.
In diesem Sinne ist eine klare Trennung in politische Flüchtlinge und die vielfach diskriminierten Armutsflüchtlinge gar nicht möglich und erweist sich als ethnozentrisches und interessengeleitetes Konstrukt.

Deutsch-chilenische Migration

Mit dem Putsch 1973 wurde Deutschland zum Einwanderungsland für exilierte ChilenInnen. Man sollte aber nicht vergessen, daß schon seit der Unabhängigkeit Chiles 1818 immer wieder große Migrationsbewegungen stattgefunden haben, allerdings in umgekehrter Richtung, von Deutschland nach Chile. Zunächst kamen durch die Anwerbung des chilenischen Staates und deutscher Handelsunternehmen zahlreiche deutsche Siedlerfamilien, die das Handwerk in den großen Städten modernisierten und vor allem die IndianerInnengebiete südlich des Flusses BioBio für die Landwirtschaft nutzbar machen sollten.
Seit der chilenischen Staatsgründung hat es fünf große Einwanderungswellen aus Deutschland gegeben: Die erste große Fluchtbewegung erfolgte nach der Revolution von 1848, die zweite nach der Verkündung der Sozialistengesetze unter Bismarck 1878; sie hielt bis Ende der 80er Jahre an. In diesem Jahrhundert löste die Wirtschaftskrise in den 20er Jahren erneut eine große Auswanderungsbewegung aus. Mit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland und nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer weiteren starken Migration nach Chile. Während das Land zunächst flüchtende NazigegnerInnen und jüdische EmigrantInnen aufnahm, tauchte hier nach dem Krieg eine große Zahl von
SS-Angehörigen und Nazigrößen unter, deren Verbindungen zu den Reichsdeutschen im Süden Chiles seit jeher sehr gut waren.

Exil in der Bundesrepublik

Mit dem Putsch vor zwanzig Jahren wurde nun also das Einwanderungsland Chile über Nacht zum Auswanderungsland. Was hätte sich da mehr angeboten, als Zuflucht in den Herkunftsländern der Vorfahren zu suchen? Doch diese schlossen nach einem ersten Ansturm von Flüchtlingen ihre Botschaften in Santiago (mit Ausnahme Spaniens, das die Einreise ohne Reisepaß und Visa ermöglichte), obwohl die Medien voll von grauenhaften Berichten über Menschenrechtsverletzungen in Chile waren und internationale Kommissionen zu folgenden Untersuchungsergebnissen kamen: “Die Praktiken der Folter und Hinrichtungen werden derart systematisch angewandt, daß sie an Völkermord grenzen, wie er von den Vereinten Nationen definiert wurde”.
Zwar beschloß das bundesdeutsche Kabinett noch im Oktober, daß den ChilenInnen unbürokratisch geholfen werden sollte, doch schließlich wurde nur die Aufnahme eines Kontingentes von 2.000 ChilenInnen zugesagt. Im Rahmen dieser Quotenregelung durften in die Bundesrepublik aber ausschließlich inhaftierte ChilenInnen einreisen, deren Prozesse bereits abgeschlossen waren und deren Haftstrafen in Landesverweise zwecks Ausreise umgewandelt werden konnten. Aber gerade die Gefangenen ohne rechtskräftiges Urteil waren der Folter und der Gefahr des ‘Verschwindens’ besonders ausgesetzt. Diesen Menschen hätte also besonders geholfen werden müssen.
In der Folge kam es zu erbitterten Kontroversen zwischen Bundesregierung und einzelnen Bundesländern, als diese ihre Zusage zur Aufnahme der Verfolgten mit den unterschiedlichsten Bedingungen verknüpften. Während das Saarland und Bayern die Aufnahme kategorisch verweigerten, stellte BadenWürttemberg folgende Forderungen: “Die Bundesregierung muß unbedingt sicherstellen, daß von der Aufnahme Angehörige extremistischer und anarchistischer Gruppen und darüberhinaus solche Personen ausgeschlossen sind, deren Ziel die Beseitigung des demokratischen Verfassungsstaates ist”.
Angesichts dieser Logik, mit der die ChilenInnen als ‘Sicherheitsrisiko’ stigmatisiert wurden, war es dann nur konsequent, daß ein Vertreter des Verfassungsschutzes aus Köln die Sonderkommission der Bundesregierung im November nach Santiago begleitete, um bei der Befragung der Verfolgten anwesend zu sein, was schon damals eine eklatante Verletzung beziehungsweise Nichtbeachtung des Artikels 16 des Grundgesetzes war. Trotz scharfer Proteste von SPD, Diakonischem Werk, Amnesty International und Chile-Komitees kam es zu den Verhören der chilenischen Flüchtlinge in Santiago, und erst nach der Zustimmung des Verfassungsschutzes wurde den ersten 23 ChilenInnen Mitte Dezember 1973 die Ausreise erlaubt.
Angesichts der breiten Debatten über das ‘Sicherheitsrisiko’ und die Übernahme der Kosten für die Aufnahme der chilenischen Flüchtlinge zeigte sich, daß je reicher ein Land ist, desto perfekter auch sein Machtapparat zur Ausgrenzung der Fremden funktioniert.

Koordinierung der Chilesolidarität

Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Ineffizienz staatlicher Strukturen kam es bereits Ende 1973 zu einer Koordinierung der ChileKomitees mit Amnesty International, an der sich bereits im Mai 1974 auch die Stiftung Mitbestimmung der Gewerkschaften (heute HansBöcklerStiftung) beteiligte, um den Flüchtlingen über die Vergabe von Stipendien oder Arbeitsverträgen die Einreise nach Deutschland zu ermöglichen. Viele Gemeinden der Evangelischen Kirche halfen mit Notunterkünften aus, zur Überbrückung wurden Sach und Geldspenden mobilisiert, und die chilenischen Flüchtlinge wurden persönlich betreut und bei ihren Wegen zu den Ämtern begleitet.
Innerhalb weniger Monate wurde so eine effiziente Struktur für verfolgte ChilenInnen errichtet, die nicht unter die Regelungen des staatlichen Kontingentes fielen. In Einzelfällen wandte sich sogar die deutsche Botschaft mit der Bitte um Hilfe an die ChileKoordination. Neben der breit gefächerten praktischen “Integrationsarbeit” leisteten die Komitees vorrangig eine offensive Öffentlichkeitsarbeit, die die Lage in Chile sowie das Verhalten der Behörden in der Bundesrepublik thematisierte. Ohne diesen Druck, der gemeinsam von Gewerkschaften, Diakonischem Werk, Amnesty International und ChileKomitees ausgeübt wurde, und der eine positive Resonanz in den öffentlichen Medien fand, wäre es sicherlich nicht zur Aufnahme der circa 4.000 Exil-ChilenInnen gekommen, die in den folgenden Jahren Schutz in der Bundesrepublik fanden. Denn nach wie vor mahlten die Mühlen der staatlichen Aufnahmeverfahren – inzwischen in der Kompetenz des Innenministeriums- äußerst langsam.
“Während es in England oder den Niederlanden etwa sechs bis zwölf Wochen dauerte, und manche skandinavischen Staaten in dringenden Fällen innerhalb von Stunden Einreisevisa erteilten, benötigten die deutschen Behörden wegen der eingehenden Sicherheitsprüfungen häufig ein dreiviertel oder gar ein volles Jahr”.
Als Beispiel für den Erfolg der internationalen Öffentlichkeitsarbeit sei an den Fall der Gefangenen Gladys Diaz erinnert, die mehrfach gefoltert und vergewaltigt wurde und tagelang spurlos aus den Gefängnissen verschwand, sowie an die Prozesse der Holzarbeiter von Panguipulli, die für einen nicht nachgewiesenen Überfall auf eine Polizeistation Höchststrafen zu erwarten hatten. In beiden Fällen konnte die Ausreise erwirkt werden.
Im Zentrum der Aktivitäten der privaten bzw. nicht-staatlich organisierten Solidaritätsaktionen stand die Basisarbeit in Komitees und Nicht-Regierungs-Organisationen in den vielfältigsten Formen und auf verschiedensten Ebenen, weniger die Lobby-Arbeit.
Getragen von der Überzeugung einer notwendigen Solidarität mit Verfolgten und dem klaren Feindbild einer Militärdiktatur ist es nach und nach zu einer Übernahme staatlicher Aufgaben durch die Solidaritätsbewegung gekommen, die sich heute unter anderem in dem Nichtvorhandensein offizieller Daten oder einer analytischen, inhaltlich bewertenden Stellungnahme zum chilenischen Exil ausdrückt. Selbst nach ausgiebigen Recherchen war es nicht möglich, offizielle Daten über die chilenischen Flüchtlinge in Deutschland zu erhalten. Zwar gibt es eine allgemeine Bevölkerungsstatistik, die unter anderem auch die Zahl der chilenischen Bürger in Deutschland aufweist. Diese enthält jedoch weder Hinweise auf die Verhältnisse während der Ein und Ausreise, noch gibt sie Aufschluß über die Einreisegründe.
Hochrechnungen chilenischer und internationaler Menschenrechtsorganisationen ergeben aber eine relativ gleiche Zahl, nämlich ca. 1600 anerkannte politische Flüchtlinge bei einer Gesamtzahl von 6000 chilenischen Staatsbürgern in der Bundesrepublik. Diese Zahl von rund 6000 Flüchtlingen ist weitgehend konstant geblieben, weil die seit 1984 verstärkt einsetzende Rückkehr von Exil-ChilenInnen durch den Zuzug von Familienangehörigen, Studenten oder Arbeitssuchenden ausgeglichen wurde.

Ende des Exils

Mit dem Plebiszit im Jahr 1988, mit dem die chilenische Bevölkerung die Beendigung der Militärregierung und die Rückkehr zu demokratischen Politikformen einleitete, war die politische Begründung des chilenischen Exils nicht mehr gegeben. Die Verteidigung der Menschenrechte muß heute nur noch in Einzelfällen vor Gerichten eingeklagt werden und nur in einigen wenigen Fällen muß die Rückkehr von Flüchtlingen, deren Militärgerichtsprozesse in Chile noch anhängig sind, weiterhin erkämpft werden. Somit kann man sagen, daß das chilenische Exil mit der Regierungsübernahme durch Präsident Aylwin im März 1990 beendet wurde. Heute gilt es, in Chile selbst die psychischen Wunden und die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Diktatur zu heilen, beziehungsweise deren menschenrechtsverletzenden Charakter anzuklagen und ihre Ursachen zu beseitigen.

Die Integration

“Das Exil wurde uns mit Gewalt aufgezwungen. Wir wurden gezwungen, unser Land zu verlassen. Es war eine nicht gewollte Erfahrung, eine ungerechte und unendliche Strafe, ohne irgendwelche rechtfertigenden Gründe. Das Exil gehört zu den gravierenden Verletzungen der Menschenrechte des Pinochetregimes”.
In dieser kurzen Aussage wird bereits der zentrale Unterschied benannt, der das Exil von jeder anderen Form der Migration unterscheidet und der das Leben der Menschen als Exilierte grundlegend charakterisiert. Es ist der Gewaltcharakter, der zur Folge hat, daß Menschen aus ihren politischen, beruflichen und familiären Zusammenhängen gerissen werden und sich gegen ihren Willen und ohne ihr Zutun, oftmals völlig unvorbereitet, in einer völlig fremden Gesellschaft wiederfinden, zu der sie keine Beziehungen haben, deren Menschen in anderen Sozialisationsmustern handeln, von denen sie sich tendenziell ausgeschlossen fühlen; die eine ihnen fremde Sprache spricht und dadurch die Herstellung von normalen Alltagsbeziehungen ungemein erschwert.
Obwohl diese Charakteristika des Exils zunächst alle gleichermaßen betrafen, gab es im Umgang mit den Problemen große Unterschiede, z.B. zwischen jüngeren und älteren Flüchtlingen: Es war erstaunlich, mit welchem Pragmatismus sich erstere in die Universitäten einschrieben, sich um Umschulungen beziehungsweise Lehrberufe bemühten und in kürzester Zeit über das notwendige Beziehungsnetz verfügten, um die Sprache zu lernen und an Gelder heranzukommen.
Frauen haben vielfach, nachdem sie sich in den ersten Jahren total auf den Zusammenhalt der Familien konzentrierten, eigenständige Entwicklungen genommen, sich stark mit den deutschen Sozialisationsmustern auseinandergesetzt und an selbständigen Beziehungen zu deutschen Freundinnen gearbeitet. Viele haben sogar Ausbildungsgänge erfolgreich abgeschlossen, während Männer sich oft, nach den ersten bestätigenden Erfahrungen als Vertreter revolutionärer Bewegungen, in ihrer traditionellen Rolle in Familie und Gesellschaft zu behaupten suchten.
Zudem hat es deutliche Unterschiede im Aufeinanderzugehen zwischen den deutschen, mehrheitlich mittelständisch geprägten Mitgliedern der Solidaritätsbewegung sowie den exilierten ChilenInnen akademisch-mittelständischer oder proletarischer Provenienz gegeben. Besonders im ersten Jahr, als hauptsächlich StudentInnen und AkademikerInnen ankamen, gab es ein unausgesprochenes Einverständnis, sich gegenseitig als gleich anzuerkennen und über die “gemeinsame Sache” zu kommunizieren. In den Folgejahren, als nach und nach immer mehr GewerkschaftsführerInnen und ArbeiterInnen flüchteten, funktionierte dies nicht mehr so bruchlos. Man achtete viel stärker auf Distanz, was für viele chilenische Familien einem zweiten Exil gleichkam, d.h. sie wurden hierdurch tendenziell auf ihre eigenen Familien oder ihre chilenischen Vertretungsorganisationen zurückgeworfen.
Quer durch alle Schichten und Untergruppen des chilenischen Exils läßt sich sagen, daß ein Hauptproblem für viele in den ersten Jahren war, überhaupt zu akzeptieren, daß das Exil möglicherweise von längerer Dauer sein würde. Denn dieses anzuerkennen bedeutet nicht nur, seinem Leben eine andere berufliche und politische Perspektive zu geben, sondern vor allen Dingen zu akzeptieren, daß es “das Modell Chile der Unidad Popular” nicht mehr geben würde. Zur Verhinderung dieses Eingeständnisses wurden alle Energien für die Kontaktpflege mit dem Widerstand in Chile mobilisiert, der Aufbau von Exilvertretungen der Parteien in der Bundesrepublik wurde vorangetrieben, und die deutschen Solidaritätsorganisationen wurden in deren Aktivitäten einbezogen. Vielfach wurden die alten parteipolitischen Rivalitäten im Exil – ohne die Sachzwänge des chilenischen Alltags – erbitterter als im Herkunftsland selbst ausgetragen.
Auch viele Deutsche aus der Solidaritätsbewegung haben sich in diese Auseinandersetzungen – oder waren es Fluchtbewegungen vor der Realität? – einspannen lassen. Es galt die Vision einer utopischen Wirklichkeit in Chile. Aber vielleicht waren dies notwendige Prozesse, um den brutalen Bruch, das Hinausgeschleudertsein aus seinem eigenen Leben, zu verkraften.

