Versöhnung auf Kosten der Wahrheit

El Informe

Neun Monate dauerte die Untersuchung, die von dem Juristen Raul Rettig geleitet wurde. Die Kommission zählte insgesamt acht Personen, unter ihnen zwei Vertreter aus dem Kabinett des ehemaligen Diktators Pinochet. 2279 Morde, 957 bis heute Vermißte, 641 ungeklärte Fälle sind in dem Bericht aufgelistet. Unter anderem wird über den Mord an dem Sänger Victor Jara berichtet, der nachdem ihm Hände und Arme zerstümmelt worden waren durch 44 Schüße getötet worden war, sowie über den Mord an dem Journalisten José Carrasco, dem Leiter der Zeitschrift “Analisis”, und zu dem Gewerkschaftsführer Tucapel Jiménez, um nur einige Beispiele zu nennen. Von dem Tod des ehemaligen Presidenten der Unidad Popular Salvador Allende wird behauptet, er hätte sich das Leben genommen.
Verschiedene Foltermethoden werden im Bericht benannt, die von der Grausamkeit der Diktatur bezeugen: Elektroschocks, Vergewaltigungen, Verbrennen bei lebendigem Leibe.
Interessant erscheint auch, daß sogenannte linksextreme Gruppierungen wie MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria) und Frente Patriótico Manuel Rodriguez (FPMR) wegen Menschenrechtsverletzung angeklagt werden. Die Frente z.B. aufgrund des an Diktator Pinochet verübten Attentats, bei dem fünf Leibwächter getötet wurden. In dem Bericht werden jedoch Namen der Verantwortlichen für diese Menschenrechtsverletzungen der Öffentlichkeit nicht preisgegeben.

Die Reaktion in der chilenischen Öffentlichkeit

Die Reaktion der Mehrheit der politischen Parteien von Rechts bis Links war überwiegend positiv: so bewertete der President der UDI (pinochetistische Partei) während eines Interviews im Fernsehen die Rede Aylwins als “ausgeglichen”, weil “er es sehr gut verstanden hat, eine Grundlage für die Zukunft zu finden” und “ihn (den Bericht) nicht zur Öffnung von Wunden aus der Vergangenheit benutzt hat”. Auch Volodia Teitelboim, Generalsekretär der kommunistischen Partei äußerte sich positiv, schränkte aber ein, daß die Aufklärung des Geschehenen an die Frage nach Justiz gekoppelt werden muß. Dagegen wurden die Erwartungen der Betroffenen und der Menschenrechtsorganisationen eher entäuscht. Demonstrationen um Unmut darüber zu äußern, daß die Mörder und Menschenrechtsverletzer im “Informe Rettig” nicht genannt wurden, waren die Reaktion auf Aylwins Fernsehauftritt. Die Beroffenen fragen sich, wie es möglich ist, daß die Mörder den Angehörigen der Opfer und den Menschenrechtsorganisationen gegenüber bevorzugt werden und versichern: “Wir können weder Einschüchterungsversuche noch Drohungen akzeptieren. Sie haben die Waffen, aber zwischen dem Mut zur Wahrheit und der feigen, unmoralischen und opportunistischen “Zukunft” gibt es keine Wahl”.

Die Reue und die Vergebung

Der Bericht der Kommission für “Wahrheit und Versöhnung” soll zur Vergangenheitsbewältigung beitragen und ist der Versuch eine Basis für den künftigen Weg Chiles in Richtung Demokratie zu schaffen. Konkret bedeutet dies “Vergebung von Seiten der Opfer und Reue von Seiten der Schuldigen”, um Aylwin zu zitieren. Müssen aber nicht die Taten und die Täter in der Öffentlichkeit bekannt werden, die den institutionellen Zusammenbruch in Chile verursacht haben, damit dies sich in der Zukunft nicht wiederholt? Handelt es sich nicht ansonsten um eine unilaterale Vergebung, die zum Ziel die moralische Entlastung der Verantwortlichen hat?. Auf jeden Fall verdeutlicht der “Informe Rettig” den Verhandlungswillen der Regierung mit dem Militär. Man/Frau munkelt sogar, ob die Namen der Täter im “Informe Rettig” genannt werden, am 20 Dezember letztes Jahres ausgehandelt wurde. Das Militär hatte zu diesen Zeitpunkt eine eintägige nationale “Alarmübung” veranstaltet und so versucht, die Regierung zum Verschweigen der Namen der Täter zu bewegen. Wenn der Bericht über die Menschenrechtsverletzungen sich darauf beschränkt, einige Taten aber nicht die Täter zu nennen, diese Namen lediglich der Justiz weiterleiten will, wohl wissend, daß die meisten Richter noch seit der Zeit Pinochets auf ihren Stühlen sitzen, dann ist es nicht die Wahrheit die angestrebt wird, sondern das Vergessen.
Kritische Stimmen bewerten den “Informe Rettig” als einen weiteren Beweis dafür, daß die Politik des Pinochetismo unter dem Deckmantel der Demokratie fortgesetzt wird. Nach wie vor leben 47 Prozent der Bevölkerung in Armut während die Regierung die neoliberale Wirtschaftspolitik Pinochets fortgesetzt und sogar den Glauben verbreitet, daß diese Wirtschaftsordnung die Lösung für die sozialen Probleme Chiles bringen könnte. Es sich nach wie vor die selben transnationalen Konzerne, die die wirtschaftliche Entwicklung des Landes dominieren. Die wichtigsten Institutionen, die das Pinochetregime früher getragen haben, sind immer noch intakt: die Justiz, das Militär, das inländische Kapital, und die rechten Parteien, im Parlament vertreten durch die UDI und Renovación Nacional (RN).
Genauso wie die sozial-politische Lage Chiles aufzeigt, daß die Regierungszeit der Concertación als die Phase zwischen Diktatur und Demokratie verstanden werden muß, kann der “Informe Rettig” nur als ein Schritt auf den Weg zur Lösung der Menschenrechtsfrage in Chile gesehen werden.

“Es wird weder eine Amnestie noch Begnadigungen geben”

Frage: Was empfindet jemand wie Sie, der in Chile so viele Jahre für die Ein­haltung der Menschenrechte und die Verteidigung der Regime-Opfer ge­kämpft hat, nach der Bekanntgabe des Berichtes der Rettig-Kommission?

R.G.: In den 17 Jahren der Diktatur wurden wir als Lügner und Vaterlandsver­räter hingestellt, als Diener des Terrorismus, nur weil wir offen gesagt haben, daß in Chile gefoltert wird, daß in Chile die Gefangenen verschwinden, daß in Chile Oppositionelle ermordet werden. 18 Jahre später, nach einem Jahr Demo­kratie, vertritt die chilenische Regierung die Auffassung, daß alles, was wir, ein winziges Grüppchen, seit dem 11. September 1973 immer wieder gesagt haben, die Wahrheit ist. In diesem Sinne bedeutet die Veröffentlichung des Rettig-Be­richts einen Höhepunkt einer juristischen, politischen und nicht zuletzt auch sehr persönlichen Entwicklung. Als Mitarbeiter des Friedenskommitees und später des Solidaritätsvikariates sind wir, genauso wie die Leute von der Menschen­rechtskommission, immer für eine Option des Lebens eingetreten, für eine klare Ausrichtung unserer beruflichen Arbeit. Dieser Weg war voller Erfolgserlebnisse und voller Unannehmlichkeiten, immer wurden wir als Lügner hingestellt, die die Wahrheit verdrehten. Heute wird dagegen endlich anerkannt, daß wir immer die Wahrheit gesagt haben.
Ich möchte noch hinzufügen, daß alle Menschenrechtsorganisationen in Chile ihre Archive der “Kommission Wahrheit und Versöhnung” zur Verfügung ge­stellt haben, die ohne das Solidaritätsvikariat, ohne die Menschenrechtskommis­sion niemals diese phantastische Arbeit hätte leisten können.

Frage: Welche Konsequenzen, welche Auswirkungen wird der sog. Rettig-Be­richt in Chile haben?

R.G.: An erster Stelle möchte ich eines sagen: Dieser Bericht wird keinerlei juristi­sche Konsequenzen haben. Dieser Frage wird in dem Bericht auch gar nicht nachgegangen, die Leute, die gegen die Menschenrechte verstoßen haben, kön­nen unbehelligt weiterleben. Das könnten sie allerdings auch dann, wenn sie in dem Bericht namentlich genannt worden wären, denn dabei handelt es sich ja gar nicht um ein Urteil, sondern eben nur um den Bericht einer Kommission. Poli­tisch wird besonderes Gewicht auf eine Aussage gelegt, die aus Argentinien kommt und heute zu einem Schrei in ganz Lateinamerika geworden ist, das ‘Nunca más’ – Nie wieder! Die chilenische Gesellschaft darf nicht noch einmal dasselbe Schicksal erleben, unter dem sie bisher gelitten hat.
Es gibt in unserem Land Leute, die der Diktatur nachtrauern. Und diese Leute haben große Macht. Unser Bestreben ist es, sie auf die Seite der Demokratie her­überzuziehen. Im ersten Jahr haben wir das nicht geschafft. Die gesellschaftlichen Gruppen, die während der Diktatur hinter Pinochet standen, stehen auch in der Demokratie hinter ihm; und der Pinochetismus ist nicht auf der Seite der Demo­kratie!

Frage: Wird in Chile die Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen genauso im Sande verlaufen wie in Argentinien und Uruguay?

R.G.: Im Fall Argentiniens hat es zwar eine Begnadigung gegeben, aber erst nachdem die Schuldigen mehrere Jahre im Gefängnis gesessen hatte. Das sollte nicht vergessen werden.
In Chile wird es aber keine Straffreiheit geben! Die gibt es hier schon in Form der Amnestie von 1978, die sich auf alle zwischen 1973 und ’78 begangenen Men­schenrechtsverletzungen bezieht. Diese Amnestie kann nicht aufgehoben wer­den, dazu fehlt es uns an juristischer Macht. Denn die demokratischen und für die Achtung der Menschenrechte eintretenden Parlamentarier stellen eine Min­derheit im Senat, weil Pinochet immerhin neun nicht vom Volk gewählte Senato­ren ernannt hat, bevor er gegangen ist. Damit die Menschenrechtsverletzungen vor 1978 nicht in Vergessenheit geraten, müßte der Oberste Gerichtshof seine Meinung ändern und das Amnestiegesetz nicht anwenden. Doch das wird das Oberste Gericht sicherlich nicht tun, auch wenn ich das, ehrlich gesagt, für eine Fehlentscheidung halte.
Bei den neueren Menschenrechtsverletzungen wird es weder Begnadigungen noch eine Amnestie geben, in diesem Sinne hat sich Präsident Aylwin eindeutig geäußert. Ich möchte dazu Folgendes sagen: Die Probleme, auf die wir bei der Wahrheitsfindung in diesen Fällen stoßen, entstehen nicht durch die Amnestie, sondern durch die kriminellen Methoden, die die Geheimdienstagenten des Regi­mes angewendet haben, um die Identifizierung der Verantwortlichen unmöglich zu machen. Ohne die Täter ausfindig zu machen, kann nicht Recht gesprochen werden. Erst in dem Augenblick, wo die Verantwortlichen bekannt werden, tritt die Justiz in Aktion. So beispielsweise im Fall des Mordes an dem Journalisten José Carrasco, der von Leuten in Militäruniformen und mit typischem Militärjar­gon während der nächtlichen Ausgangssperre entführt und ermordet wurde: Bisher wußte niemand, wer den Mord begangen hatte, doch heute ist ein Täter ermittelt. Dazu muß allerdings gesagt werden, daß er nicht wegen des Mordes auffällig wurde, sondern durch seine Beteiligung an Scheck- und anderen Betrü­gereien. Als sein Foto in mehreren Zeitungen erschien, wurde er identifiziert. Heute sitzt er in Untersuchungshaft und steht unter Anklage wegen Mordes an José Carrasco. Werden wir noch weitere solche Fälle aufdecken können? Das ist zumindest unser Ziel.

Frage: Es gab von verschiedenen Seiten Kritik daran, daß in dem Rettig-Be­richt keinerlei Namen von Folterern und anderen Tätern genannt werden. Wie stehen Sie zu dieser Kritik?

R.G.: Als Menschenrechtsanwälte haben wir ein ungeheures Problem zu bewälti­gen: Wir müssen die Menschenrechte immer respektieren, immer. Wir müssen auch über die Menschenrechte der mutmaßlichen Folterer und Gewalttäter wa­chen. Der Rettig-Bericht ist kein Urteil, er ist einfach ein Untersuchungsbericht. Die Sábato-Kommission in Argentinien hat ebenfalls keine Namen von Folterern bekanntgegeben. Denn wie soll sich ein eventueller Beschuldigter verteidigen, wenn der Bericht schon veröffentlicht worden ist? Er erscheint in einer Auflage von 1,2 Millionen Exemplaren, er ist für alle Ewigkeit da. Und wie soll sich je­mand verteidigen, der vielleicht gar keine Schuld hat? Daher war es nicht mög­lich, die Namen bekanntzugeben, ohne damit eine offenkundige Verletzung der Menschenrechte zu begehen.
Und das Ganze hat noch eine andere Konsequenz, die meiner Meinung nach aller­dings nicht beabsichtigt war: Wären die Namen erschienen, würden die Leute vermutlich denken, was für ein schlechter Mensch ist dieser oder jener Poli­zist oder Militär. Da aber kein Name veröffentlicht wurde, gibt es für die Leute nur einen Namen, nämlich den des Mannes, der für alles verantwortlich ist. Ich glaube nicht, daß die Namen aus diesem Greunde nicht bekanntgegeben wurden, das hat aber eine unbeabsichtigte, jedoch sehr begrüßenswerte Konse­quenz. Die Öffentlichkeit weiß, wer der Schuldige ist.

Frage: Für viele ist das politische System in Chile nichts anderes als eine be­wachte Demokratie, in der es zwar eine gewählte Regierung gibt, die Armee aber als graue Eminenz im Hintergrund wirkt. Wie gestaltet sich in Ihrer Hei­mat das Verhältnis zwischen Regierung und Militär, und welche Chancen hat die Demokratie in Chile?

