Octavio Paz: Großer Poet -großer – Verwandlungskünstler

Zum Literaturnobelpreis von Octavio Paz

Wird von Octavio Paz gesprochen ist es sehr schwierig, sich der Auseinandersetzung zu entziehen. Eine Persönlichkeit der universellen Kultur und der mexikanischen Politik -und nicht nur deren -,hat er von sich ein so vorteilhaftes Bild geschaffen, das gleichzeitig entgegengesetzt zu seinem wirklichen Ich ist. Octavio Paz kann stolz darauf sein, der am meisten ausgezeichnete Autor der spanischen Sprache zu sein. Zu seinem Unglück kann er aber nicht die höchste Anerkennung bekommen, die es für einen Schriftsteller gibt: die der Leserinnen, die neben seinem Talent die intellektuelle Aufrichtigkeit am meisten schätzen. Paz verkauft sich in der literarischen Welt als marginalisierter Schriftsteller, Rebell, Verteidiger der Freiheit und als unabhängiger Kritiker der Macht und der totalitären Systeme. Eine Gegenüberstellung mit seinem öffentlichen Auftreten, das ihn mit den Mächtigen in Mexiko und der Welt verbindet würde er schwer bestehen. Sag’mir, von wem Du deine Preise bekommst und ich sage Dir, zu welcher Sorte Intellektuellen du gehörst.
Können wir wirklich an die intellektuelle Unabhängigkeit Octavio Paz’ glauben, wenn die mexikanische Regierung ihm alle nur möglichen mexikanischen Preise verliehen hat und sogar noch extra für ihn einen erfunden hat? Wo bleibt da die angebliche Marginalisierung des Poeten, wenn allgemein bekannt ist, daß er mindestens seit den 40-er Jahren dem mexikanischen Staat gedient hat, dessen Kritiker er zu sein behauptet? Paz stand im diplomatischen Dienst und arbeitete in verschiedenen akademischen Institutionen und kulturellen Projekten, die von der Regierung finanziert wurden. So arbeitete er auch an der jüngsten Ausstellung über mexikanische Kunst in New York mit, die das Ansehen der Regierung Salinas de Gortari stärken soll.
Wer kann Octavio Paz bescheinigen, er sei ein kämpferischer und kritischer Intellektueller, wenn er gleichzeitig als Botschafter Mexikos in Indien bis zur allerletzten Minute gewartet hat, um sein Amt seinem Chef Díaz Ordaz zur Verfügung zu stellen, als dieser im Oktober 1968 auf tausende Studierende und BürgerInnen schießen ließ ? In Wirklichkeit war der Rückzug des Botschafters Octavio Paz eine günstige Gelegenheit, um sein internationales Ansehen zu retten. Dieser Rücktritt sollte von da an die Grundlage für die Legende seiner Aufrichtigkeit und Tapferkeit bilden. Dieser Tage erinnern uns die Biographen von O.Paz (siehe auch FAZ, Süddeutsche Zeitung und der Spiegel) mit auffälliger Eindringlichkeit daran, daß Paz aus einer revolutionären und sozial kämpferischen Familie stammt: Sohn eines Kampfgefährten des Bauernhelden Zapatas und Enkel eines Parteigängers Benito Suárez’, der gegen die französische Intervention in den sechziger Jahren des 19.Jahrhunderts gekämpft hat. Ausserdem bereichert eine Tatsache seine besondere Abstammung, die aus der Familie Paz ein Beispiel der geglückten Synthese des Mexikanischen machen: Die Mischung des spanischen.und des indianischen Blutes. Durch diesen Verweis auf seine Abstammung wird der Versuch unternommen, aus Octavio Paz genau die passende Persönlichkeit zumachen und ihn im Namen ganz Mexicos sprechen zu lassen (El laberinto de la soledad). Auch wenn in Wirklichkeit seine Verbindung zu den Armen und der indigenen Bevölkerung Mexikos sich in nichts von der der Mächtigen unterscheidet. Hier kann sehr gut das mexikanische Sprichwort gebraucht werden: Sag’ mir, womit du prahlst und ich sage dir, was dir fehlt.

Paz, ein Mann des Volkes?

Und außerhalb Mexikos? Wissen Sie, wer den Poeten prämiert hat?. Einige nordamerikanische Universitäten, an denen die neuen Eliten Mexikos ausgebildet werden. Die “neuen Mexikaner” von Harvard, Oxford, Yale und Stanford. Sie “modernisieren” Mexiko, in dem sie es verschulden und zu einem Netto-Kapital-exporteur machen. Auch unterstützen sie die “Modernität” und unterzeichen einen Freihandelsvertrag mit den USA, um Mexiko in ein riesiges touristisches Territorium mit genügend billigen und kontrollierbaren Arbeitskräften zu verwandeln.
Eigentümlicherweise haben die Reise von Paz immer offiziellen oder halboffiziellen Charakter und kamen von Regierungen oder Institutionen, konservativen oder offen rechten Gruppen. Dies spricht für sich …. Mit der Rede, die er beim Erhalt des deutschen Buchhandelspreises gehalten hat, stellte sich Paz als Vorkämpfer der Demokratien auf dieser Welt dar und fiel über das “totalitäre” sandinistische Regime her, von dem er sofortige “freie Wahlen” verlangte. Und von da aus ging es weiter gegen Kuba. Um 1987 herum befand sich Paz an der Spitze einer internationalen Gruppe von Intellektuellen, die von dem “Diktator” Fidel Castro ein Plebiszit verlangte, gleich demjenigen von Pinochet in Chile, indem das kubanische Volk seinen “freien” Willen gegenüber dem kommunistischen Regime hätte äußern sollen. Zufall oder nicht, Paz wurde zu einer wichtigen Stimme der nordamerikanischen Politik in Lateinamerika, deren Ziel es ist, mit den von den USA nicht geschätzten Systemen aufzuräumen
Den Eifer, den Octavio Paz an den Tag legt, wenn er saubere, authentische und demokratische Wahlen in Nicaragua, Kuba und in den Ländern des sozialistischen Ostens verlangt, verschwindet sofort, und er wird zum wahren Verwandlungskünstler, wenn es um die gleiche Sache in seinem eigenen Land geht. Logisch: es ist einfacher, den Splitter in seines Mitmenschens Auge zu sehen, als den Balken vor seinem eigenen Auge.
Wie rechtfertigt man jemanden, der das politische System Mexikos einmal als Diktatur bezeichnete, das politische Monopol der P.RI.,den Mangel an Demokratie kritisierte und gleichzeitig, wie durch einen Taschenspielertrick sich über die politischen Rechte des mexikanischen Volkes lustig macht (Posdata). Jetzt ist er Fürsprecher des Modernisierungsprojekts der P.R.I.. Er verteidigt die Legitimität des Regimes von Salinas de Gortari, das durch Wahlbetrug an die Macht gekommen ist,und seine zentrale Stütze während des sich daraus ergebenden Wahlkonflikts in dem Einsatz der Armee und in der Effizienz der polizeilichen Unterdrückung von Dissidenten findet. Das Talent und die Feder Octavio Paz dienen nun dazu, daß das salinistische Regime die Glaubwürdigkeit erhält, die es so nötig braucht.
Können wir uns wirklich einen so “naiven” Paz vorstellen …?O.Paz von einem System verführt dessen Mechanismen der Kooptation (Integration von Oppositionellen) und Korruption -die auch Teil der Preise für Intellektuelle ausmachen -wie er selber ganz klar beschrieben hat (El Ogro Filantripico). Wie funktioniert das mentale Labyrinth dieses Menschen mit den vielen Masken, Gewinner des Nobelpreises durch Täuschung?
Endlich waren die Bemühungen von Octavio Paz nicht umsonst: er genießt Privelegien und Konzessionen. Er verfügt über die Zeitschrift “Vuelta”, die von der Regierung finanziert wird; das Fernsehmonopol (‘Televisa”) stellt ihm eine gute Anzahl an Stunden zur Verfügung und organisiert für ihn Ehrungen. O.Paz hat sich in das unbestrittene Haupt der mexikanischen Kulturbürokratie verwandelt. Viele Privilegien, die er selbst in seiner Kritik an der mexikanischen Bürokratie beschrieben und kritisiert hat,gibt er selbst nicht auf.(El Ogro Filantripico)
Noch eine Täuschung und ich beende diesen Kommentar: Paz hat die Modernität und die Modernisierungsprojekte der mexikanischen Eliten kritisiert. Er hat geschrieben, daß diese Projekte Mexiko die Unabhängigkeit gekostet haben und den Verlust der nationalen Identität (E1 Ogro Filantípico, Corriente Alterna); aber heute tritt er mit einer anderen Maske auf die politische Bühne. Vielleicht seine wirkliche und authentische Maske -die des Legitimators und Ideologen der Modernisierung durch Salinas. Der Poet hat mit seiner Musik den Ohren der Mächtigen Mexikos und der Welt geschmeichelt. Seine Dienste wurden belohnt. Der einzige Preis, der ihm fehlte, der am meisten gewünschte von allen, schmückt jetzt sein gekröntes Haupt. Mit seinen 76 Jahren kann sich Octavio nun in Paz (Frieden) zurücklehnen.

Integrationsfieber

“Die große ökonomische Lehre diese Jahrhunderts ist, daß der Protektionismus den Fortschritt verhindert und daß der freie Markt Wachstum und Entwicklung gewährleistet”, meinte George Bush, Präsident des Landes, welches laut einer OECD*-Studie die meisten und höchsten Handelsbarrieren in der Welt aufweist. Doch dieser neoliberale Exkurs war nur die Einleitung seiner “historischen” Rede am 27. Juni, mit der er eine “neue” Politik der USA gegenüber Lateinamerika ankündigte.
Eine gesamt-amerikanische Freihandelszone schlug er seinen NachbarInnen vor, damit “Amerika der erste völlig freie und demokratische Kontinent wird”. Drei Standbeine hat diese “Bush-Initiative”: 1) Reduzierung eines Teiles der lateiname­rikanischen Schulden bei der US-Regierung 2) Schaffung eines “Entwicklungs­fonds” zur Förderung der Auslands-Investitionen in Lateiname­rika und 3) völlige Liberalisierung des Handels in der Region, also Abbau aller Zölle und Handels­schranken (Freihandelszone). So weit, so einfach. Interessant wird es bei den Zahlen: Die US-Regierungsforderungen gegenüber Lateiname­rika betragen 12 Mrd. US-Dollar. Das sind 2,4 % der Gesamtschuld Lateinameri­kas, die nach neuesten Zahlen 437 Mrd. US-Dollar beträgt. Und davon sollen 7 Mrd. erlassen werden… Der “Entwicklungstopf” für Lateinamerika soll sage und schreibe 300 Millionen US-Dollar für die ersten fünf Jahre zur Verfügung haben, wobei sich die USA, Japan und die EG in gleichem Maße beteiligen sollen, so zumindest Bush’s Idee. Zum Vergleich: Die zur Investitionsförderung und für Strukturmaß­nahmen geschaffene Entwicklungsbank für Osteuropa hat ein Volumen von 12 Mrd. US-Dollar für fünf Jahre. Allein im Jahr 1989 hat Latein­amerika 25 Mrd. US-Dollar durch Zinszahlungen ins Ausland transferiert, daß sind 84 mal mehr als der vorgesehene Betrag für den Lateinamerika-Topf. Dar­überhinaus betonte der US-Regierungschef, daß natürlich nur die Länder in den “Genuß” der Freihan­delszone kommen könnten, die sich vorher einer Liberalisie­rungskur mit Unter­stützung des IWF unterziehen.
Dennoch ist der Optimismus der Regierungen Lateinamerikas bei ihren Reaktio­nen auf den Bush-Plan kaum zu bremsen: “Ein guter Schritt vorwärts”, kommen­tierte der argentinische Präsident Menem. “Der Plan ist geeignet, die Entwick­lung und die Lösung der Probleme Lateinamerikas ein gutes Stück voranzubrin­gen”, sagte ein Sprecher der UNO-Wirtschaftsorganisation für Lateinamerika CEPAL und Chiles Finanzminister meint gar: “Lateinamerika kann mit Optimis­mus in die Zukunft sehen”.