Verlust von politischer Identität

Die chilenische Migration wurde fast ausschließlich politisch begründet, das heißt die Ankommenden hatten in Chile viele Jahre ihres Lebens in kollektiven Prozessen nicht nur für einen abstrakten “Neuen Menschen” gekämpft, sondern hatten ihr individuelles Leben stark an gesellschaftliche Veränderungsprozesse geknüpft. Ihr Alltag war – neben dem Beruf und den traditionellen vielfältigen familiären Aktivitäten – geprägt von einer aktiven Suche nach alternativen gesellschaftlichen und politischen Modellen. Diese wurden in den Gewerkschaften, Stadtteilorganisationen, MütterOrganisationen, Jugendverbänden und Parteien gelebt, und zwar desto leidenschaftlicher, je stärker die Außenbedrohung durch die Rechten wurde. Hierdurch ging tendenziell der Blick für die Außenwelt immer mehr verloren, und der Bruch des Exils war um so brutaler.
Über Nacht befand man sich in der reichen deutschen Gesellschaft, die mit dem Kapitalismus identifiziert wurde und die Wurzeln des Nationalsozialismus noch immer in sich zu tragen schien. Beeinflußt von vielen USMedien, die in Chile stark das Bild von Deutschland geprägt hatten und von dem elitären, geschlossenen Charakter der deutschen Kolonie (Colonia Dignidad), gab es zunächst ein großes Mißtrauen gegenüber dieser deutschen Gesellschaft. Eine kritische Auseinandersetzung schien zudem nicht opportun, weil die ganze Kraft für die Arbeit dem Widerstand in Chile gewidmet werden sollte.
Schwierigkeiten entstanden auch aus den gegenseitigen Projektionen. Erst heute können uns Vertreter des Exils offen sagen, daß sie schon lange nicht mehr an den Widerstand in Chile geglaubt hatten, aber weil die Deutschen es so haben wollten, sie entsprechende Informationen auf großen Veranstaltungen weitergaben. Jeder hatte seine Funktion in dem Bild, das sich die 68er Generation von einer besseren Gesellschaft gemacht hatte. Die ExilchilenInnen waren greifbare Beweise dafür, daß es MärtyrerInnen und Henker gibt und daß es nur eine Frage von konsequenter Haltung und Informationsmacht ist, diese Bilder in ihrer Ungebrochenheit zu reproduzieren und zu verbreiten.
Damals hat niemand richtig durchschaut, daß der Preis hierfür der Verlust von politischer Identität, Authentizität und Entwicklungsfähigkeit sein würde. So kam es im Laufe der Zeit zu immer ritualisierteren Beziehungen, statischen Bündnissen der verschiedenen Gruppierungen mit “ihrer” Exilgruppe, zu Solidaritätsfesten mit der immer gleichen Musik von “vorher”, den chilenischen Teigtaschen “empanadas” und politischen Diskursen, die durch leere Worthülsen bestimmt waren. Wir haben uns gegenseitig gebraucht, und -oftmals unbewußt- unter dem Deckmantel der Solidarität persönliche Sehnsüchte ausgelebt. In der Idealisierung unserer Zusammengehörigkeit wurden Differenzen überspielt. Zur wirklichen Begegnung kam es auf beiden Seiten oft nicht. Trotz alledem: Diese Zusammentreffen wurden auch gebraucht! Sie waren ein Trost gegen die Individualisierungstendenzen in der deutschen Gesellschaft, die kaum eine familiäre oder politische Kultur des Zusammenseins kennt. Es hat unvergeßliche und intensive gemeinsame Erfahrungen gegeben, Freuden und Ängste, Siege und Niederlagen, Kampf mit Behörden und interkulturellen Austausch, worin alle Beteiligten eng miteinander verbunden waren.
Erst mit der Erfahrung der Notwendigkeit, einen gemeinsamen Weg des Umgangs miteinander zu finden, konnte die Grundlage der Toleranz gegenüber der anderen Kultur, politischen Haltung oder dem jeweiligen Ethnozentrismus entstehen, zum Beispiel bezüglich der Unterschiedlichkeit der Frauensolidarität dem Machismo gegenüber. In der gegenseitigen Annahme von unterschiedlichen Wertvorstellungen, der Suche nach einer gemeinsamen Ethik haben wir uns Maximen eigenen Verhaltens erarbeitet, die oftmals noch heute Orientierungshilfen darstellen, sowohl für uns hier in der interkulturellen Arbeit gegen Ausgrenzung und Rassimus als auch für manche ChilenInnen, die nach ihrer Rückkehr mit den hier erfahrenen Organisations- und Solidaritätspraktiken ihr neues Arbeits- und Lebensfeld gestalten. Diese Toleranz zuzulassen und anzuerkennen, sowie das, was einmal als total “chilenisch” oder “deutsch” empfunden und eingeordnet wurde, auf dem Hintergrund gemeinsamer Lebensgeschichte politisch neu zu bewerten, ist sicherlich eine der wichtigsten Lehren des chilenischen Exils beziehungsweise der Solidaritätsarbeit.

Sprachverlust bewirkt kulturelle Stagnation

Die große Mehrzahl der chilenischen Flüchtlinge hatte keine Deutschkenntnisse und höchstens relativ schlechte Kenntnisse anderer Fremdsprachen. Diese “Sprachlosigkeit” hatte eine totale Orientierungslosigkeit in den neuen Verhältnissen zur Folge. Es ist nicht nur das Sozialverhalten in der fremden Gesellschaft, es sind auch die sprachlichen Grenzen, die eine nur funktionale, oberflächliche Beziehung zur Umwelt ermöglichen. So verarmt schließlich das Leben selber und ist nur noch ausgerichtet auf gewohnheitsmäßiges und materielles Bewältigen von Anforderungen.
Die Deutschkurse, die nun in kürzester Zeit von den verschiedenen Sozialdiensten angeboten wurden, sollten nicht nur der Sprachvermittlung dienen, sondern auch auf die jeweilige soziale Situation der Lernenden eingehen. So gab es Gesprächskreise zu Fragen des deutschen Sozialhilferechts, zu spezifischen Frauenthemen, zu Themen der 68er Studentenbewegung etc. Die Resonanz dieser Kursangebote war jedoch relativ schwach, weil die Mehrheit der ChilenInnen mehr über ihre baldige Rückkehr und über Chile nachdenken wollte, als sich mit den Problemen des Hierseins auseinanderzusetzen.
Argumente wie: Deutsch brauche man sowieso nicht mehr nach der Rückkehr nach Chile, oder daß die Kinder in der Familie nur Spanisch lernen sollten, um die chilenische Identität nicht zu verlieren, haben sich zehn bis fünfzehn Jahre lang gehalten. Erst angesichts der baldigen Rückkehr wurde der hieraus resultierende Verlust sozialer Kompetenz deutlich. Die Sehnsucht nach einer Welt, die einerseits vergangen und mit vielen leidvollen Nachrichten verbunden ist, und deren Entwicklung einem andererseits in den vielen Jahren der Abwesenheit fremd geworden ist, hat die vitale, alltägliche Auseinandersetzung mit der deutschen Kultur und Gesellschaft verstellt. Viele ExilchilenInnen waren so, ohne sich dessen bewußt zu sein, zu AnalphabetInnen beider Kulturen geworden.

Die Rückkehr beginnt im Exil

Diese Erkenntnis war es, die das chilenische Exil bereits 1983, zehn Jahre nach seinem Beginn, zu einer breiten, in vielen Städten der Bundesrepublik organisierten RückkehrerInnenarbeit motivierte, die auf der rechtlichen, beruflichen, ökonomischen, sozialen, politischen und psychologischen Ebene gleichzeitig laufen sollte. “Wir verstehen diese Rückkehr der ChilenInnen im Kontext des Kampfes für die Menschenrechte und die Wiederherstellung der Demokratie in unserem Land. Wir sehen sie jedoch auch als persönliche Entscheidung eines jeden Einzelnen oder der jeweiligen Familie”.
Zahlreiche Veranstaltungen wurden seit 1983 zur Vorbereitung der Rückkehr durchgeführt, so Veranstaltungen über spezielle rechtliche Probleme; Informationsveranstaltungen zur aktuellen Situation in Chile und Erfahrungen von Rückkehrern in ihrem Integrationsprozeß; Informationsveranstaltungen über Eingliederungsprobleme in das Erziehungssystem und die Anerkennung von akademischen Titeln und Ausbildungs und Studiengängen.
Kontakte mit Instituten in Chile und anderen Ländern wurden aufgenommen, um die Finanzierung der Rückkehr und der ersten Zeit im Heimatland zu gewährleisten. Aber der wohl wichtigste Inhalt der RückkehrerInnenarbeit war die Begegnung mit anderen Exilierten, die kritische Auseinandersetzung mit sich selber, den eigenen Veränderungsprozessen und der Wiederbegegnung mit Chile über die Erfahrungsberichte der Besuchsreisenden in die Heimat.

Exil zwischen Solidarität und Bevormundung

Diese letzte Phase, die schon vom Abschiednehmen und der kritischen Auseinandersetzung mit der neuen neoliberalen Wirtschaftspolitik der AylwinRegierung gekennzeichnet war, hat darüber hinaus ein ganz neues Licht auf die Beziehung zwischen ChilenInnen und Deutschen geworfen. Weder das HelferInnensyndrom noch die eigene Profilierung mit Hilfe der chilenischen RevolutionärInnen standen mehr zwischen uns, so daß unsere Begegnung auch unter der Perspektive der Beziehungen der Deutschen zu den Fremden thematisiert werden konnte. Schwierigkeiten in der Verständigung, in der Zusammenarbeit, in den Beziehungen, die immer auch Ausdruck von gesellschaftlicher Akzeptanz, Einfühlung und politischer Kultur sind, wurden nunmehr unter dem Blickwinkel des deutschen Dominanzverhaltens und Ethnozentrismus gesehen.
Als VertreterInnen der deutschen Chile-Solidarität mußten wir uns mit dem eigenem Größenwahn und einem idealisierten Selbstbild konfrontieren, das auf der Überhöhung der chilenischen RevolutionärInnen beziehungsweise edlen MärtyrerInnen im Widerstand beruhte. Mit der Idealisierung eines Chilebildes löschten wir jedoch gleichzeitig jene Widersprüchlichkeit des Entwicklungsprozesses aus, mit der wir schon in unserer eigenen Gesellschaft nicht zurecht gekommen waren. Nicht die Probleme mit einem reformistischen Entwicklungsweg, nicht die Ambivalenz der Moderne, die alles Fremde degradiert und tendenziell ausmerzt, waren Inhalte unserer Zusammenarbeit, sondern der strahlende Morgen der Revolution. Es war das Fehlen einer politischen Alternative in Deutschland beziehungsweise die bescheidene Auseinandersetzung mit den realen Möglichkeiten politischer Arbeit in Deutschland, die aus dem chilenischen Exil unsere Projektionsfläche machte. Hier haben wir uns getroffen, ChilenInnen und Deutsche, um die Geschichte für einige Jahre anzuhalten.
Die Bilder, die wir uns voneinander machten, waren jedoch nur von kurzer Dauer. Die Solidarität mit Portugal, Argentinien, Uruguay sowie seit Mitte der siebziger Jahre mit Nicaragua und später El Salvador hielt immer neu in Atem, ließ unseren Blick in die Ferne schweifen und die Probleme des chilenischen Exils zum Alltag werden, bis “plötzlich” Themen wie Rassismus und vielfältige Diskriminierungen in diesen Alltag Einzug hielten.
Wir hatten uns in unserer Solidarität menschlich gleichberechtigt gefühlt, aber dies war offensichtlich einseitig gewesen. Nicht nur Behörden hatten gegängelt, sondern chilenische Identität war mit “wohlgemeintem” Integrationsdruck ausgelöscht worden. Je angepaßter die ChilenInnen lebten, desto “erfolgreicher” waren sie. Wer von uns hätte dies vor Hoyerswerda und Rostock so selbstkritisch gesehen? Wer hätte gespürt, daß wir noch immer eine Gesellschaft von ClaqueurInnen sind?
“Es bleibt ein Stachel für die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft, daß diese politischen Flüchtlinge, die nach der Verfassung bei uns Asyl genießen, sich nicht heimisch fühlen, sich nicht angenommen fühlen konnten in einer Gesellschaft, die gleichzeitig eine Entsorgung der deutschen Geschichte von ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit versucht, alten Antisemitismus hochkommen ließ, Fremdenfeindlichkeit mit Parolen wie ‘Asylantenschwemme’ schürte und unter diesem publizistischen und politischen Druck zuließ, daß die Asylgesetze bei uns dramatisch verschärft wurden”.
Anstatt aus unserer Geschichte und aus dem vielfältigen Mißbrauch der Asylgesetzgebung während der Chile-Solidarität zu lernen, vermeiden wir die Auseinandersetzung damit, indem wir sie zu einem “Sicherheitsproblem unserer Gesellschaft” (so Innenminister Seiters in der Asyldebatte im Deutschen Bundestag am 25. Mai 1993) umdefinieren. Das Grundrecht auf Asyl, das von den Gründern der Bundesrepublik angesichts der Erfahrung mit dem Antisemitismus in unser Grundgesetz aufgenommen wurde, ist in den Asyldiskussionen der letzten Jahre zu einer Inszenierung deutscher Dominanzkultur verkommen. Die Festung Europa, das heißt das Schengener Abkommen und die Änderung von Artikel 16 des Grundgesetzes, richten Mauern auf, anstatt den Blick frei zu machen auf Prozesse, wie sie angesichts der chilenischen Erfahrung deutlich wurden.

Der obige Artikel erscheint in seiner vollständigen, 26 seitigen Fassung, mit ausführlichem statistischen Material und über die Arbeitsmigration in Chile in einem Reader: Ethnische Minderheiten in Deutschland – ein Handbuch. (Hg.) Berliner Institut für Vergleichende Sozialforschung, Oktober 1993, DM 42,-

Von der Sünde, ein Volk zu sein

Die ursprüngliche Fassung des Projekts, die Vorstellungen indigener Gemeinschaften und ihrer VertreterInnen enthielt, sollte der Gleichgültigkeit ein Ende setzen, mit der traditionell den ersten BewohnerInnen des Landes begegnet wurde. Mapuches, Aymaras, Rapa, Nui, Atacamenas, Collas, Kawshkar und Yamana stellen heute ein Zehntel der chilenischen Bevölkerung und leben meistens in extremer Armut. Die Vorstellungen der 998.000 Indigenas, in der Mehrzahl Mapuches, die zunächst zur Mitarbeit eingeladen worden waren, wurden schließlich im Zuge der Beratungen in beiden Kammern des Parlaments nicht berücksichtigt.
Zwei Jahre dauerte es, ehe die Deputiertenkammer und der Senat die Ley Indígena verabschiedeten, die der ursprünglichen Fassung der Gesetzesinitiative jedoch in entscheidenden Punkten nicht mehr entsprach. Auch wenn sich die PolitikerInnen aller Fraktionen damit brüsten, einen Konsens erreicht zu haben, kann das nicht darüber hinwegtäuschen, daß nach wie vor die von Indígenas geforderte Anerkennung als eigenständige Völker verweigert wird.