R.G.: Ich würde den Begriff “bewachte Demokratie” lieber durch einen anderen ersetzen: Die chilenische Regierung ist durch und durch demokratisch, das steht außer Zweifel. Aylwin ist ein Demokrat, seine Minister sind allesamt Demokra­ten, alle Regierungsbeamte. Das Problem ist, daß wir uns in einem gesetzlichen Rahmen und in einer Staatsstruktur bewegen, die in sich undemokratisch sind, wo es sehr mächtige Institutionen gibt, die nicht den Willen des Volkes repräsen­tieren, darunter keine geringere als der Senat. Es war ein überaus konfliktreiches Jahr mit vielen Reibungspunkten zwischen einem Teil der Armee und der Regie­rung als legitimem Ausdruck des Volkswillens.
Die Bilanz ist letztlich positiv, das heißt, das zivile Zusammenleben hat sich ge­gen den Militarismus durchgesetzt. All die Versuche des Militarismus, die Demo­kratisierung zu bremsen und in die Enge zu treiben und durch ständige Angriffe auf die Demokratie Freiräume für sich zu schaffen, ist im ganzen Land auf vehemente Ablehnung gestoßen. Diese Strategie hat nur in den Kreisen Rückhalt gefunden, die sich mit dem Militärregime identifiziert haben. Das sind allerdings nicht wenige, Aylwin hat gerade mit 55% der Stimmen gewonnen, das war alles andere als ein überwältigender Wahlsieg. Ich glaube aber, Präsident Aylwin und die demokratischen Kräfte wären heute in der Lage, mit einem viel größeren Vorsprung zu gewinnen.
Ich möchte meine Eindrücke von der Jugend anführen, die die Freiheit, die sie heute hat, gar nicht kannte und noch nicht einmal davon geträumt hat. Das sehe ich an der Reaktion meiner Kinder und ihrer Freunde: Heutzutage wird im Fern­sehen über alles diskutiert, es gibt kein Thema, über das nicht diskutiert wird. Das kannten sie vorher gar nicht, und sie sind regelrecht gefesselt. Alle beteiligen sich, alle äußern ihre Meinung, vorher waren sie bloße Zuschauer der Meinung Anderer. Heute haben alle das Recht auf eine eigene Meinung, und sie beziehen Stellung. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.
Zum anderen hat der Staat seine aggressive Rolle aufgegeben. Wenn man früher, um bei diesem wichtigen Medium zu bleiben, den Fernseher anschaltete, drang der Diktator in die eigenen vier Wänder der Leute ein, beschimpfte uns als Vater­landsverräter, abgehalfterte Politiker, Machthungrige, und das mir einem aggres­siven, arroganten Ton. Präsident Aylwin tritt heutzutage gar nicht im Fernsehen auf, allenfalls als eine Nachricht unter vielen, wenn es etwas Nennenswertes gibt. Ganze vier Male hat er im Fernsehen gesprochen, vorher war das ständig der Fall. Und das Schöne daran ist, daß diese vier Male zum einen die Weihnachtsan­sprache war, eine chilenische Tradition, und zum anderen die Bekanntgabe der Ernennung der Rettig-Kommission, die Entgegennahme des Rettig-Berichts und die Bekanntgabe der Ergebnisse dieses Berichts. Also einzig und allein in Men­schenrechtsfragen, und das ist sehr gut so.

Kurioses: “Bwehn – pro – veh – choh” !

Argentinien

Konversation: Sprechen Sie mit Geschäftsleuten über die Rolle der Inflation in der Wirtschaft wie auch über die neuesten Regierungsdekrete und wie diese die Preise beeinflussen. – Frauen sollten persönliche Fragen er­warten, wie “Haben Sie Kinder?” und “Wenn nicht, warum?”. – Beglückwünschen Sie ihre Gastgeber we­gen ihres Heimes und ihrer Kinder. – Diskutieren Sie nie­mals ber Politik oder die Regierung, wenn Sie jemanden das erste Mal treffen. (Vermeiden Sie es insbe­sondere die Perón-Jahre zu erwähnen). Die Menschen neigen dazu sehr aggressiv zu werden, wenn ber Politik geredet wird… – Denken Sie daran, daß Argentinier Stolz auf ihr europäisches Erbe sind. Im Allgemeinen gibt es die Tendenz auf In­dianer herabzusehen. Fragen Sie nie jemanden, ob er oder sie indianischer Ab­stammung ist.

Essen im Restaurant: Rufen Sie nicht nach dem Kellner, indem Sie ein “Kuß”-Ge­räusch imitieren, wie Sie es bei einigen Personen höen werden: Das gehört sich nicht. Sagen Sie “mozo” (moh-zoh), um den Kellner zu rufen.

Chile

Konversation: Vermeiden Sie alle politischen Themen, insbesondere solche, die die Menschenrechte betreffen.

Costa Rica

Konversation: Haben Sie keine Hemmungen über Politik zu reden. Costa Rica ist sehr stabil, mit einer langen de­mokratischen Tradition.

Kleidung: Tragen Sie Shorts nur am Strand oder beim Sport.

Bei privaten Besuchen: Denken Sie daran, daß wenige Familien eine Haushalts­hilfe haben. Wenn Sie bei einer Familie ohne Dienstmädchen wohnen, bieten Sie ihre Hilfe beim Tischabräumen und Abwaschen an und machen Sie Ihr Bett.

Geschenke: Wenn Sie zu einem Essen eingeladen sind, bringen Sie Blumen oder einen guten Wein mit. Bringen Sie niemals Kalla-Lilien, da diese bei Beerdigun­gen verwendet werden.

Geschäftspraktiken: Um einen guten Eindruck zu machen, sollten Sie ein Kom­pliment über die Schöheit des Lan­des machen. Sprechen Sie politische Themen Zentral­amerikas nicht bei Ihrem ersten Treffen an, da man dann meist bei diesem Thema verbleibt und es für Sie schwer sein wird, auf das Geschäftliche zurück­zukommen. – Hinweis: Ausländische Investoren dürfen bis zu 100% eines Unter­nehmens oder Grundstckes erwerben.

Guatemala

Kleidung: Jedes Dorf hat seine eigenen handgewebten Kleidungsstcke für Männer und Frauen. Sollten Sie sich entscheiden einheimische Kleidung zu tragen, verge­wissern Sie sich, daß sie die Ihrem Geschlecht entsprechende Tracht tragen. Sie machen sich sonst zum Narren.

Bei privaten Besuchen: Benutzen Sie den Warm­wasserheizer nicht ohne ihn sich von Ihrem Gastgeber erklären zu lassen. Sie könnten einen elektrischen Schlag bekommen. – Wenn Sie bergwandern wollen, wird Ihr Gastgeber wahr­scheinlich sehr dagegen sein, aus Angst vor Guerilla-überfällen. Sie sollten sich seine Bitte zu Herzen nehmen. – Tragen Sie keine Taschen­messer bei sich, es sind illegale Waffen. – Es ist ver­boten Militärkleidung o.ä. zu tragen oder ins Land zu bringen.

Mexiko

Konversation: Um einen guten Eindruck zu machen, sollten Sie etwas über mexi­kanische Kunst und Literatur wissen. – Männer sollten den Gesten von Wärme und Freundlichkeit mexikanischer Männer – wie z.B. das Be­rühren der Schulter, die Hand auf dem Arm oder das An­fassen des Jackenrevers – nicht ausweichen. -Kritisie­ren Sie nicht die mexikanische Regierung oder machen Sie keine Verbes­serungsvorschläge. Vermeiden Sie die illegalen Einwanderer oder den Krieg U.S.A.-Mexiko zu erwähnen. Bedenken Sie, daß die gegenwärtigen Staaten Te­xas, Californien, Nevada, Utah, Colorado, New Mexico und Arizona bis Ende 1840 Teil Mexikos waren.

Getränke: Bereiten Sie sich darauf vor einen Mezcal (mehs – cahl), einen Schnaps, der aus der Maguey-Pflanze hergestellt wird, nach dem Essen angeboten zu be­kommen. Er ähnelt Aquavit, Grappa oder Brandy. Lassen Sie sich nicht vom Wurm in der Flasche überraschen. Wenn die Flasche geleert wird, essen Mexika­ner den Wurm meist mit!

Geschäftspraktiken: Seien Sie bei geschäftlichen Verab­redungen pünkt­lich, er­warten Sie Ihre mexikanischen Ge­schäftspartner aber erst nach einer halben Stunde. Beschweren Sie sich niemals über dieses Zuspätkommen. Bringen Sie sich für die Wartezeit etwas zum Arbeiten oder ein Buch mit. – Reden Sie die Se­kretärin immer mit “señorita” an, unabhängig von Alter und Familienstand. – Be­nutzen Sie stets die Titel der Personen bei der An­rede: Das ist für die geschäft­lichen Umgangsformen sehr wichtig. Einige häufig gebrauchte Titel sind: Doctor (doc – tohr), Profesor (pro – feh -sohr), Quémico/Chemiker (kee – mee – coh), In­geniero/ Ingenieur (een – heeh – nyeh – roh), Arquitecto/Architekt (ahr – kee – tek – toh). – Sollten Sie versuchen eine persönliche Beziehung aufzubauen, bevor Sie zum Geschäftlichen kommen, wirken Sie dem Stereotyp eines zu direkt und ag­gressiv auftretenden Nordamerikaners entgegen. – Frauen in der Geschäftswelt wird nicht der gleiche Respekt entgegengebracht wie Männern. Eine Geschäfts­frau sollte sich besonders professionell geben. – Wenn Sie Ihre Präsentation vor­bereiten bedenken Sie, daß Mexikaner von einem wissen­schaftlichen Auftreten beeindruckt sind. Sie sollten also Computer-Ausdrucke, Tabellen und Grafiken dabei haben. – Haben Sie Geduld, für Mexikaner sind Menschen wichtiger als Zeitpläne. – Versuchen Sie stark und zu­versichtlich aufzutreten, um den Respekt der mexikanischen Arbeiter zu gewinnen; Mexikaner aller Schichten halten Grin­gos für naiv.

Uruguay

Private Besuche: Wenn Sie von einer Familie der Mittel­schicht eingeladen wor­den sind, bei ihnen zu wohnen, denken Sie daran, daß sie wahrscheinlich gerade schwierige wirtschaftliche Zeiten durchgemacht haben. Erwarten Sie keinen Lu­xus.

Geschenke: Fr junge Leute können Sie amerikanische Pop-Musik mitbringen. Sie freuen sich auch ber T-Shirts und Sweatshirts mit Aufdrucken von U.S.-Univer­sitäten.

Geschäftspraktiken: Erwarten Sie sehr gebildete Geschäftsleute. Uruguayer ver­stehen Geschäftsmethoden besser als andere in lateinamerikani­schen Ländern. Sie wissen genau, daß Nordamerikaner praktisch und direkt sind und im Ge­schäft rasch vorankommen wollen.

Feiertage und besondere Ereignisse: Seien Sie während des Kar­nevals vorsichtig und tragen Sie wasserdichte Kleidung. Junge Leute bewerfen alle mit Wasser.

Entnommen dem “Traveller’s Guide to Latin American Customs and Manners”; E.Devine/N.L.Braganti; New York 1988

Kurioses: Revolver und Reformbeinkleider

Ausrüstung für den Pfarrer:

(…) -Schuhzeug: Ziegenleder für die wärmeren Monate, box-calf für die nassen Monate. Zwei Paar gute Gummischuhe für die südlicheren Gegenden oder lang­schäftige wasserdichte Stiefel. (Reitstiefel oder Gamaschen zum Reiten).
-Kopfbedeckung: Ein schwarzer weicher Hut, ein schwarzer steifer Hut, Cylinderhut – alles gute Qualität. Fr den Sommer: Strohhut. Eine leichte, eine wärmere Reisemtze.
-Mäntel:Dicker Herbstberzieher gengt für die kältesten Tage. Lodenmantel für Reisen zu empfehlen. Staubmantel (grau). Fr Regengegenden: Guter Regenmantel mit Kappe unerläßlich.
-Talar: Wie in Deutschland. Barett. Wer Filialen hat, bringe möglichst zwei Talare mit. Zur Aufbewahrung: mittelgroße lederne Handtaschen.
-Reitzeug: Evtl. Stephanisattel mitbringen.
-Waffen: Guter Revolver empfehlenswert, desgleichen starkes Jagdmesser.
-Bücher: Nicht mehr als zur geistlichen Erbauung, geistigen Auffrischung und Fortbildung und zur praktischen Arbeit nötig. Eine Taschenagenda.

Ausrüstung für die Pfarrfrau:

-Kleider: Wie in Deutschland, nur keine dicken Winterkleider.
-Leibwäsche: Für den Winter Wolle, sonst Baumwolle. Wollene Leibbinden, Reformbeinkleider.
-Unterröcke: Schwarzer Tuchrock, mittelfarbige Alpacaröcke, Waschröcke.
-Strümpfe: Schwarzwollene in verschiedener Dicke; für den Sommer baumwol­lene. Reichlich mit­bringen!
-Kopfbedeckung: Wie in Deutschland. Wer selbst garnieren kann, bringe sich Samt- und Seiden­bänder, sowie Filzstoff und Samt mit. Schiffsmtze, Schleier.
-Regen- und Sonnenschirme: halbseidener Regenschirm, waschbarer Sonnenschirm.
-Schuhzeug: Nur feinstes Leder und elegante Form für Gesellschaft und Straße, Filzschuhe für die kältere Jahreszeit, Gummischuhe. d
-Handschuhe: Wie in Deutschland, nur keine dicken Winterhandschuhe. Reichlich mitnehmen!(…)

(Der Text ist der “Condor” vom Oktober 1990 entnommen, der Zeitung für die Deutschsprachigen in Chile.)

Editorial Ausgabe 202 – April 1991

Warum…
…eine Nummer 202 keine Jubiläumsnummer ist, brauchen wir nicht zu erklären. Warum die Nummer 200 keine Jubiläumsnummer war, könnten wir erklären, wollen wir aber nicht. So gibt es nun freischwebend Kreuzworträtsel und Gedichte in, um und aus der Geschichte der Lateinamerika Nachrichten.

HYMNE AN PINOCHET

Pinochet, welch stolzer Name!
Immer woll’n wir auf dich bauen,
Nie verlieren dein Vertrauen,
O, du hoffnungsvoller Same!
CHile strahlt in deinem Glanz,
Ewig woll’n wir dich erschauen,
Teurer Sohn des Vaterlands!

Mag die Welt dich auch verhöhnen,
Ohne Chile zu verstehen!
Einmal werd’n wir sie noch sehen
Ruhig sich mit dir versöhnen.
Darauf kannst du fest vertrauen:
Ewig werd’n wir zu dir stehen,
Ruhig kannst du darauf bauen.