Schwindende Hegemonialmacht bekommt Torschlußpanik

Der eigentliche Grund für diesen US-Vorschlag dürfte weniger im Interesse an einer Entwicklung des Subkontinents als vielmehr an den Problemen im eigenen Landes liegen. Das chronische Außenhandelsdefizit der USA braucht eine Lö­sung, soll die Wirtschaft nicht noch weiter den Bach runter gehen. Für die Löcher in der Handelsbilanz werden natürlich Absatzmärkte gesucht. Die USA sind für Lateinamerika immer noch der wichtigste Handelspartner. 1989 gingen 52% der lateinamerikanischen Exporte in die Vereinigten Staaten, während 59% der Importe Lateinamerikas aus den USA kamen. Dennoch ist die US-Handelsbilanz mit Lateinamerika extrem negativ: in den letzten fünf Jahren hat sich ein Saldo von 48 Mrd. US-Dollar angesammelt. Es geht den USA also offensichtlich nicht darum mehr zu kaufen, sondern mehr zu verkaufen. “Neue Märkte für US-Pro­dukte und mehr Arbeit für nordamerikanische Arbeiter” verspricht der Präsident dann auch unverhüllt seinen Landleuten. Gleichzeitig könnte es dem Weißen Haus darum gehen, durch eine gezielte Intervention die lateinamerikanischen Integrationsbemühungen zu unterminieren und zu vereinnahmen, zielt der Plan doch hauptsächlich auf Länder, die sich zum einen bereits einer weitgehenden Liberalisierung unterzogen haben und zum anderen eine regionale Integration anstreben.
Die USA geraten darüberhinaus angesichts der sich anbahnenden wirtschaftli­chen Machtkonzentrationen in Europa und Asien in Zugzwang , wollen sie ihre Hegemonie in der Welt nicht gänzlich verlieren. Eine Rückbesinnung auf den traditionellen “Hinterhof” und eine noch stärkere wirtschaftliche Dominierung des Kontinents könnten dieses “Defizit” ausgleichen. So ist es nicht verwunder­lich, daß Bush diese Initiative wenige Tage vor dem Weltwirtschaftsgipfel in Houston (G7) aus dem Hut zauberte. Stärke zeigen! Doch die dort Anwesenden waren zwar nicht angetan von Bushs Plan, lamentierten allerdings weniger über eine ökonomisch gewendete Monroe-Doktrin, als daß sie vielmehr sofort ihre Chancen, in Amerika einen größeren Absatzmarkt zu finden, kalkulierten.

“Die Zukunft Lateinamerikas liegt im freien Markt…”

In Lateinamerika findet Bush mit seiner Initiative einen guten Nährboden vor. Die Länder stehen wirtschaftlich fast alle mit dem Rücken zur Wand. Nicht, daß sie, wie noch in den 70er Jahren durch Militärdiktaturen zur neolibearlen Anpas­sung á la IWF gezwungen werden müßten: Heute führen die demokratisch ge­wählten Präsidenten genau dieselbe Wirtschaftspolitik durch wie ihre Vorgänger in Uniform. Die Wirtschaftspläne von Collar, Menem Fujimori und wie sie alle heißen gleichen sich dabei fast aufs Haar. “Es ist eine neue Art von Führung ent­standen, die sich auf das Mandat des Volkes berufen kann und versteht, daß die Zukunft Lateinamerikas in der freien Regierung und im freien Markt liegt”, zollt Bush dieser Entwicklung Beifall.
Was dieser “freie Markt” für die Mehrheit der Bevölkerung bedeutet, wird am tagtäglich wachsenden Elend in der Region deutlich. Mehr als ein Drittel der städtischen und fast zwei Drittel der ländlichen Bevölkerung des Kontinents le­ben unterhalb der Armutsgrenze. Die Verelendung in Lateinamerika hat gerade in den 80er Jahren, in denen in fast allen Ländern die neoliberale Politik trium­phierte erschreckende Ausmaße angenommen und zeigt sich in allen Bereichen des sozialen Lebens. Doch diese Bevölkerungsmehrheit wird natürlich nicht ge­fragt, wenn von “Wachstum und Entwicklung dank des freien Marktes” gespro­chen wird.
Nach den ersten euphorischen Reaktionen aus Lateinamerika wurde der Bush-Plan nun erst einmal zur weiteren Begutachtung an verschiedene Ausschüsse und Organisationen übergeben, die den genauen Inhalt prüfen sollen. SELA (Sístema Económico Latinoamericano, lateinamerikanisches Wirtschaftssystem) legte Anfang September einen ersten Zwischenbericht vor, in dem zwar der Wandel in der US-Politik gegenüber Lateinamerika von der militärischen zur ökonomischen Motivation begrüßt, der Plan an sich allerdings eher skeptisch betrachtet und kritisiert wird. Der Versuch der USA, einen neuen Block zu bil­den, stelle einen “Handel zwischen sehr ungleichen Partnern dar” und könne leicht in ein Instrument zum einseitigen Nutzen der USA umgewandelt werden. Dennoch sehen die Wirtschaftsexperten in dem Plan eine Möglichkeit, IWF und andere Gläubigerinstitutionen zu beeinflussen und zu einer Reduzierung der Auslandsschulden zu bewegen.

…und die Vergangenheit auch

Anders urteilte die lateinamerikanische Linke auf ihrem Anfang Juli in Sao Paulo abgehaltenen Kongress: “Der Bush-Plan zielt darauf ab, unsere nationalen Öko­nomien für den unlauteren und ungleichen Wettbewerb mit dem ökonomischen Hegemonieapparat komplett zu öffnen, uns ihrer Hegemonie völlig zu unterwer­fen und unsere produktiven Strukturen zu zerstören, indem er uns in eine Frei­handelszone integriert, organisiert und bestimmt von den nordamerikanischen Interessen.” So wahr wie einfach, aber aus dem Dilemma der wirtschaftlichen Krise hilft ein solches Anprangern des US-Imperialismus auch nicht heraus.
Kubas Staatschef Fidel Castro setzt noch einen drauf: Eine gemeinsame Verteidi­gungsfront gegen diesen imperialistischen Angriff der USA solle gebildet wer­den, um eine noch größere Penetration durch die nordamerikanischen Multis zu verhindern.
Die ist allerdings auch ohne Freihandel schon viel zu groß: 7 Mrd. US-Dollar Reingewinn zogen die US-amerikanischen Multis allein 1989 aus dem strangu­lierten Kontinent. Das Lamentieren darüber, daß der Plan lediglich dazu dient, die lateinamerikanischen Märkte für ein besseres Vordringen der US-Industrie zu öffnen, hilft ebenfalls wenig weiter, denn die Märkte der meißten Länder sind be­reits in den letzten Jahren auch ohne die Freihandelszone durch den Druck des IWF sperangelweit aufgerissen worden. Klar ist allerdings, daß die nationalen lateinamerikanischen Industrien in der Konkurrenz mit den US-Produkten in den wenigsten Fällen eine Chance haben. Die USA versuchen eher Lateinamerika weiterhin auf die Rolle des billigen Rohstofflieferanten für die eigene Industrie und als Absatzmarkt für ihre Produkte festzuschreiben. “In den letzten zehn Jah­ren haben die USA einen Großteil ihrer traditionellen Märkte verloren”, gesteht dann auch der US-Finanzsekretär David Mulford freimütig ein.

Menem und Collor heben ab

Zehn Tage nach der Offensive des US-Präsidenten warteten der argentinische Präsident Carlos Menem und sein brasilianischer Amtskollege Collor de Mello mit einem etwas kleiner dimensionierten Plan auf: Schaffung eines gemeinsamen argentinisch-brasilianischen Marktes zum 1.1.1995 “In dieser Zeit der Krisen ist es gut, daß wir große Dinge tun können”, kommentierte Menem schlicht und ergrei­fend. Großes haben die beiden Regierungen vor, wollen sie bis Anfang 1995 alle Voraussetzungen für die Einführung eines gemeinsamen Marktes nach dem Vorbild der EG geschaffen haben.
Die Idee fußt auf den Integrationsprotokollen der vorhergehenden Präsidenten Alfonsín und Sarney, die 1986 einen ökonomischen Integrationspakt unterzeich­neten, der die Grundlage für die spätere Einführung eines gemeinsamen Marktes bilden sollte. Im Januar 1987 wurden dann 20 Integrationsprotokolle unterzeich­net, die die wirtschaftliche Zusammenarbeit für einzelne Sektoren regelten. Im April des darauffolgenden Jahres legten sie den Termin für einen gemeinsamen Markt auf das Jahr 2000 fest. Mit der wirtschaftlichen Integration der beiden Ländern tat man sich allerdings in den letzten Jahren erheblich schwerer, als er­wartet wurde. So stieg der Handel zwischen beiden Ländern seit 1985 zwar um 81% an, besitzt allerdings am jeweiligen Gesamtexport der beiden Länder gemes­sen immer noch eine sehr geringe Bedeutung.
Collor und Menem wollen nun dieser Integration mehr Schubkraft verleihen und zogen den Termin für den gemeinsamen Markt kurzerhand fünf Jahre vor. Gleichzeitig soll eine Komission, die seit Anfang September tagt, alle Weichen für die einzelnen Wirtschaftsbereiche und Problemfelder stellen und konkrete Maß­nahmen ausarbeiten, um den Termin einzuhalten. Mit der Unterzeichnung dieses Plans wurden außerdem die bestehenden Integrationsprotokolle um mehrer hundert Produkte ausgeweitet, so daß eine Erhöhung des Handelsvolumens um 530 Millionen Dollar allein in diesem Jahr ermöglicht werden soll. Gleichzeitig wurden die Quoten für die bisherigen Produkte erhöht und die Schaffung von bi-nationalen Unternehmen soll forciert werden.
Bezüglich des Bush-Plans merkten die beiden Staatschefs an, daß “die Integration des Cono Sur mit der Bush-Initiative vereinbar ist” und schufen eine gemeinsame Komission zur Beratung über den Plan. Das lateinamerikanische Vorhaben ist allerdings weitgehender, sieht es doch nicht nur Freihandel zwischen den Län­dern, sondern eben einen gemeinsamen Markt, mit gemeinsamer ökonomischer Außenpolitik, einer gemeinsamen Währung und dem vereinigten Auftreten der Delegationen im Ausland vor, um eine bessere internationale Verhandlungspo­sition zu erlangen. In der Uruguay-Runde des Gatt (Allgemeines Zoll- und Han­delsabkommen), welche den weltweiten Freihandel regeln will, werden die bei­den Länder auf jeden Fall gemeinsam ihre Interessen vertreten, die sich in erster Linie gegen den Protektionismus der EG bezüglich der Agrargüter richten.

Die “Kleinen” dürfen auch mitmachen

Ignoriert wurde bei diesen Verhandlungen allerdings der Juniorpartner Uru­guay, welcher in den vorangegangenen Integrationsbemühungen immer mitein­geschlossen war. So mokierte der uruguayische Präsident Lacalle noch am Tag des Treffens Collor-Menem, daß er nicht einmal eingeladen worden sei. Auf einer Sitzung Anfang August wurden dann allerdings nicht nur Uruguay, sondern gleich auch noch Chile mit in das Vorhaben einbezogen. Paraguay wurde als fünfter im Bunde direkt aufgefordert, sich an dem “Integrationsprogramm 1995” zu beteiligen. In einer zweiten Phase sollen dann nach der Schaffung des gemein­samen Marktes zwischen diesen fünf Ländern alle anderen Staaten der “Lateinamerikanischen Integrations-Organisation” (ALADI) miteinbezogen wer­den, also Mexiko, Kolumbien, Ecuador, Peru und Venezuela. Doch dieses Wunschdenken lenkt davon ab, daß der eigentliche Kern, die Integration im Cono Sur durchaus realistische Verwirklichungschancen hat. Der gemeinsame Markt von Chile, Uruguay, Argentinien und Brasilien wäre die Heimat von zwei Dritteln der Bevölkerung Lateinamerikas mit einem jährlichen Wirtschaftsvolu­men von 280 Mrd. US-Dollar.
Voraussetzung für all diese Zukunftspläne dürfte allerdings die Bewältigung der derzeitigen Krise in Brasilien und Argentinien sein. Denn einen gemeinsamen Markt der Inflation und Armut wollen die Herren wohl kaum. Anscheinend hilft eben kein neoliberales Konzept, um die Inflation der Länder unter Kontrolle zu bekommen, sondern stürzt sie vielmehr gleichzeitig in eine tiefe Rezession.