Röntgenbild der Tauben

1990 kehrte Chile zur formalen Demokratie zurück. Der frisch gewählte Präsident, der Christdemokrat Patricio Aylwin, berief die “Sonderkommission indigener Völker” (Cepi), zu deren offiziellen Zielen es gehörte, den lange mißachteten Rechten indigener Völker Geltung zu verschaffen. Die Cepi stützte sich dabei auf ein Übereinkommen, das die spätere Regierungskoalition der “Parteien für die Demokratie” im Zuge ihres Wahlkampfes mit Indígena-Organisationen getroffen hatte. Die Concertación versprach damals “die verfassungsmäßige Anerkennung indigener Völker samt ihrer ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechte”.
In Zusammenarbeit mit verschiedenen Interessenvertretungen von Indígenas bereitete die Cepi einen Entwurf für die neue Ley Indígena vor. Die VertreterInnen der verschiedenen Völker sowie BeraterInnen der Regierung behandelten Themen wie die Anerkennung einer eigenen Identität, die Landfrage, Wasserrechte und den Zugang zu einer Erziehung, die Kultur und Sprache der Indígenas fördert. Außerdem sollte es ermöglicht werden, Konflikte auf der Grundlage indigenen Gewohnheitsrechtes beizulegen. “Die schweren Versäumnisse der bisherigen Gesetzgebung sollten beseitigt werden. Es ging nicht nur darum, sich lediglich auf dem Papier gegen Rassismus zu wenden, sondern auch darum, die Geschichte dieses Landes zu bewältigen, die in höchstem Maße durch Intoleranz gegenüber den Existenzrechten indigener Völker geprägt war”, erklärt José Bengoa, der Direktor der Cepi. Seiner Meinung nach war der Gesetzentwurf, der im Oktober 1991 dem Parlament vorgelegt worden war, durch den Willen gekennzeichnet, den indigenen Völkern das Recht zuzugestehen, den Entwicklungsweg zu wählen, der in ihren eigenen Traditionen und Vorstellungen wurzelt. Ausgehend vom Prinzip der “positiven Diskriminierung” sollte die neue Gesetzgebung der ungerechten juristischen Praxis ein Ende bereiten, die Indígenas stets nur im Zusammenhang mit Besitzrechten auf Ländereien betrachtet hat.

Von der Sünde, ein Volk zu sein

Aylwin beabsichtigte, gemeinsam mit der Ley Indígena die Verfassung von 1980 zu verändern, die die Gleichheit aller ChilenInnen vor dem Gesetz festlegte. Hinter diesem Rechtsgrundsatz der von der Militärdiktatur hinterlassenen Verfassung verbirgt sich in Bezug auf indigene Völker das Prinzip: “Wir alle sind Chilenen”. Dieses dogmatische Gebot als wichtigster Baustein juristischer Interpretation verhindert die Anerkennung der Existenz indigener Völker in der chilenischen Verfassung.
In der ursprünglichen Version der Ley Indígena hieß es: “Der Staat wird sich für den juristischen Schutz und die Entwicklung der indigenen Völker einsetzen, die Bestandteile der chilenischen Nation sind”. Für Ricardo Navarrete von der Radikalen Partei, die dem Regierungsblock angehört, ist es unverzichtbar, “die Existenz indigener Völker ausdrücklich anzuerkennen, weil es sich bei ihnen um einen Bestandteil der Bevölkerung mit einem eigenen kulturellen Wert handelt”. Doch gerade der Begriff “Volk” war es, der die erste Fassung des Gesetzes scheitern ließ. Die politische Rechte lehnte diesen Begriff mit der Begründung ab, er gefährde die innere Sicherheit des Staates und verletze das Prinzip der einheitlichen chilenischen Identität. Sergio Diez, der Senator der rechten “Nationalen Erneuerung”, erklärte: “Ich bin ein entschiedener Anhänger der Integration aller Wurzeln des chilenischen Volkes in das chilenische Volk. Ich glaube, daß wir uns alle als Chilenen fühlen und uns in die nationale Gemeinschaft eingliedern wollen. Der Begriff ‘Volk’würde hingegen einer separatistischen Tendenz Vorschub leisten, die einer Politik zuwider läuft, die auf die harmonische Integration dieser Gruppen abzielt.”
Der politische Diskurs weckte in dramatischer Weise Erinnerungen an den Jahrhunderte währenden Versuch, “das Indigene auszumerzen”, die Indígenas koste es was es wolle zu assimilieren, einer in kultureller Hinsicht homogenen Gesellschaft zuzustreben. Statt im neuen Indígena-Gesetz von Völkern zu reden, wurde der unverfängliche Begriff “Gemeinschaft” oder “Ethnie” gewählt. Die Concertación mußte schließlich eingestehen, “daß die verfassungsgemäße Anerkennung der Existenz indigener Völker noch solange ausstehen wird, bis innerhalb der chilenischen Gesellschaft und ihrer politischen Klasse ein größeres Maß an Verständnis existiert”.
Unter den Indígenas, die sich an der Ausarbeitung des ursprünglichen Gesetzentwurfes beteiligt hatten, breiteten sich Mißtrauen und Enttäuschung aus. Cesar London von der Organisation “Xawun Ruca” stellte fest, “daß das Gesetzesverfahren von Anfang an von der politischen Macht bestimmt wurde, an der wir Mapuches nicht teilhaben”. Der Ratgeber der Cepi und Vertreter von Ad Mapu, José Santos Millao, fällte ein vernichtendes Urteil über das neue Gesetz: “Ohne die verfassungsmäßige Anerkennung als Volk samt Territorium wird uns auch das Recht auf politische Teilnahme verwehrt. Wir haben nicht mehr als ein Anhörungsrecht.”
Der fehlende politische Wille der ParlamentarierInnen hat die Ley Indígena zu einem Gesetzwerk gemacht, das weit hinter den Standards internationaler Rechtsprechung zurückbleibt. Viele lateinamerikanische Staaten verfügen über Verfassungen, in denen sich die Gesellschaften wenigstens auf dem Papier als pluriethnisch und -kulturell bezeichnen. In Panamá existiert dieser Verfassungsgrundsatz seit vierzig Jahren, und auch in Kolumbien, Brasilien, Nicaragua, Ecuador und Peru wird das Konzept unterschiedlicher Nationen in einem Staat akzeptiert. Der Druck internationaler Standards scheint die chilenische Politik nicht sonderlich zu beeindrucken. Noch während des Wahlkampfes versprach die Concertación, der “Konvention 169 über indigene Völker und Stämme in unabhängigen Staaten” der Internationalen Arbeitsorganisation beizutreten. In dieser Konvention wird “die Notwendigkeit anerkannt, den Schutz indigener Völker zu gewährleisten und ihren eigenständigen Charakter anzuerkennen”. Das zitierte Dokument stellt den fortschrittlichsten internationalen Vertrag in Bezug auf indigene Völker dar, weil es die traditionelle ethnozentrische, auf Assimilation gerichtete Perspektive überwindet und moderne Sichtweisen von Menschenrechten umsetzt. Noch immer wurde dieses Vertragswerk vom chilenischen Parlament nicht ratifiziert. Seit 1991 liegt die Ratifizierung auf Eis, enthält die Konvention doch dasselbe Konzept von indigenen Völkern, das jüngst die Nueva Ley Indígena zum Scheitern brachte.

Die wichtigsten Punkte der Ley Indígena

Offiziell trägt das neue Gesetz den Titel “Gesetz zum Schutz, zur Förderung und zur Entwicklung der Indigenas” und fügt sich in das Konzept “Ethnoentwicklung” ein, das auf den Möglichkeiten indigener Kultur aufbaut. Ein zentraler Gesichtspunkt des Gesetzes behandelt die Landfrage. Die Eigentumsrechte auf im Augenblick von Indígena-Gemeinschaften genutztem Land sollen abgesichert werden. Mit dem Verbot, Indígena-Land an Privatpersonen zu verkaufen, soll verhindert werden, daß diese Territorien über den Immobilienmarkt auf legale Art und Weise enteignet werden.
Der “Fonds für Land und Wasser” soll dazu dienen “Indígena-Ländereien” zu schützen, für deren angemessene Nutzung zu sorgen, ein ökologisches Gleichgewicht zu gewährleisten und auf die Ausweitung von Indígena-Eigentum hinzuwirken”. Mit Hilfe staatlicher Unterstützung sollen die Indígenas die Schwierigkeiten des Minifundismus überwinden. Außerdem soll der Fonds dazu dienen, die Bodenqualität zu verbessern und Probleme der Bewässerung zu lösen. Die gesamte Indígena-Politik wird von der Nationalen Vereinigung Indigener Entwicklung (CONADI) koordiniert, die neben ihrer Zentrale in Araucania Zweigstellen überall im Land haben soll.
Darüber hinaus soll es unter Strafe gestellt werden, Indígenas aufgrund ihrer Herkunft und ihrer Kultur zu beleidigen. Die Meldebehörden werden angewiesen, in den Geburtsregistern jene Namen festzuhalten, die Indígena-Eltern angeben. Dieser etwas grotesk anmutende Artikel soll der Politik der “Chilenisierung” vorbeugen, die vielfach von Verwaltungsbeamten betrieben wird.
In Regionen mit hohem indigenen Bevölkerungsanteil sollen zweisprachige Schulen eingerichtet werden. Forderungen nach politischen Mitbestimmungsrechten wurden von der Rechten als angeblich verfassungwidrig abgelehnt. Immerhin stehe der Zugang zu politischen Ämtern allen ChilenInnen offen, unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft. Andererseits wurde ein Artikel angenommen, der besagt, “Indígenas sollen an der lokalen und regionalen Verwaltung beteiligt werden”.

Kritik der Mapuches an der neuen Gesetzgebung

Die Mapuche-Organisationen, die in der Cepi mitarbeiten, stimmen in der Einschätzung überein, daß die Landfrage nur unzureichend geklärt wurde. Dagoberto Cachána von Ad Mapu kritisiert, “daß das Gesetz uns nicht die Eigentumsrechte der Ländereien zubilligt, die uns auf der Grundlage damaliger Rechtssprechung weggenommen wurden. Darum wird das neue Gesetz für uns ebenso schädlich sein wie das alte.”
Im Hinblick auf den Schutz von Indígena-Territorien weist die neue Ley Indígena eine entscheidende Lücke auf. Nach ziviler Rechtssprechung existiert nach wie vor die Möglichkeit, Land für längstens neunundneunzig Jahre zu verpachten, was de facto einer völlig legalen Enteignung entsprechen würde. Der Erfolg dieses Gesetzes wird zudem entscheidend davon abhängen, mit welchen finanziellen Mitteln die Regierung bereit ist, für dessen Umsetzung zu sorgen. Nachdem das Finanzministerium für die Ausstattung des “Fonds für Land und Wasser” lediglich eine Zusage von 500.000 US-Dollar gemacht hat, muß an dieser Bereitschaft gezweifelt werden. Selbst die staatliche Behörde Cepi stellt in Frage, ob der Fonds für die Umsetzung der ehrgeizigen Zielsetzungen des Gesetzes ausreichen wird.

Die Indígena-Politik unter der Militärdiktatur

Jahrhundertelang wurden die Territorien der Indígenas unter dem Vorwand kolonialisiert, es existierten keine juristisch abgesicherten Besitztitel. Erst 1972 wurde unter Salvador Allende ein Gesetz erlassen, das Indígenas als eigenständige menschliche Wesen akzeptierte und nicht nur als Teil der von ihnen besessenen Ländereien. Dieser Fortschritt wurde mit dem Militärputsch von 1973 zunichte gemacht. Den Prinzipien des Neoliberalismus getreu ging es der Militärdiktatur vor allem darum, das Prinzip des Privateigentums durchzusetzen. 1978 wurde per Dekret der Prozeß der Zersplitterung von in Gemeinschaftsbesitz befindlichen Ländereien beendet: “Von heute an gibt es weder Indígena-Land noch Indígenas”. Die Schöpfer dieses Dekrets gaben vor, mit der Einführung des Individualbesitzes den entscheidenden Schritt für den Fortschritt und die Modernisierung im ländlichen Bereich zu unternehmen. Sozialstudien in der Region Auracania zeigen jedoch, daß durch die Aufteilung der Ländereien ein Minifundismus gefördert wurde, der vielen Mapuche-Familien allenfalls das Existenzminimum sichert.
Im Interesse nationaler Politik wurden die Indígenas zu chilenischen Bauern und Bäuerinnen erklärt. Offiziell hieß es unter der Pinochet-Diktatur, “daß das eigentliche Problem der Mapuche nicht in ihrer kulturellen Andersartigkeit besteht, sondern im ihrem Mangel an Erziehung und Kultur”. Außerdem wurde hartnäckig die Position vertreten, in Chile gäbe es keinen Unterschied zwischen Indígenas und dem Rest der Bevölkerung. Ein bedeutender Anteil der Indígenas, hauptsächlich Mapuches, ist seit den fünfziger Jahren in die größeren Städte emigriert, um vor allem der Armut auf dem Land zu entfliehen. In den Städten sahen sie sich dem Druck ausgesetzt, ihre Tradition und ihre Sprache abzulegen. Sechsundsiebzig Prozent der Indígena-MigrantInnen ziehen nach Santiago und arbeiten dort mehrheitlich in Brotfabriken, auf dem Bau oder als Hausangestellte. Ohne entsprechende Ausbildung und aufgrund ihrer Herkunft geringgeschätzt, vergrößern sie den marginalisierten Sektor der urbanen Bevölkerung.

“Marri cliwe” – oder der Kriegsruf

Mit dem Beginn der siebziger Jahre entstand in Lateinamerika eine starke indigenistische Bewegung, die sich für die “ethnische Autonomie” einsetzte. Konzepte wie die “Integration aller Ethnien” wurden von dieser Bewegung abgelehnt, weil mit ihnen stets Ungleichheiten verschleiert wurden und sie als Vorwand dienten, indigenen Völkern eine fremde Kultur aufzuzwingen. Dem wurde das Recht entgegengestellt, kulturelle, ökonomische, soziale und politische Systeme zu entwickeln und zu bewahren, die sich von denen der Bevölkerungsmehrheit unterscheiden. Auf dem gesamten Kontinent neigte die indigenistische Bewegung dazu, Verbindungen zu Teilen der mestizischen Gesellschaft zu kappen. Die häufig eingegangenen Verbindungen mit Sektoren der Linken hatten nie dazu geführt, daß die Probleme von Indígenas losgelöst von der allgemeinen Problematik gesehen wurden. Im Unterschied zu seinen lateinamerikanischen Nachbarstaaten hat der Indigenismus in Chile in intellektuellen oder fortschrittlichen Kreisen kaum Widerhall gefunden. Das Scheitern der ursprünglichen Ley Indígena machte einmal mehr deutlich, daß es die chilenische Gesellschaft nicht vermag, ihr Verhältnis zu indigenen Völkern zu lösen.
Die Frage des Landbesitzes bleibt indessen das zentrale Moment bei der Mobilisierung der Indígenas. Notfalls auch mit Waffengewalt will der “Consejo de Todas las Tierras” die den Mapuche genommenen Ländereien zurückerlangen. Darüber hinaus verlangt der Consejo einen Status politischer Autonomie gegenüber dem chilenischen Staat. Die Haltung der Regierung lehnt der Rat vollständig ab. “Nachdem er bemerkt hat, daß man die Existenz der Indígenas nicht länger verleugnen kann, bittet der Staat heute um Verhandlungen, an denen zwar alle teilnehmen, aber nur wenige entscheiden. Der kulturelle Genozid drückt sich heute anders aus. Er trägt nicht länger das Merkmal physischer Gewalt, militärischer Intervention. Die Maßnahmen der Regierung laufen darauf hinaus, den kulturellen Zusammenhalt der Mapuche zu zerstören, und sie will die Regeln festlegen, nach denen wir mit ihr verhandeln sollen.”
In diesen Zusammenhang stellt der Consejo auch das neue Indígena-Gesetz. “Das Gesetz wurde uns von außen diktiert und ist ein wirkungsvolles Instrument des Kolonialismus, an dessen Herstellung leider auch Indígenas beteiligt waren. Indem sie uns den Status als Volk verweigern, drücken sie aus, daß es keine Gleichberechtigung mit den Chilenen gibt. Nach wie vor werden unsere Rechte verletzt, verweigert man unsere Existenz”, faßt Aucan Huilicaman zusammen. Das Versprechen, die Urbevölkerung Amerikas in ihren Rechten zu respektieren, wurde in Chile noch immer nicht erfüllt. Mit der Ley Indígena hat es wiederum die mestizische Bevölkerungsmehrheit versucht, die Geschichte der Indígenas zu schreiben – auch im 501. Jahr nach der sogenannten “Entdeckung” Amerikas.