Anmerkung: Diese Hymne ist die deutsche Nachdichtung eines Gedichtes, das im Jahr 1975 von der in Santiago erscheinenden Mittagszeitung “La Segunda” gedruckt wurde. Die Redaktion der “Chile-Nachrichten” – so hießen damals noch die Lateinamerika-Nachrichten – lehnte eine Veröffentlichung wegen möglicher Mißverständnisse ab. Sie bewies mit dieser Ablehnung genau so viel Vertrauen in die Intelligenz ihrer Leserinnen und Leser wie die Redaktion von “La Segunda” mit dem Abdruck des Originals.

RADIKAL und GEMÄSSIGT

RADIKALE Politiker handeln emotional.
GEMÄSSIGTE Politiker handeln verständig.
SEHR GEMÄSSIGTE Politiker handeln vernünftig.

RADIKALE Politiker wollen Reformen ohne Rücksicht auf die Wahrung des
Bestehenden.
GEMÄSSIGTE Politiker wollen Reformen zur Wahrung des Bestehenden.
SEHR GEMÄSSIGTE Politiker wollen das Bestehende gegen Reformen
verteidigen.

RADIKALE Politiker wollen mehr Demokratie.
GEMÄSSIGTE Politiker wollen die Demokratie verteidigen.
SEHR GEMÄSSIGTE Politiker wollen keine Demokratie im Dienste der
Radikalen.

RADIKALE Politiker sehen überall nur den Kampf der Interessen.
GEMÄSSIGTE Politiker nehmen Rücksicht auf bestehende Interessen.
SEHR GEMÄSSIGTE Politiker sehen vor allem das Interesse des Ganzen.

RADIKALE Politiker wollen die Gewinne der Wirtschaft beschneiden.
GEMÄSSIGTE Politiker begreifen die Bedeutung der Gewinne für die
Wirtschaft.
SEHR GEMÄSSIGTE Politiker kämpfen gegen jede Beschränkung der
Gewinne.

RADIKALE Politiker setzen sich ohne Rücksicht auf die nationale Sicherheit für
ständigen sozialen Fortschritt ein.
GEMÄSSIGTE Politiker sehen, daß sozialer Fortschritt nur im Rahmen
nationaler Sicherheit möglich ist.
SEHR GEMÄSSIGTE Politiker lassen sich in ihrem Einsatz für die
nationale Sicherheit nicht durch soziale Gefühlsduseleien beirren.

RADIKALE Politiker gehen unvorsichtig mit Geld um.
GEMÄSSIGTE Politiker sehen die Gefahren der Inflation.
SEHR GEMÄSSIGTE Politiker bekämpfen die Inflation als Hauptfeind.

RADIKALE Politiker reden immer von den Menschenrechten.
GEMÄSSIGTE Politiker sehen ein, daß zur Verteidigung der Menschenrechte
im äußersten Fall die Anwendung der Folter nicht von vornherein
ausgeschlossen werden kann.
SEHR GEMÄSSIGTE Politiker lassen sich durch angebliche Berichte über
Folter nicht in ihren politischen Beziehungen stören.

RADIKALE Politiker sind im besten Fall gefährliche Träumer.
GEMÄSSIGTE Politiker sind Pragmatiker.
SEHR GEMÄSSIGTE Politiker sind Realisten.

RADIKALE Politiker sind z. B. Wehner, Brandt, Palme, Mitterrand, Berlinguer,
Ghaddafi, Arafat, Neto, Ho Chi Minh, Mao Tse Tung, Fidel Castro, Allende,
Bischof Scharf und Johannes XXIII.
GEMÄSSIGTE Politiker sind z. B. Albrecht, Kohl, Genscher, Giscard
d’Estaing, Ford, Kissinger, Sadat, Karamanlis, Golda Meir, Indira Gandhi
und Paul VI.
SEHR GEMÄSSIGTE Politiker sind z. B. Strauß, Papadopoulos, Park,
Videla, Pinochet, McNamara und Friedman.

Anmerkung:
Was woanders stand, stand manchmal auch in den CHILE-NACHRICHTEN. Die vorstehende Zusammenstellung erschien Oktober 1976 in Heft 42. Damals gab es noch keine Presse, in der es üblich war, Politike¬rinnen als solche zu bezeichnen. Es gab nicht einmal die taz als solche.

Das Ende der Colonia Dignidad?

Die letzten Schachzüge

Am 22. September 1989 – wenige Tage vor dem verfassungsändernden Plebiszit vom 5. Oktober – haben die Führer der Kolonie, Probleme mit der zu erwartenden demokratischen Regierung voraussehend, das gesamte Grundeigentum der Kolonie, etwas mehr als 13.000 Hektar, an 30 Mitglieder der Gruppe verkauft. Diese blieben gerade drei Monate und 19 Tage Landeigentümer/innen. Am 10. Januar 1990 übertrugen sie ihre Ländereien an eine extra zu diesem Zweck gegründete Gesellschaft. In den folgenden Monaten wurden vier weitere Gesellschaften gegründet, die letzte am 1. Februar 1991, dem Tag des Regierungserlasses, der die Rechtsperson der Colonia aufhebt. Zwischen dem 30. Januar 1990 und dem 15. Januar 1991 wurden dem Abratec praktisch alle beweglichen Güter der Colonia übereignet, unter anderem 42 Lastwagen, landwirtschaftliche Maschinen, ein Schotterwerk, das Restaurant und die gesamte medizinische Einrichtung des Krankenhauses. Die chilenische Abratec wird von den Mitgliedern der Dignidad-Führungsclique Gert Seewald (Vorsitzender), Hans Jürgen Blank (Geschäftsführer) und Siegfried Hoffman (Direktor) geleitet. Die Muttergesellschaft gleichen Namens hat ihren Sitz in Beldien.
Im Laufe der Untersuchungen über die Colonia wurde schon Ende 1989 deutlich, daß sie ihren Statuten nicht gerecht wird. Daraufhin hat sie im Januar 1990 eine Veränderung ihrer Statuten beantragt. Das infolgedessen vom Gobernador (Regierungspräsidenten) der Provinz Linares, Manuel Francisco Mesa, erstellte Gutachten über die Kolonie fiel vernichtend aus. Darauf reagierte die Kolonie mit Verleumdungsklagen, der Zürücknahme ihres Antrags auf Änderung der Statuten und seit dem 30. Januar mit einem Hungerstreik von 200 Mitgliedern.

Die Entscheidung der Regierung

In einem Interview mit “24 Stunden”, dem Nachrichtenmagazin von Televisión Nacional, am Abend des 31. Januars, kündigte der Regierungssprecher Enrique Correa eine Regierungsentscheidung an, die ausschließt, daß es weiterhin in Chile einen Staat im Staate gibt. Am 1. Februar verlas der Innen-Staatssekretär Belisario Velasco in Anwesenheit des Innen- und des Justizministers eine Erklärung, die besagt, daß die juristische Person der Colonia Dignidad aufgehoben ist und ihre Besitztümer an die Methodistische Korporation übergehen. Velasco erläuterte, daß die Entscheidung auf einer Untersuchung beruht, die bereits im März 1988 unter der Militärregierung begonnen hatte, als der damalige Außenminister das Innenministerium um Informationen über die Unregelmäßigkeiten in der Kolonie bat. Die Untersuchung ergab mehrere Anormalitäten in der Befolgung der Statuten sowie verschiedene andere Gesetzeswidrigkeiten im Bereich von Erziehung, Steuer, Wehrpflicht und Gesundheit.
Nach den wiederholten Anklagen wegen Verletzungen der Menschenrechte durch den Geheimdienst DINA im Inneren der Kolonie befragt, äußerte der Innenminister Enrique Krauss: “Nachdem die juristische Person aufgehoben wurde, kann man nun nachweisen, ob tatsächlich andere Arten von Gesetzeswidrigkeiten vorliegen.”

Rechtsnachfolger – Methodistische Corporation

“Die “Corporación Metodista” ist der Dachverband der Methodistischen Kirchen in Chile. Sie besteht seit 85 Jahren und arbeitet unter anderem in den Bereichen Gesundheit, Arbeit, Erziehung und Bauernfortbildung. Sie ist Eigentümerin des “Radio Umbral”, das bekannt ist für seine Beteiligung am Kampf für die Menschenrechte und deshalb als kommunistisch apostrophiert wird. Wichtige Arbeit für die Menschenrechte haben die Methodisten auch mit der Fundación de Ayuda Social de las Iglesias Cristianas – FASIC (Stiftung für soziale Hilfe der Kirchen) geleistet. Während der Militärregierung hat FASIC sich auf die Verteidigung politisch Verfolgter konzentriert. Seit März waren ihre Schwerpunkte die Begleitung von Angehörigen Verschwundener bei der Identifikation von Leichenfunden, die Zuarbeit für die Kommission “Wahrheit und Versöhnung”, die Hilfe für die Vereinigung der Angehörigen von Opfern der Repression und die Arbeit für eine Gesetzgebung, die die Befreiung der politischen Gefangenen ermöglicht.
Der Vorsitzende des Direktoriums der Corporación, Presbyter Juan Osorio, äußerte sich zu den Menschenrechtsverletzungen in der Colonia Dignidad deutlicher als der Innenminister: “Nun erwartet die Kirche den Bericht der Rettig-Komission (Wahrheit und Versöhnung), in dem Folterungen und Angriffe auf die menschliche Würde ausführlich vermerkt sein werden.”
Nachdem der größte Teil der Ländereien und auch die Schule und das Krankenhaus der Colonia in den letzten Monaten an private Gesellschaften verkauft worden sind ist zu befürchten, daß es nicht viel ist, was die methodistische Corporación in ihre gemeinnützige Arbeit eingliedern kann.

Reaktionen der Kolonie…

Neben dem bereits erwähnten Hungerstreik und der Verleumdungsklage gegen den Gouverneur Mesa hat der Rechtsanwalt der Colonia, Fidel Reyes, alle möglichen Rechtsmittel angekündigt. Reyes behauptet eine “internationale Verschwörung von hohen Regierungsfunktionären Chiles und Deutschlands gegen Dignidad” sei im Gange. Als Beweis präsentiert er beglaubigte Fotokopien eines Fernschreibens der deutschen Botschaft in Chile an das deutsche Außenministerium, in dem die Möglichkeiten der Auslieferung Schäfers diskutiert werden (s.Kasten)
Reyes erklärte, daß das Verfahren am Bonner Gericht auf eine Anzeige des früheren Kolonie-Mitglieds Hugo Baar beruht, “der hier als Drogenabhängiger und Alkoholiker aufgenommen, behandelt und geheilt worden ist, aber es scheint, daß jemand ihm die 30 Judas-Silberlinge angeboten hat, und jetzt verbreitet er die Verleumdung, daß er hier keine Freiheit hatte”. Wegen des Telex der deutschen Botschaft hat Reyes ein vorsorgliches Schutzgesuch für Schäfer beim Obersten Gerichtshof eingereicht.
Die chilenische Kriminalpolizei teilte mit, daß sie die Vorladung an Schäfer nicht zustellen konnte, weil die Kolonie behauptet, daß dieser nicht anwesend sei, was mangels Haft- oder Durchsuchungsbefehl nicht nachprüfbar ist.

…und der Politik

Wie zu erwarten, verurteilt die politische Rechte die Regierungsentscheidung. “Ich fürchte, in diesem Moment verlieren wir nicht die ‘Kolonie Würde’, sondern unsere Würde als Land”, äußert der ‘unabhängige’ Vizepräsident des Senats Beltrán Urenda, sich auf den Druck der Bonner Regierung beziehend. Der Abgeordnete der rechten UDI Víctor Pérez behauptete, die Colonia Dignidad habe ihre Ziele treu erfüllt. Der Abgeordnete der ebenfalls rechten RN, Angel Fantuzzi, meinte, es sei “nicht das erste Mal, daß eine christdemokratische Regierung böswillig mit dieser Organisation umgeht”.
Die sozialistischen Abgeordneten der Region, in der sich die Colonia Dignidad befindet, Jaime Naranjo und Sergio Aguilo, die die Aufhebung der Rechtspersönlichkeit der Kolonie im vergangenen November gefordert hatten, zeigten sich befriedigt über die Entscheidung und erwarten, daß sich nun “die Türen öffnen”, um “alle der deutschen Kolonie vorgeworfenen Unregelmäßigkeiten zu untersuchen”. Sie sind mit der Übergabe der Besitztümer der Colonia an die Methodistische Korporation einverstanden. Die kommunistische Partei erklärte ihre Hoffnung, daß dieser Schritt “erlaubt, voranzukommen mit der Aufklärung der Rolle, die diese Nazi-Enklave während der Diktatur Pinochets spielte”.
Quellen: El Mercurio, La Epoca, La Nación

Kasten:
Telex im Wortlaut (Rückübersetzung)

“Aus Santiago de Chile. N 630 vom 23-11-90, 16.30 Ortszeit. Nach Bonn, Aus¬wärtige Angelegenheiten. Telex (verschlüsselt) an 330. Erhalten: 23-11-90, 16.25 Ortszeit. Verfaßt von Botschaftsrat Nr. 1, Dr.Kliesow. Code pol 543.00. Betr.: Colonia Dignidad.
Hier: Unterredung mit Staatssekretär B. Velasco am 22-11-90 betreffend Nr. 260 vom 14-11-90, 330-504.00 Chl. Im Rahmen der vollständigen Aufklärung des Komplexes Colonia Dignidad, über die getrennt berichtet wird, teilte der Staatssekretär des Inneren Velasco die Entscheidung der chilenischen Regie¬rung mit, Schäfer und 5 oder 6 Mitglieder der Führungsclique der C.D. (Colonia Dignidad) auszuweisen. Er (Velasco) fragte, ob Schäfer dann in Deutschland verhaftet werde. Ich (Pabsch) verwies auf den Prozeß vor dem Bonner Gericht und die großen Beweisprobleme, die einen Haftbefehl schwie¬rig oder unmöglich erscheinen lassen. Daraufhin erbat Velasco wenigstens eine Vorladung für Schäfer vor das Bonner Gericht über Interpol. Wenn auch der ausschlaggebende Punkt für die Ausweisung und Auslieferung Schäfers und anderer – sagt Velasco – die Störung der diplomatischen Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland sei, müsse man doch die öffentliche Mei¬nung aufklären und überzeugen, daß Schäfer auch schwebende Prozesse bei der deutschen Justiz hat.
Es wird um umgehende Information gebeten, ob der Bonner Staatsanwalt oder das Bonner Gericht bereit sind, eine entsprechende Vorladung über In¬terpol an Interpol-Chile auszustellen.
Unterschrift Pabsch (Botschafter).”