Kasten:

Fußball-Integration

“Wir Brasilianer haben im Endspiel der Fußball-WM für Argentinien geschrien, denn die lateinamerikanische Integration vollzieht sich auch über die Zuneigung – und die Leidenschaft für den Fußball ist eine der gemeinsamen Sachen unserer beiden Länder.” (Collor de Mello) Na dann können wir ja auf eine gemeinsame argentinisch-brasilianische Auswahl bei der nächsten oder übernächsten WM gespannt sein.

Widerstand im Weltsystem

Fünf Aufsätze von A.G.Frank und M.Fuentes haben die HerausgeberInnen Hannes Hofbauer und Andrea Komlosy in diesem im Promedia-Verlag 1990 erschienen Buch zusammengefaßt. Abschluß bildet ein Gespräch der AutorInnen mit den HerausgeberInnen.
“Politische Ironien in der Weltwirtschaft” (A.G.Frank) gibt eine Bewertung wirtschaftswissenschaftlicher Theorien in den letzten beiden Jahrhunderten. Im folgenden Aufsatz “Amerikanisches Roulette im globalen Kasino” folgt eine Analyse der aktuellen Weltwirtschaftskrise und deren Entwicklung. Im Kapitel “Die Unterentwicklung der Entwicklung” nehmen die AutorInnen Abschied von der von A.G.Frank mitentwickelten Dependenztheorie. Es folgt eine Darstellung der Frauenbewegung in Chile ab der Regierung Frei bis in die Gegenwart (M.Fuentes). Dann der Aufsatz “Von der Revolution zur sozialen Bewegung” mit einer Bewertung der außerparlamentarischen Bewegungen in den Metropolen und den Ländern der “Dritten Welt”. Den Abschluß des Buches bildet das Gespräch mit den HerausgeberInnen “Die Erde ist rund”, in dem die Leitgedanken der zusammengefaßten Aufsätze vertieft und hinterfragt werden.
Das Buch kreist um zwei zentrale Fragen: Die Möglichkeiten der Länder der “Dritten Welt” zur Entwicklung im kapitalistisch dominierten Weltwirtschaftssystem, wobei der Zusammenbruch des realen Sozialismus von A.G.Frank im Ansatz seiner Gedankenführung teilweise vorweggenommen wird. Zum zweiten in der Rolle der sozialen Bewegungen als nicht institutioneller und nicht parteilicher Träger von Politik, denen beide AutorInnen eine zentrale Rolle in der gesellschaftlichen Entwicklung zuweisen.
Frank revidiert explizit seine Thesen von 1962, daß “ein Ausbrechen aus der Unterentwicklung…nur außerhalb des kapitalistischen Systems und nur nach einer Befreiung durch eine sozialistische Revolution möglich (ist)”. Die Revision dieser These wird an der historischen Entwicklung verdeutlicht und belegt, eine Alternative dagegen nicht aufgezeigt. Die AutorInnen setzen jedoch gerade auch für die “Dritte Welt” große Hoffnungen in die Entwicklung der sozialen Bewegungen in den Metropolen und der “Dritten Welt”.
Ausgehend von den Thesen, daß Staat und Staatsmacht (und gleichermaßen traditionell parteimäßig organisierte Gruppen) immer weniger in der Lage sind eine Vielzahl von sozialen und individuellen Anliegen befriedigend zu lösen (S.192) und daß politische Entscheidungen so gut wie keinen Einfluß auf ökonomische Prozesse haben. (S.200f.), wird der zentrale Gedanke von der Bedeutung von der Bedeutung der sozialen Bewegungen als Trägerinnen des gesellschaftlichen Fortschritts erarbeitet. Dabei entwickelte – sicherlich umstrittene – Thesen sind, daß es bei den Bewegungen im positiven Sinn um den eingeschlagenen Weg und nicht das Ziel auf das zugesteuert wird geht (S.210). Weiterhin wird ein Zusammenhang zwischen dem Auf- und Abschwung der sozialen Bewegungen auf der einen und den Weltwirtschaftszyklen auf der anderen Seite behauptet.
Das Buch wirft die zentralen Fragen der entwicklungstheoretischen Diskussion auf, die durch das Gespräch zwischen HerausgeberInnen und AutorInnen – ein interessanter Ansatz dieses Buches – sinnvoll akzentuiert und herausgearbeitet werden.

Hannes Hofbauer/Andrea Komlosy: André Gunder Frank/Marta Fuentes Frank – WIDERSTAND IM WELTSYSTEM, Promedia-Verlag, Wien 1990

Zukunftswerkstatt Kontinent – Volkserziehung in Lateinamerika

Die Autoren und Herausgeber Trudi und Heinz Schulze setzen sich schon seit Jahren mit dem Thema Volkserziehung auseinander und haben es in der Bundes­republik schon durch frühere Veröffentlichungen einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Mit diesem Band legen sie nun eine Sammlung von Beiträ­gen vor, die für jeden, der sich mit Fragen der Volksbildung und Basisorganisa­tionen in Lateinamerika auseinandersetzen will, unerläßlich ist. In erster Linie, weil hier grundlegende Erkenntnisse maßgeblicher Theoretiker der educación popular in übersichtlicher und leicht verständlicher Form zusammengefaßt wurden. In zweiter Linie, weil dabei einer kritischen Selbst-Hinterfragung ihrer theoretischen Aussagen und der Volksbildungs-Praxis der letzten zehn Jahre besondere Bedeutung beigemessen wurde.
Natürlich steht zunächst die Arbeit einer Persönlichkeit im Vordergrund: Die des Brasilianers Paulo Freire, der in verschiedenen Ländern des Kontinents sowie in Guinea Bissau lange Jahre hindurch Erfahrungen in der Volkserziehung sammelte. In den 70er Jahren wurden einige seiner Beiträge auch ins Deutsche übersetzt. “Erziehung als Praxis der Freiheit”, richtete sich als Kritik gegen die bestehenden hierarchisch organisierten und sozial diskriminierenden formalen Bildungssysteme. Auf der anderen Seite wies sie den Weg der Selbstorganisation und Bildung der armen Massen und damit den ihrer Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung.
Seit damals hat Freire seine Arbeit mehrfach kritisch hinterfragt und vor allem sein Konzept der “conscientizaçâo”, der Bewußtseinsbildung der Massen, revi­diert. Er selbst kann als Beispiel für jemand gelten, der immer wieder in der Pra­xis der Volkserziehung seine Rolle als Intellektueller hinterfragt hat, um seinem eigenen theoretischen Anspruch an einen “organischen Intellektuellen” gerecht werden zu können.
In mehreren Beiträgen wird das urspünglich gramscianische Konzept des organi­schen Intellektuellen aufgegriffen. So erläutert Carlos Nuñez, der in Mexico in der Volkserziehung tätig ist, die Aufgaben des Intellektuellen als Koordinator, Promoter und Erzieher. Als “externer Agent” kann er nicht, wie es die klassische Rolle des Lehrers zuweist, dozieren und fertige Inhalte vermitteln, sondern er muß in erster Linie versuchen, die Interessenorganisation zu stärken, damit sie die von ihr selbst gesetzten Ziele erreichen kann. Erste Voraussetzung dafür ist zuallererst, daß er die soziale Wirklichkeit seines Arbeitsfeldes tatsächlich kennt. Mit allen avantgardistischen Positionen, die bis heute noch oft linke Politik in Lateinamerika bestimmen, wird hier hart ins Gericht gegangen.
In einem Beitrag der argentinischen Bildungsforscherin Adriana Puiggros werden zudem nicht nur bürgerliche Bildungskonzeptionen, sondern gerade auch die lange Jahre aufrechterhaltene linke Kritik daran kritisiert. Wer Erzie­hung nur als ideologischen Staatsapparat definiert, verstellt gerade die Perspek­tive, sie auch als politisch-ideologische Kampfplattform begreifen zu können. Den gerade für das Freiresche Konzept der Volkserziehung wesentlichen Aspekt hat diese Kritik nie richtig berücksichtigt: Daß das Ziel von Volksbildung eben nicht nur Wissensvermittlung (z.B. die Alphabetisierung) oder Vermittlung ideologischer Inhalte sondern selbst schon der Weg der Befreiung ist. Im Beitrag von Gianotten und de Witt werden systematisch Schwächen der Volkserziehung und, wie sie sie in Anlehnung an Freires Begriff bezeichnen, linken Bankierser­ziehung aufgezeigt.

Aber das Buch bietet mehr als reine Theoriediskussion. Die Methodologie der Volkserziehung wird an Beispielen aus der Praxis erläutert. Die Beiträge von Oscar Jara, Koordinator des Mittelamerikanischen Zentrums für Volkserziehung (ALFORJA), und von Carlos Nuñez, der in Mexiko ebenfalls im Rahmen von ALFORJA arbeitet, verweisen auf die politische Dimension der educación popu­lar und auf ihre Bedeutung im Rahmen der Gemeinwesenarbeit. “Welche Risiken liegen in der Einflußnahme von gesellschaftlichen Institutionen wie Kirche, Par­teien und Gewerkschaften, vermittelt über die educación popular, auf die Basis­organisationen?”, ist eine der wesentlichen Fragen, der in weiteren Beiträgen nachgegangen wird.
In Länderberichten zu Brasilien und Chile werden auch historische Erfahrungen mit der Volkserziehung beleuchtet. Der Beitrag zu Kuba bietet dagegen bedauer­licherweise kaum einen Einblick in die reale Situation der Volkserziehung. Ein gerade heute spannendes Thema, wenn es darum geht festzustellen, welche Fort­schritte in 30 Jahren Revolution und sozialistischer Erziehung erzielt worden sind.
Beispiele aus der Praxis, von Frauenorganisationen, der Alphabetisierungsarbeit, Volkstheater bis zu Volksbüchereien runden die Beiträge zur “Zukunftswerkstatt Kontinent” ab.

Trudi und Heinz Schulze (Hg.): ZUKUNFTSWERKSTATT KONTINENT – Volkserziehung in Lateinamerika, München 1989. Erschienen in der Reihe: AG SPAK-Publikationen, Adlzereiterstr. 23, 8000 München 2. ISBN 3-923126-57-3.

Mi rebeldía es vivir – Leben ist meine Revolte

Dies ist der Titel einer Sammlung von 43 Gedichten, die Arinda Ojeda Aravena während ihrer Zeit als politische Gefangene im Gefängnis von Coronel/Chile geschrieben hat. Sie kehrte 1981 aus dem Exil zurück nach Chile und wurde wegen illegaler Einreise festgenommen und zu zwanzig Jahren und einem Tag Gefängnis verurteilt. Ende 1989 wurde sie freigelassen. Mehr als 3oo politische Häftlinge sitzen weiter.
Das Chilenisch-Französische Solidaritätskomitee in Grenoble, das sich jahrelang um ihre Freilassung bemühte, hat diese Gedichte 1988 unter dem Titel Vivre est ma révolte in einer zweisprachigen Ausgabe veröffentlicht (Editions La pensée sauvage).

Fünfzehn

Frau,
du bist eingeschlafen,
hast noch die Glattheit
des abgewaschenen Geschirrs gespürt
und den Geruch des Waschmittels.
Die Müdigkeit hat dich daran gehindert,
die Zärtlichkeit
des halb eingeschlafenen Mannes
an deiner Seite zu erwidern.
Die Müdigkeit, oder der Überdruß?
Das Weinen des Kleinsten
um Mitternacht
bringt zu bald
den Morgen
und wieder beginnt die Routine
von neuem.
Deine Mädchenträume
und die beinahe möglichen Träume
der Jugendlichen
sind schon verflogen
bei dieser Wirklichkeit:
Mutter-Frau
Ehefrau-Frau
Köchin-Frau
Wäscherin-Frau
aber
wann wirst du Frau sein?
Vor allem
Frau.

Quince

Mujer,
te has dormido sintiendo
aún la suavidad
de los platos lavados,
y el olor del detergente.
El cansancio te ha impedido
responder la caricia
del hombre semidormido
a tu lado.
El cansancio, ?o el hastío?
El llanto del pequeño
a medianoche
traerá demasiado pronto
la mañana,
y recomenzará otra vez
la rutina.
Tus sueños de niña,
y los casi posibles sueños
de adolescente
ya se habrán esfumado
con esta realidad:
Madre-mujer
Esposa-mujer
Cocinera-mujer
Lavandera-mujer…
pero,
?cuándo vas a ser mujer?
antes que todo:
mujer.