Das Recht auf trial and error in einer Welt ohne Beispiele und Bezugspunkte

“Reform oder revolutionäre Theorie und Praxis in Lateinamerika und Europa” lautete der Titel eines Internationalen Kongresses, den der Verein Monimbó aus Dietzenbach/Hessen in Zusammenarbeit mit Buntstift und der Stiftung Umverteilen organisiert hatte. Ein sowohl vom Alter als auch von den Nationalitäten ziemlich gemischtes Publikum von ungefähr 400 Leuten fand sich am 2. und 3. Oktober in der Frankfurter Uni ein.
Auf dem Podium des Hörsaals V1 saßen und referierten führende Vertreterinnen verschiedener linker Parteien und (ehemaliger) Guerillaorganisationen aus Brasilien, Cuba, Argentinien, Venezuela, E1 Salvador, Guatemala, Nicaragua und Chile. Einer der zentralen Diskussionspunkte war: Ist eine grundlegende Demokratisierung möglich, oder sind die formalen Demokratien, die in den letzten Jahren nach Abdankung der Militärs in Ländern wie Chile, Argentinien, Paraguay oder Brasilien entstanden sind, Fortsetzung der Diktatur mit anderen Mitteln?
Der argentinische Journalist Miguel Bonasso brachte die Fragestellung auf den Punkt: “Die sechziger Jahre waren die Zeit der revolutionären Bewegungen. In den siebziger Jahren kamen die Militärdiktaturen, die in den Achtzigern von formalen Demokratien abgelöst wurden. Was werden die neunziger Jahre bringen? Kommt jetzt wieder eine Phase der autoritären Staatsformen á la Fujimori in Peru, oder gibt es Möglichkeiten für linke Reformprojekte?” Die Kompetenz der lateinamerikanischen ReferentInnen konnte nicht über eine grundlegende Schwäche des Kongresses hinwegtäuschen: Die Zusammensetzung des Podiums spiegelte nicht gerade die Vielfalt der lateinamerikanischen Linken wieder, sondern nur deren parteipolitische Variante. Abgesehen von der Diskussionsleiterin Dorothee Piemont und Monica Baltodano von der FSLN waren Frauen lediglich in ihrer klassischen Funktion als Übersetzerinnen präsent.

Chance vertan: Soziale Bewegungen und Beiträge des Publikums waren kaum erwünscht

Auf die Anwesenheit von VertreterInnen sozialer Bewegungen war offenbar kein Wert gelegt worden, obwohl gerade diese in den letzten zehn Jahren in Lateinamerika entscheidende Impulse für eine Erneuerung linker Programmatik gegeben haben. Und so blieb es einer Lateinamerikanerin aus dem Publikum vorbehalten, darauf hinzuweisen, daß es mittlerweile auf kontinentaler Ebene zahlreiche Treffen und Zusammenschlüsse von Frauengruppen, Umweltverbänden, Bauernorganisationen, Schwarzen und indigenas gibt, die ja nicht zuletzt in der Kampagne gegen die offiziellen 500 Jahr-Feiern im vergangenen Jahr eine entscheidende Rolle spielten.
Was die Stimme der bundesdeutschen Linken auf dem Kongreß anging, war es fast schon grotesk, mit Wolf-Dieter Gudopp vom “Verein Wissenschaft und Sozialismus” einen Vertreter ausgerechnet jener orthodoxen, kopflastigen und verknöcherten Variante von Sozialismus eingeladen zu haben, die an der ideologischen Krise der Linken einen entscheidenen Anteil hat.
“Auch ich bin von der Begeisterung für Dinosaurier angesteckt.”Dieses modische Lippenbekenntnis Dorothee Piemonts bezog sich auf ihre These, daß der Kapitalismus auf Dauer nicht überlebensfähig sei. Mindestens genauso gut hätte dieser Satz jedoch auf das anachronistische Gestaltungskonzept des Kongresses gepaßt: An zwei Tagen wurde vor vollem Hörsaal eine Frontalveranstaltung sondergleichen abgezogen: Die meisten Redebeiträge lagen dem Publikum als deutsche Übersetzung vor. Aus “Zeitmangel” wurden fast alle Referate ohne Direkt-Übersetzung auf Spanisch abgelesen -eine Methode, die auf einen Teil des Publikums einschläfernd wirkte, während andere frustriert und wütend reagierten: “Da hätte ich mich ja besser mit dem Reader zuhause hinsetzen können.”
Für den Dialog mit der Basis blieb -“leider, leider” -wie die Diskussionsleitung immer wieder bedauerte -so gut wie keine Zeit. Auf diese Weise wurde nicht nur eine Chance vertan, die Perspektiven der lateinamerikanischen Linken in größerer Runde zu diskutieren. Auch die gegenwärtige Krise der bundesdeutschen Linken -und eventuell vorhandene Erneuerungskonzepte -wurde kaum reflektiert, geschweige denn diskutiert.

Revolutionärer Pragmatismus: Drei Mahlzeiten täglich für alle

Die lateinamerikanische Linke sieht sich zur Zeit mit politischen und wirtschaftlichen Problemen konfrontiert, die neben einer langfristigen Perspektive auch ein konkretes Handeln erfordern: Ein Blick auf die politische Landkarte des Subkontinentes zeigt, daß die Situation in den verschiedenen Ländern so unterschiedlich ist, daß es schwerfällt, allgemeine Prognosen zu treffen. Von einer Entwicklung sind allerdings fast alle Staaten betroffen: Mit dem rigiden Durchsetzen neoliberaler Wirtschaftsprogramme hat sich die Situation für den Großteil der Bevölkerung weiter verschlimmert und die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft. Das Kürzen öffentlicher Ausgaben im sozialen Sektor und im Bildungsbereich und die Privatisierungen staatlicher Unternehmen haben immer mehr Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Heute ist es für viele Basisbewegungen in Ländern wie Peru oder Brasilien eine zentrale Forderung, den Hunger und das Massenelend zu beseitigen.
Wenn in seinem Land durchgesetzt werden könnte, daß die gesamte Bevölkerung dreimal täglich zu essen bekäme, so Nildo Domingos von der brasilianischen Arbeiterpartei (PT), wäre dies angesichts der jetzigen Situation schon eine revolutionäre Errungenschaft. Gleichzeitig sieht auch er die Gefahr, sich in tagespolitischen Forderungen aufzureiben: “Die Linke war bis vor kurzem zu dogmatisch. Nun ist sie zu pragmatisch.”
Mit dem Vorwurf eines zu großen Pragmatismus, der “Sozialdemokratisierung”, wurde auf dem Kongreß in Frankfurt insbesondere der Vertreter der FMLN aus E1 Salvador, Shafik Hándal, konfrontiert. Die ehemalige Guerilla, die Anfang letzten Jahres nach zwölfjährigem Kampf einen Friedens-und Demokratisierungsvertrag mit der Regierung aushandelte, hat gute Chancen, bei den Wahlen im kommenden März die Regierung zu übernehmen. Das Programm, mit dem die FMLN antritt, konzentriert sich auf eine grundlegende politische Demokratisierung und Entmilitarisierung der salvadorianischen Gesellschaft. Es sieht eine Stärkung genossenschaftlicher Eigentumsformen vor, will jedoch gleichzeitig die Marktwirtschaft erhalten. Gegenüber KritikerInnen betonte Handal: “Ob die Demokratie sich am Ende als eine bürgerliche, rein formale, oder als eine substantielle herauskristallisieren wird, ist eine offene Frage. Wir von der FMLN bestehen auf unserem grundlegenden Recht auf die Methode des trial and error in einer Welt, die uns weder Beispiele noch Bezugspunkte bietet.”
Neben der wirtschaftlichen Ungerechtigkeit ist ein anderes zentrales Problem in vielen Ländern die Rolle des Polizei-und Militärapparates als Repressionsorgan und die Existenz paramilitärischer Todesschwadrone. Gerade die aktuelle Entwicklung des Friedensprozesses in E1 Salvador läßt daran zweifeln, ob sich diese Kräfte tatsächlich mit friedlichen Mitteln entmachten lassen -von einer systematischen Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen ganz zu schweigen.

Der ‘Geist Bolivars’ -Trugbild oder politische Vision?

Auf dem Kongreß wurde deutlich, daß die meisten linken Parteien Lateinamerikas zur Zeit in erster Linie damit beschäftigt sind, Perspektiven auf nationaler Ebene zu entwickeln -mit unterschiedlichen Konsequenzen. Zwar wurde immer wieder die Notwendigkeit beschworen, sich auf kontinentaler Ebene zusammen-zuschließen und auch mit linken Bewegungen aus Afrika oder Asien zu kooperieren. Der “Geist Simón Bolivars”, des antikolonialen Befreiungskämpfers aus dem vorigen Jahrhundert, schwebte nicht nur in Form eines riesigen bemalten Transparentes über den Köpfen der Diskutierenden. Es wurde betont, daß es allein schon aufgrund der weltwirtschaftlichen Verflechtungen und der Interventionspolitik der westlichen Industriestaaten nicht möglich sei, den “Sozialismus in einem Land zu realisieren -siehe die Beispiele Kuba und Nicaragua. Durch den Niedergang des “realexistierenden Sozialismus” haben sich die Rahmenbedingungen in den letzten Jahren weiter verschlechtert. Dazu Eleuterio Huidobro von der ehemaligen Guerilla und jetzigen Partei der “Tupamaros” aus Uruguay: “Früher sahen wir die Alternativen Sozialismus oder Faschismus. Heute ist eine dritte Alternative aufgetaucht, die sich besonders in einigen afrikanischen Ländern oder in Osteuropa zeigt: das Chaos.”
Trotzdem war die Stimmung auf dem Kongreß von Optimismus gedämpften Optimismus gekennzeichnet: Immerhin haben in einigen Ländern Lateinamerikas linke Projekte in den letzten Jahren an Boden gewonnen und deren VertreterInnen könnten in absehbarer Zeit Regierungsaufgaben übernehmen, beispielsweise in E1 Salvador, Brasilien oder Uruguay. Ein anderes sehr interessantes Projekt -in Deutschland bisher noch recht unbekannt -ist die “Causa R in Venezuela (vgl. LN 226):Diese Bewegung versucht, dem staatlichen Establishment eine dezentrale, basisdemokratische Gegenmacht entgegenzusetzen. Mit beachtlichem Erfolg: Mittlerweile stellt die “Causa R” unter anderem den Bürgermeister der Hauptstadt Caracas.
Was die politischen Programme angeht, sind die LateinamerikanerInnen zwar bereit, auch mit deutschen Linken zu diskutieren, wehren sich aber gegen Bevormundung. Dazu Huidobro aus Uruguay: “Es wäre wünschenswert, wenn sich die Deutschen mehr um ihre Probleme hier kümmern. Wir würden auch gerne in Lateinamerika ein Kommitee zur Unterstützung der Revolution in Deutschland gründen.”

Coup gegen die Armee

General Pinochet wird nur geschmunzelt haben. Auch 20 Jahre nach seinem blutigen Militärputsch gegen Präsident Allende wagt es die Regierung in Chile nicht, seine Stellung als Oberkommandierender der Armee in Frage zu stellen. Und niemand in Washington käme auf die Idee, dem neoliberalen Musterland Lateinamerikas Kredite zu sperren, nur um die konsequente Unterordnung des Militärs unter die zivile Macht einzufordern. In Nicaragua freilich sieht das anders aus. Auch über drei Jahre nach der Wahlniederlage der SandinistInnen bleibt der arme Vier-Millionen-EinwohnerInnen-Staat den USA offenbar ein Dorn im Auge. “Wir haben verloren, weil die Sandinisten noch immer in der Polizei, der Armee und den Gerichten sitzen”, hatte Elliot Abrahms, Subsekretär für Lateinamerika in der Reagan-Regierung und gegenwärtig zu Besuch in Nicaragua, Bilanz der US-Politik und des Contra-Kriegs gezogen. Denn seit ihrem Wahlsieg im Februar 1990 setzte Nicaraguas konservative Präsidentin Violeta Chamorro auf einen ausgehandelten Prozeß der Machtübergabe – auf einen schrittweisen, möglichst untraumatischen Übergang nach dem Vorbild Post-Franco-Spaniens, wie sie immer wieder betonte. Schließlich habe nicht die Konterrevolution militärisch gesiegt, sondern ein demokratischer Wahlprozeß innerhalb einer zu respektierenden Verfassung stattgefunden, so ihre Position.
Der sandinistische Armeechef Humberto Ortega blieb so im Amt; er selbst sollte es sein, der die Streitkräfte von 80.000 Soldaten und Soldatinnen auf gerade noch 17.000 reduzierte, die Entpolitisierung und Professionalisierung der Armee durchzupauken hatte, Tausende seiner Offiziere entließ und gegen wiederbewaffnete Gruppen ehemaliger sandinistischer Militärs auch – wie etwa vor wenigen Wochen, als rund 300 “Recompas” die Stadt Estelí besetzten – mit aller Waffengewalt vorging.
Für die unversöhnliche Rechte in Nicaragua und den USA war eine solche “Ko-Regierung” mit dem sandinistischen Heer freilich “Verrat”. Und auf Initiative des ultrarechten Scharfmachers Jesse Helms machte der US-Kongreß die für Nicaragua unverzichtbare Finanzhilfe zum Druckmittel: Auf Eis gelegt, bis die Regierung in Managua überzeugend beweist, daß sie nicht “den internationalen Terrorismus” unterstützt. Im Klartext: Bis Armee-Chef Ortega gekippt wird.
In den vergangenen drei Jahren beruhte Chamorros Politik gegenüber dem aus der Revolution hervorgegangenen Militär auf einer relativen Berechenbarkeit. Und auch jetzt waren neue Maßnahmen abgesprochen und von beiden Seiten akzeptiert gewesen: Der Name “Sandinistisches Volksheer” (EPS) würde geändert werden, der militärische Geheimdienst unter die zivile Kontrolle des Innenministeriums gestellt. Als die Präsidentin jedoch völlig unerwartet ankündigte, sie werde Armeechef Ortega im kommenden Jahr absetzen, platzte dieser Überraschungscoup wie eine Bombe in die ungeschriebenen Spielregeln zwischen Regierung und SandinistInnen. Und er stellt auch die Grundlagen ihrer bisherigen De-facto-Allianz in Frage.