Bomben und Proteste gegen den fernen Krieg und die nahen Yankees

Einige hundert Menschen demonstrierten in Santiago de Chile vor dem Sitz des größten chilenischen Rüstungsproduzenten CARDOEN. CARDOEN exportierte seit 1982 Waffen an den Irak, unter anderem eine Sorte C-Bomben, “Erstickungsbomben”, die ein Pulver versprühen, das den Sauerstoff in der Luft bindet. Anzahl und Preis der gelieferten Bomben sind nicht bekannt. 1986 halfen Techniker von CARDOEN beim Bau einer Bombenfabrik in Bagdad. Die Rü­stungsverkäufe dauerten nach offiziellen Angaben bis zum UN-Ultimatum gegen den Irak vom August vergangenen Jahres an. CARDOEN war unter der Militär­diktatur Pinochets unter dessen persönlicher Protegierung entstanden. Auch zur neuen Regierung Chiles dürften die Beziehungen blendend sein: Der Besitzer ist mit einer Nichte des christdemokratischen Präsidenten Aylwin verheiratet. CARDOEN versucht nun, den Ausfall der Lieferungen an den Irak zu ersetzen; es erging ein Angebot an Saudi-Arabien zur Lieferung von 30.000 Bomben.
Eine Guerilla-Gruppe “Frente Revolucionario Anti-Imperialista” hat verkündet, daß US-Einrichtungen in Chile angegriffen werden sollen. Es gab bereits An­schläge auf einen Mormonen-Tempel und auf Filialen der US-amerikanischen “Security Pacific”- und “Republic National”-Banken. Die “Patriotische Front Ma­nuel Rodriguez” (FPMR) schickte eine Raketenattrappe und Flugblätter in die Residenz des israelischen Botschafters in Santiago.
Auch die brasilianischen Rüstungskonzerne “Avibras Aeroespecial” und EN­GESA, die bisher den Irak mit einer ganzen Palette von Rüstungsgütern beliefer­ten, wollen nun den Handel mit Saudi-Arabien aufnehmen. Ein Manager be­gründete die Unbedenklichkeit der Lieferungen in den Irak in der Vergangenheit damit, daß “Deutschland und Frankreich die chemischen Einrichtungen” stellten, dann könne ja wohl gegen die Lieferung der Trägersysteme nichts einzuwenden sein.
Der Vertreter der palästinensischen Befreiungsorganisation PLO in Bolivien warb für Unterstützung für den Irak durch Demonstrationen und “andere Kampfformen”. Die Guerilla-Gruppe “Nationales Befreiungsheer” bezeichnete in einem Kommuniqué alle US-Einrichtungen in Bolivien als anschlagsrelevante Ziele.
In Ecuador gab es Bombenanschläge gegen die US-amerikanische und die fran­zösische Botschaft. Andererseits besetzten 12 Mitglieder der Gruppe “Alfaro Vive Carajo” (AVC) kurzzeitig die französische Botschaft und forderten eine Ver­handlungslösung.
Im von den USA teilbesetzten und kontrollierten Panama übernahm das “Volksheer für die Nationale Befreiung” (EPLN) die Verantwortung für einen Bombenanschlag auf die US-Botschaft und kündigte weitere Anschläge an. Der Marionetten-Präsident Endara hatte bereits im November kurzzeitig die Durch­fahrt aller Schiffe aus oder nach Irak durch den Panama-Kanal verboten.
In Venezuela verübte eine “Internationalistische Brigade” einen Brandanschlag auf einen Mormonen-Tempel in Barquisimeto. Die Mormonen wurden als US-Spione bezeichnet. Die Menschenrechtsorganisation “Fundalatin” forderte den venzolanischen Kongreß auf, für die Dauer des Krieges alle Öllieferungen an die Länder der westlichen Allianz am Golf einzustellen.
Nach Meinung des kubanischen Präsidenten Fidel Castro ist derjenige für den Krieg verantwortlich, der zuerst schießt. Der Krieg bedeute “das Scheitern der UNO und der Politiker”. Die beteiligten Parteien hätten nicht genügend Ver­ständnis aufgebracht und der Irak habe ethische, historische, religiöse und ara­bisch-nationalistische Argumente benutzt, als eine realistische Vernunft erfor­derlich war. Kuba hat zur Versorgung der Zivilbevölkerung eine Ärztebrigade in den Irak entsandt.
(Quellen: ANN, PONAL, LA Weekly, Monitor-Dienst)

Ein Jahr Demokratie – geht es uns jetzt besser?

Im ersten Jahr nach den ersten demokratischen Wahlen seit 20 Jahren war es unsere Hauptaufgabe, den Demokratisierungsprozess in das alltägliche Leben der Menschen einzubringen.Stadtverwaltungen und Nachbarschaftsorgansiatioen waren noch von der Diktatur eingesetzt und zum Teil wurden auch Räumlichkeiten und Geldmittel nur für die Anhänger Pinochets zur Verfügung gestellt. Aber, um ehrlich zu sein, die Erfahrung von 17 Jahren autoritärem Regime hat auch in vielen Organisationen sehr undemokratische Strukturen hervorgebracht, Vorsitzende, die sich als Alleinherrscher gebärden, Vetternwirtschaft und gönnerhafte Manieren – und viel autoritäres Gehabe.
Das heißt, wir müssen noch vieles verändern und wir müssen lernen, uns und unser Handeln kritisch zu betrachten und in Frage stellen zu lassen. Und wir müssen die Volksorganisationen entmystifizieren, mit denen wir zusammenarbeiten.
Noch viel schwieriger ist die wirtschaftliche Lage: der Verarmungsprozess der untersten Klassen hat sich 1990 nicht verlangsamt, das Jahr endete mit der hohen Inflationsrate von über 30% (“Inflationsrate der Armen” auf der Basis der 64 wichtigsten Konsumgüter, die die Ärmsten benötigen). Die Arbeitslosenrate sank keineswegs, doch die Löhne sind real niedriger als im Vorjahr.
Bei unserer täglichen Arbeit mit den pobladores in Santiago stellen wir fest, daß es den Leuten schlechter geht als vor einem Jahr: Ende November führten wir eine kleine Umfrage durch bei den Frauen der Volksküchen von Renca/Hirmas. Sie und ihre Familien haben – wenn sie alle Einkünfte aus allen unterschiedlichen Tätigkeiten aller Familienmitglieder, der Erwachsenen, Jugendlichen und Kinder, zusammenzählen und die kleine Unterstützung durch die Stadtverwaltung dazuzählen – ein monatliches Einkommen von $ 19 000 (=ca 100 DM). Der staatlich festgelegte Mindestlohn liegt derzeit bei $ 26 7oo.
Vor einem Jahr, ebenfalls Ende November, machten wir die gleiche Umfrage bei fast den gleichen Leuten. Damals war das Ergebnis, daß sie pro Familie monatlich über ca. $ 16 300 verfügten. Wenn wir die Preissteigerungen für die Hauptnahrungsmittel der Armen und ihre sonstigen wichtigsten Ausgaben (Busfahrten, Schulkosten, Elekrizität, Wasser, Gas) mit nur 35% ansetzen – in Wirklichkeit ist die Verteuerung für die meisten noch höher -, können wir sagen, daß die Familien in Renca monatlich $ 22 005 bräuchten, um unter den gleichen armseligen Bedingungen wie in den letzten Monaten der Diktatur weiterleben zu können – aber sie verfügen nur über durchschnittlich $ 19 000 monatlich.
Die Gruppe Gesundheitserziehung von KAIROS, die die Kinder des Kindergartens in San Luis betreut, alarmierte uns mit der Information, daß fast 80 % der untersuchten Kinder Symptome der Unterernährung, Untergewicht und Entwicklungsstörungen aufweisen. In anderen Worten: Sie bezahlen den Preis für den Hunger, den sie in den ersten Lebensjahren erleiden.
Die schreckliche soziale Schuld bedeutet, daß es 5,5 Millionen (5 500 000) “Arme” in Chile gibt, 44,4 % der Gesamtbevölkerung (1970 betrug der Prozentsatz der “Armen” im Land rund 20 %). Die Forscher von CEPAL, die diese Zahlen vorgelegt haben, nennen als schlimmstes Resultat dieser Verarmung des chilensichen Volkes die Zahl von 16,8 % der Bevölkerung, die in “extremer Armut” leben – d.h., diese Menschen können nicht einmal die Grundernährung von 2 187 Kalorien pro Tag sichern.
Es wäre ungerecht, der “Regierung des Übergangs” von Patricio Aylwin die Schuld an dieser dramatischen Entwicklung zu geben – sie ist ein Erbe der “goldenen Jahre” des ökonomischen Modells der Diktatur, das Erbe einer neoliberalen Politik – und man kann manchmal die Klage hören, daß das alte Regime der neuen Regierung noch nicht mal die schwarze Kasse für die Briefmarken überlassen hat.
Aber es ist uns wichtig, festzustellen, daß neben dem begrenzten politischen Wandel, der in Chile stattfand, das hoch gelobte “Entwicklungsmodell” der neuen Regierung im Makrobereich “Fortschritte” erzielt, Rekordzahlen bei der Ausfuhr von Rohstoffen, Obst, ganzen Wäldern und den letzten Meeresfrüchten und Fischen. Heute können wir stolz sein, außerordentliche Gewinnspannen zu haben in einem Land, in dem es pro Kopf die gleiche Anzahl Farbfernseher gibt wie in den USA und eine beeindruckende Anzahl von Autos und Videogeräten. Wir können stolz sein, daß jeder mittlere Angestellte einer Bank oder eines Betriebes, der sich für wichtig hält, und sogar Kollegen von Hilfsorganisationen, mit drahtlosen Telefonen herumlaufen … aber gleichzeitig ist die Verarmung ebenso beeindruckend wie die “Entwicklung”, das neue Elend ist die arme Schwester des strahlenden Zwillings.
Und bis jetzt sehen wir weit und breit keine Vorschläge oder auch nur den Willen der Verantwortlichen in der Regierung, – und natürlich erst recht nicht bei den Protagonisten des derzeitigen ökonomischen Modells-, ein alternatives Entwicklungsmodell zu fordern und zu fördern – ein Modell, das es wirklich ermöglichen würde, die Armut zu überwinden.

Bush besucht die “vertikale Hemisphäre”

Als Präsident Kennedy vor knapp 30 Jahren unter dem Eindruck der kubanischen Revolution die “Allianz für den Fortschritt” als Plan für ein großes gemeinsames Reformunternehmen der USA und Lateinamerikas aus der Taufe hob, galten als Voraussetzung einer grundlegenden Besserung noch soziale Gerechtigkeit, eine gründliche Agrarreform, Besteuerung des Luxus und des Reichtums, Kontrolle der Profite aus ausländischen Direktinvestitionen, staatlich geförderte Industrialisierung. Heute fliegt Kennedys später Nachfolger George Bush von einem Land Südamerikas in das nächste, um seine Präsidentenkollegen dazu zu beglückwünschen, daß sie “Reformen” durchgeführt haben, die im Namen von Demokratie und Marktwirtschaft mit den Illusionen von sozialer Gerechtigkeit und staatlicher Entwicklungspolitik gründlich aufgeräumt haben.
Die ganze erste Dezemberwoche war Bush unterwegs, in seinem neuen Regierungsflugzeug Air Force One jederzeit für die militärischen Planungen am Persischen Golf aufnahmebereit. Ziel waren die relativ reicheren und politisch wichtigeren Länder im Süden: Brasilien, Uruguay, Argentinien, Chile und Venezuela. Ausgespart wurden Länder, in denen wie in Bolivien, Peru, Kolumbien und Panama Drogenproduktion und Drogenhandel den Zorn der Führung des Hauptkonsumlandes von Drogen – nämlich der USA – erregen und wo deshalb diese Führung nicht gerade gern gesehen wird.

Die neue Morgenröte

Gefeiert wurde bei den Ansprachen vor den Parlamenten, den Treffen mit den Präsidentenkollegen Collor, Lacalle, Menem, Aylwin und Pérez sowie den Pressekonferenzen vor allem der Sieg der Marktwirtschaft, der nun – so Bush vor dem Parlament in Brasilia – die Möglichkeit “einer neuen Morgenröte für die Neue Welt” in Gestalt einer gigantischen Freihandelszone von Kanada bis Feuerland eröffne, einer “vertikalen Hemisphäre”, in der sich mehr als zwanzig marktwirtschaftlich orientierte Demokratien zusammenschließen könnten. Daß der Norden bei diesem Vertikalismus das Sagen hätte, ist gerade auch den brasilianischen Ökonomen klar, denen die Versuche einer eigenen Entwicklung von Mikroelektronik durch die erzwungene Öffnung ihres Marktes für US-Computer gerade erst ausgetrieben wurden.
Die Freihandelszone soll dem durch gewaltige Handelsbilanzdefizite angeschlagenen Imperium neue Absatzmärkte erschließen, Konkurrenzvorteile vor Japan, Südostasien und Westeuropa eröffnen und überhaupt ein Gegengewicht gegenüber der Europäischen Gemeinschaft begründen. Solange sich diese “Iniciativa para las Américas” darauf beschränkt, durch Abbau von Zollschranken und anderen Behinderungen den völlig freien Handel mit Waren und Dienstleistungen auf dem ganzen Kontinent zu organisieren, den freien Verkauf der Ware Arbeitskraft, das heißt: die freizügige Arbeitsmigration in die USA aber verhindert, so lange wird diese Art von Integration angesichts der relativen Marktmacht der “Partnerländer” und des herrschenden Produktivitätsgefälles nur im Sinne einer Verschärfung der Unterentwicklung Lateinamerikas wirken. Die in diesen Tagen verkündeten Änderungen der Einwanderungsbestimmungen der USA lassen aber nicht darauf schließen, daß solche Freizügigkeit innerhalb ganz Amerikas geplant sei.