FRAUEN UND DEMOKRATIE

Das Thema Demokratie kann mühelos diskutiert werden, ohne daß die Geschlechterdifferenz thematisiert wird. Das heißt, daß eine Mehrheit des Volkes, das da herrschen soll, einfach übersehen wird: die Frauen.
Im alten Griechenland, dem “Mutterland der Demokratie” waren Frauen selbstverständlich vom Wahlrecht ausgeschlossen. Logisch, denn Demokratie verstand Mann als Herrschaft der Armen (vgl. Artikel in dieser Nummer).
Inzwischen ist Mann moderner und 1äßt die Frauen mitwählen, ohne daß sich an der Machtverteilung viel geändert hätte: Männer sitzen auf den höheren Posten, egal ob in Regierungen, Gewerkschaften, Konzernen, Oppositionsbewegungen oder Guerillas. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Und die Frauen? Sie bewältigen die verschiedenen Alltage, baden Wirtschaftsprogramrne aus und Subventionsstreichungen, definieren ihre gesellschaftliche Position über die “ihrer” Männer, sorgen fürs Familienwohl und lassen sich be-herrschen, egal, in welcher Regierungsform. So scheint es.
Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Alltagsformen und gesellschaftliche Einflußmöglichkeiten, Lebensentwürfe und Wertvorstellungen von und für Frauen sind weltweit sehr unterschiedlich. So ist die Feststellung platt, daß Frauen immer den kürzeren ziehen. Außerdem stellt sich die Frage an der Mittäterinnenschaft der Frauen. Doch so etwas wie ein gemeinsamer Nenner der Frage, was Demokratisierung mit Frauen zu tun hat, ist folgende Tatsache: Frauen sind in verschiedenen Ländern und Situationen für die Organisation des Alltags wesentlich stärker zuständig als Männer. Und Frauen haben Mitbestimmung und Gleichberechtigung eben nicht nur in Parlamenten und Chefetagen zu erkämpfen, sondern auch und vor allem in ganz alltäglichen Situationen: zuhause, bei der Arbeit, bei Kindererziehung und im Bett. Ohne die Abschaffung von geschlechtlicher Diskriminierung wird es bei der Herrschaft der Männer bleiben.
Frauen und Demokratie in Lateinamerika -das heißt, sich die Frage nach den Alltagen von Frauen zu stellen. Es gibt nicht DEN oder DIE Alltage von Frauen. Und es muß auch bezweifelt werden, ob Alltagserfahrungen so ohne weiteres vergleichbar sind.
In diesem Heft möchten wir zwei extreme Erfahrungen von Frauen vorstellen, die sehr weit auseinanderliegen: Positionen von Prominentengattinnen auf der einen Seite und auf der anderen: Erfahrungen von Frauen, die gefoltert werden.
Prominentengattinnen stehen auf der Seite der gesellschaftlichen Macht, aber nicht um ihrer selbst willen, sondern als Frau von … Durch die gesellschaftlich geforderte Identifikation mit dem Mann geben sie oft -wie Mathilde Neruda -bereitwillig eigene Identitäten auf, die sich andere Frauen erkämpfen wollen, und sind somit deutliche Beispiele von Mittäterinnenschaft.
Ein Artikel und eine Rezension beschäftigen sich mit dem Thema der Prominentengattinnen, welche sonst bezeichnenderweise vorwiegend in “Frauen-” und Unterhaltungszeitschriften und nicht in so “politischen” Blättern wie den Lateinamerika Nachrichten thematisiert werden.
Frauen und Folter ist wohl ein absolutes Extrem von männlicher Gewalt, denn im Verhältnis zwischen Folterer und weiblichem Opfer erreicht das gesellschaftliche und private Herrschaftsverhältnis einen absoluten Punkt. Da Folter immer mit sexueller Erniedrigung verbunden ist, werden bei Frauen andere Lebenserfahrungen berührt, wenn sie gefoltert werden, als bei Männern. Wir meinen, daß der Zusammenhang zwischen Folter und Geschlecht thematisiert werden muß, auch wenn bei der Darstellung immer die Gefahr besteht, daß Artikel voyeuristisch gelesen werden können.
Zwischen den Extrempunkten bewegen sich die Themen von zwei weiteren Artikeln. Der eine beschäftigt sich mit Frauen und (sexueller) Gewalt in Chile, wobei dies genauso gut für jedes andere lateinamerikanische Land thematisiert werden könnte.
Ein weiterer Artikel beschäftigt sich ebenfalls mit Gewalt: mit der alltäglichen Gewalt im “demokratischen” Kolumbien. In diesem Artikel wird ganz besonders deutlich, daß Frauen stärker von der “Misere” betroffen sind als Männer, weil sie und nicht die Herren, den Alltag bewältigen müssen.

Demokratie und Marktwirtschaft – real existierend

Zwischen Liberalismus und Sozialismus

Den verbissenen Liberalen war die Demokratie schon im­mer unheimlich. Demo­kratie bedeutet zunächst einmal Po­litik. Demokraten maßen sich an, in das freie Leben der Gesellschaft und vor allem der Wirtschaft politisch einzugreifen. De­mokratie bedeutet weiter das Bemühen um kollektive Entscheidungen. Demo­kraten maßen sich an, sich über die freien Entscheidungen der Individuen und vor allem der Wirtschaftssub­jekte gemeinsam hinwegzu­setzen. Und schließlich bedeutet Demokratie eine Begün­stigung der Mehrheit. Demokraten dulden oder begrüßen es gar, daß den Interessen der zahlenmäßigen Mehrheit mehr Rech­nung getragen wird als der zahlungsfähigen Nachfrage.
Wo Demokratie überhaupt wirksam wird, greift sie in den freien Markt ein, setzt sie ihm Grenzen, reguliert sie ihn. Insofern erscheint eine funktionierende Demo­kratie den verbissenen Liberalen bereits als das Schlimmste, was sie sich vorstel­len können: als Sozialismus. Die Mili­tärputsche, die zwischen 1964 und 1976 in Südame­rika die demokrati­schen Regierungen Brasiliens, Boli­viens, Uruguays, Chiles und Argenti­niens hinwegfegten, wurden deshalb von ihnen als antisozia­listische “Befreiungsaktionen” begrüßt.
Nun steht Demokratie aber nicht umsonst unter dem So­zialismusverdacht. Was immer in den kapitalistischen Industriegesell­schaften an sozialem Fortschritt und so­zialer Gerechtigkeit gegen den Widerstand der Manche­sterkapitalisten und anderer erreicht worden ist, konnte nur in dem Maße erkämpft und gesichert werden, wie gleichzei­tig die Demokratie als politisches System erkämpft und ge­sichert wurde. Umverteilung zugunsten der zahlenmäßig starken, aber ökono­misch schwachen Schichten kann dauerhaft nur wirksam sein, wo aner­kannt ist, daß die Mehrheit das Recht hat, in einem kollektiven Ent­scheidungsprozeß ihre Interessen durch­zusetzen. Es ist daher auch nicht erstaunlich, daß die internatio­nale Arbeiterbewegung Demokratie immer als eine Voraussetzung für Sozialis­mus und diesen als die Vollendung der Demokratie begriffen hat.
Der real existierende Sozialismus osteuropäischer Prä­gung hat diesen Anspruch, Vollendung der Demokratie zu sein, durchaus aufrechterhalten. Aber er hat die Be­weisführung einfach umgedreht, um sich diesen Vorzug möglichst lange in die Tasche lügen zu können: Schon weil eine Entscheidung im vorgestellten Interesse oder auch nur im Namen einer strukturellen Mehrheit gefällt wurde, konnte sie nach dem dort geltenden Schema als sozialistisch und damit auch als demo­kratisch gelten. Schon weil das System den Kräften des Marktes keinen Raum ließ und alle Handlungen als bewußte politische Maßnahmen wer­tete und einem Plan unterordnete, glaubte es, den Anspruch auf Ver­wirklichung des Sozialismus und daraus dann auch noch den Anspruch auf Vollendung der Demokratie ab­leiten zu können. Es ist gerade diese An­maßung, die bei der ersten Befragung des wirklich exi­stierenden Volkswillens in den meisten Ländern Osteuro­pas zum Sturz des Systems geführt und die verheerende Diskreditierung des Begriffs So­zialismus offengelegt hat.

Marktwirtschaft – fast allenthalben

Spätestens seither hat sich das Generalthema der welt­weiten politisch-ökonomi­schen Debatte gründlich ver­schoben. Statt eines Kampfes zwi­schen den extremen Po­len eines Manchesterkapitalismus einerseits und einer alle Marktmechanismen ablehnenden Planwirtschaft gibt es, sieht man von Fidel Castros Kuba ab, nur noch die allgemeine Akzeptanz der Marktwirtschaft. Und noch mehr: Auch daß sie sozial und ökolo­gisch orientiert sein muß, ist von Alaska bis Kamtschatka, von Spitzber­gen bis Feuerland völlig unumstritten. Der Streit geht nur noch darum, was das denn nun im einzelnen heißen soll: sozial und ökolo­gisch orien­tiert.
Diese Debatte ist auf merkwürdige Weise einförmig geworden. Als ob die Welt bereits eine einzige geworden sei, dreht sie sich in allen Län­dern, ob reich, ob arm, ob stark, ob schwach, nur um die scheinbar überall gleiche Frage nach dem grundsätzlich richtigen Ausmaß der Regulierung oder Deregulierung. Dabei wird übersehen, daß in einem armen, unterentwickelten Land im Rahmen der Marktwirtschaft mit keinem Grad von Regulierung oder Deregulierung auch nur ein Bruch­teil dessen erreicht werden kann, was etwa in der Bundesrepublik Deutschland an sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Vernunft im Prinzip durchsetzbar und finanzierbar wäre.
Es gibt eben nicht eine einzige, weltweite Marktwirt­schaft, über deren soziale und ökologische Orientierung weltweit gestritten werden könnte, sondern es gibt viele verschiedene Marktwirtschaften, die mit den in­ternationalen Märkten für Waren, Dienstleistungen, Ka­pital, Technolo­gien und Arbeitskräfte in unterschiedli­chem Ausmaß verbunden sind. Welche Marktwirtschaften sich von welchen internationalen Märkten abkoppeln dür­fen – wie Westeuropa von den internationalen Märkten für Arbeitskräfte und für Agrarprodukte – und welche Marktwirtschaften von welchen internationalen Märkten ausgeschlossen werden – wie Ost­europa von bestimmten Technologien -, darüber entscheiden allein die Regie­rungen der reichsten Länder. Sie sind deshalb die ein­zigen, die innerhalb dieses halbfreien Weltmarktes noch über ein Minimum an Kontrolle über die Koordinaten der eigenen Marktwirtschaft verfügen und damit im Prinzip für eine soziale und ökologische Orientierung sorgen könnten.
In den lateinamerikanischen Ländern dagegen erleben wir die Markt­wirtschaft, wie sie real existiert. Die für ein auch nur normales Funk­tionieren der inneren Markt­kräfte erforderliche Kontrolle der äußeren Bedingungen ist den Regierun­gen unmöglich gemacht. Dem Fluchtkapi­tal können keine Grenzen gesetzt wer­den, ihm sind die Tore der inter­nationalen Banken weit geöffnet. Dagegen haben Arbeitslose keine Chance, als Wirtschaftsflücht­linge im reichen Ausland Auf­nahme zu finden. Um auch nur die Zinsen für die enormen Auslandsschulden bezah­len zu können, müssen unentwegt riesige Exportüber­schüsse erzielt wer­den, während die reichen Länder gleichzeitig den Import bestimmter Produkte erschweren oder verwehren. Intensive Ausbeutung aller men­schlichen und na­türlichen Ressourcen, das Gegenteil also von so­zialer und ökologischer Orientie­rung, werden zur Pflicht.
Jede auf Wachstum zielende wirtschaftspolitische Stra­tegie hat zur Vorausset­zung eine noch tiefere Verbeu­gung vor der Macht des in- und ausländischen Ka­pitals und einen Panzerschutz gegen das Aufkommen sozialer Ge­fühle. Und Wachstum ist nicht nur gefordert, weil man gern etwas umverteilen würde, son­dern schon, weil die Zinsen zu bezahlen sind. Politik beschränkt sich auf die Ein­sicht in die Notwendigkeit des Sachzwangs.

Warum eigentlich Demokratie?