“Der wahre Charakter dieser Regierung”

“Es gibt keine Person, keinen Funktionär, über den nicht verhandelt werden könnte”, erklärte etwa ein wütender René Vivas, langjähriger sandinistischer Polizeichef des Landes und genau ein Jahr zuvor von Chamorro aus seinem Amt entlassen. “Aber wie die Regierung jetzt hinter dem Rücken der Armee agiert hat, um sich dem Druck der USA zu beugen, das ist Verrat, und das zeigt den wahren Charakter dieser Regierung!” Seine Schlußfolgerung: Die SandinistInnen müssen eine viel klarere Oppositionspolitik gegen Chamorro & Co machen. Und unter diesen Bedingungen dürfe die FSLN auch nicht “zu einem nationalen Dialog gehen, wo sie in Wirklichkeit nur Befehle empfangen wird.”
Doch zumindest innerhalb der FSLN-Spitze blieb Vivas’ Position in der Minderheit. Zwar brachte ein erster Ausbruch der Empörung Daniel Ortega viel “schlechte Presse” im Ausland und auch einen kräftigen Rüffel der eigenen Parteizeitung “Barricada”. Doch nach einen Protest-Kommuniqué ging die Frente-Führung schnell wieder zur Tagesordnung über und war offenbar nicht gewillt, die Absetzung Humberto Ortegas zum Bruchpunkt für ihr Verhältnis zur Regierung Chamorro zu machen: Gerade die Krise mache einen nationalen Dialog aller politischen Kräfte nur noch dringender, so die Argumentation.
Auch wenn die FSLN selbstverständlich bemüht war, den Schulterschluß zur sandinistischen Armee zu wahren, so blieb die unterschiedliche Tonlage des Protests doch unüberhörbar. Denn die Verlautbarungen des Militärs blieben ambivalent: Während zu jedem Zeitpunkt die Unterordnung unter die zivile Macht betont wurde, bezog das EPS dennoch klar gegen die Ankündigung Violetas Stellung. Das liest sich dann etwa so: “Das Sandinistische Volksheer stellt fest, daß die institutionelle und professionelle Unterordnung der militärischen Macht unter die zivile Macht die Verfassung, die Gesetze und die eingegangenen Übereinkünfte respektieren muß, ohne zuzulassen, daß die notwendige Unterordnung sich in Unterwerfung gegenüber dem Senator Jesse Helms verwandelt (…)”. Starke Worte. Wie sie letztlich zu interpretieren sind, bleibt offen. Der Unmut in der Armee jedenfalls, dies läßt sich wohl sagen, ist groß. Und die Sorge hat neue Nahrung gewonnen, daß in der Folge die ganze Institution, die für die SandinistInnen der wichtigste Garant gegen eine Rückkehr der Repression der Somoza-Zeit ist, abgeschafft und durch ein neues, anti-sandinistisch geprägtes Militär ersetzt wird.

Demütigung des siegreichen Gegners

Denn just bei den Feierlichkeiten zum “Tag der Armee” verkündet, war die Absetzung der Symbolfigur Humberto Ortega mehr als nur eine Personalentscheidung: Es war auch die Demütigung des (im Krieg siegreichen!) Gegners – und nicht zuletzt dies war es, was der Präsidentin die “euphorische Unterstützung” von US-Außenminister Christopher genauso sicherte wie den stürmischen Jubel der gesamten Rechten Nicaraguas. Doña Violeta Superstar – but just for one day. Wem Zugeständnisse gemacht werden, der will mehr. Am Tag darauf, als deutlich wurde, daß kein Putsch oder ähnliches zu befürchten ist, waren die rechten PolitikerInnen der U.N.O.-Parteien schon wieder zu ihrer alten Erpressungspolitik zurückgekehrt: An dem für diese Woche angesetzten “Nationalen Dialog” nehmen sie nicht teil, sondern fordern zuvor, daß die Präsidentin (!) die neun regierungstreuen Abgeordneten der “Zentrums”-Gruppe im Parlament absetzt. Mit Demokratie und Rechtsstaat hat das nichts zu tun, mit Machtkampf mit allen Mitteln dafür umso mehr. “Violeta Chamorro muß entscheiden, ob sie mit der U.N.O. oder mit den Sandinisten regieren will”, drohte der starke Mann der unversöhnlichen Rechten, Managuas Bürgermeister Arnoldo Alemán: “Und wenn sie sich für die Sandinisten entscheidet, wird die U.N.O. einen zivilen Krieg (guerra cívica) in offener Opposition gegen die Regierung beginnen.”
Die angekündigte Entlassung Humberto Ortegas sollte der Befreiungsschlag sein, der die Autorität Violeta Chamorros demonstriert und damit die politische Rechte des Landes hinter die Präsidentin bringt. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Die Regierung droht mehr denn je, zwischen alle Stühle zu fallen. “Das einzig gute an der Entscheidung der Regierung, Armee-Chef Ortega abzusetzen,” zieht die Journalistin Mónica Zalaquett Bilanz, “ist, daß für alle klar wird, daß dies nicht das zentrale Problem des Landes war.”

Wahrheit und Gerechtigkeit – ?Dónde están?

Die “doctrina Aylwin”, die der neue Präsident bald nach Amtsantritt zur Grundlage der Menschenrechtsprozesse erklärte, stellte jedoch das Amnestiegesetz nicht in Frage. Sie schrieb Untersuchungen und Gerichtsverfahren bei darauffolgender Anwendung der Amnestie vor. Schon damals wurde deutlich, daß es keine Gerechtigkeit geben würde. “Wahrheit und Gerechtigkeit im Rahmen des Möglichen” heißt heute die Zauberformel, die einen Schlußstrich unter die Vergangenheit ermöglichen soll.
In einer Rede an die Nation stellte der Präsident am 3. August einen Gesetzesvorschlag zur Beschleunigung der 183 noch schwebenden Menschenrechtsverfahren vor. “Selbstverständlich wird die von mir vorgeschlagene Lösung nicht alle zufriedenstellen”, bekannte Aylwin. Den Zielen, die das Militär mit seinem “boinazo” vom Mai (vgl. LN 229/3O) anstrebte, kam die ursprüngliche Version der “Ley Aylwin” jedoch fast vollständig entgegen. Auf die Ablehnung der Vorlage durch das Parlament reagierte der Präsident, indem er seinen Entwurf zurückzog, ohne die Stellungnahme im Senat abzuwarten. Die von den Militärs erhoffte erneute Bestätigiung des Amnestiegesetzes von 1978 bleibt so vorerst noch aus.

“Klima der Hexenjagd”

Die Wochen, die der Rede Aylwins vorangingen, waren angefüllt mit Unterredungen zwischen dem Staatsoberhaupt und – zumindest nach der offiziellen Lesart – den wichtigsten an der Menschenrechtsfrage interessierten Gruppen. Besonders den Generälen schenkte der Präsident seine Aufmerksamkeit, während sich die Kommunistische Partei vergeblich um einen Gesprächstermin bemühte. Die Gespräche wurden unter strikter Geheimhaltung geführt, so daß die Gerüchteküche brodelte. Im sicheren Gefühl, mit dem “boinazo” für nachhaltige Verunsicherung gesorgt zu haben, forderte das Militär den “punto final”, die Einstellung aller noch schwebenden Menschenrechtsverfahren. Die einflußreiche rechte Tageszeitung “El Mercurio” meldete, die Regierung denke ernsthaft über einen “punto final” nach. Die Öffentlickeit war auf das Schlimmste vorbereitet, so daß die Aussage Aylwins, diesen niemals zuzulassen, als Standfestigkeit gegenüber den Militärs verkauft werden konnte. Dabei kam das Gesetzesprojekt des Präsidenten einem Zurückweichen auf der ganzen Linie gleich.
Bereits bei der Begründung seiner Initiative machte sich Aylwin die Argumente der Miltärs zu eigen und rechtfertigte damit den “boinazo”. Die schleppende juristische Behandlung der Menschenrechtsverletzungen lasse die nationale Versöhnung nicht zu. Die Vorverurteilung von Militärangehörigen durch die Massenmedien und die öffentliche Meinung habe ein Klima der “Hexenjagd” erzeugt und innerhalb der Streitkräfte zu großer Verunsicherung geführt, die sich schließlich im “boinazo” entladen habe.
Das Interesse der Angehörigen der Verhafteten und Verschwundenen reduzierte Aylwin darauf, den Fundort der Leichen zu ermitteln, um diese dann bestatten zu können. Daß nicht nur die Angehörigen jedoch auch ein Interesse an der öffentlichen Aufklärung der Verbrechen und an einer Bestrafung der Schuldigen haben, verschwieg er. “Gerechtigkeit im Rahmen des Möglichen” bedeutet Leichensuche, um dann endlich die Akten schließen zu können. Der Zynismus dieser Argumentationsweise offenbarte sich vollends darin, daß Aylwin sämtliche Betroffenen dazu aufforderte, sich im Interesse der nationalen Versöhnung in die Lage der Gegenseite zu versetzen. Eine Mutter, die seit fast zwanzig Jahren verzweifelt nach dem Verbleib ihrer Tochter forscht, soll sich also in die Lage eines folternden Militärs versetzen?

Der “punto final” als Alternative zum “punto final”

Zu den wichtigsten Maßnahmen des Gesetzesprojektes gehört die Berufung von SonderrichterInnen, die sich der schwebenden Verfahren annehmen sollen, um sie zu beschleunigen. Um Militärangehörige zur Aussage über den Fundort von Leichen zu bewegen, versprach Aylwin sowohl die Geheimhaltung der Namen als auch der Tatumstände. Nach Ansicht des juristischen Beraters des Präsidenten, Guzmán Vidal, besteht ein moralischer Anreiz für Militärs, an der Aufklärung mitzuarbeiten. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Streitkräfte sei durch Verfehlungen Einzelner untergraben worden. Warum dieselben Militärangehörigen, die die Möglichkeit der anonymen Beichte gegenüber einem Geistlichen nicht wahrgenommen haben, heute ihr Schweigen brechen sollten, bleibt allerdings unklar. Die Geheimhaltung, die Gegenstand des Artikels 3 der “Ley Aylwin” ist, soll gewährleistet werden, indem der Zugang der AnwältInnen von Familienangehörigen zu Zeugenaussagen durch richterliche Entscheidung geregelt wird. Die öffentliche Bekanntgabe dieser Aussagen soll mit Gefängnisstrafe und Entzug der Anwaltslizenz geahndet werden. Dem Anspruch auf eine öffentliche Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen der Diktatur, der von den Opfern und ihren Angehörigen eingefordert wird, wird diese Beschränkung der Pressefreiheit und die drohende Maßregelung von AnwältInnen jedenfalls nicht gerecht.
Aus Protest gegen die Politik der Regierung riefen Menschenrechtsorganisationen und Angehörige von Verschwundenen zu Protestkundgebungen und Hungerstreiks auf. Unter Berufung auf Gesetze, mit denen unter der Militärdiktatur das Recht auf Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit eingeschränkt wurde, löste die Polizei Kundgebungen vor dem Präsidentenpalast auf. Wasserwerfer stellten sich protestierenden RentnerInnen entgegen. Infolge des Knüppeleinsatzes wurden mehrere von ihnen verletzt und stundenlang auf Polizeiwachen festgehalten, ohne medizinisch versorgt zu werden. Die Hungerstreiks diffamierte Innenminister Enrique Krauss als “völlig unzulässigen Versuch, die Regierung unter Druck zu setzen”.

“Ley Aylwin” – ein schlampig ausgearbeitetes Projekt

In den Tagen nach der Rede Aylwins wurde vor allem eines klar: Die Gesetzesinitiative war so vage gehalten, daß alle Interessengruppen unterschiedliche Interpretationen anbieten konnten. Das Gesetz sollte eine Gültigkeit von zwei Jahren haben. Unklar blieb jedoch, ob sich diese Zeitspanne auf die Berufung von SonderrichterInnen bezog oder auf die Behandlung der Fälle. Gilt die Zusicherung der Geheimhaltung für alle Aussagen oder nur für verwertbare? Erstreckt sich der “Vertrauensschutz” nur auf ZeugInnen oder auch auf Beschuldigte? Nehmen sich die SonderrichterInnen nur der gegenwärtig 183 unter Zivilgerichtsbarkeit laufenden Fälle an, oder auch der bereits zu den Akten gelegten Altfälle sowie der Verfahren, die die Militärjustiz untersucht? Können Militärrichter Sonderrichter werden? Die Auseinandersetzung, ob die Kompetenz der Militärgerichtsbarkeit angetastet werden soll, hat insofern neue Brisanz erhalten, als Militärrichter Verfahren einstellten, während über das “Ley Aylwin” diskutiert wurde.
Die meisten der 21 Mitglieder des Obersten Gerichts, der “Corte Suprema”, wurde noch unter Pinochet ernannt und machen keinen Hehl aus ihrer Überzeugung, Chile habe sich in den Jahren nach 1973 im Kriegszustand befunden. Dies dient heute als Begründung dafür, daß Menschenrechtsverfahren zivilen Gerichten entzogen und an Militärtribunale weitergeleitet werden.

Spannungen in der “Concertación”

Unterschiedliche Interpretationen sowie die Tatsache, daß Aylwin dem Parlament seine Gesetzesvorlage mit Dringlichkeit präsentierte, führten zum offenen Konflikt innerhalb der Regierungskoalition, der “Concertación”. Die Sozialistische Partei (PS) und die “Partei für die Demokratie” (PPD) drängten vergeblich darauf, den Beratungszeitraum auszudehnen. Es erregte innerparteiliche Streitigkeiten, daß die VertreterInnen von PS und PPD in der Verfassungskommission des Parlaments gemeinsam mit den ChristdemokratInnen eine leicht modifizierte Gesetzesvorlage verabschiedet hatten. Die vorgenommenen Veränderungen bezogen sich vor allem auf den Geheimhaltungsparagraphen. Diese Modifikationen gingen den Abgeordneten von PS und PPD jedoch nicht weit genug. Als die Vorlage schließlich im Parlament zur Abstimmung gestellt wurde, verweigerten die Abgeordneten von PS und PPD ihre Stimmen. Im ersten Wahlgang, der sich auf das Gesetz als Ganzes bezog, brachte die Christdemokratische Partei (DC) mit den Stimmen der rechten Opposition eine Mehrheit hinter sich. Bei der Abstimmung über die einzelnen Paragraphen der Vorlage wurde hingegen der Artikel 3 über die Geheimhaltung mit den Stimmen von PS und PPD einerseits sowie der Rechten andererseits gekippt.
Abgeordnete der rechten Parteien UDI (Unabhängige Demokratische Union) und RN (Nationale Erneuerung) erklärten ihr widersprüchliches Abstimmungsverhalten damit, daß sie der Beschleunigung der Menschenrechtsverfahren zwar insgesamt positiv gegenüberständen, ein Aufweichen der Geheimhaltungsvorschriften aber als unzumutbar empfänden. Die unzureichende Gewährleistung der Geheimhaltung von Zeugenaussagen behindere die Anwendung des Amnestiegesetzes von 1978, gestand die UDI unverblümt ein. Außerdem sei die Kompetenz der Militärgerichtsbarkeit nur unzureichend abgesichert. Um den Abschluß der Prozesse auch tatsächlich zu beschleunigen, setzte sich die Rechte außerdem dafür ein, Fristen für die einzelnen Bearbeitungsschritte der Nachforschungen zu setzen.
Das politische Kalkül der Rechten, das ihrem Abstimmungsverhalten zugrunde lag, bestand offenbar darin, den Zusammenhalt der “Concertación” zu gefährden. Gemeinsam mit der Rechten die Gesetzesinitiative Aylwins zu Fall gebracht zu haben, trug der PS und der PPD den Vorwurf ein, ihre christdemokratischen RegierungspartnerInnen verraten zu haben.
Im Klima gegenseitiger Schuldzuweisungen kündigte Präsident Aylwin an, dem Senat die ursprüngliche Fassung seiner Gesetzesinitiative vorzulegen. Weite Teile der Rechten, die im Senat die Mehrheit stellt, signalisierten daraufhin ihre Unterstützung. Eine drohende Neuauflage der Allianz von DC und Rechten, die sich bereits 1973 gegen Salvador Allendes Regierung gestellt hatte, brachte sowohl die DC als auch den “sozialistischen” Flügel der “Concertación” in Bedrängnis. Gerade in der sensiblen Frage der Menschenrechte wollten die ChristdemokratInnen unter allen Umständen den Eindruck vermeiden, den offenen AnhängerInnen der Militärdiktatur nachgegeben zu haben. In dieser Angelegenheit waren PS und PPD jedoch keinesfalls bereit, von ihren Prinzipien abzurücken, zumal sie auch von der linken außerparlamentarischen Opposition unter starken moralischen Druck gesetzt wurden.
Bereits wenige Tage nach der Abstimmung im Parlament versuchten führende Mitglieder der Regierungskoalition, die Wogen zu glätten. Im Bewußtsein der wechselseitigen Abhängigkeit angesichts der im Dezember anstehenden Wahlen beschworen DC, PS und PPD den Zusammenhalt der “Concertación” und kündigten an, die Meinungsverschiedenheiten in koalitionsinternen Verhandlungen beizulegen. Obwohl die Sozialistische Partei auch offiziell von der Unantastbarkeit des Amnestiegesetzes von 1978 ausgeht, kam es zu keiner Einigung, denn die DC war nicht bereit, die im umstrittenen Artikel 3 enthaltenen Geheimhaltungsvorschriften entscheidend zu lockern. Nach einer Reihe von Gesprächen zwischen den Spitzen der Regierungsparteien und dem Präsidenten zog Patricio Aylwin seine Gesetzesinitiative auf unbestimmte Zeit zurück. Innerhalb seiner Amtszeit wird es keinen neuerlichen Versuch geben, den Streit um die Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen beizulegen. Menschenrechtsgruppen zweifeln aber an der Bereitschaft und Sensibilität seines designierten Nachfolgers Eduardo Frei, sich des Themas anzunehmen. Trotzdem betrachten die hungerstreikenden Angehörigen der Verhafteten und Verschwundenen das Scheitern des “Ley Aylwin” als Erfolg. Für die Präsidentin des Zusammenschlusses der Angehörigen (AFDD), Sola Sierra, haben “die Prinzipien, die Ethik über den Pragmatismus gesiegt”. Gleichzeitig kündigte sie das Ende des Hungerstreikes an.