Ohne Spendierhosen

Daß Präsident Bush seine Gastgeber zu kaufen versucht hätte, läßt sich nicht behaupten. Versprochen hat er ihnen zunächst gar nichts. Erst nach der Reise verlautete, daß die USA vielleicht zur Verbesserung der Absatzchancen für US-Produkte auf bis zu sieben der zwölf Milliarden US-Dollar verzichten könnten, mit denen die lateinamerikanischen Länder bei der US-Regierung verschuldet sind. Das wären gerade anderthalb Prozent der gesamten, ohnehin unbezahlbaren Außenschuld Lateinamerikas. Und dann wollen die USA so großzügig sein und 100 Millionen ( nicht Milliarden, Millionen! ) US-Dollar in einen multilateralen Investitionsfonds einzahlen, zu dem die europäischen Staaten noch das Doppelte beitragen sollen. Diese Summe entspricht einem Viertel eines Promille der lateinamerikanischen Auslandsschuld, oder anders: Sie entspricht der Summe, die in den letzten Jahren jeweils alle drei Tage netto aus Brasilien an die ausländischen Gläubiger geflossen ist. Das Imperium ist wahrlich bescheiden geworden.
Die gastgebenden Präsidenten gebärdeten sich wie Musterschüler. Argentiniens Menem konnte sogar mit einem zur rechten Zeit in Szene gesetzten und siegreich überstandenen Putschversuch rechtsradikaler Militärs sein Image als Vorkämpfer der Demokratie polieren, was alle Pläne für eine Demonstration der linken Opposition gegen den Bush-Besuch über den Haufen warf.
Der Chef der angeschlagenen Weltmacht konnte sich auf seiner ganzen Reise, sehen wir von ein paar Bombendetonationen in Buenos Aires und Santiago ab, über den freundlichen Empfang freuen, obwohl mindestens der eine Teil seiner frohen Botschaft, nämlich das neoliberale Programm für Privatisierung und ungehemmte Marktwirtschaft, in Brasilien und Uruguay, in Argentinien und Venezuela die schwere Krise der achtziger Jahre nicht behoben, sondern im Gegenteil noch verschärft hat. Einzig in Chile funktioniert die Marktwirtschaft, wenn auch nicht sozial und ökologisch orientiert, wie das heute gefordert wird, und schon gar nicht im Dienste der Mehrheit der Bevölkerung. Und wenn sie funktioniert, dann ist das nicht das Ergebnis der Demokratie, die immer als Zwillingsschwester der Marktwirtschaft erscheint, sondern Resultat einer langjährigen und brutalen Militärdiktatur. Der Ex-Diktator General Pinochet, heute noch immer Oberbefehlshaber des Heeres in Chile, ließ es sich denn auch nicht nehmen, zur Begrüßung des Präsidenten der USA persönlich zu erscheinen und auf seine Verdienste für die Freiheit des Kapitals hinzuweisen.
Was George Bush, dem Propheten von Demokratie und Marktwirtschaft, einzig zu seinem Glück noch fehlt, benannte er auf der letzten Station seiner Reise in Caracas: Kuba, “der einzige und einsame Winkel des Totalitarismus auf dem amerikanischen Kontinent”, werde sich bald seines kommunistischen Regimes entledigen ( und damit wieder den reichen US-Amerikanern als Ferienparadies und Spielhölle zur Verfügung stehen ). Mag sein, daß er Recht behält und der Wind in diese Richtung bläst, zumal eine große Bewegung zugunsten sozialer Reformen wie vor 30 Jahren von Kuba nicht mehr ausgeht. Der Glaube aber, daß die Massen der Bevölkerung in Lateinamerika nun für immer beschlossen hätten, auf Ettikettenschwindler wie Menem in Argentinien hereinzufallen und die Mittel der Demokratie nur für die Wahl einer unterentwickelten Marktwirtschaft einzusetzen, wäre mindestens so naiv wie der Glaube an die Naturgesetzlichkeit der Weltrevolution.
Die Zeiten ändern sich. Nichts bleibt, wie es ist. Die Geschichte ist noch nicht am Ende.

Festival der Frauen

Invasion der Feministinnen

San Bernardo, ein Badeort, der 9 Monate im Jahr schläft und nur 3 Monate durch die Touristen zum Leben erwacht, wird jäh aus seinem Winterschlaf gerissen noch bevor die Saison beginnt. 70 Omnibusse bringen 3.000 Frauen aus 39 Län­dern, aus ganz Lateinamerike und der Karibik und Gästinnen aus Nordamerika, Europa, Asien und Afrika, die sich hier zum 5. lateinamerikanischen Feministin­nenkongreß trafen, um über 10 Jahre Feminismus in Lateiname­rika Bilanz zu ziehen. Den knapp 4.000 Einwohnern San Bernardos mag die Ankunft der Massen von Frauen wie eine Invasion vorgekommen sein. Neugierig bis ablehnend beäugten sie die Ankommenden und in nicht wenigen Gesichtern stand die bange Frage geschrieben: Warum gerade in San Bernardo? So standen sie staunend angesichts der vielen Frauen, die mit ihrer Buntheit, Vielfältigkieit und ihrem Selbstbewußtsein eine Woche lang das Straßenbild be­stimmten.
Das Feministinnentreffen in Lateinamerika hat bereits Geschichte: Zum 5. Mal innerhalb von 10 Jahren trafen sich Frauen aus Ländern Lateinamerikas und der Karibik. Die Treffen ermöglichen, über den eigenen Tellerrand hinauszusehen und bieten die seltene Gelegenheit, Frauen aus anderen Ländern zu treffen und wiederzusehen. So hat der Kongreß mittlerweile eine enorme Wichtigkeit er­langt, dementsprechend steigt auch jedesmal die Zahl der Teilnehmerinnen: Beim ersten Mal in Kolumbien 1980 waren es noch 260 Frauen, 1983 in Peru be­reits 600, nach Brasilien kamen 1985 850 und in Mexiko waren es 1987 bereits 1 500. Daß zum Kongreß nach Argentinien 3.000 Frauen kamen, erfüllte alle mit Stolz. Doch das Treffen in Argentinien hat mittlerweile eine Größenordnung erreicht, die organisatorisch kaum mehr zu bewältigen ist, noch dazu unter den gegebenen schlechten Bedingungen.

Herzlich willkommen

Eigentlich sollte der Frauenkongreß in den Räumlichkeiten der Energiegewerk­schaft stattfinden, einem riesigen Komplex mit 800 Hotelbetten und zahlreichen Tagungsräumen. Doch kurzfristig wurde der vereinbarte Sonderpreis um über 300% erhöht. Der Kongreß drohte zu scheitern, doch konnten die Organisatorin­nen mit der Stadtverwaltung einen Kompromiß erreichen und viele Hotels, Cafés und Boutiquen stellten in Erwartung einer finanzkräftigen Invasion von kauf und konsumfreudigen Frauen ihre Räumlichkeiten zur Verfügung. Der Stadt­verwaltung war offensichtlich das leidige Vorgeplänkel sehr unangenehm. Sie sah sich bemüßigt, ein Kommuniqué zu veröffentlichen, das die Frauen in San Bernardo herzlich willkommen hieß. Auch der kirchliche Vertreter begrüßte aus­drücklich die ankommenden Frauen, um Gerüchten entgegenzuwirken, die Kir­che wolle den Kongreß verhindern.
Die Veranstaltungen fanden an allen möglichen und unmöglichen Stellen statt: die großen Cafés und Hotels waren ausnahmslos alle besetzt. Sogar in den Ho­telhallen, in Garagen, in Staßencafés und in noch leerstehenden Boutiquen saßen diskutierende Gruppen, wobei es der vorbeitosende Verkehr der Hauptstrasse oft unmöglich machte, auch nur ein Wort zu verstehen. Nicht selten nervten neugierige Auto- oder Motorradfahrer mit laufendem Motor, die versuchten her­auszubekommen, was die Feministinnen zu bereden hatten. Zudem wurde aller­orts gebaut, gebohrt und gehämmert: der Badeort machte sich fertig für die Saison, die 14 Tage später beginnen sollte.

Das “Nicht-Treffen” und das “Suchen” statt “Treffen”

Einen Großteil der Zeit auf dem Treffen verbrachte frau damit, ihre Workshops zu suchen. Hunderte von Frauen wanderten mit dem Tagesprogramm und dem Stadtplan in der Hand die Hauptstraße rauf und runter, suchten und fragten sich durch, trafen zufällig Bekannte, blieben auf ein Schwätzchen stehen, vergaßen die Zeit, hetzten weiter, um wenigstens noch ein halbes Stündchen mitzube­kommen, oder blieben unterwegs in einem der einladenden Straßencafés hängen und gaben frustriert die Suche auf.
War dann endlich der Ort gefunden, mußte frau nicht selten feststellen, daß der Workshop ausgefallen, die Veranstaltung auf den nächsten Tag verschoben war oder tags zuvor bereits stattgefunden hatte. Los gings dann auf die Suche nach dem nächsten Workshop, mit der Hoffnung, da wenigstens noch ein paar inter­essante Sätze zu ergattern, oder ab ins nächste Café oder an den Strand.

San Bernardo – Stadt der Frauen

Die Frauen erobern San Bernardo. Endlich keine Angst mehr haben müssen nachts beim Nachhausegehen, denn immer sind Frauen in der Nähe unterwegs. Die Frauen erobern sich die Discos, die Cafés, und sogar die Männerklos.
Vielen Männern in San Bernardo waren diese Feministinnen sehr suspekt. Die einen sahen in ihnen eine Gefahr für San Bernardo, sie hatten Angst, daß die Feminis­tinnen, ihnen ihre Frauen wegnehmen oder ihnen zumindest den Kopf verdrehen wollen. Andere machten sich große Hoffnungen (“von den 3.000 Frauen kommen mindestens 2-3 auf mich”). Sie wollten mitfeiern und verstanden die Welt nicht mehr, weil diese vielen Frauen nichts von ihnen wissen wollten, weil sie draußen bleiben mußten. Sie konnten sich gar nicht vorstellen, was es soviel zu reden und diskutieren gab und manche beschwerten sich, keiner habe sie vorher gefragt, ob sie mit dieser Invasion einverstanden wären.
Auch die Frauen von San Bernardo beäugten zunächst recht skeptisch bis ableh­nend die fremden Artgenossinnen, die selbstbewußt, schwatzend und singend durch die Straßen zogen und sich nicht um Konventionen und Machos scherten. Einige wenige machten bei den Workshops mit, andere nahmen in den Cafés oder bei den abendlichen Festen Kontakt auf oder sahen begeistert oder befrem­det zu.
Und als die 70 Busse wieder wegfuhren, war wieder Frauenalltag angesagt.

Der Mammutkongreß – ein organisatorischer Wahnsinn

Trotz guter Laune und Frauenpower erschwerten die schlechten infrastrukturel­len Bedingungen die ohnehin schwierige Aufgabe organisatorisch einen solch riesigen Kongreß zu bewältigen! Die Suche kostete viel Zeit und erschwerte die Kommunikation untereinander. Das stundenlange Schlangestehen mit hungri­gem Magen zum Mittag- oder Abendessen nervte und nur besonders Unverdros­sene sahen darin die Möglichkeit, sich im Gespräch näher zu kommen.
Als am dritten Tag der Regen prasselte und alle Straßen überflutete und der Strom ausfiel und es weder Programme gab noch Veranstaltungen stattfanden, drohte der Kongreß im Chaos zu ersticken. Doch dank der hervorragenden Im­provisationsgabe der lateinamerikanischen Organisatorinnen und der uner­schütterlichen Geduld der Teilnehmerinnen lief er trotzdem irgendwie weiter.
Es war schier unmöglich, auch nur ansatzweise einen Überblick über das Diskus­sionsgeschehen der einzelnen Veranstaltungen zu bekommen. Ein gezieltes Tref­fen und Austausch mit Frauen aus anderen Ländern schien unmöglich und dem Zufall überlassen. Es gab kein gemeinsames Diskussionsziel. Zu groß war das Angebot an Workshops, Gesprächskreisen und Kultur. An sechs Tagen wurden 300 offizielle Veranstaltungen angeboten, nicht mitgerechnet die zahlreichen selbstorganisierten spontanen Diskussionsrunden und Foren. Es gab viel zu viele interessante Angebote, die alle zur selben Zeit stattfanden: Von der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Feminismus, seiner Beziehung zur Macht, Politik oder Basisbewegung, über gesundheitliche Themen (Abtreibung und Verhü­tungsmittel, Psychopharmaka…) Gewalt gegen Frauen hin zu religiösen ethischen Fragen, zu Selbsterfahrungsgruppen, Körperübungen, Lesungen, Videos … für jeden Geschmack etwas. Bedauerlich, daß Diskussionen über wich­tige Themen mangels Zeit nur angerissen und kaum vertieft werden konnten.
Beeindruckend auch das Angebot an Publikationen, vor allem deswegen, weil noch vor wenigen Jahren feministische Publikationen in Lateinamerika fast aus­schließlich aus Übersetzungen von Artikeln US-amerikanischer und europäischer Feministinnen bestanden.
Aus der Masse der Angebote möchte ich trotzdem einige Diskussions- oder Kri­tikpunkte aus diversen Workshops erwähnen.

Diversität und Ungleichheit – Herausforderung oder Komplikation?

Die Diversität und Ungleichheit innerhalb der feministischen Bewegung (die Autonomen, die Sozialistinnen …) von vielen als bremsend beargwöhnt, werden jedoch auch als eine Herausforderung und eine Bereicherung für die Diskussion innerhalb der Bewegung erkannt. Genauso verhält es sich mit neuen Themen, wie Ökologie, Gewalt gegen Frauen, Ethik…
Ein Widerspruch, der immer wieder auftaucht, ist der Ruf nach charismatischen Führerinnen einerseits, die die Bewegung voranbringen sollen, der aber anderer­seits mit dem Wunsch nach kollektiver Arbeitsweise kollidiert.
Eine immer wieder spannende Frage taucht auf: Radikalität oder Kompromisse? Im Workshop “Feminismus 90” zum Beispiel einigten sich dazu die Frauen auf die Grundaussage des Feminismus: Demokratie, Diversität und Kompromisse. Das bedeutet: Zusammenarbeit mit offiziellen (auch staatlichen) Stellen ist mög­lich und fördert mehr interne Demokratie innnerhalb der Bewegung. Gewalt wird als Grundhindernis für die Entwicklung der Frauen in ganz Lateinamerika und der Karibik angeprangert. Die Konzepte für Entwicklungspolitik werden als sexistisch und gegen die Frauen gerichtet verurteilt. Die Rechte der Frauen sollen als Menschenrechte festgeschrieben und das Konzept der Menschenrechte, dem bisher jegliche Frauenperspektive fehlt, umdefiniert werden.
Bei vielen Themen wiederholten sich die Diskussionen und die Argumente aus den vorherigen Treffen und bei bestimmmten Punkten traten auch diesmal wie­der dieselben Konflikte auf, die unüberbrückbar scheinen: Zum Beispiel die Fra­gen: Sollen Frauen, die an der Macht sind, unterstützt werden? Vertreten sie die Interessen der Frauen oder sind sie mehr ihrer Partei verbunden? Wird sich für Frauen etwas verändern, wenn Frauen als Politikerinnen an die Macht kommen? Oder ändern sich Frauen, sobald sie an der Macht sind? Welche Macht ist das, die angestrebt wird, eine feministische Macht?