Seit langem ist die Abhängigkeit Lateinamerikas von den Zentren des Weltkapi­talismus nicht so eindeutig und so sichtbar gewesen wie heute, aber noch nie wurde so we­nig davon gesprochen. Die demokratisch ge­wählten Präsi­denten und Regierungen des Subkontinents erheben den Anspruch und erwecken den Anschein unbezweifelbarer Souveränität – und beugen sich vor dem Sachzwang, frei­willig, aus Einsicht in die Notwendigkeit. Von Abhän­gigkeit zu sprechen gilt nicht mehr als fein.
Nun hat Demokratie ja eigentlich nicht die Funktion, den Sachzwang zu vollzie­hen, sondern dem Volkswillen Ausdruck zu verschaffen. Und wo der Sachzwang ganz ein­deutig den unmittelbaren Interessen der großen Mehrheit entgegensteht, wäre eigentlich die große Revolte zu er­warten, die sich dann auch gegen eine als ungenügend oder betrüge­risch empfundene Demokratie richten würde. Es fehlt auch nicht an Revolten. Die heftigen Unruhen in Caracas vom Februar 1989, die poli­tischen Proteste in Mexiko nach den letzten Präsidentschaftswahlen, die Gue­rilla-Bewegungen in Peru oder die Streiks in Managua vom Juli 1990 sind Anzei­chen einer großen sozialen und politischen Unzufrieden­heit bei breiten Bevölkerungs­schichten. Aber sie verdecken nicht den anhaltenden Trend eines breiten Siegeszugs der Demokratisierung in (fast) ganz Lateinamerika. In einem Kontinent, in dem vor zehn Jahren Generäle in den meisten Ländern das un­beschränkte Sagen hatten, ver­geht heute kaum ein Monat, in dem nicht irgendwo das Volk zur Wahl­urne gerufen wird. Wer hat daran ein Interesse?
Die Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaft­ler, die sich mit den De­mokratisierungsprozessen in La­teinamerika beschäftigt haben, haben sich in der Regel auf die Logik der inneren Entwicklung der Militärdikta­turen konzentriert und aus dem sich kumulierenden Legi­timationsdefizit die geradezu zwangsläu­fig sich erge­benden Demokrati­sierungstendenzen erklärt. Auf diese Art sind viele kluge und differen­zierende Analysen ent­standen, über denen aber die hi­storisch-soziale Bedeu­tung der Militärdiktaturen nicht verloren gehen darf: Zwi­schen den Demokratien vorher und hinterher klafft ein himmelweiter Unter­schied.
Die lateinamerikanischen Demokratien, die in den sech­ziger Jahren mit der Hilfe ausländischen Kapitals die Strategie der importsubstituieren­den Industrialisie­rung verfolgten und dann Anfang der siebziger Jahre zusammen mit anderen Ländern der Dritten Welt für die Schaffung ei­ner Neuen Weltwirtschaftsordnung eintraten, haben sich unter dem Druck der Wählerinnen und Wähler bemühen müssen, ihrer Marktwirt­schaft eine soziale Orientierung zu geben – von ökologi­scher Orientie­rung sprach damals noch niemand. Die sozialisierenden Tenden­zen der Demokratien bedrohten die freie Bewegung des Kapitals.
Die historisch-soziale Bedeutung der Militärdiktaturen – mit der Aus­nahme der peruanischen von Velasco Alva­rado 1968-1975 – bestand un­ter diesen Umständen in der Herstellung der vollen Bewegungsfreiheit des Kapitals, einer völligen oder doch – im Fall Brasilien – weitge­henden Integration in den Weltmarkt und der Ausrottung aller soziali­sierenden Tendenzen. Diese liberale Revo­lution, die zwei­fellos in Chile am gründlichsten be­trieben wurde, aber in den anderen Diktatu­ren kaum we­niger effektiv funktioniert hat, hat zum Ergebnis ge­habt, daß die neu erstandenen Demokratien auf einer völlig neuen Basis operie­ren, gewisser­maßen auf einer tabula rasa. Die heute real existierende Demokratie ba­siert auf der nackten Marktwirtschaft. Wo der Sach­zwang dieser real existierenden Marktwirtschaft regiert, be­darf es der Militärs nicht mehr.
Das hindert nun nicht, daß der Volkswille etwas anderes fordert: Die Präsident­schaftskandidaten Menem in Argen­tinien, Aylwin in Chile oder Fujimori in Peru haben sich in der letzten Zeit mit der Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit eindeutig gegen neoliberale Ri­valen durchgesetzt, die die herrschende Ungleich­heit auch noch zum Pro­gramm erhoben haben. Wenn man aber auch nur ihre er­sten Maßnah­men und Ankündigungen analy­siert, wird deutlich, mit welcher Konse­quenz sie sich dem Sachzwang der Marktgesetze gebeugt haben. Ihre wirt­schaftspolitischen Berater waren früher in der Re­gel die schärfsten Kritiker der neoliberalen Politik der Militärs. Heute dagegen warnen sie gelegentlich schon vor demagogischen Forderungen nach sozialer Ge­rechtigkeit wegen der damit verbundenen Gefahren für die frisch er­rungene Demokra­tie.
Und dennoch gibt es bei den Massen der Bevölkerung nur wenig wirkli­chen Überdruß. Sie wissen, daßie einzige reale Alternative die Dikta­tur ist, von der sie keine Verbesserungen ihrer wirtschaftlichen Situa­tion, wohl aber politische Unterdrückung und Menschenrechtsverlet­zungen erwarten können. Und man­che mögen immer noch hoffen, daß die innere Logik der Demokratie doch noch zu sozialer Gerechtigkeit oder zum Sozialismus führt.

Demokratie – Anmerkungen zur Geschichte eines Kampfbegriffes

Antike Aufladung

Die ersten systematischen und in der Ideengeschichte folgenreichsten Überle­gungen zum “Wesen der Demokratie” – so die antike Fragestellung – hat zwei­felsohne Aristoteles angestellt. Bei Aristoteles finden sich mehrere Versuche diese Frage zu lösen; der schlüssigste geht von der Fragestellung aus, daß es trotz viel­fältiger Erscheinungsformen im Grunde nur zwei Verfassungen gibt: Demokratie und Oligarchie. Denn die Bürgerschaft besteht zwar aus verschiedenen Teilen, aber diese Teile sind austauschbar: Ein Bauer kann auch Krieger sein und umge­kehrt, aber ein Armer kann nicht zugleich reich sein. Die grundlegende Unter­scheidung in einem Gemeinwesen ist also die zwischen Armen und Reichen. Ari­stoteles definiert nun Demokratie als Herrschaft der Vielen und Armen (Oligarchie demnach als Herrschaft der Wenigen und Reichen). Bei der Diskus­sion der Frage welches dieser beiden Kriterien, Zahl oder Vermögen, ausschlag­gebend ist, entscheidet sich Aristoteles für das Kriterium Vermögen. In der Pra­xis, so meint Aristoteles, spiele das zwar keine Rolle, denn die Vielen sind auch die Armen, aber systematisch ist es für ihn wichtig: Demokratie ist Herrschaft der Armen. Und mit Herrschaft meint Aristoteles tatsächlich die Ausübung von Herrschaft, nicht deren Regulierung.
Wahlen sind für Aristoteles ein aristokratisches Mittel, weil sie zwangsweise zur Auswahl der “Besten” führen. Das genuin demokratische Mittel ist das Los. In ei­ner Demokratie werden Ämter verlost.
Es ist klar, daß mit einem solchen Konzept der Demokratie kein Staat zu machen war (unter gegebenen Machtverhältnissen!), Aristoteles war natürlich ein Anti­demokrat, wie praktisch die gesamte griechische Elite antidemokratisch war. (Bei den Überlegungen Aristoteles sollte man/frau natürlich nicht vergessen, daß er nur über Frei-Bürger redet: Sklaven und Frauen – die Mehrheit der Bevölkerung also – sind von vornherein ausgeschlossen.)

Moderne Entlastungen

Für die gesamte Folgezeit, das Mittelalter und die frühe Neuzeit, war die antike Erfahrung und Theorie der Ausgangspunkt, wenn über Demokratie geredet wurde. Und es war ein negativer Ausgangspunkt. Die Demokratie wurde allge­mein als unmöglich verworfen, sie sei allenfalls in kleinen Stadtstaaten möglich, in denen sich die Bürger in Vollversammlungen treffen können. Demokratie war bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts ein durchweg negativ besetzter Begriff, De­mokrat ein Schimpfwort. Das lag aber auch daran, daß man/frau unter Demo­kratie in antiker Tradition die unmittelbare Herrschaftsausübung durch das Volk verstand. Charakteristisch sind einige Äußerungen Rousseaus, der im Grunde der Demokratie positiver gegenüberstand als die herrschende Meinung seiner Zeit:
“Die Wörter tun nichts zur Sache, wenn das Volk Oberhäupter hat, die für es re­gieren, ist es immer eine Aristokratie, welche Namen die Oberhäupter auch tra­gen.”
Daher:
“Wenn es ein Volk von Göttern gäbe, würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung paßt für Menschen nicht.”
Die Idee der Demokratie drohte an solchen Vollkommenheitsansprüchen zu scheitern. Die Rettung kam aus England. Etwa zur gleichen Zeit wie Rousseau jene Sätze geschrieben hat, taucht in England der Begriff der “repräsentativen Demokratie” auf, das heißt der Demokratie via Parlament. Diese Vorstellung von Demokratie hat einen beispiellosen, wenn auch schwierigen Siegeszug angetre­ten. Herzstück der Demokratie sind die freien, gleichen und allgemeinen Wahlen.
Ideengeschichtlich bedeutet das ein großes Umdeutungsmanöver. In einer “repräsentativen Demokratie” herrscht das Volk nicht, es wird beherrscht, wenn auch von gewählten Herrschern. Aristoteles und Jahrhunderte nacharistoteli­scher Tradition hätten eine solche Herrschaft als Aristokratie mit demokratischen Elementen bezeichnet. Die Idee der Demokratie tritt ihren Siegeszug an, nach­dem sie von weitreichenden Implikationen entlastet worden ist. Gegen alle Be­schönigungen haben die Elitetheoretiker dies auf den Begriff gebracht. Die Ver­treter des Elitedenkens, geschichtlich immer die schärfsten Kritiker der Demo­kratie, wurden in diesem Jahrhundert im angelsächsischen Bereich die herr­schenden Theoretiker der Demokratie.
Schumpeter hat 1942 vielleicht das einflußreichste Buch über Demokratie ge­schrieben. Dessen entscheidende Thesen sind:
1.Es regiert nicht das Volk, sondern die vom Volk gebilligte Regierung
2.Die Demokratie ist die Herrschaft des Politikers
3.Die Demokratie ist eine Methode, die darauf abzielt, eine starke entschei­dungs- und durchsetzungsfähige Regierung hervorzubringen.
Damit ist nicht nur das Volk von der Last zu herrschen befreit, sondern auch die Idee der Demokratie von allen inhaltlichen Implikationen wie Gerechtigkeit, Freiheit, Solidarität. Sie ist zu einer Methode zur Auswahl der Elie degradiert.
Solche Demokratietheorien waren natürlich nicht konkurrenzlos. Eine wichtige prinzipielle und einflußreiche Gegenposition, die an die klassische Tradition an­knüpft, ist die sogenannte Identitätstheorie. Demokratie ist demnach die “Identität von Regierung und Volk”. Ihre bedeutendsten Vertreter waren Georg Lukasz und Carl Schmitt. Lukasz Hauptwerk “Geschichte und Klassenbewußt­sein” war aber nur als Rechtfertigung des Stalinismus zu lesen und Carl Schmitt, von dem die gerade zitierte Definition stammt, war Vordenker und Bejubeler des Nationalsozialismus.
Zum Siegeszug der Elitetheoretiker hat sicherlich beigetragen, daß sich der iden­titätstheoretische Einwand durch die historischen Erfahrungen von Faschismus und Stalinismus gründlich diskreditiert hatte. So wurde nach dem zweiten Welt­krieg der reduzierte Demokratiebegriff auch für eine ernüchterte Linke als “kleineres Übel” tragbar. Der in den 20iger Jahren von rechten und linjken Intel­lektuellen gegeißelte und verspottete Parlamentarismus war hoffähig geworden.
Aber die Elitetheorie entspricht auch nicht den demokratischen Sonntagsreden und Selbststilisierungen der Demokraten. Die vielleicht am häufigsten zitierte Kurzformel über Demokratie ist die sogenannte Gettysburg-Formel von Abra­ham Lincoln: “Gouvernment of the people, by the people, for the people” Dieser Satz wurde 1949 weltweit zur Diskussion gestellt. Ergebnis:
– Es gab keine antidemokratischen Antworten
– Aber viele Antworten ließen nur den ersten Teil gelten, die beiden anderen Bestimmungen wurden als problematisch angesehen.
Hier erreichen wir einen wichtigen Punkt für alle populären Demokratiediskus­sionen: Die demokratische Praxis im Parlamentarismus entspricht dem sachlich-zynischen Blick der Elitetheorie: Gleichzeitig ist aber der Begriff Demokratie em­phatisch aufgeladen, an die Demokratie werden normative Erwartungen ge­knüpft und in deren Verfassungen in der Regel auch formuliert. Diese unrettbare Verknüpfung im Begriff macht es so schwer, aus “Demokratisierung” ein Kon­zept zu entwickeln.