“Warum soll es ausgerechnet in Chile Gerechtigkeit geben?”

Nach dem Scheitern des “Ley Aylwin” hat sich zumindest in juristischer Hinsicht die Situation nicht verändert. Auf der politischen Ebene ist hingegen vieles deutlich geworden: Die Bereitschaft der Regierung, dem Militär die Stirn zu bieten, ist immer noch nicht vorhanden. Die Gesetzesinitiative des Präsidenten hat das Amnestiegesetz legitimiert und den “boinazo” vom vergangenen Mai gerechtfertigt. Entgegen früheren Zusagen hat die Regierung darauf verzichtet, alle ihre Möglichkeiten auszuschöpfen, um das Militär ziviler Kontrolle zu unterstellen. Seit Jahren fordert beispielsweise die Menschenrechtsorganisation CODEPU (Komitee für die Verteidigung der Rechte des Volkes) vergeblich von der Regierung, das umstrittene Amnestiegesetz vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte überprüfen zu lassen. Zumindest die politische Elite des Landes hat sich schon lange damit abgefunden, daß es in Bezug auf die Ahndung von Menschenrechtsverletzungen keine Gerechtigkeit geben wird. Der Generalsekretär der DC, Genaro Arriagada, gibt offen zu: “In keinem Land der Erde gibt es Gerechtigkeit. Warum soll das ausgerechnet in Chile anders sein?”
Im Interesse der Verbesserung der sogenannten militärisch-zivilen Beziehungen ist die Regierung Aylwin dazu bereit, jede öffentliche Diskussion über die Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. Sie betreibt die Individualisierung der Schuldfrage und vermeidet es so, das Militär als Institution für die systematischen Menschenrechtsverletzungen unter der Diktatur verantwortlich zu machen.
Die Macht der Militärs ist im Zuge der Auseinandersetzungen um die “Ley Aylwin” gestärkt worden, denn die Regierung hat unmißverständlich klargemacht, unter allen Umständen einen Konsens mit den Generälen erreichen zu wollen.
Die für das Militär juristisch zufriedenstellende Lösung der Menschenrechtsfrage läßt hingegen weiterhin auf sich warten. Auf die Frage, wie die Regierung auf zukünftige Provokationen des Militärs reagieren werde, antwortet DC-Generalsekretär Arriagada: “Wenn das passiert, dann werden wir weitersehen.” Darüber, ob und wann das Militär die Regierung mit erneuten Machtdemonstrationen wie dem “boinazo” zum Handeln zwingen wird, kann vorerst nur spekuliert werden.

Geschichten vom transplantierten Intellektuellen

“Der Markt in den Köpfen” ist das Hauptthema des diesjährigen Lateinamerika-Jahrbuchs. Ein Thema, das den HerausgeberInnen wohl auf den Nägeln brannte, ,sind sie doch “verblüfft oder enttäuscht, wenn wir langjährige Weggefährten, Kolleginnen, Forschungspartner ganz unvermutet im neoliberalen Gewande wiedertreffen”, in Lateinamerika, versteht sich. Um die lateinamerikanischen Intellektuellen also geht es, und um die Frage, wie es zu erklären ist, daß so viele, die noch vor wenigen Jahren als schärfste KritikerInnen der kapitalistischen Ausbeutung auftraten, heute die “Marktgesetze” uneingeschränkt gelten lassen. Daß dies das Thema sei, verheißen jedenfalls Titel und Einführung, doch nicht alle Texte halten, was die Ankündigung verspricht.
Urs Müller-Plantenberg beschreibt in seinem Text die Wandlungen der CEPAL, der Wirtschaftskommission für Lateinamerika. Die CEPAL “hat sich in den ersten Jahrzehnten ihrer Existenz nach dem Zweiten Weltkrieg mit der offensiven Vertretung einer wirtschaftspolitischen Strategie für die lateinamerikanischen Länder einen solchen Namen gemacht, daß es noch heute schwerfällt, sich unter Cepalismo etwas anderes vorzustellen als eben jene Entwicklungsstrategie einer binnenmarktorientierten, importsubstituierenden Industrialisierung.” Das aber muß man wohl, denn nach Jahren der konzeptionellen Abstinenz wartet die CEPAL nun mit einem Programm auf, das, wie Müller-Plantenberg eindringlich schildert, mit allen wesentlichen Grundprinzipien des Neoliberalismus voll in Einklang zu bringen ist. Aber die CEPAL leistet einen eigenen Beitrag damit, “daß sie zusätzlich zur Forderung nach Markteffizienz und Eingliederung in den Weltmarkt weitere Ziele formuliert (..), die nicht im Mittelpunkt des Interesses des Neoliberalismus stehen, gleichwohl aber von ihm akzeptiert werden können.” Namentlich geht es um die soziale Abfederung der Härten neoliberaler Programme. Daß die CEPAL auf neoliberalem Kurs schwimmt, nimmt nicht wunder, denn nach Meinung des Autors konnte sie erst dann überhaupt ein neues Konzept vorlegen, als sie sich wieder auf eine einheitliche Denkströmung in den lateinamerikanischen Ländern stützen konnte -und das ist heute der Neoliberalismus.

Wie kommt der Markt in die Köpfe?

Wieso das so ist, das erfahren wir deutlicher aus dem Aufsatz von Juan Gabriel Valdes “Die Chicago-Schule: Operation Chile”. Haargenau -und im Jahrbuch doch nur in einem Ausschnitt aus einem Buch Valdes’ -belegt der Autor den “Ideologietransfer von Chicago nach Santiago”, der in der Zeit der Pinochet- Diktatur stattgefunden hat. Die ideologische Diktatur der “Autorität der ökonomischen Wissenschaft” hat sich bis heute fortgesetzt. Der Autor braucht keine Verschwörungstheorie zu konstruieren, er beschreibt schlicht anhand von Personen und Vorgängen, wie eine ganze Reihe Hochschulabsolventen der University of Chicago die wesentlichen Positionen der staatlichen Wirtschaftspolitik und der Ideologiebildung in Chile übernahmen. Ziel: Das Ersetzen von Politik durch Technologie, von Politikern durch Ökonomen. Mit der Machtübernahme der Militärs wurde die kontrollierte Zerstörung des Alten -unabdingbare Voraussetzung für die Durchsetzung des neoliberalen Denkens in allen lateinamerikanischen Ländern -rasant vollzogen. “Nirgendwo wandte man die neoklassische Theorie in größerer Reinheit und mit mehr Radikalismus an als hier. Und was noch wichtiger ist: In keinem anderen Fall hatte man die Kühnheit, mit ihr die Gründungsphilosophie einer neuen Gesellschaft verfassen zu wollen.” Wohl diese “Kühnheit”, dieses nicht durch vorgebliche “Sachzwänge”, sondern mit einem positiv formulierten Gesellschaftsmodell vermittelte Programm, ist es, was Chile zum “Modell” werden ließ -und was letztendlich auch die CEPAL-Strategie maßgeblich beeinflußt hat.
In seinem Beitrag “Die Intellektuellen und der mexikanische Staat im verlorenen Jahrzehnt” beschreibt Sergio Zermeño den allmählichen Wandel der Intellektuellen. Er geht von einer Spaltung der Gesellschaft in drei Teile aus: Den “harten Kern”, die “Integrierten” und die “Ausgegrenzten”. Seiner Ansicht nach hat es der harte Kern im Falle der Intellektuellen geschafft, sie durch diverse Mechanismen zu korrumpieren, ihre Kommunikation mit dem Volk zu brechen, und in den Kreis der “integrierten Minderheit” mit einzubeziehen, unter Ausnutzung des intellektuellen Frusts über die Entwicklung. “Es ist vielleicht der Kontrast zwischen den modernen Konzepten, mit denen wir.aufgewachsen sind, und einer Zukunft, die immer weniger mit ihnen übereinstimmt, der dazu führt, daß Wissenschaft und Technik (die Universität) sich immer weiter von der Gesellschaft (und der Natur) entfernten und sich der Macht annähern, vor allem, wenn diese eine Zukunft der Modernisierung verspricht.” Und: “Die Organisationen und die Führungsspitzen der Integrierten vollziehen eine Wende zum Parlamentarismus, zu den Gemeinderäten, zu den Parteivorständen und Leitungsposten in den Ministerien, Universitätsinstituten und Fakultäten, zu Beraterverträgen, Fernsehauftritten und festen Kommentarspalten. Der Sog wirkt von unten und von oben: Politbürokratisierung oder Verelendung.” Nach Zermeño müssen sich die Intellektuellen “die Rekonstruktion der sozialen Identitäten zum Ziel setzen und die fieberhafte Aktivität in den Bereichen des politischen Systems, wo es um Einfluß, um Repräsentation, kurz »politische Demokratie« geht, ein wenig drosseln, die den Ausgegrenzten nur spärlichen Nutzen bringt (…)”
Die anderen Beiträge des ersten Teiles konzentrieren sich auf die -zweifelsohne sehr kompetente -Beschreibung der Auswirkungen neoliberaler Politik in den verschiedenen Ländern. Wolfgang Gabbert beschreibt mit dem mexikanischen PRONASOL-Programm sicherlich eines der wichtigsten Modelle sozialpolitischer Schein-Abfederung neoliberaler Politik. Die Hauptfragestellung der mexikanischen Regierung war nach Gabbert: “Wie läßt sich eine Wirtschaftspolitik, die zu einer zunehmenden sozialen Polarisierung zwischen Arm und Reich führt, politisch absichern?” Vor dem Problem stehen nun alle lateinamerikanischen Regierungen, und PRONASOL “hat in seiner fünfjährigen Laufzeit seine stabilitätssichernden Kapazitäten bewiesen und ist mittlerweile zum Exportschlager avanciert.” Gerade deshalb ist der Beitrag von Wolfgang Gabbert so wichtig.

Und wie kommt er wieder heraus?

Franz Hinkelammert beschreibt in seinem essayistischen Aufsatz die Parallelität zwischen Stalinismus und Neoliberalismus: Beide stellen sich als einzig gangbare, beziehungsweise einzig rationale Alternative gesellschaftlichen Zusammenlebens dar. Wer es auch nur wagt, Alternativen zur derzeitigen Wirtschaftsweise anzudenken, wird ins Reich des Irrationalen verbannt, als Utopist und Träumer aus der Gesellschaft ausgeschlossen -der Totalitarismus des Marktes.
Hinkelammerts Schlußfrage ist so weniger: Wie ist der Markt in die Köpfe gekommen? Sondern: Wie kommt er wieder heraus? “Zunächst einmal sich weigern, verrückt zu werden, wenn unsere Gesellschaft den Wahnsinn zur Rationalität erklärt. (…) Dann aber kommt der Widerstand.” Und dieser müsse nicht immer legal sein, sondern legitim. Das klingt erfrischend revolutionär, aber die Ratlosigkeit, mit der man den Ausführungen Hinkelammerts zustimmt, führt die eigene längst vollzogene Vereinzelung erschreckend vor Augen.
Der Themenschwerpunkt des Buches hält nicht völlig, was er verspricht. Taz- Japan-Korrespont Georg Blume soll beschreiben, wie Japan als “Vorbild auf Lateinamerika wirkt, erklärt aber eher, wie Japan als Handelspartner Anteil an der lateinamerikanischen Entwicklung hat. Enzo del Bufalo kritisiert die neoliberale venezolanische Wirtschaftspolitik als idiotisch und inkohärent -doch die zentrale Fragestellung des Buches berührt er kaum. Und Rainer Dombois schreibt in seinem Artikel über “Arbeitswelt und neoliberale Wende in Kolumbien” zwar, wie sich die wirtschaftlichen Anpassungsmaßnahmen vollzogen haben und die Privatwirtschaft darauf reagiert hat, auch hier aber bleibt die Frage ausgespart, warum es von intellektueller Seite aus so wenig Gegenvorstellungen oder wenigstens Kritik gibt.
Ausgespart, und dies ist ein deutliches Manko, bleiben auch jene Länder, wo neoliberale Anpassungsprozesse zu großen politischen Konflikten geführt haben. Nicaragua, wo sich die Gewerkschaften der Überführung ehemals staatlichen in Belegschaftseigentum verschworen haben und dabei selbst zu Unternehmern werden; Uruguay, wo ein Referendum gegen die Privatisierung nicht nur durchgesetzt, sondern gewonnen wurde -keine Themen im Jahrbuch.
Das ist schade, soll aber von der uneingeschränkten Leseempfehlung nicht abhalten. Der siebzehnte Band, gerade erschienen, lohnt sich allemal. Und daß inhaltliche Konzepte nicht immer bis ins letzte durchgehalten werden können, sollten wir als LN-Redaktion ohnehin besser nicht zu laut kritisieren…
Erstmals erscheint das Jahrbuch nun beim Horlemann-Verlag aus Bad Honnef, endlich wieder im gewohnten Design, von dem man in der zweijährigen Eskapade zum Lit-Verlag hatte abweichen müssen. Erleichternd ist, daß die Länderberichte, die wie immer den zweiten Teil des Buches füllen, diesmal noch nicht völlig veraltet sind -elf AutorInnen berichten mit längerem Atem, aber aktuell, aus ebenso vielen Ländern Lateinamerikas. Erfreulich für die HerausgeberInnen: Das Buch erscheint pünktlich zur Buchmesse -marktgerecht.

Markt in den Köpfen. Lateinamerika -Analysen und Berichte 17, hrsg. von Dietmar Dirmoser u.a., Unkel/Rhein; Bad Honnef: Horlemann 1993; ISBN 3-927905-80-1

Geliebtes Erbe einer verhaßten Zeit

Wenn Leute, die die chilenische Regierung vertreten, heutzutage mit Kolleginnen und Kollegen aus den Nachbarländern diskutieren, vermeiden sie es sorgfältig, von Chile als Modell zu sprechen. Ihnen ist es, egal ob sie aus der Christdemokratischen oder der Sozialistischen Partei kommen, peinlich, als überheblich zu gelten, so als sollte am chilenischen Wesen die Welt ringsum genesen. Und gelegentlich lassen sie auch noch erkennen, daß sie keinem Nachbarland die Opfer wünschen, die die lange Nacht der Pinochet-Diktatur gekostet hat. Sobald sie aber untereinander sind, geht ihnen ganz flott von den Lippen, daß sich ihr Land jetzt in der “zweiten Phase des Exportmodells” befindet. Das soll bedeuten, daß sie die Ergebnisse der unter der Militärdiktatur durchgesetzten neoliberalen Revolution, nämlich eine exportorientierte, aktive Weltmarktintegration des Landes mit allen Konsequenzen für seinen inneren Zustand voll akzeptieren und nur innerhalb dieses Rahmens etwas im Sinne von Demokratie und sozialem Ausgleich ändern wollen. Nicht Chile ist also das Modell, sondern Chile hat sich nur frühzeitig nach einem Modell ausgerichtet, das nach dieser Vorstellung andere Länder – unter möglichst weniger kostspieligen Umständen – auch adoptieren müßten.