Feministometer

Manche der Alt-Feministinnen denken noch wehmütig an das erste Treffen in Kolumbien, wo noch der reine feministische Geist herrschte. Denn schon in Peru kamen auch Frauen aus anderen Bereichen mit dazu: Frauen aus politischen Or­ganisationen, Gewerkschaften, aus Basisbewegungen etc., die sich alle als mehr oder weniger feministisch definierten, was zu Konflikten führen mußte. In Me­xiko, als die mittelamerikanischen Frauen mit ihrer spezifischen Problematik mit dazu kamen, mußte endlich erkannt werden, daß es nicht nur einen Feminismus gibt. So auch in Argentinien: “Was ist das für eine Feminismus, der uns nicht be­achtet”, fragt Sergia, eine schwarze Frau aus der Dominikanischen Republik. “Die weißen Frauen distanzieren sich von uns”, klagten die indianischen Frauen über ihre “feministischen Schwestern”. Eine Frau aus einer Villa Miseria in Argenti­nien berichtete, daß sie in ihrer Arbeit mit den Frauen
nicht dazu kommt, spezifische Frauenthemen anzusprechen, denn “in einem Jahr starben uns 12 Kinder, so daß Erziehung und Gesundheit Vorrang haben.”
In einem Workshop zum 500. Jahrestag der Kolonisation meldet sich eine Gua­temaltekin zu Wort, die, wie sie sagt zum ersten Mal auf so einem Treffen mit Frauen aus unterschiedlichen Ländern ist und alles ganz toll findet, “aber”, bittet sie, “es würde mir besser gefallen, wenn Sie etwas konkreter reden würden, in Worten, die wir auch verstehen, die aus dem Gefühl jeder einzelnen Frau kom­men.” Nach der Veranstaltung sprach ich eine der Wortführerinnen darauf an, eine Chilenen, die in der Dominikanischen Republik an der Uni arbeitet. Ihre Antwort spricht für sich: “Tja, wir müssen sie halt auch mal reden lassen.”
Rassismus? Nein, den gibt es bei uns nicht! Bekräftigen mir einhellig die weißen Frauen aus Uruguay, Argentinien und Chile, die sich am Abend vorher in der Kneipe ausführlich über den Rassismus in Deutschland ereifert hatten. Doch viele Teilnehmerinnen auf dem Kongreß haben dazu eine andere Meinung.

Schwarze Frauen

Auf dem Kongreß waren nur relativ wenige schwarze Frauen vertreten und nur wenige definieren und organisieren sich als schwarze Frauen. Ihre alltägliche Diskriminierung zeigt sich schon in der Sprache: schwarzes Schaf, Schwarz­markt. Sie als schwarze Frauen werden am meisten ausgebeutet, haben den geringsten Zugang zu Bildung, Aus­bildung und Arbeit. Viele versuchen der Diskriminierung zu entgehen, in dem sie sog. Weißmachungsmittel vermitteln: spezielle Cremes um die Haut heller zu machen, oder Mittel, die das krause Haar glätten. Untersuchungen haben mitt­lerweile bewiesen, daß diese Weißmachungsmittel im höchsten Grad krebserre­gend sind.
Eine Informationskampagne über AIDS, nach der der AIDS-Virus aus Afrika kommt, hatte zur Folge, daß die schwarzen Prostituierten nicht mehr so stark frequentiert werden, weil sie als Überträgerinnen von AIDS stigmatisiert werden. In Uruguay war der erste AIDS-Fall, der bekannt wurde, eine schwarze Frau. Daraufhin führte die Gesundheitsbehörde eine starke Kontrolle bei den schwar­zen Prostituierten durch, sperrte sie ins Gefängnis, mißhandelte sie und läßt sie ihre Arbeit nicht mehr durchführen. Der Arbeitsmarkt für schwarze Frauen ist jedoch sehr eingeschränkt (55% von ihnen arbeiten als Hausmädchen) und eine schwarze Frau, die als Prostituierte gearbeitet hat, wird kaum mehr eine andere Arbeit finden.
Schwarzen Frauen hängt der Mythos nach, besonders “sexy” zu sein. “Aber das ist eine Interpretation des weißen Mannes. Sie sehen uns als exotische Sexualob­jekte, die sie zu ihrer Befriedigung nutzen können. Die schwarzen Männer be­nutzen uns auch, aber bei den weißen Männern kommt neben dem Sexismus noch der Rassismus hinzu.”

Lesbenphobie

Nur relativ wenige Lesben in Lateinamerika bekennen sich offen als Lesben, zu stark sind die Vorurteile der Gesellschaft, der Einfluß der katholischen Kirche und zu stark ist auch die Repression durch den Staat. In einigen Ländern gibt es spezielle Gesetze gegen Homosexualität, worin die Lesben einbezogen sind, an­derswo wird das Gesetz über Sodomie so ausgelegt, daß lesbische Liebe auch im privaten Rahmen unter Strafe steht. Auch das Gesetz der “Erregung öffentlichen Ärgernisses” wird benutzt, um Lesben festzunehemn, zu schlagen, zu demütigen und etliche Jahre ins Gefängnis zu werfen. Viele Lesben leben auch in der Angst, als Lesben erkannt zu werden und ihren Arbeitsplatz zu verlieren… Aber auch auf dem Feministinnen-Kongreß in San Bernardo mußten sie vielen Vorurteilen begegnen: Eine Frau aus Brasilien berichtet, daß ihre Tischnachbarin beim Mit­tagessen aufgestanden ist und sich woanders hinsetzte, als sie erwähnte, daß sie Lesbe sei. Es wurden anonyme Forderungen gestellt, die Lesben von Tanzveran­staltungen auszuschließen, sie wurden als Exhibitionistinnen beschimpft, die öf­fentlich ihre Zärtlichkeiten austauschen, und würden dem Ansehen des Femi­nismus schaden…
In ihren Veranstaltungen und in einer Pressekonferenz wandten sich die lebsbi­schen Frauen energisch gegen die Lesbenphobie, die ihnen massiv von vielen Feministinnen entgegenschlug. Sie forderten für das nächste Treffen mehr Raum für sich und ihre Themen und wollten die spezifische Lesbenproblematik, die Lesbenphobie und Zwangsheterosexualität in allen Workshops behandelt wis­sen. Sie verlangten, respektiert zu werden in ihrer Lebensphilosophie. Amparo aus Costa Rica bringt das Problem auf den Punkt: “Wir wollen dahin kommen, daß ich nicht erklären muß, warum ich Lesbe bin und du nicht erklären mußt, warum du heterosexuell bist, sondern daß wir Feministinnen sind, in einer Be­wegung, in der wir gemeinsam kämpfen. Wir Lesben sind solidarisch mit allen Feministinnen und kämpfen für die Legalisierung der Abtreibung, obwohl das für viele von uns kein Thema mehr ist, und für alle Problematiken der Frau. Wir wollen nun auch Solidarität von den Hetero-Feministinnen, daß sie nicht nur für ihre eigenen Forderungen, sondern auch für die Forderungen der Lesben kämp­fen.”

Abtreibung

Ein zentrales Thema bei diesem Treffen war wie immer die Abtreibung. Zu ei­nem der diversen Abtreibungs-Workshops hatte die argentinische Frauenorgani­sation “Nonnen für die Legalisierung der Abtreibung” eingeladen. In der Einfüh­rung begründeten sie ihre Position mit einem sehr einleuchtenden Argument aus der Bibel: Als Maria erfuhr, daß sie ein Kind bekommen sollte, ließ ihr der Verkündi­gungsengel einige Zeit zum Überlegen, ob sie die Schwangerschaft an­nehmen wollte oder nicht. Maria entschied sich schließlich dafür, das Kind zu bekommen. Die Atheistinnen in der Gruppe haben dazu eine andere Meinung, aber allen gemeinsam ist die Forderung nach Legalisierung der Abtreibung, die auf dem lateinamerikanischen Kontinent mit Ausnahme von Kuba in allen Län­dern verboten ist. Die einzelnen Länderbeispiele zeigten zwar Unterschiede in der Gesetzeslage (in einigen wenigen Ländern ist Abtreibung nach einer Vergewalti­gung oder aus gesundheitlichen Gründen erlaubt), überall gibt es je­doch eine erschreckend hohe Zahl der illegalen Abbrüche, die die Haupttodesur­sache bei Frauen im gebärfähigen Alter ist. In Nicaragua haben die Frauen mitt­lerweile zur Selbsthilfe gegriffen und kämpfen dafür, daß der von ihnen bereits praktizierte ambulante Abbruch legalisiert wird.

Konkrete Ergebnisse

Es gab viel Kritik an diesem fünften lateinamerikanischen FeministinnenKon­greß. Es gab kein gemeinsames Abschlußkommuniqué, doch es gab viele Vor­schläge aus einzelnen Workshops. Hier die wichtigsten davon: Um von der ewi­gen Jammerei wegzukommen, hin zu konkreten Aktionen, wurden zu diversen Themen kontinentweite Netze gegründet: Zum Beispiel zu Medien, physischer Gesundheit, zu Gewalt von Frauen… Der Straferlaß der argentinischen Regierung gegenüber der Verbrechen den Militärs wurde verur­teilt und die Ablehnung der Zahlung der Auslandsschulden bekräftigt. Außerdem wurde die Solidarität mit dem revolutionären Prozeß in Kuba betont.
Der Vorschlag der Vertreterinnen der spanischen Frauenorganisation Flora Tri­stan aus Madrid, die Feierlichkeiten zum 500.Jahrestag der “Entdeckung” Latein­amerikas zu einer großen Protestveranstaltung von Frauen aus Lateinamerika und Europa im Oktober 1992 in Sevilla zu nutzen, wurde mit großem Protest ab­gelehnt. Die Lateinamerikanerinnen fühlten sich von den Spanierinnen domi­niert. Sie wollten nicht feiern, sondern lieber selbst auf ihren eigenen Spuren der Geschichte nachgehen.
Das nächste Treffen wird 1992 in Mittelamerika stattfinden, in einem noch aus­zuwählenden Land. Den mittelamerikanischen Frauen bleibt es überlassen, wie des nächste Kongreß gestaltet werden soll: ein weiterer Mammutkongreß mit dann vielleicht 57.000 Frauen oder Delegiertenprinzip oder dezentrale themenbezogene Treffen.

Götzendämmerung ?

September, der Monat mit seiner Häufung patriotischer Daten vom Jahrestag des Put­sches bis zum Tag der nationalen Unabhängigkeit hatten die Chilenen mit be­klommener Spannung entgegengesehen, weil er als ein Kräftemessen zwischen Militärs und der neugewählten Regierung gesehen wurde. Als Aylwin bei der traditionellen Militärparade von Teilen des rechten geladenen Publikums aus­gepfiffen wurde, signalisierte das die ungebrochene Arroganz der Rechten. Vom glänzenden Schein des Heeres in jenen Paradetagen ist wenig geblieben.
Seinen ersten schweren Fehler beging Pinochet, als er sich mit der Bundeswehr anlegte; er hatte seine Kräfte sträflich überschätzt. Es reicht wohl, an die Anek­dote zu erinnern, die Chile auch für unsere Medien plötzlich wieder interessant machte: als Schwule, Drogenabhängige und Gewerkschafter hatte Pinochet “unsere Jungs” geschmäht. Die energischen Proteste des AA konnten der chileni­schen Regierung eigentlich nur recht sein – der Oberkommandierende hatte ein­deutig seine Kompetenzen überschritten und sich in die Politik eingemischt. Um die wichtigen Beziehungen zur damaligen BRD nicht weiter zu belasten, konnte Aylwin gar nicht anders, als Pinochet zum Rapport zu bestellen und ihn zu rüf­feln…Für die Regierung der erste Punktgewinn.
Im Oktober fielen zwei Ereignisse zusammen, die sich in ihrer Wirkung poten­zierten: der Cutufa-Skandal und das alljährliche Ritual der Beförderungen im Heer.

CUTUFA

Die Aufklärung des Cutufa – Skandals steckt erst in den Anfängen, aber soviel ist bisher klar: etwa 1986 gründeten Offiziere des Heeres und Agenten des Geheim­dienstes CNI eine illegale Finanzgesellschaft, in der überwiegend Mili­tärs, aber auch Zivilisten ihre Gelder anlegten. Die Zinsen lagen mit 10-15 % monatlich erheb­lich über den banküblichen Zinsen; das “Gesellschaftskapital” soll in der Hoch-Zeit bis zu 50 Millionen US-Dollar betragen haben. Der Kreis der Anleger und Schuldner soll nach Aussagen des inzwischen inhaftierten Ex-Hauptmanns Castro ca. tausend Personen umfassen, davon 150 Offiziere aller Ränge.
Anlaß zur Aufdeckung der geheimen Gesellschaft war die Ermordung eines Mit­glieds im Juli vor einem Jahr. Angesichts der ungewissen Zukunft, 1989 standen die Präsidentschaftswahlen an, wollte der Restaurantbesitzer Sichel seine Einlage von ca. 1 Million. Dollar abziehen; das wurde ihm nach wiederholtem Drängen zugesagt. Die Rückzahlung aber hätte die Cutufa in finanzielle Schwierigkeiten gebracht, so wurde er ermordet; Unterlagen, die seine Beteiligung an der Finanz­gesellschaft belegten, wurden von Geheimdienstagenten aus seinem Hause ent­fernt.
Der mit der Untersuchung des Mordes beauftragte Richter konnte (oder wollte ?) ein Jahr lang rein gar nichts herausfinden, obwohl die Witwe des Ermordeten von Beginn an die Geschäftspartner ihres Mannes verdächtigte. Erst im Septem­ber 1990 gelang der Durchbruch an die Öffentlichkeit, als ein Hauptmann wegen Scheckbetrugs verhaftet wurde. Seitdem haben sich die Ereignisse erheblich be­schleunigt; inzwischen sitzen zwei Offiziere in Haft, einer davon ist der Beteili­gung am Mord verdächtig; eine mit der Untersuchung des Scheckbetrugs beauf­tragte Richterin hat sich mysteriöserweise in ihrem Auto verbrannt.
Pinochet hatte zunächst einen General mit der internen Untersuchung beauftragt, inzwischen hat er zusätzlich seinen früheren obersten “Terroristenverfolger” ein­gesetzt, dem möglichen Mißbrauch staatlicher Gelder nachzuspüren; auf Antrag des Nationalen Verteidigungsrats wurde ein weiterer ziviler Richter zur Unter­suchung des Falles eingesetzt, bei dem selbst die rechte Zeitschrift “Qué pasa” auf das beliebte Bild von der Spitze des Eisbergs zurückgreift.
Offene Fragen bleiben in der Tat genug. Bis in welche militärischen Ränge rei­chen die Verwicklungen? Chilenische Zeitschriften verweisen immer wieder. Auf anonyme Militärs mit Erklärungen, daß Außenstehende sich keinen Begriff machen könnten, was intern los sei.
Sechzehn Offiziere wurden wegen ihrer Beteiligung an der illegalen Finanzge­sellschaft entlassen, weit über hundert andere erhielten Einträge in ihre Perso­nalakten, womit ihre militärische Karriere im nächsten Jahr beendet ist. Von den sechs im Herbst pensionierten Generälen werden unterschiedlich zwei bis vier Namen mit der Cutufa in Verbindung gebracht. Die im Heer entstandene Unruhe hat mit dem militärischen Ehrenkodex zu tun: Unter den Nicht-Beteilig­ten ist es die Betroffenheit über den Skandal selbst; unter den Beteiligten die Frage, ob noch aktive vermutlich beteiligte Generäle in gleicher Weise zur Ver­antwortung gezogen werden wie ihre Untergebenen.
Noch brisanter aber wird natürlich die Antwort auf die Frage, an was für Geschäften die Cutufa eigentlich verdiente. Angesichts der Gewinnspannen, d.h. den lukrativen Zinsen, können es keine legalen Geschäfte gewesen sein. Bislang kann die chilenische Presse dazu nur Spekulationen bieten, durch einige Indizien gestützt – und die weisen in Richtung Drogen- und illegaler Waffenhandel sowie Kreditgeschäfte zu Wucherzinsen. Sollte sich das bestätigen, stünden die Streit­kräfte und der Terrorapparat der CNI auch vor ihren rechten Sympathisanten ganz schön nackt da.(Die Luftwaffe übrigens, ohnehin agiler in der Phase des Übergangs zur Demokratie, gab auf Nachfrage zu verstehen, daß auch in ihren Reihen eine solche Anlagegesellschaft existiert habe, das Problem aber bereits intern bereinigt worden sei.