Vor- und Nachteile der Demokratie

In wichtigen Ländern Lateinamerikas (Brasilien und Chile) war die Demokrati­sierung kein Erfolg von Volkskämpfen gegen die Elite, sondern ein bewußtes Konzept (von Teilen) der militärisch-politischen und ökonomischen Elite. Ihr Verlauf ist dann allerdings nicht mehr so recht kontrolliert worden. Dies wider­spricht der gängigen Annahme, die Demokratisierung sei der Elite in Kämpfen des Volkes abgerungen worden. Man/frau darf aber zwei Sachen nicht überse­hen:
1.Die USA sind das Produkt einer demokratischen Revolution, die Demokratie steht im Mittelpunkt der nationalen Identität. Die USA sind demokratisch und wollen daß andere Länder auch demokratisch sind.
2.Diktaturen haben große Schwiergikeiten bei der dauerhaften Sicherung bür­gerlicher Herrschaft.
Punkt eins wird oft übersehen, da sich die USA offensichtlich ganz anders ver­halten, sie unterstützen Putsche und schicken Folterspezialisten in die Welt. Aber das wird erklärbar, wenn wir uns an die Kernaussagen der Elitetheorie erinnern. Die demokratische Methode soll stabile Legitimation von Eliteherrschaft ermög­lichen. Demokratie ist eine Methode, die einem anderen Ziel dient, der Stabilität. Wenn also die Stabilität in einer konkreten historischen Situation bedroht ist, dann sind die USA auch bereit, zu putschen und zu foltern. Das tangiert aber gar nicht den Glauben, daß Demokratie prinzipiell die beste Methode zur Herr­schaftssicherung ist.
Damit sind wir bei Punkt zwei. Grundproblem von Diktaturen ist, Herrschaft dauerhaft zu legitimieren. Diktatorische Herrschaftslegitimationen neigen dazu, transistorisch zu sein, d.h. sie verzehren ihre eigene Basis. Beispiel: “Wir mußten die Macht ergreifen, um der kommunistischen Subversion Herr zu werden.” Nun – entweder beseitigt der Repressionsapparat die Subversion – und damit entfiel die Legitimationsgrundlage – oder er beseitigt sie nicht, und müßte damit sein Versagen zugeben. Diktatorische Regimes personalisieren daher oft die Legiti­mationsfrage, die personalisierten Diktaturen überleben, aber meist nicht die Person des Diktators (Franco). Diktaturen sind im höchsten Grad zusammen­bruchsgefährdet, wenn sie eine aktuelle Krise nicht lösen können (Argentinien, Griechenland).
Aus den strukturellen Problemen diktatorischer Herrschaft ergeben sich dtarke Argumente für Demokratien. Das sind freilich andere Demokratien, als ein emanzipatorisch aufgeladener Demokratiebegriff sie herbeisehnt. Im Prozeß der Demokratisierung fallen aber für eine gewisse Zeit Befreiungssehnsüchte und technologische Herrschaftskonzepte zusammen. Diese Aussage markiert, denke ich, das grundlegende Dilemma des Redens über Demokratisierung in Latein­amerika.
Zum Schluß noch der Hinweis auf einen Vorteil der Demokratie, der etwas aus dem Rahmen der bisherigen Betrachtung fällt. Die Demokratie hat nioch einen ganz anderen Vortreil: Sie ist unterhaltsamer als Diktaturen. Nur in demokrati­schen Systemen können wir erfahren, welch ein Lotterbube der Kerl ist, der US-amerikanischerVerteidigungsminister werden wollte, und was bei Menems alles los ist. Insbesondere Wahlen entwickeln einen hohen Unterhaltungswert. Sie sind quasi Pferderennen, in denen menschliche Schicksale entschieden werden.
Man sollte diesen Punkt angesichts der Gewalt des Fernsehens nicht unterschät­zen. Demokratische Politiker können Stars sein, Pinochet hat bei Wahlen keine Chance, ein Collor oder Menem schon. Es gibt den Verdacht, daß all dies eigent­lich das entscheidende ist, daß in “modernen” westlichen Demokratien die Politik vom Showgeschäft überwuchert ist, daß die großen püolitischen Auseinander­setzungen nur Teil einer gigantischen Simulation sind, während die Apparate , die Bürokratie, die Wirtschaft und die Technik längst von der Politik unbeein­flußt agieren. Die Politik kann diese Entscheidungen nur noch nachvollziehen und agonal in Scheinalternativen auflösen. Die Politik wäre dann eine Institution, die auf vollen Touren im Leerlauf läuft. In Lateinamerika ist die Demokratie in den letzten Jahren sehr ernst genommen worden. Sie hat ihre Würde aus dem Blut der Diktaturen bezogen. Ob das für die Zukunft reicht, ist fraglich.

Demokratie als Mittel der Aufstandbekämpfung

“Niemand würde auf die Idee kommen, eine Chauffeurs-Tochter demokra­tisch zu nennen, weil sie einen Millionär heiratet”
(Billy Wilder, “Sabrina”)

Die Verwirrung und Unsicherheit über den Begriff, die Kategorie DEMOKRATIE in unseren Köpfen ist umso größer, je mehr sich ein reduziertes Konzept von Demokratie in der veröffentlichten Meinung und der politischen Realität durchsetzt.
Die Rede ist von der Reduktion von Demokratie auf Wahlvorgänge – gerade eindrücklich vorgeführt am Beispiel der Liquidierung der “runden Tische” in der DDR zugunsten der Übernahnme eines Demokra­tiemodells, dessen Einseitigkeit und Begrenztheit zur zentralen GRÜNEN und nicht zur grünen Forderung nach Basisdemokratie geführt hat.
Die Beschränkung der Demokratie, der Volksherrschaft, der von unten nach oben laufenden Willensbildung auf einen von vielen Mechanismen, nämllich das Wählen, findet sich wieder im Modell der “beschränkten Demokratie”, das von der Neuen Rechten in den Verei­nigten Staaten vor allem für ihren lateinamerikanischen Hinterhof vorgeschlagenen und in die Tat umgesetzt worden ist. Einige Synonyme und Definitionen machen deutlich, um was es geht. Es wer­den abwechselnd die Begriffe “behütete Demokratie”, “kontrollierte Demokratie” gebraucht und wenn es in dem Dokument “Eine Strategie für Lateinamerika in den 90er Jahren” (Santa Fé) heißt “die Rückkehr der Demokratie war der größte Triumph der Reagan-Regierung in Lateinamerika.”, versteht mensch auch, was “verordnete Demokratie” heißt. Zehn Jahre Krieg in Nicaragua und El Salvador, die Invasionen in Grenada und Panama, das wachsende Massenelend und die beschleunigte ökologische Zerstörung in der Neu-Demokratie Brasilien, der Staatsterrorismus in Peru und Kolum­bien, ja selbst die (noch) prosperierende Volkswirtschaft und jüngst zurückgekehrte parlamentarische Demokratie in Chile, die noch ganz unter der Titulage der Militärs steht – illustrieren die “Triumphe” der Reagan-Ära.
In vielen Ländern Lateinamerikas hat es seit der Unabhängigkeit von Spanien und Portugal eine Abfolge von parlamentarischen Demo­kratien und Militärdiktaturen gegeben. Dabei war die Eroberung oder Rückeroberung der parlamentarischen Demokratie immmer auch ein Ergebnis sozialer Bewegungen, von Demeokratisierung als gesellschaftlichem Prozess. In den 80er Jahren, beim verordnen der Demokratie á la Reagan, bei der Wiederherstellung formaler Demo­kratie ohne Veränderungen der gesellschatlichen Machtverhältnisse, der Eigentumsverhältnisse und ihrer militärisch-repressiven Ab­sicherung, ist Demokratisierung von Unten immer kürzer gekommen.
Tatsächlich ist es bei den Demokratisierungen in Argentinien, Uruguay, Brasilien, Chile und in den zentralamerikanischen Ländern im Gefolge der sandinistischen Revolution von 1979 um zweierlei gegangen:
– Die Existenz von Militärdiktaturen mit weltweit registrierten Menschenrechtsverletzungen widersprach dem Anspruch der westlichen Führungsmacht “Freiheit und Demokratie” gen Osten zu tragen (das hat auch die CDU unter Geißler gemerkt und zu Beginn der 80er Jahre angefangen, das Chile Pinochets und das sandinistische Nicaragua in einen Topf zu werfen).
– Diesen Widerspruch galt es zu lösen, ohne die Wirtschaftsord­nung, zu deren Erhalt man die lateinamerikansichen Militärs trai­niert, ausgerüstet und an die Macht gebracht hatte, zu verändern, ohne soziale Bewegungen zuzulassen. Eben die Unterdrückung aller Bewegung für soziale Gerechtigkeit und strukturelle Reformen ohne offene US-Interventionen, aber auch ohne Militärdiktaturen ist moderne Aufstandsbekämpfung, “Kriegsführung niedriger Intensität”.
Die tiefe wirtschaftliche und soziale Krise, die sich heute in Lateinamerika von Tag zu Tag verschärft, zeigt, daß der “Triumph” der Reaganschen Demokratisierung Lateinamerikas keiner ist: Erstens hat die Bevölkerung von Demokratisierung nichts gemerkt und zweitens sind die Widersprüche der US-Hegemonialpolitik in ihrem Hinterhof nicht verschwunden.
Deshalb haben die rechten Intellektuellen, die Reagan schon 1980 berieten, ihr Konzept weiterentwickelt: “Es geht um den Kampf, welches Regime besser ist und nicht nur um die Formen und Wahlpro­zesse der Führer…unser Konzept für diese (demokratischen) Regi­mes beinhaltet eine zeitweise wie eine permanente Regierung. Die temporäre Regierung ist in der Demokratie die offiziell gewählte. Die permanente besteht aus den Iinstitutionellen Strukturen, die vom Wahlergebnis nicht verändert werden: die militärischen, juristischen und zivilen Institutionen” (Santa Fé II). Das hört sich wie ein Hinweis auf die Beschränktheit von Wahlen im Prozess der demokratsichen Willensbildung an, kommt auch daher als Plä­doyer für die “civic society”, scheint Rechtsstaatlichkeit und demokratische Institutionen zu meinen. Der ausführliche wirt­schaftspolitische Teil von Santa Fé II machen aber deutlich, um was es geht: “Ein gesundes …Wirtschaftssystem” ein “System der freien Unternehmerschaft und der freien Märkte, das eine unabhän­gige Gesellschaft trägt.” Unter der Hand wird also “civic society” zu “bourgois society”, werden Privateigentum und darauf gegründete Profitmaximierung zu absoluten demokratischen Institutionen.
Die Scheingleichheit der StaatsbürgerInnen an der Wahlurne, die Freiheit der einen, auf Kosten der anderen zu unternehmen, die Freiheit des Marktes, auf dem ssich ganz ungleiche Wirtschaftssub­jekte begegnen, die Wahrheit der “freien” Medien, behütet von den Institutionen Militär und Justiz – das ist dann Demokratie.
Wer anderer Meinung ist, ist KommunistIn, Gramsci-AnhängerIn, BefreiungstheologIn oder von selbigen verführt und muß vernichtet werden.
Wo sich das privatkapitalistische Definitionsmonopol auf den Be­griff der Demokratie durchsetzt, ist das materielle Gewaltmonopol nicht weit:
In der “Dritten Welt geht es darum, die Sowjetunion einzubinden in das Lager der “zivilisierten Welt”, das Lager der Demokratie, z.B. in “integrierte multinationale Einheiten”, um gemeinsam den “neuen militärischen Gefahren…durch die Entwicklung der Dritten Welt” zu begegnen (NATO-Generalsekretär Wörner, taz, 23.6.1990).