Die Linksintellektuellen ohne Alternative

Diese Einschätzung, daß es zu dem herrschenden Wirtschaftsmodell keine wirkliche Alternative gebe, wird heute auch von der Mehrheit der einstmals linken Intellektuellen geteilt, die vor zwanzig Jahren mit Salvador Allende für einen demokratischen Sozialismus kämpften und dann für lange Jahre ins Exil gehen mußten. Diese Position ist in der Koalition, die den Präsidenten Patricio Aylwin trägt, so weit akzeptiert, daß die rechte Opposition derer, die mit der Diktatur sympathisierten, für den kommenden Wahlkampf gar kein rechtes Thema hat und in den Meinungsumfragen hoffnungslos zurückliegt.
Woher aber nun diese freudige Akzeptanz des neuen chilenischen Weges? Woher die Angst vor jeder Abweichung vom Pfad der kapitalistischen Tugend? Woher der Erfolg der Warnung “Keine Experimente!”, ganz im Sinne von Konrad Adenauer und Ludwig Erhard seligen Angedenkens?
Ein großer Teil der Erklärung liegt in dem relativ hohen Wachstum, das die chilenische Wirtschaft seit Mitte der achtziger Jahre und ganz besonders seit dem Amtsantritt der demokratischen Regierung Anfang 1990 erfahren hat. Chile war – neben Uruguay – eins der ganz wenigen Länder, die im sogenannten “verlorenen Jahrzehnt Lateinamerikas” zwischen 1980 und 1990 nicht einen Rückgang der Wirtschaftsleistung erlebt haben, und überhaupt das einzige Land, dessen Produkt pro Kopf in dieser Zeit spürbar zunahm.
Das folgende Schaubild zeigt, wie sich das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung in Chile im Vergleich zu den Nachbarländern verändert hat. Während es in Peru von 1980 bis 1992 um gute, genauer: katastrophale 30 Prozent gesunken ist, in Bolivien auf niedrigstem Stand noch nicht einmal das Niveau von 1970 wieder erreicht hat und in Argentinien trotz hoher Zuwachsraten in den letzten beiden Jahren die gut 20 Prozent Schrumpfung seit 1980 immer noch nicht wieder wettgemacht hat, verzeichnet es in Chile seit 1982, als es dort unter den Stand von 1970 zurückgefallen war, ein erst langsames, dann sich steigerndes Wachstum um insgesamt 30 Prozent. Der Abstand zum reicheren Argentinien hat sich erheblich verringert, der zu den ärmeren Nachbarländern Peru und Bolivien erheblich vergrößert. Alle, die sich in Chile den Luxus einer Auslandsreise leisten können, kommen mit dem Eindruck zurück: “Bei uns funktioniert es besser!”
Bisweilen verbindet sich damit der Traum, binnen kurzem den Anschluß an die Entwicklung der Industrieländer zu erreichen, Teil der Ersten Welt zu werden. Und in der Tat: In dem großen, weiträumigen Oberklassenviertel von Santiago können sich die gutsituierten Leute wochenlang über weite Strecken bewegen, ohne der Armut zu begegnen. Modernste Wohnanlagen und schmucke Villen wechseln mit luxuriösen Einkaufspassagen, attraktiven Hotels und postmodernen Bankpalästen, zwischen denen geschniegelte Yuppies mit ihren schlanken Aktenkoffern – eifrig telefonierend – hin und her laufen oder fahren.

Eine gigantische Umverteilung

Dieser konzentrierte und heute offen zur Schau gestellte Reichtum ist aber nicht nur das Ergebnis der Wachstumsraten der letzten Jahre, sondern vor allem Resultat einer gigantischen Umverteilung der Einkommmen zu Lasten der Armen und zu Gunsten der Reichen. Nach Angaben der in dieser Hinsicht sicher unverdächtigen Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen (CEPAL) ist in Chile zwischen 1970 und 1990 der Anteil der Armen von 17 auf 35 Prozent der Bevölkerung und der Anteil der extrem Notleidenden von sechs auf zwölf Prozent der Bevölkerung gestiegen. Diese gigantische Umverteilung war einerseits das Ergebnis der nach 1973 erfolgten Durchsetzung des neoliberalen Wirtschaftsmodells mit der völligen Liberalisierung des Marktes, der totalen Ausrichtung auf den Außenhandel und der drastischen Reduzierung der Rolle des Staates in der Wirtschaft und im Bereich des Sozialen. Andererseits wurde die Umverteilung noch einmal verschärft durch die tiefen Wachstumskrisen von 1975 und 1982, die der Schockbehandlung durch die Chicago Boys unter der Diktatur folgten.
Nimmt man die geamte Zeit seit 1970 bis heute, so ist Chile – bezogen auf den Durchschnitt der Bevölkerung – den Industrieländern keineswegs näher gerückt. Um ganze 1,2 Prozent jährlich ist das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in den 22 Jahren seither gewachsen. Entscheidend für das Bewußtsein der Leute – auch der armen Leute – ist aber, was jetzt passiert; und jetzt boomt die Wirtschaft: Um 10,4 Prozent hat die Wirtschaftsleistung 1992 zugenommen. Wo gibt es das – außer in China – noch auf der Welt? Für 1993 sieht es nicht viel schlechter aus. Und die Inflation sinkt. Und das Auslandskapital strömt herein. Und die Deviseneinnahmen aus dem Export nehmen zu. Und die Investitionsquote steigt.
Unter diesen Umständen setzt auch die Mehrheit der Armen ihre Hoffnung nicht auf die Abschaffung des Wirtschaftsmodells, das ihre Armut erst erzeugt oder noch verschlimmert hat, sondern – unter der demokratischen Regierung – auf einen gerechten Anteil an dem produzierten Wachstum. Regierungsfunktionäre aus dem Planungsministerium haben ausgerechnet, daß tatsächlich im Jahre 1992 die Einkommen der unteren 40 Prozent der Einkommenspyramide um zwei Prozent schneller gewachsen sind als der Durchschnitt. Bei diesem Tempo würde es noch viele Jahrzehnte brauchen, bis eine ähnliche Einkommensverteilung wie im Jahr 1970 wieder erreicht würde; aber die Situation der Armen wird wenigstens nicht noch schlechter.

Liberalismus in den Köpfen

Daß das Wirtschaftsmodell so breit akzeptiert wird, liegt aber auch daran, daß es sich über die neoliberalen sogenannten “Modernisierungen” seit den achtziger Jahren in den Verrichtungen des täglichen Lebens und in den Köpfen niedergeschlagen und festgesetzt hat. Die Privatisierung der grundlegenden sozialen Dienste im Gesundheitswesen und in der Sozialversicherung, die Übertragung des Bildungswesens auf die Gemeinden, die Zerschlagung und Neuordnung der Gewerkschaften durch den sogenannten “Plan Laboral” und die Zerstörung der Berufskammern, alle diese Maßnahmen zielten darauf, die Gesellschaft zu atomisieren und an den Gedanken zu gewöhnen, daß vom Staat nichts zu erwarten ist: “Jede ist ihres Glückes Schmiedin.” Und da unter der Diktatur diesen Ideen der Herrschenden nichts entgegengesetzt werden konnte, wurden sie zu den herrschenden Ideen im Lande. Unternehmerischer Geist kennzeichnet heute nicht nur die UnternehmerInnen, sondern auch die Werktätigen bis hin zu den Bettlern, die sich zur Steigerung der “Effizienz” ihrer Arbeit eine Krawatte umbinden.
Die Ausrichtung auf den Export ist auf den ersten Blick beeindruckend erfolgreich. Immer steigende Deviseneinnahmen haben nicht nur die Finanzierung des Luxus der Oberschicht, sondern auch eine Reduzierung der Auslandsschulden möglich gemacht. Aber auch der Blick auf die endlos erscheinenden neuen Obst- und Weingärten, Kiefern- und Eukalyptuswälder, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die vielgepriesenen “nichttraditionellen” Exporte von Obst und Holz, Wein und Zellulose eben doch insofern sehr traditionell sind, als es sich um Rohstoffe oder wenig verarbeitete, rohstoffnahe Produkte handelt, bei denen die komparativen Vorteile gegenüber den ausländischen Konkurrenten in der Ausbeutung des Bodens und schlecht bezahlter – häufig weiblicher – Arbeitskräfte liegen. An ein dauerhaftes Wachstum dieser Art von Exporten ist nicht zu denken; und unter ökologischen und sozialen Gesichtspunkten wäre es auch gar nicht wünschenswert.
Die Vernachlässigung ökologischer Gesichtspunkte ist ohnehin eins der wesentlichen Kennzeichen des chilenischen Modells. Kaum jemand wagt es, die Argumentation gegen Smog und Pestizide, gegen Monokulturen und Naturwaldvernichtung soweit zu treiben, daß auch die Heilige Kuh des Wachstums um jeden Preis ins Zwielicht geriete. Die Regierung des Präsidenten Aylwin und ihre fast sichere Nachfolgerin unter dem Christdemokraten Eduardo Frei werden froh sein, wenn sie die Fortsetzung des neoliberalen Wirtschaftsmodells mit fortgesetztem Wachstum, einem Minimum an Verbesserung im Sinne sozialen Ausgleichs und der Aufrechterhaltung einigermaßen demokratischer Verhältnisse kombinieren können. Für manche Länder in Lateinamerika und Osteuropa mag solches Streben Modellcharakter haben; von sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Vernunft sind die Verhältnisse in Chile immer noch weit entfernt.

Warten auf den »trickle down«

Die “Tigremania” ging soweit, daß sich Chiles Zentralbankchef, Roberto Zahler in der ersten Januarwoche genötigt sah, dem konzertierten Größenwahn der Chicago- und Harvard-Boys einen Dämpfer aufzusetzen: “Viel eher als Tiger haben wir ChilenInnen hinter uns und vor uns Katzengeschichten, mit einer Kultur, Angewohnheiten und Perspektiven von Katzen – die zudem ein Hang zum Manisch-Depressiven auszeichnet”. Und nach der verheerenden Schlamm- und Geröllawinenkatastrophe vom 3. Mai, die in den Armenvierteln im Südosten von Santiago um die 100 Menschenleben kostete, machte unter den in den Schulen von Peñalolén und La Florida notdürftig einquartierten Überlebenden der Witz die Runde, daß 75 Minuten warmer Regen ausgereicht hätten, um aus dem stolzen Tiger ein ärmliches, nasses und frierendes Kätzchen zu machen…
In der Tat ist es im Vergleich zu den achtziger Jahren deutlich schwieriger geworden, ein kohärentes Urteil über die ökonomische und soziale Entwicklung im Chile der “transición” abzugeben.

Statistik versus Realität der “Armen”

Die StatistikerInnen der Regierung Aylwin haben errechnet, daß zwischen 1990 und 1992 die Zahl der Armen in Chile um 700.000 zurückgegangen sei – und verhindert werden konnte, daß weitere 300.000 Menschen unter die Armutsgrenze rutschen. Gemäß ihren Zahlen ist der Anteil der unterhalb der Armutsgrenze lebenden ChilenInnen von 1990 bis Ende 1992 von 40,1 auf 33,4 Prozent zurückgegangen. Der Anteil der innerhalb dieser Gruppe als “Indigentes” bezeichneten Armen, Menschen also, die nicht in der Lage sind, auch nur das elementarste Grundbedürfnis einer ausreichenden Ernährung zu befriedigen, sank laut Regierungsstatistik von 13,8 auf 10,3 Prozent. Übrig bleiben in absoluten Zahlen, deren Authentizität jedoch umstritten ist, 4,2 Millionen Arme
Die wirtschaftspolitische Strategie der “Harvard Boys” in der Regenbogen-Koalition der Regierung Aylwin bestand darin, das “Chicago-Modell” des Militärstaates weitestgehend unverändert zu übernehmen: niemand rüttelte am Konzept einer liberalen Wachstumspolitik, gestützt auf Rohstoff- und Früchteexporte. Weder die totale Öffnung für den Weltmarkt, noch die teilweise unter mafia-artigen Begleitumständen vollzogenen Privatisierungen in der Torschlußphase des Pinochet-Regimes wurden in Frage gestellt. Aylwin erklärte die Aufnahme Chiles in eine gemeinsame Freihandelszone mit den USA, Kanada und Mexiko zum prioritären Ziel seiner Außenpolitik.
Demgegenüber erwies sich die programmatische Formel vom “crecimiento en equidad”, Wachstum hin zur Chancengleichheit, weitestgehend als rhetorische Hülse. Das zur magischen Ziffer erklärte statistische Pro-Kopf-Jahreseinkommen von 2800 Dollar spiegelt in keinster Weise die Realität etwa der “pobladores” wider, der Menschen in den Armenvierteln der chilenischen Städte.
Was sich etwa im staatlichen Sozialbereich, in Krankenhäusern, öffentlichen Schulen – oder auch im Wohnungs- und kommunalen Infrastrukturbereich abspielt, ist, so urteilte die Pariser “Le Monde”, “schlicht dramatisch”. Die Grippe-Epidemie der zurückliegenden Juni-Wochen versetzte das staatliche Gesundheitssystem in Katastrophenzustand. Etwa zehn Prozent aller mit akuten Atemproblemen in die “postas”, “consultorios” und “hospitales” eingelieferten Kinder mußten nach teilweise 16stündiger Wartezeit wieder nach Hause geschickt werden, weil es niemanden gab, der sich die kleinen PatientInnen auch nur hätte anschauen können. In der Santiagoer Stadtrandgemeinde Renca sind derzeit von 14 ÄrztInnen-Planstellen neun unbesetzt, weil keine Geldmittel für Gehälter zur Verfügung stehen.
Die Politik der weitestgehenden Zerschlagung des Sozialstaat-Systems während der Jahre des Militärregimes ist von der Regierung Aylwin seit 1990 nur zu geringen Teilen revidiert worden. Obwohl die Regierung der “transición” öffentlich einräumt, daß das System der Marktwirtschaft keine ausreichenden Möglichkeiten für eine gerechte Einkommensverteilung bietet, wird nichts unternommen, um Alternativen auch nur zu diskutieren. Einziger Einkommensverteilungsmechanismus der chilenischen Ökonomie bleibt die klassische Idee des “trickle down”, des Sicker-Effekts, der durch Akkumulation von Reichtum bei den Wohlhabenden – laut Theorie – Mittel- und Unterschichten in den Prozeß des Wirtschaftswachstums und zunehmenden allgemeinen Wohlstands einbeziehen soll.
Daß es den chilenischen Gewerkschaften bei den Verhandlungen mit Regierung und UnternehmerInnenverbänden lediglich gelungen ist, den staatlich festgesetzten Mindestlohn von umgerechnet 152 auf 175 Mark anzuheben, einen Betrag, der einer vierköpfigen Familie auch nicht annähernd eine Mindesternährung von 2000 Kalorien am Tag ermöglicht, verdeutlicht die Unzulänglichkeit des Sicker-Effekts.
Als besonders alarmierend bezeichnet die Nicht-Regierungs-Organisation PET (“Programas de Economía del Trabajo”) im Wirtschaftsbericht 199293 die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die unter prekärsten Bedingungen als Hilfskräfte in Industrie und Wirtschaftsbetrieben mitarbeiten, um für ihre Familien das Überleben sichern zu helfen.
Dem Alt-Guru und Sozialisten Carlos Altamirano genügt all das als Argument, um mit Entschiedenheit zu bestreiten, daß die chilenische Gesellschaft einen Modernisierungsprozeß durchlaufen habe. Altamirano: “Chiles Gesellschaft ist weder demokratisch, noch ist sie in der Lage, einen erwähnenswerten industriellen Entwicklungsprozeß hervorzubringen. – geschweige denn ist ein Fortschritt im Bereich von Wissenschaft und Technologie zu registrieren.” Stattdessen, so Altamirano in einem Seminar über Sozialismus und Modernität, “leben wir in einem fortgeschrittenen Zustand der Selbstbeweihräucherung – wenn wir die Augen öffnen würden, wären wir in der Lage, die gigantischen Defizite in Infrastruktur, im Bildungswesen, dem Gesundheitsbereich und der Ökologie wahrzunehmen.”
Eine der Chancen, um das Ruder herumzureißen – etwa die Idee einer progressiven Einkommens-, Gewinn- und Kapitalbesteuerung, die dem Staat tatsächlich die Möglichkeit geben würde, mehr Mittel – etwa für das Gesundheits- und Schulwesen – zur Verfügung zu haben, gehört zu den absoluten Tabu-Themen der chilenischen Politik, etwa genauso verpönt wie der Vorschlag, über die Einführung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung oder gar ein Gesetz zum Thema Ehescheidung nachzudenken. Während die Regierung es in der vergangenen Woche als bahnbrechenden Erfolg feierte, mit der “gemäßigt”-rechten Renovación Nacional (Partei der Nationalen Erneuerung) ausgehandelt zu haben, daß der Mehrwertsteuersatz weiterhin auf 18 Prozent festgeschrieben bleibt – und nicht gesenkt wird, wie ursprünglich vereinbart – ist in Chile an eine Unternehmens- oder Gewinnbesteuerung über die Zehn-Prozent-Marge hinaus nicht zu denken.