Pinochet reibt sich an seiner Verfassung wund

Zeitlich parallel zu dieser Korruptionsaffaire bereitete Pinochet den jährlichen Höhepunkt militärischer Rituale vor – die Verkündung über Beförderungen und Abschiede der Kameraden; in dieser Entscheidungsgewalt über militärische Kar­rieren sehen chilenische Kommentatoren den eigentlichen internen Machtfaktor eines Oberkommandierenden. Die vermeintliche Sternstunde wurde zur bisher schwersten politischen Niederlage Pinochets, denn Aylwin akzeptierte nur vier der vorgeschlagenen sechs Beförderungen vom Brigadegeneral zum Generalma­jor; den dritten und vierten Vorschlag nach der hierarchischen Rangordnung akzeptierte er nicht.
Auf dem Spiel stand natürlich das Prinzip, daß das Militär der demokratisch ge­wählten Exekutive untersteht. Die Verfassung, unter Pinochet geschneidert, gibt eindeutig dem Präsidenten das letzte Wort; Pinochet stützte sich auf ein ebenfalls unter ihm erlassenes Gesetz, das Beförderungen nach Dienstalter zwingend vor­schreibt. Die Controlaría, die die Entscheidung auf ihre formale Richtigkeit zu überprüfen hatte, gab nach tagelangem Grübeln der Regierung Recht. Aylwin hatte einen entscheidenden politischen Sieg über Pinochet errungen, das Prinzip der Unterordnung der Militärs unter die Regierung in diesem Präzedenzfall durchgesetzt.
Selbstverständlich durfte die Regierung Aylwin in dieser Grundsatzfrage keine Schwäche zeigen, und sie war entschlossen, diesen Konflikt für sich zu entschei­den: Sie war vorbereitet, sich der Verfassung entsprechend gegen eine eventuelle negative Entscheidung der Controlaría mit der Unterschrift aller ihrer Minister unter das Dekret durchzusetzen.
Der Verlauf des Konfliktes zeigte darüber hinaus, wie isoliert Pinochet außerhalb des Heeres ist. Luftwaffe und Marine hatten es vorgezogen, ihre Beförderungs­vorschläge vorab mit dem Verteidigungsminister abzuklären – entsprechend rei­bungslos nach außen verlief die Angelegenheit.
Aber auch die politische Rechte hatte wenig Lust, in diesem Fall weiter auf Pino­chet zu setzen. Sie hat keine Initiative ergriffen, die widersprüchliche Gesetzes­lage vor dem Verfassungsgericht klären zu lassen. Noch sitzt übrigens Pinochet mit dem Schwarzen Peter in der Hand, was er mit den nicht-beförderten Generälen anfängt. Da sie von Dienstjüngeren übersprungen wurden, müßten sie nach ihrem Ehrenkodex ausscheiden. Davon ist bislang wider Erwarten keine Rede; für Parera hat Pinochet nur den Posten eines Militär-Attachés gefunden.

Vorsicht -nicht stürzen

Es sind eigene Fehler, die Pinochet in diese Lage manövriert haben. Sein Anspruch, die Streitkräfte unter einer zivilen Regierung als autonom behaupten zu können, ist schmerzhaft gedämpft worden. Angesichts der bekannt werden­den Korruption in Heer und Sicherheitsapparat stellt sich natürlich die Frage nach seiner Verantwortung für “seine” Leute, und sie wird innerhalb wie außer­halb des Heeres gestellt.
Der Konflikt um die Beförderungen zeigt darüber hinaus, daß innerhalb der Streitkräfte bedingungslose Loyalität gegenüber diesem Oberkommandierenden sich nicht mehr auszahlt – beide von Aylwin nicht beförderten Generäle waren entschiedene Pinochet- Leute; gegen Parera, den Kommandanten der wichtigen Garnison Santiago, sprach nicht nur das Pfeifkonzert der vom Militär geladenen Gäste gegen Aylwin auf der Septemberparade, sondern der Affront, daß er selbst bei der Parade dem Präsidenten (also Aylwin) den militärischen Gruß verweigert hatte. Der andere nicht beförderte General, Ramón Castro, war Pinochet bei einem anrüchigen Grundstücksgeschäft hilfreich.
In dieser Situation setzt die Regierung Aylwin auf Erosion der Position Pino­chets, nicht auf Sturz. Von offizieller Seite kein Wort über Rücktritt !Von Regie­rungsseite kein Schritt, der als Angriff verstanden werden könnte und möglicher­weise dazu führt, daß sich die Reihen der Kameraden noch einmal schließen.
Trotzdem finden sich Spekulationen in der chilenischen Presse, daß Pinochet spätestens im August nächsten Jahres “ehrenvoll” verabschiedet werde. Wie das ?
Voraussichtlich im Januar wird die zur Untersuchung der Menschenrechtsverlet­zungen eingesetzte Kommission “Wahrheit und Versöhnung” ihren Bericht an Aylwin übergeben; der zunächst bis November befristete Auftrag wurde verlän­gert. Obwohl die Kommission ihr Schweigegelöbnis bisher offenbar strikt einge­halten hat, also bislang keinerlei Details bekannt wurden, sollen auch rechte Mit­glieder der Kommission über die Ergebnisse betroffen sein. Welchen Gebrauch Aylwin von dem Bericht macht, ist ihm überlassen; der Auftrag an die Kommis­sion lautete nur, schwere Fälle von Menschenrechtsverletzungen (mit Todes­folge) zu dokumentieren. Aber es liegt in der Natur dieser Sache, daß sie politi­sche Konsequenzen wird haben müssen. Der Zeitpunkt dafür dürfte März sein, wenn das politische Leben nach dem chilenischen Sommer wieder beginnt. Aber auch dann ist kaum mit einem unter öffentlichem Druck erzwungenen Rücktritt zu rechnen.
Die von Aylwin bisher verfolgte Politik läßt eher vermuten, daß dann – während der Bericht über die Menschenrechtsverletzungen unter dem Tisch des Präsi­denten liegt – mit dem Ex-Diktator sein baldiger Abgang ausgehandelt wird.

Kasten:

Ein Stimmungsbericht aus Chile

Mit der neuen Regierung hat es natürlich schon Veränderungen im Land ge­geben, z.B., was die Pressefreiheit, die Kultur, die Repressionskräfte betrifft, aber was die wirtschaftliche Lage und die Menschenrechte angeht, passiert in Chile überhaupt nichts.
Wirtschaftlich geht es weiter mit dem ultraliberalen Modell der Chicago-Boys, und das führt – zusammen mit der Ölkrise – zu einer Beschleunigung der In­flation. In den letzten beiden Monaten stieg sie um 8%. Das bedeutet, daß sich die sozialen Probleme verschärfen, daß die Menschen enttäuscht sind, aber sie haben Angst, laut zu protestieren, denn die Miltärregierung könnte ja wieder kommen. Die Regierung nutzt das aus und betreibt eine gegen die Armen ge­richtete Wirtschaftspolitik.
Davon profitiert die Rechte. Z.B. hat die UDI (ultrarechte Partei) jetzt Organi­sationen für Wohnungslose, Arbeitslose usw. aufgebaut, das bedeutet, daß dieselben, die keinerlei Änderung wollen, gleichzeitig die Unzufriedenheit des Volkes ausnützen für ihre Zwecke.
Was die Menschenrechte angeht, ist die Situation schlimm: Es werden weiter­hin überall in Chile laufend Leichen gefunden, viele Menschen klagen an, aber die Regierung tut nichts, damit die Schuldigen bestraft werden, vielmehr verhandelt sie weiter mit ihnen, mit der Rechten und mit Pinochet, dem Ver­antwortlichen für diese ganzen Schrecken. Es ist paradox, daß es immer noch politische Gefangene gibt, und die CNI (Geheimdienst) gleichzeitig weiter agieren kann. Die christdemokratischen Abgeordneten haben sogar, gemein­sam mit der Rechten, der CNI Haushaltsmittel für das nächste Jahr zugeteilt. Es gibt weiterhin politische Verbrechen und Entführungen. Kein einziger Fol­terer oder Mörder ist im Gefängnis oder vor Gericht.
Das alles, und dazu noch die Krise aller linken Parteien (PC, Sozialisten, Christliche Linke, MIR), das ist sehr entmutigend und ich frage mich jetzt oft, ob es sich wirklich gelohnt hat, so viele Jahre lang hart zu arbeiten und zu kämpfen, und alles andere zu vernachlässigen, um dazu beizutragen, eine ge­rechtere Gesellschaft aufzubauen.
R.S.

Nach dem Ende der Staatssolidarität

Eindrücke von der sowjetischen Solibewegung

Terra incognita – für die Internationalismusbewegung ist die Sowjetunion ein weißer Fleck. Im Mutterland der zur Staatsdoktrin erhobenen Solidarität wird diese in vielen Gruppen, sei es unabhängig oder auch im Rahmen von Staat und Partei, neu gedacht und neu diskutiert.
Wir versuchen, in Form von Gedächtnisprotokollen die Gespräche zusammenzufassen, die wir in der Sowjetunion mit in der Solidaritätsarbeit Engagierten führen konnten. Dabei werden unterschiedliche Ansätze und Schwerpunkte für internationalistische Arbeit in der Sowjetunion deutlich. Die persönlichen Einschätzungen können wohl nicht die ganze Breite der in der Sowjetunion stattfindenden Diskussionen wiedergeben. Trotzdem vermitteln sie einen Eindruck von den Schwierigkeiten, die für die Solidaritätsarbeit in der gegenwärtigen Situation des Landes bestehen. Vor dem Hintergrund der sehr speziellen sowjetischen Geschichte des Umgangs mit internationaler Solidarität bekommen Daten wie Kuba 1959, Chile 1970 und 1973, sowie Nicaragua 1979 entsprechend der jeweiligen internen Situation in der Sowjetunion eine ungewohnt andere Bedeutung.
‘In den letzten fünf Jahren hat es eine Menge von neuen Gruppen gegeben, jetzt, wo es nicht mehr so gefährlich ist, sich unabhängig zu organisieren. Das bezieht sich nicht nur auf die Internationalismusarbeit. Zum Beispiel gibt es anarchistische Gruppen, die ihre eigene Zeitung auf der Straße legal verkaufen können. Aber das Erscheinen der Zeitung hängt auch wiederum davon ab, ob es Papier gibt und ob das Blatt irgendwo vervielfältigt werden kann. Die Probleme sind weniger politisch und mehr wirtschaftlich geworden. Trotz aller Schwierigkeiten gibt es viele internationalistische Gruppen, die sich vor allem mit Lateinamerika beschäftigen. Dieser Schwerpunkt hat historische Gründe. Die meisten Revolutionen und Putsche, die hier zum Thema wurden, fanden in Lateinamerika statt, und so wurden die meisten von uns mit der Lateinamerikaarbeit politisch sozialisiert. Es gibt eine Vielzahl von Solidaritätsgruppen in der ganzen Sowjetunion. Sie organisieren sich nicht nur regional, sondern veranstalten auch einmal im Jahr ein unionsweites Treffen. So etwas geht natürlich bisher oft nur über die Finanzierung von mehr oder weniger mit Staat und Partei verbundenen Solidaritätskomitees oder Jugendorganisationen. Aber warum auch nicht. Es gibt in diesen Komitees nicht nur Bürokraten, sondern auch viele Leute, die wirklich internationalistische Arbeit machen wollen. Wir wollen für die unterschiedlichsten Meinungen offen sein und nicht schon wieder ideologische Barrieren aufbauen. Unser Verhältnis zum Staat ist da pragmatisch. In unserer Gruppe gibt es zum Beispiel Leute aus allen Altersgruppen und aus den unterschiedlichsten Berufen. Unsere politischen Meinungen gehen oft sehr weit auseinander, aber das ist gut so. Wir wollen diese Unterschiede ausdiskutieren. Für die Öffentlichkeit haben wir verschiedene Aktionsformen. Wir versuchen, Informationen zu verbreiten. Das kann z.B. auch so aussehen, daß Kinder in ihren Gruppen Bilder über El Salvador malen, die dann verkauft werden.
Ein zentraler Punkt für die Internationalismusarbeit in der Sowjetunion ist die interne Solidarität. Das scheint ein Widerspruch zu sein, aber wir sehen jetzt, wie international dieses Land ist. Überall gibt es Bewegungen in den einzelnen Republiken zur Erlangung der Unabhängigkeit. Wir sehen, daß sie oft einen übertrieben nationalistischen Charakter haben, aber es geht darum, jetzt innerhalb der Sowjetunion eine Form des friedlichen Zusammenlebens der verschiedenen Völker zu finden. Die Beschäftigung mit Lateinamerika, Afrika und Asien ist damit nicht abgehakt, aber die interne Solidarität muß jetzt unser Schwerpunkt sein.’