Das Imperium ist immer und überall

In seinem Beitrag “Demokratie Als Mittel der Aufstandsbekämpfung” unter­nimmt der Autor ein waghalsiges Unternehmen: Vom Isthums bis nach Feuer­land, so die Erkenntnis, hat die “Neue Rechte” in den Vereinigten Staaten ihr Konzept der “beschränkten Demokratie” ausgearbeitet und durchgesetzt. Ronald Reagan, idealtypische Feindfigur einer ganzen Generation von Internatioanali­stInnen in Europa und anderswo, darf seinen Triumph feiern. Wohin mensch auch schaut, überall auf dem Kontinent sieht man in den 80er Jahren das Entste­hen “verordneter Demokratien”, “ohne Veränderungen der gesellschaftlichen Machtverhältnisse, der Eigentumsverhältnisse und ihrer militärisch-repressiven Absicherung.” Der Autor stellt folglich fest, daß die Bevölkerung von “Demokratisierung nichts gemerkt hat” und das es dem Imperialismus geglückt ist einen üblen Widerspruch wenn auch nicht zu lösen, so doch in die nächste Runde zu tragen: Statt der weiteren Stützung der international diskreditierten, da eben offen-repressiven Militärdiktaturen, hat die im Santa Fé Papier ausgearbei­tete und von so cleveren Menschen wie Reagan und Geißler umgesetzte Strategie der Demokratisierungen durch die Institutionalisierung der “Scheingleichheit der StaatsbürgerInnen an der Wahlurne”, eine moderne Aufstandsbekämpfung ge­schaffen. Ohne repressive Diktaturen und ohne offene Intervention der USA ist die Wirtschaftsordnung auf alle Zeiten neu gesichert, die “Kriegsführung niedri­ger Intensität” hat die Entstehung und Durchsetzung einer Demokratisierung von Unten durch die sozialen Bewegungen erfolgreich verhindert. Soweit Frit­sche.
Ebenso wie all die DDR-BürgerInnen die im März ihre Henker gewählt haben, sind doch tatsächlich Millionen von LateinamerikanerInnen auf die Verspre­chungen der “formalen Demokratie” reingefallen. Schlimmer noch, anders als die BürgerInnen der DDR, die ja noch die Chance haben eine Zwei-Drittel-Gesell­schaft zu etablieren und als zehntreichste Nation der Welt an den Segnungen des zentralen Kapitalismus in der Festung Europa teilzunehmen, haben die Völker Lateinamerikas heute Demokratien verordnet bekommen (erkämpft haben kön­nen sie sie ja nun nicht mehr !), die ja nur zum Ziel haben die Diskussionen über soziale Gerechtigkeit und Wirtschaftsdemokratie zu unterdrücken. Natürlich be­dienen sich die Herrschenden aller Mittel zu Sicherung ihrer Macht, aber sind sie wirklich die einzigen die “beschränkte Demokratien” gegen die Dikaturen durch­setzten und die neuen politischen Freiräume nutzen (wollen) ?
Das schlimme Wort des “falschen Bewußtseins” schwingt bei Fritsches Diskurs ebenso mit, wie er unterstellt, daß keine Diskussionen und keine durchaus kon­troversen Auseinandersetzungen über den “richtigen Weg” bei dem “Wahlvolk” in Lateinamerika existiert. In der jetzigen historischen Etappe, in der sich die Linke (radikal oder sozialdemokratisiert) – in Lateinamerika wie auch bei uns – in einer Defensive befindet, sollte man die lateinamerikanische Debatte ehrlich wie­dergeben und eine differenzierte Interpretation um Entstehung, Grenzen und Chancen der “beschränkten Demokratien” ernst nehmen.
Die Analyse von Eduard Fritsch negiert schlicht und einfach die Existenz realer gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, die auch in der “formalen Demokratie” Menschen Handlungsfreiheiten ermöglichten, die angesichts der vorhergegange­nen Erfahrungen unter den Militärs heute als hoch eingeschätzt werden.
Die Linke Lateinamerikas kämpft zur Zeit um ihr historisches Überleben, bei dem unterschiedlichste Strategien und Handlungsfelder berücksichtigt werden. Ein Prozess der durch das permanente Wiederholen alter Positionen längst verlo­rengegangen wäre. Auch wenn neue Konzepte und Strategien in den überaus komplexen Gesellschaften (noch ?) nicht so herangereift sind, daß sich eine inter­nationalistische Bewegung an sie klammern kann (wen interessiert schon die Kommunalpolitik der PT in Sao Paulo) ohne die Widersprüchlichkeit in der sich linke Politik in Lateinamerika befindet mit aufzuzeigen, sollten diese Versuche nicht durch einen erneuten Verweiß auf die Allmacht des Imperiums unter den Tisch fallen.
Ohne Zweifel sind die Enttäuschungen, der “desencanto político” und die Gefah­ren der “formalen Demokratien” und ihr zustandekommen als “Pakte” groß. Kein Mensch- und schon gar nicht die Betroffenen in Lateinamerika selbst – geben sich heute noch Illusionen über die Versprechungen der “PolitikerInnen” hin. Eben­sowenig wie sie auf einen raschen Wandel durch einen Frontalangriff auf das Sy­stem oder durch ein Vertrauen auf die Parteienpolitik bauen. Vielmehr sind die politischen Kräfte die sich nicht selbst auf das Abstellgleis der Geschichte stellen wollen, an einer Nutzung der wiedererlangten Rechte und deren Verteidigung mehr denn je interessiert. Mit einer vergleichbaren Leichtigkeit über die “formalen Demokratie” herzuziehen, bleibt auch in Lateinamerika das Privileg einer intellektuellen Minderheit. Die sich durch die breite Unterstützung der Be­völkerungen ergebene Restaurierung parlamentarischer Demokratien ergebene Dialektik von Reform und radikalen Widerstand, ist durch den Verweis auf “eine Demokratisierung von der die Bevölkerung nichts gemerkt hat” nicht zu erklä­ren.
Auch wenn es uns nicht schmecken mag: Offensichtlich finden die Konzepte der “Neuen Rechten” in den USA auch ein lateinamerikanisches Pendand, das sich in der Ideologie doch wahrlich mehr aus der nationalen Realitär speist, als durch eine Note des jeweiligen US-Botschafters. Ein Aspekt, der durch die Vereinfa­chung der “Verschwörungstheorie” Fritsches schlichtweg ignoriert wird und den Blick auf die realen, gegenwärtigen Auseinandersetzungen verstellt.
Und sit es wirklich von den USA verordnet wenn die ideologischen AUseinan­dersetzungen in Lateinamerika. wie auch bei uns, um Pluralismus, um Wahlen als einen Teil grundsätzlicher Freiheiten, um individeuelle Rechte und Partizipa­tion eine Aufwertung erfahren ? Diese Felder der Rechten zu überlassen – und das macht Fritsche – wäre der größte Fehler überhaupt.
Wie ist nach dem Muster von Fritsche zu erklären, daß es heftigste nationale Auseinandersetzungen über den Weg der Transformation von den Diktaturenm zur Demokratioe gab ? Wie erklärt sich das Entsehen neuer sozialer Akteure bis hin zu neuen Organisationen ? Warum erlangt denn gerade der Kampf um Öf­fentlichkeit, Transparenz und das Betereten neuer Politikfelder (von der Frauen­bewegung bis zur Ökologiebewegung) eine neue Relevanz ? Wohl kaum, weil die Demokratien ein gigantisches Aufstandsbekämpfungsprogramm eben nur diese sozialen bewegungen zulassen.
Fritsch erklärt zwar das die Unsicherheit über den Begriff der Demokratie umso größer ist, je mehr er auf die Wahlen reduziert wird und dennoch leistet er in sei­nem Beitrag genau dieselbe Verkürzung. Wer verkennt, daß die Frage nach Wahlen (und eben nicht nur der für die Parlamente) in allen “redemokratisierten Ländern” auch die Diskussion um eine innere Demokratierung nach sich gezogen hat, der hat die Auseinandersetzungen der letzten Jahre in Lateinamerika nicht verfolgt.
Wie sind die Unterschiede zu erklären, daß sich Hunderttausende UruguayerIn­nen auf ihre wiedererlangte Verfassung berufen um ein Referendum gegen die Straffreiheit der Militärs zu erkämpfen, während in Chile die Menschenrechts­bewegung eine ähnliche politische Marginalisierung zu erlangen droht wie die argentinische ? Wie ist es zu erklären, daß offensichtlich die “Verteidigung der demokratischen Institutionen” erklärtes Ziel auch linksrevolutionärer Organisa­tionen ist ? Sind die Spielregeln, die ohne Zweifel eng sind, auf alle Zeiten unver­änderbar ? Ist die knappe Wahlniederlage Lulas in Brasilien, der Sieg der Frente Amplio in Montevideo tatsächlich nur ein Kampf gegen Windmühlen ? Und der millionenfache Versuch sich zu organisieren, die politischen Freiräume zu nut­zen, die nopch bis vor kurzem hermetisch verschlossen waren ? Alles eh sinnlos, da durch das Santa Fépapier a proiri zum Scheitern verurteilt ?
Ungewollt schließt sich die Argumentation Eduard Fritsches an das gefasel vom “Ende der Geschichte” an, das jüngst aus dem Weißen HAus zu vermehmen war: Alle sozialen Kämpfe und Hoffnungen, sei es von einer Punk Band in Chile die gegen die Linke des Landes verteidigen muß, warum sie ihre Lieder in englisch singt, oder doe Versuche nach einer Zurückdrängung der immer noch existie­renden MAcht der Militärs und des Autoritarismus, sei es in Chile oder in Uru­guayx, sind schon verlorene Kämpfe.
Scheiterten denn die Versuche der Vergangenheit nicht allzuoft an den nationa­len politischen Bedingungen, die determierend waren für den Erfolg oder Mißer­folg linker Politik in Lateinamerika ? Der wiederholte Verweis auf die Allmacht der Hegemoniemacht USA als Wurzel allen Übels, entschuldigt nicht nur die Fehler der eigenen Geschichte der Linken, sonmdern verstellt darüber den Blick auf die Ausarbeitung tragfähiger am Alltagsbewußtsein der Menschen anknüp­fenden politischer Konzepte. Der Spielraum für das vorantreiben emanzipato­rischer Projekte hat sich in den “formalen Demokratien” erst einmal erweitert. Das diese Projekte auch gesellschaftliche Mehrheiten benötigen, ist eine teuer be­zahlte Erfahrung. Nationale reaktionäre Hegemonien aufzubrechen um der neo­loiberalen Welle etwas entgegenzusetzen, bedarf heute der Nutzung und dem Ausbau aller politischen und sozialen Freiräume. Würde der rundumschlag Frit­sches stimmen: Der antiimperialistische Kampf in Lateinamerika hätte längst tri­umphiert !

Demokratie auf dem Vormarsch

Eine segmentierte Gesellschaft.

Chile diente als bestes Beispiel einer Politik der “Sanierung” und Durchsetzung neuer konservativer kapitalistischer Strategien. Den Staat von seinen hohen Aus­gaben, seiner kranken Wirtschaft, hohen Inflationsrate und seinen “viel zu ho­hen Lohnkosten” zu be­freien war oberstes Ziel, eine neue Form von Akkumulation im Rahmen des freien Marktes zu ermöglichen. Das Land diente als Ex­perimentierfeld. Die Diktatur strebte die Einführung eines rei­nen, ungebundenen Marktes an, frei von Protektionismus, Inter­ventionismus, Etatismus und vor allem von jeglicher Behinderung durch po­litische Organisatio­nen und Kompromisse, Privatisierung und Entpolitisierung der Ge­sellschaft wurden zu den Grundlagen dieser neoiliberalen Strategie. Auf diese Weise wird versucht, das Monopol von Macht und Politik für das Bürgertum zurückzugewinnen. Vereinzelung und Entpolitisierung bezwecken, das hi­storisch gewachsene Kräftepotential der Arbeiterbewegung und der ärmsten Schichten der Gesellschaft zu zerstören. Durch Propaganda, Einschüchterungs­maßnahmen, neue Erziehungsmethoden, veränderte Ar­beitsbedingungen und -verhältnisse wird ein extremer individuali­sierter Egoismus gefördert. Er wird zu einem neuen Grundwert die­ser Gesellschaft, da nur seine Mechanismen letz­tendlich die Effek­tivität des notwendigen Konkurrenzverhaltens garantieren. Der Kampf ums Überleben wird zum Mittel jener Strategie, deren Ziel schließlich der absolute Sieg der Marktgesellschaft ist.