Krisenanfällige Exportökonomie

Das entscheidende Strukturproblem bei alldem: Chiles Ökonomie ist und bleibt extrem krisenanfällig. Nicht einmal ein halbes Jahr nach der “Tiger”-Euphorie ist die wirtschaftliche Stimmung umgeschlagen: Sorgenvoll beobachten Wirtschafts- und Finanzministerium den Preisverfall der Hauptausfuhrprodukte Kupfer, Fischmehl und Holz-Schnipsel (“chips” zur Papierherstellung) auf dem Weltmarkt. Die Heldinnen von 1992, noch vor Monaten strahlende ExporteurInnen von Äpfeln, Trauben, Kiwis und Birnen, erscheinen angesichts der Protektionismuspolitik der Europäischen Gemeinschaft – und den wieder nach Valparaíso zurückgeschifften, unverkäuflich gewordenen Obstkisten, als jammernde BittstellerInnen auf den Fernsehbildschirmen, die von der Regierung Subventionen und Steuerhilfen erbitten.
Selbst Aylwin sah sich genötigt, in seiner Regierungserklärung vom 21. Mai auf mögliche Konjunktureinbrüche und heraufziehende Krisenzeiten hinzuweisen – und die Tendenz des gemeinen KonsumentInnenvolkes, sich über die Halskrause hinaus zu verschulden, als “unverantwortlichen Konsumismus” zu kritisieren. Santiagos EinzelhändlerInnen stoßen in dasselbe Horn: Sie warnen dringend davor, sich über Kreditkarten, per Telefon innerhalb von Minuten ausgehandelten VerbraucherInnen-Darlehen von “financieras” und Bank-Schulden in den Abgrund zu manövrieren. Wie schon in den “Wirtschaftswunderjahren” unter Pinochet vor dem großen Bankenzusammenbruch von 1981 wird ein erheblicher Teil des “Booms” von einer Binnennachfrage ausgelöst, die auf ordinärem Pump beruht.

Wachsende Verbitterung – Wachsende Proteste

Die Verbitterung derjenigen, die an all dem weder zu “Boom”- und natürlich erst recht nicht zu Krisenzeiten teilhaben, wächst. Mit spektakulären Hungermärschen, Besetzungen von Rathäusern – oder etwa des Wohnungsbauministeriums am 17. Juni reagieren die “allegados” (Organisation der Wohnungslosen), denen immer wieder Lösungen versprochen werden, die am Ende Makulatur bleiben. Feinsinnig unterscheidet die Regierungsbürokratie zwischen förderungswürdiger und nicht-würdiger Klientel: unter den Opfern etwa der Schlamm- und Geröllawinenkatastrophe in der “Quebrada de Macul”, die am 3. Mai nicht nur Angehörige, Hab und Gut, sondern auch ihre Hütten und Häuser verloren haben, zwischen denjenigen, die “propietarios”, also Eigentümer, waren – und denjenigen, die als “allegados” – Hinzugekommene – auf den kleinen Grundstücken in Bretterhütten mitlebten. Erstere werden in einer aus dem Boden gestampften Notsiedlung in “La Florida” untergebracht – und erhalten die Zusage, daß ihnen ein Haus im Rahmen eines Wohnungsbauprojektes für die Katastrophenopfer zustünde. Die “allegados” dagegen müssen in den zu Notquartieren umfunktionierten Schulräumen und unter Kirchendächern zusammengepfercht weitercampieren, mit der Begründung, sie hätten ja vor dem “aluvión” auch kein eigenes Haus gehabt.

Das Schlechte vom Guten

Jedes Gute hat ja leider immer auch sein Schlechtes. Die “geschützte Demokratie ” in Chile, die 1990 die Diktatur ablöste, bedeutet für die NROs, die in diesem Land tätig sind, eine deutliche Einschränkung ihrer (finanziellen) Möglichkeiten.
Während der Diktatur waren es die NROs, und in besonderem Maße die Kirchen gewesen, die fast sämtliche fortschrittlichen sozialen und politischen Bewegungen ermöglichten und finanziell über Wasser hielten. Ohne sie hätten weder Sozialarbeit noch Menschenrechtsgruppen noch Umweltprojekte oder Selbsthilfegruppen oder andere Initiativen existieren können.
1990 übernahm das breite Bündnis der concertación die Führung des Landes. Damit begann eine grundsätzlich neue Phase im Bereich der Projekte.

Das Ende der Vicaría de la Solidaridad

Bezeichnendes Beispiel für die einschneidende Veränderung ist die Auflösung der Vicaría de la Solidaridad zum Ende des Jahres 1992. Über Jahre hatte die Vicaría für die Menschenrechte in Chile gekämpft, Archive angelegt, Rechtsbeistand gegeben, Verfolgten geholfen, war Anlauf- und Sammelpunkt für alle Menschenrechtsfragen und Refugium für Verfolgte gewesen, hatte selbst Verfolgung, Schikanen, Durchsuchungen und weitere Repressalien durchgestanden. Nun ist sie aufgelöst worden. Ein Grund hierfür ist die Wende zum (noch mehr) Konservativen in der katholischen Kirche Chiles, der die Vicaría unterstellt war. Der andere Grund aber, und in der offiziellen Begründung für die Auflösung wurde das so erklärt, war die Auffassung, daß sie ja nun ihre Aufgabe erfüllt habe und in der Demokratie nicht mehr erforderlich sei. Die Archive allerdings werden an anderer Stelle weitergeführt.

Staatliche Institutionen in Konkurrenz zu den NROs

Hier sind wir bei einem der wichtigsten Gründe für die Schwierigkeiten der NROs, weiterzuexistieren. Sowohl im Ausland, wo Chile ohnehin keine “Konjunktur” mehr hat, “aus der Mode” ist und deshalb die Gelder wesentlich weniger fließen als zuvor, als auch in Chile selbst ist man der – an sich ja richtigen – Meinung, der Staat habe nun selbst für sein Volk zu sorgen. Daß er dies nicht tut, und eine konservative Aylwin-Regierung noch weniger, ist eine Binsenweisheit.
Dazu kommt aber noch, daß eine ganz erhebliche Anzahl ehemaliger NRO-MitarbeiterInnen, ehemaliger Exilierter und ehemaliger Oppositioneller nun Posten in der Regierung, den Ministerien, den neuen Gemeindeverwaltungen und anderen Ämtern einnehmen (viele von ihnen übrigens auf Honorarbasis und ohne Arbeitsvertrag, weil auf den Planstellen noch die Pinochet-Leute sitzen. die zwar nichts mehr tun, aber gerne weiter die Gehälter einstreichen). Logisch, daß die “Sachzwänge” eines offiziellen Postens, die Aussicht auf Karriere und die “Kompromißbereitschaft” in der Koalitionsregierung die neuen Leute nicht gerade flexibel und erneuerungswillig machen, auch wenn dieselben Leute früher in den Projekten ausgezeichnete Arbeit geleistet haben.
Und natürlich sind diese Leute der Ansicht, die bisher illegalen oder halb legalen Organisationen sollen sich auch im System integrieren und die Gelder aus dem Ausland sollen so nun ihrer Arbeit in den staatlichen oder staatsnahen Institutionen zugutekommen. Was zu einer unguten Konkurrenzsituationen zwischen NROs und Behörden führt und in aller Regel dazu, daß dabei allerlei Geldquellen durch die Querelen verlorengehen.
In einzelnen Fällen soll es sogar so weit gekommen sein, daß Behörden Projekte behindern, ihnen positive Gutachten, Bauerlaubnis oder andere Unterstützung versagen in der Hoffnung, dann selbst die Projekte an sich ziehen und übernehmen zu können, das Geld aus dem Ausland zu bekommen. Was aber meist ein Irrtum ist.

Der Schwung ist raus

Viele bisherige GeldgeberInnen und SpenderInnen sind nicht der Ansicht, es sei ihre Aufgabe, diese Regierung zu finanzieren. Im übrigen bietet der Boom in der chilenischen Wirtschaft Anlaß zu der (irrigen) Ansicht, daß nun Projekthilfe für Chile nicht mehr so dringend erforderlich sei.
Daß all dies auf die Stimmung, Arbeitslust und Motivation der Projekte einwirkt, ist klar. Dazu kommt, nach dem Ende der Diktatur, nachdem große Hoffnungen zunächst in Resignation umgeschlagen waren, eine durchaus im Trend dieser Welt liegende, sich auch in Chile immer mehr ausbreitendende Auffassung, daß jede/r es allein schaffen kann, wenn er oder sie nur tüchtig genug ist. Der Boom hat Arbeitsplätze geschaffen; viele, die lange arbeitslos waren, bekamen nun einen Job, und das sind schlechte Zeiten für solidarische gemeinsame Arbeit, Nachbarschaftsprojekte und Initiativen, die weiter blicken als bis zur nächsten Lohnzahlung. Trotzdem machen aber viele – wenn auch weniger als früher – weiter.

Zum Beispiel: El Canelo de Nos

So gut wie alle NROs funktionieren ja nach ähnlichen Prinzipien und Mustern, unterscheiden sich vor allem durch ihre Arbeitsschwerpunkte. Doch viele Arbeitsbereiche sind ihnen gemeinsam: die Frauenarbeit, die Selbsthilfegruppen, die Bildungsarbeit. Das pädagogische Konzept ist Selbsttätigkeit der TeilnehmerInnen, der praktische Zweck die Schaffung den Lebensbedingungen angepaßter einfacher Technologien. Ebenso gemeinsam haben NROs ihre Geldquellen im Ausland, und je weniger diese sprudeln, umso schärfer wird der Kampf um sie.
Eine der in Chile bekanntesten nichtkirchlichen NROs ist El Canelo de Nos, benannt nach dem Canelo-Baum, der in der Mapuche-Kultur eine wichtige Funktion hat. Angesiedelt ist die Organisation in Nos, einem Ort im Süden Santiagos, wo El Canelo über ein großes Gelände und einen hellen modernen Gebäudekomplex verfügt. Neben den oben genannten Arbeitsschwerpunkten leistet El Canelo vor allem Fort- und Weiterbildungsarbeit für LandarbeiterInnen und BäuerInnen zur Selbstversorgung, Herstellung einfacher Arbeitsgeräte, juristischen Fragen, alternativen Technologien.
Die Zeitschrift “El Canelo” erscheint monatlich. Ihr Untertitel lautet “por una sociedad ecológica”, was ihr Programm klar macht. Jährlich organisiert El Canelo eine Ausstellung alternativer Technologien und Energiequellen, dieses Jahr im März wurde sie von Präsident Aylwin persönlich eröffnet.
El Canelo hat es besser als viele andere NROs geschafft, sich die (ausländischen) Geldquellen auch für die nächsten Jahre zu sichern und seine Arbeit zu konsolidieren. Aber die Zahl der MitarbeiterInnen ist sei dem Beginn der Demokratie von achzig auf vierzig gesunken. “Von den anderen arbeiten jetzt viele in Ministerien und Gemeindeverwaltungen”, teilt mir der Leiter des Canelo, German Appel, mit. El Canelo hält enge Verbindung zu vielen offiziellen Stellen. Zum Beispiel werden auch Sendungen für das chilenische Fernsehen produziert.
Es ist für uns an der Zeit zu begreifen, daß die NROs in Chile nicht mehr subversive Oppositionsgruppen organisieren, sondern “alle gemeinsam”, wie der Slogan der Concertación lautete, am wirtschaftlichen Aufbau des Landes arbeiten.

Kasten:

Der Höhenflug der Nicht-Regierungsorganisationen

Die NROs blühen. 1990 arbeiteten etwa 500 NROs in den Entwicklungsländern in den Bereichen Gesundheit, Erziehung, Umwelt, Menschenrechte, und ihre Budgets wachsen jedes Jahr. 1970 hat die nördliche Erdhälfte eine Milliarde Dollar für ihre Entwicklung ausgegeben, zwanzig Jahre später ist der Betrag auf 7,2 Milliarden angestiegen.
Mit welchen Ergebnissen? Hat sich der Lebensstandard der Armen verbessert? Der Entwicklungsbericht der UNO für 1993 hütet sich wohlweislich davor, diese Frage klar zu beantworten. “Es scheint, daß sogar die Bevölkerungen, für die erfolgreiche Programme durchgeführt wurden, arm geblieben sind”, wie der Bericht vorsichtig formuliert. Ob es sich darum handelt, Armen Kredite einzuräumen – ein Risiko, das die traditionellen Banken nicht eingehen – ,die Ärmsten unter den Armen, die von den Regierungen unbeachtet bleiben, zu unterstützen, den Randexistenzen zu Selbständigkeit zu verhelfen: in allen Fällen ist die Bilanz der NROs widersprüchlich. Oft waren die Erfolge nur von kurzer Dauer oder oberflächlich. So schreiben die Experten der UNO zum Thema der Aktivitäten zur Aufhebung der Diskriminierung der Frauen: “In einigen Fällen haben die Versuche, die Geschlechterdiskriminierung innerhalb der Projekte zum Thema zu machen, den Frauen wenige Vorteile gebracht. In anderen Fällen wurden die Erfolge der Projekte durch stärkere soziale Kräfte zunichtegemacht.”
Es bleibt ein Bereich, in dem die NROs unersetzlich sind; die Katastrophenhilfe. Hungersnot, Krieg, Erdbeben: wenn es darum geht, schnell einzugreifen, haben die NROs die Fähigkeit, “schnell und wirksam” zu handeln.

Jean-Pierre Tuquoi, Le Monde 28.5.93

Newsletter abonnieren