‘Solidarität war früher selbstverständlich’

‘Die Geschichte der internationalen Solidarität in der Sowjetunion läßt sich, vielleicht ähnlich wie in westlichen Ländern, an den Diskussionen um aktuell stattfindende revolutionäre Prozesse in Ländern der “Dritten Welt” festmachen. Ein erster Höhepunkt war die kubanische Revolution. Die Solidarität mit Kuba erreichte einen großen Teil der sowjetischen Bevölkerung. Nicht nur speziell am Thema interessierte Menschen hatten damit zu tun, sondern viele Betriebe, viele Kolchosen legten Sonderschichten für die Unterstützung der Revolution ein. Die Informationen über Kuba kamen aus den staatlich gelenkten Medien und von den Kubanern, die zum Studium in die Sowjetunion kamen. Die Bereitstellung von Studienstipendien war ja einer der schnell eingeführten, konkreten Beiträge der Sowjetunion zur Solidarität mit den Revolutionen in Ländern der Dritten Welt. Die Studenten waren natürlich sorgfältig ausgewählt, aber das war eigentlich kein Problem damals, weil sie für die Menschen in der Sowjetunion Repräsentanten einer erfolgreichen Revolution und damit Helden waren. Auch nach dem Sieg Allendes in Chile und noch mehr nach dem Putsch Pinochets gab es eine sehr starke Mobilisierung für das chilenische Volk. Anfang der siebziger Jahre war die Situation noch ähnlich wie zu Zeiten der kubanischen Revolution. Die Solidarität war selbstverständlich, und die Bereitschaft der Sowjetbürger zum Einsatz für die Unidad Popular war hoch. Gerade die jungen Leute glaubten an den Sozialismus. Bis in die 80er Jahre fanden schon deswegen kaum kontroverse Diskussionen statt, weil wir völlig auf die Informationen der staatlich kontrollierten Medien angewiesen waren. Es gab nicht wie in der DDR ein westliches Fernsehprogramm und den wenigstens beschränkten Zugang zur westlichen Presse, aus der wir andere Informationen hätten beziehen können. Genauso konnte kaum über persönliche Kontakte zu Leuten aus anderen Ländern der Horizont erweitert werden. Es kam ja kaum jemand zu Besuch. Es war auch nur wenigen Privilegierten möglich, etwa mit einer Brigade nach Nicaragua zu fahren. Als 1979 in Nicaragua die Revolution stattfand, waren diese Bedingungen noch dieselben, aber aus anderen Gründen hatte sich die Einstellung der Bevölkerung verändert. Das revolutionäre Nicaragua, das für mich der größte Hoffungsträger war, wurde von der Masse der Bevölkerung nicht mehr wie früher als “gute” Revolution akzeptiert, weil das Mißtrauen insgesamt gegenüber staatlicher Propaganda viel größer geworden war. Und nun fehlten wiederum die Möglichkeiten, unabhängige Informationen zu bekommen. Die staatlichen Informationen konnten noch so wahr sein, sie waren diskreditiert. Natürlich gab es immer noch viele Solidaritätsaktionen, aber die Bereitschaft etwa zur Mehrarbeit für die Unterstützung Nicaraguas war nicht mehr so groß.’

‘Wir müssen von unten anfangen…’

‘Heute ist Kuba für uns kein Modell mehr. Die Aggression der USA war immer das Argument gewesen, alles, was in Kuba passierte, zu rechtfertigen. Die kubanischen Studenten diskutieren jetzt offen darüber und haben seit der Perestroika auch andere Informationen. Viele haben jetzt Schwierigkeiten mit ihrer Regierung, weil sie von der Perestroika “infiziert” sind, und wollen vorläufig nicht nach Kuba zurück. Wegen der wirtschaftlichen Situation kürzt die sowjetische Regierung die Stipendien der ausländischen Studenten. Jetzt müssen sie ihr Studium in Devisen bezahlen. Unter diesen Bedingungen werden nicht viele bleiben können. Auch von denen, die jetzt hier sind, werden viele gehen müssen, weil ihre Visa nach Abschluß des Studiums nicht verlängert werden.
In der Sowjetunion haben die Leute jetzt andere Sorgen. Was in Lateinamerika passiert, ist in der öffentlichen Meinung kein Thema mehr. Hier geht es jetzt um die nationale Emanzipation der Ukraine von der Sowjetunion, von der Fremdbestimmung durch Moskau. Ich meine, wir müssen von unten anfangen und versuchen, den Menschen hier über die lateinamerikanische Kultur den Kontinent näherzubringen. Vielleicht kann über Musik, Theater und Kunst erreicht werden, daß zum ersten Mal Lateinamerika für die Sowjetbürger greifbar und erlebbar wird. Denn daß wir nicht dorthinreisen können, ist zwar nicht mehr durch Reiseverbote, aber aus finanziellen Gründen klar.’

Journalistenverfolgung – wie gehabt!

Es war wie in alten Zeiten. Juan Pablo Cárdenas saß morgens in seinem Büro in der Redaktion der Zeitschrift análisis, als jemand nach ihm verlangte, weil angeblich eines seiner Kinder verunglückt war. Doch der vermeintliche Sanitäter entpuppte sich sogleich als Geheimpolizist, der zudem nicht alleine kam, son­dern von zwei weiteren Agenten begleitet war. Einmal in den Redaktionsräumen der Oppositionszeitschrift, erklärten die drei Eindringlinge Cárdenas für verhaf­tet – ein Haftbefehl lag wie üblich nicht vor. Und so kam der Chefredakteur von análisis mal wieder ins Gefängnis, wo er schon so viele Monate seines Lebens zugebracht hatte.
Gerade vor dem Hintergrund der langen Liste von Gerichtsverfahren, Festnah­men, Haftstrafen und Einschüchterungsversuchen gegen seinen mutigen und entschiedenen Journalismus – vor einem Jahr wurde sogar sein Wohnhaus in einem Dorf südlich von Santiago von den berühmten “Unbekannten” in Brand gesteckt, zum zweiten Mal übrigens – erschiene die erneute Verhaftung von Cár­denas auf den ersten Blick nicht weiter verwunderlich. Aber…, hat sich in Chile in der Zwischenzeit nicht einiges verändert?. Gibt es dort nicht eine demokra­tisch gewählte Regierung unter dem Christdemokraten Patricio Aylwin? “Wie in den besten Zeiten der Diktatur” sagen die Spötter, “Problem des Übergangs (zur Demokratie)” sagen andere. Denn neben Juan Pablo Cárdenas wurden auch der Chefredakteur der kommunistischen Zeitung El Siglo, Juan Andrés Lagos, und ein Kommentarist von análisis, Alfonso Stephens, verhaftet. Allen wird im Prinzip dieselbe Anklage zur Last gelegt: Verunglimpfung der Streitkräfte. Auch das ist ein alter Hut aus der Zeit der Diktatur. Es bleibt festzustellen, daß die Prozesse gegen Journalisten der verschiedenen oppositionellen Medien seit der Amtsübernahme von Patricio Aylwin keineswegs abgenommen haben, son­dern genau das Gegenteil ist der Fall. Denn praktisch jede Enthüllung über Men­schenrechtsverletzungen in der Zeit der Pinochet-Herrschaft zieht nahezu un­weigerlich eine Strafanzeige des Heeres wegen Beleidigung der Streitkräfte nach sich.
Die gespaltene Haltung der christdemokratisch dominierten Regierung in dieser Frage. Bei der Eröffnung der 4. lateinamerikanischen Pressekonferenz in Santiago verließ Innenminister Enrique Krauss (DC) abrupt den Saal, als er zwei der Jour­nalisten erblickte, gegen die bereits Haftbefehle vorlagen: Juan Pablo Cárdenas und den Herausgeber von El Siglo, Guillermo Torres. Diese Geste mutet vor allem deshalb eher skurril an, weil der Minister andererseits seine moralische Unterstützung für die verfolgten Pressevertreter zum Ausdruck gebracht hatte. Fortsetzung des Altbekannten? Oder doch nur Probleme des Übergangs?
Eins hat sich mittlerweile auf jeden Fall geändert: Die Verfolgung der so oft beschworenen “Verunglimpfung der Streitkräfte” fällt ab sofort nicht mehr in die Verantwortung der Militärjustiz, sondern wird nun vor ordentlichen Gerichten verhandelt. Das heißt in erster Linie auch, daß in diesen Fällen keine Haftbefehle mehr von einem Militärstaatsanwalt ausgestellt und die Festnahmen nicht von mehr oder weniger geheimdienstlichen Armeeangehörigen durchgeführt werden dürften. Ob sich das Heer damit zufrieden geben wird, bleibt abzuwarten.
Und noch etwas Erfreuliches: Juan Pablo Cárdenas, der u.a. wegen eines abge­druckten Leserbriefs (!) verhaftet worden war, ist wieder frei. Sein Kollege Lagos von El Siglo sitzt allerdings noch im Gefängnis, der Kommentarist Stephens ebenfalls. Der Übergang zur Demokratie erfordert eben bestimmte Opfer…

Indígena-Proteste am 12. Oktober

Der spanische König Juan Carlos verlas die Einladung zur Konferenz im “Institut für Iberoamerikanische Kooperation” in Madrid. Sie sei der geeignete Augenblick für die iberoamerikanische Gemeinschaft, so der spanische Monarch, um sich ihrer selbst bewußt zu werden. Die Konferenz solle der Welt ihren Willen zeigen, für eine brüderliche und solidarische Gemeinschaft zusammenzuarbeiten.
Nach letzten Informationen haben alle lateinamerikanischen Staatsoberhäupter – Fidel Castro eingeschlossen – die Einladung angenommen.
Währenddessen protestierten in Chile hunderte von Indígenas gegen die Gedenkfeiern am 12.Oktober. An diesem “Tag der Rasse” (día de la raza) wird in ganz Amerika die Landung von Kolumbus gefeiert. Vor dem Monument des Indígena-Führers Caupolican in Santiago de Chile hielt José Painiqueo, Vorsit­zender der “Metropolitanen Koordination der Indígena-Völker” eine Rede, in der er die Demonstration als Gedenkveranstaltung für den “Jahrestag der Invasion und die Ankunft der Fremden in unserem Vaterland” bezeichnete.
Die bolivianischen Indígenas kündigten im Zentrum von La Paz die Bildung einer eigenen Regierung für 1992 an.
In Ecuador fanden mehrere Demonstrationen gegen “den schlecht benannten Tag der Rasse” statt. “Dieses Ereignis bedeutete die Ausrottung unserer Sitten”, hieß es.
Im Südosten von Venezuela forderte der “Nationale Indio-Rat” (CNI), daß sich die lateinamerikanischen Nationen als multi-ethnische Staaten definieren sollten. Vor RepräsentantInnen von 21 venezolanischen ethnischen Gemeinschaften sagte ein Vertreter des CNI: “Wir Indígena-Völker weisen die “Entdeckung Amerikas”, den “Tag der Rasse” und die “Begegnung der Völker” als kolonialistische Begriffe zurück. Sie sollen nur den Völkermord verschleiern, der auf den 12. Oktober 1492 folgte.” Der CNI forderte eine kritische Bilanz des 500sten Jahrestages, Land- und Besitztitel für die Indígena-Gemeinschaften und einen Schutz vor dem Verkauf von Indígena-Land, um die Auslandsschulden zu bezahlen.
Panamaische Indígenas demonstrierten vor der spanischen Botschaft in ihrem Land und verlangten von ihrer Regierung, sich nicht an den Vorbereitungen zu den Feiern zum 500sten Jahrestag der Eroberung zu beteiligen.
In San Salvador versammelten sich Indígenas der Nahuatl. Vor der Statue der spanischen Königin Isabel erklärten sie den 12.Oktober zum “Tag der Trauer, an dem wir unsere Identität verloren haben”.
In San José, der Hauptstadt Costa Ricas, marschierten protestierende Indígenas durch die Stadt, während Staatspräsident Calderón ein Geschenk vor der Statue der Königin Isabel niederlegte. “Wir verlangen Personalausweise, jetzt sofort, wir sind Kinder dieses Landes”, forderten die costaricanischen Indígenas.
In Guatemala, einem der Länder mit dem höchsten Indígena-Anteil der Bevölke­rung, gaben verschiedene Volksorganisationen Stellungnahmen zum 12. Oktober heraus. Die Union der LandarbeiterInnen des Südens (UCS) forderte, die Mittel, die für diese “dummen Feiern” 1992 vorgesehen sind, für die medizinische Ver­sorgung und für Lebensmittel für die Armen auszugeben. Mit der Invasion 1492, so erklärte die UCS, habe das Leiden und die Ausbeutung der Indígena-Bevölke­rung begonnen, die bis heute andauere. Noch krasser drückte es das “Komitee für die Einheit der LandarbeiterInnen” (CUC) aus. Die Gewerkschaft verglich die von den Spaniern errichteten Kolonialdörfer mit den vom guatemaltekischen Heer geschaffenen militärisch kontrollierten Modelldörfern. “Die Spanier haben uns das Land geraubt und es an jene vergeben, die heute die Großgrundbesitzer sind”, erklärte das CUC und forderte die Rückgabe des Bodens an die rechtmäßi­gen BesitzerInnen. Die LandarbeiterInnengewerkschaft erklärte, die unterdrück­ten Völker und die armen Bevölkerungsschichten müßten sich zusammenschlie­ßen, um den offiziellen Feiern eine alternative Kampagne “500 Jahre Volks- und Indígena-Widerstand” entgegenzusetzen. Als Vorbild für den Widerstand empfahl CUC das Beispiel der geheimen Widerstandsdörfer in Guatemala. In diesen versteckten Bergdörfern leben Menschen, die vor der Repression des Hee­res geflüchtet sind.
Schon am Tage zuvor hatten auf ihrem vierten Treffen die lateinamerikanischen Indígena-Parlamentarier in Guatemala-Stadt eine Abschlußerklärung veröffent­licht. Darin kündigten sie jeglicher Form von Diskriminierung, Ausbeutung und politischer Vernichtung ihrer Völker den Kampf an und forderten die Regierun­gen ihrer Länder auf, ihre Sprache, ihre Kultur und die Institutionalisierung von Indígena-Regierungen zu unterstützen. Sie wiesen die offiziellen Feiern des Fünften Jahrhunderts der spanischen Eroberung zurück, da sie “beleidigend sind und die Indígena-Kultur zudem als touristisches Spektakel präsentiert werden soll”.
In den USA wurde folgende Erklärung des Cherokee-Indianers Jan Elliot publi­ziert: “Kolumbus war ein Mörder. Seine Landung am 12. Oktober 1492 löste einen der größten Verluste an Menschenleben in der ganzen Geschichte aus.”

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