Die strukturellen Veränderungen sind heute spürbar in allen gesellschaftlichen Bereichen. Die materielle Basis für die Arbeits- u. Lebensbedingungen der Ar­beitnehmer änderte sich radikal. Die Be­schäftigungsstruktur hat sich grundle­gend gewandelt: Das Schrumpfen des Industriesektors und die Zunahme der Be­schäftigung im Dienstleistungsbereich oder informellen Sektor ist hier von be­sonderer Bedeutung. Diese Neustruktu­rierung der Beschäftigunsverhältnisse hat auf die gesamte Gewerk­schaftsbewegung negative Auswirkungen. Das neu praktizierte Wirt­schaftskonzept fügte dem Industriesektor erheblichen Schaden zu, jenem Sektor, aus dem sich die Arbeiterschaft historisch entwic­kelt hatte. Hier konzentrierten sich gewerkschaftliche Kräfte, üb­ten linke Parteien starken Einfluß aus. Mehr als 250.000 Ar­beitsplätze gingen in diesem Bereich verloren, schätzungsweise 3.500 Betriebe mußten bis Ende 1984 Konkurs anmelden. Dies bedeutete empfindliche Verluste für die organi­sierte Arbeiterschaft. Folglich ver­ringerte sich ihre Zahl erheb­lich. Somit verlor das strategische Gewicht der chile­nischen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung innerhalb der Gesellschaft an Bedeutung.

Doch 1984 setzt eine Neuentwicklung auf Grund einer Korrektur des Wirt­schaftsmodells ein. Beschäftigungsstruktur und Mitglieds­zahlen der Gewerk­schaften verschieben sich: 1988 sind 46,4% aller Beschäftigten im produktiven Sektor tätig, davon allein 16,2% im Bereich der Industrieproduktion. Hier ist eine deutliche Erholung gegenüber den Vorjahren spürbar. Parallel dazu erhöhen sich die Mitgliedszahlen der Gewerkschaften.

Die Fragmentierung der chilenischen Arbeiterklasse besteht je­doch weiterhin. So sind z.B. Zeit -und Saisonarbeit (subcontratados, temporeros) mittlerweile auf dem chilenischen Arbeitsmarkt weit verbreitet. Ihr Anteil beträgt in bestimmten In­dustrien 50%, in der Landwirtschaft sogar 70%. Die Differenzen be­stehen nicht nur in unterschiedlichen Arbeitsverträgen, sondern auch im Hinblick auf allge­meine Arbeitsbedingungen, Gesundheits­versorgung, Lohn -und Sozialversiche­rung sowie gewerkschaftliche Organisationsformen. “Trabajo precario” (Zeitarbeit) ist für einen Großteil der chilenischen Arbeitnehmer zu einem Dau­erzustand ge­worden. Die damit einhergehende soziale Unsicherheit hat Auswir­kungen für tausende chilenischer Familien.

Demokratie für eine Ein-Drittel-Gesellschaft?

Wie kann sich nun ein Demokratisierunsprozeß für Millionen von der Gesell­schaft ausgeschlossene Chilenen gestalten? Die Armen machen sich besonders große Hoffnungen auf positive Änderungen. Nach den jüngsten Veröffentli­chungen des Nationalen Statistischen Instituts (INE) gibt es in Chile nicht nur fünf Millionen Arme – wie immer behauptet wurde – sondern sieben Millionen. Das bedeu­tet, daß 60 % aller Chilenen unter bzw. am Rande des Existenzmini­mums leben. Vor allem in den letzten 10 Jahren entwickelte sich eine Umvertei­lung des Nationaleinkommens zugunsten der Reichen. 20% aller chileni­schen Haushalte konsumieren heute mehr als die Hälfte des gesamten Na­tionaleinkommens. Der “moderne” Kapitalismus erreicht nur ein Drittel der Ge­sellschaft. Die ärmsten Haushalte können bspw. nur 3.000 Pesos monatlich für Brot ausgeben (1 US-$ = 300 Pesos), wäh­rend die reichsten 7.000 Pesos monatlich zur Verfügung haben. Diese 3.000 Pesos bedeuten für die Ärmsten allein 18% ihres Ge­samteinkommens, für die Reichsten lediglich 3%. Für Erziehung und Unterhalt haben die Ärmsten 300 Pesos monatlich zur Vefügung, die Wohlha­benden im Durchschnitt 21.000. Da in Chile viele Bereiche der Gesellschaft pri­vatisiert wurden, kann ermessen werden, welche verheerenden Folgen die Um­verteilungspolitik der Diktatur für breite Bevölkerungsschichten hatte und wie weitrei­chend dementsprechend die Aufgaben der neuen Regierung sind.

Erste Schritte der demokratischen Regierung

Seit nunmehr drei Monaten existiert in Chile wieder eine demo­kratische Regie­rung. Doch das Erbe der beinahe 17jährigen Militär­diktatur lastet schwer auf der neuen Regierung Aylwin. -Und dies in jeder Hinsicht, denn Macht und Spiel­raum dieser jungen Demokra­tie sind stark eingeschränkt. So dürfen beispielweise alte, pino­chettreue Funktionäre nicht entlassen werden. Neueinstellungen sind nur geringfügig möglich. Pinochet bleibt verfassungsgemäß weiterhin Oberbe­fehlshaber der Streitkräfte, und auch die Kommu­nalverwaltung wird personell und organisatorisch nicht verändert. Bis Ende März hatte die Diktatur bereits den größten Teil des für 1990 geplanten Haushalts ausgegeben. Allein ein Viertel aller Sitze im Senat wurde durch das Militärregime im voraus vergeben. Auf diese Weise ist es für eine demokratische Regierung nur schwer möglich, notwendige Mehrheiten zu erlangen. Verhandlungen mit dem konservativen Lager, das oh­nehin mit 43 % im Parlament vertreten ist, sind somit vorprogrammiert. Hinzu kommt, daß eine Vielzahl von Konflikten zwischen der neugewählten Regierung und den Streit­kräften existieren.

Trotz all dieser Schwierigkeiten versucht die Regierung Ayl­win, politisch zu handeln. Ein wichtiger Punkt ist die Gründung der “Comisión Nacional de Ver­dad y Reconciliación” (Nationale Kommission der Wahrheit und Versöhnung), die zur Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen unter der Militärdiktatur ins Leben ge­rufen wurde; denn der öffentliche Druck zur Aufklärung dieser Ver­brechen wächst ständig. Die Kommission besteht aus acht pro­minenten Mitglie­dern, unter anderem Jaime Castillo Velasco, Vosit­zender der Menschenrechts­kommission, sowie José Zalaquet, ehemali­ger Präsident von Amnesty Internatio­nal in London. Die Resonanz innerhalb der Bevölkerung Chiles ist groß. In den Reihen der Mili­tärs und der neuen Opposition trifft die Arbeit dieser Kommis­sion jedoch auf wenig Gegenliebe. Pinochet versuchte, die Gründung mit allen Mitteln zu verhindern. Offiziell, einen Tag vor der Grün­dung, bat Pinochet Ayl­win um einen Gesprächstermin, um ihm in sei­ner Funktion als Oberbefehlshaber der Armee abzuraten. Aylwin ver­schob diesen Termin auf einen späteren Zeit­punkt. Daraufhin ver­suchte Pinochet, den Nationalen Sicherheitsrat – mit über­wiegend militärischer Präsenz – aufzurufen, doch auch innerhalb der Streitkräfte stieß er auf Ablehnung. Zuletzt versuchte Pinochet, auch über eine öffentliche Erklärung des Heeres die genannten Maß­nahmen zu kritisieren. Aus diesem Grund bestellte Aylwin in seiner Funktion als Präsident der Republik Pinochet zu sich, um eine Er­klärung zu verlangen. Auf diese Erklärung des Heeres hin ließ die Regierung verlauten, es handele sich hier um eine politische Stel­lungnahme, wobei das Heer eindeutig seinen Kompetenzbereich über­treten habe. Letztend­lich sei es allein Angelegenheit der Regie­rung, eine entsprechende Kommission zu gründen. Von den Militärs erwarte man vielmehr eine aktive Unterstützung der Regierungspoli­tik. Gleichzeitig forderte Aylwin Pinochet auf, einen genauen Be­richt darüber abzugeben, wieweit die vor längerer Zeit angekün­digte Auflö­sung des CNI bereits vorangeschritten sei; denn es exi­stierten berechtigte Hin­weise auf weitere Aktivitäten des ehemali­gen Geheimdienstes. Drittens verlangte Aylwin konkrete Aufklärung über die Funktion eines Beratungsstabes um Pino­chet, der nach Mei­nung der Regierung eine Art “Schattenkabinett” darstellt. Die Be­ziehungen zwischen Regierung und Heer bleiben weiterhin gespannt. Ziel der Regierung ist zunächst die Isolierung Pinochets, weiterhin auch, die gesamte Armee der Regierung zu unterstellen und die “alten Diktatoren” von den übri­gen Streitkräften zu tren­nen. Ihr politischer Handlungsspielraum würde sich da­durch ein­schränken.

Bei der Umstrukturierung der Gesellschaft haben die Militärs eine ganz entschei­dende Rolle gespielt. Viele von ihnen sind sogar auf dieses “historische Werk” stolz. Sie fühlen sich als die ei­gentlichen Herren des Landes. Ihre Präsenz inner­halb der Gesell­schaft macht sich weiterhin bemerkbar. Ihre Reaktion angesichts des Fundes von Massengräbern in Pisagua zeigt dies deutlich. (Siehe Artikel in diesem Heft)

Wiederherstellung der politischen Spielregeln. Soziale Forderungen und Erwartungen.

Der Autoritarismus prägte nicht nur die Politische, son­dern auch viele andere Bereiche sozialen Lebens in Chile. Er ist heute gesellschaft­lich tief verwurzelt. Seine Demontage muß grundlegende Vorausset­zung für den Wiederaufbau der Zivilgesellschaft und demokratischer Strukturen sein. Frühere historische Erfah­rungen zeigen jedoch, daß ein solcher Prozeß stets schwierig ist.
Sozialwissenschaftler gehen davon aus, daß bestimmte institu­tionelle Reformen (bspw. die Reform der Arbeitsgesetzgebung) im weiteren Verlauf bestimmte Umstrukturierungen und neue Handlungs­spielräume der Arbeitnehmer und Gewerkschaften ermöglichen. Zwei­felsohne werden politische Reformen auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zugunsten der sozialen Akteure än­dern, aller­dings mit unterschiedlichen Auswirkungen, je nach konkreter Situa­tion der verschiedenen Sektoren innerhalb ihres sozialen Umfeldes.
Betrachtet man die politischen Absichten und sozialen Pro­gramme der neuen demokratischen Regierung, besteht die Gefahr ei­ner neuen, anderen gesellschaft­lichen Polarisierung zwischen den­jenigen sozialen Sektoren, die durch die De­mokratisierungprozesse begünstigt sind (Mittelschichten; Teile der Arbeitneh­merschaft und bestimmte Segmente aller Marginalisierten) und dem auch wei­terhin großen Teil der Bevölkerung, der immer noch ausgeschlossen sein wird. Hier werden sich möglicherweise recht unterschiedliche Grup­peninteressen bil­den. Gerade an diesem Punkt wird die gegenwärtige extrem schwierige Heraus­forderung an die junge Demokratie Chiles deutlich.
Vertreter der Regierungsparteien (Concertación) behaupten, Priorität müsse die Wiederherstellung der demokratischen Spielre­geln haben, um auf diese Weise gesellschaftliche Konflikte auf eine “zivilisierte” Art lösen zu helfen: Dies macht eine Politik des Konsenses notwendig, die jedoch ihrerseits auch wieder Opfer ab­verlangt, was jedoch nicht gesamtgesellschaftlich akzeptiert wird.
Die Arbeiter – wie auch andere unterpriviligierte soziale Schichten – stellen hohe Erwartungen an die neue Regierung. Ent­sprechende Forderungen werden daher nicht auf sich warten lassen und mit Sicherheit auch Auswirkungen auf gesell­schaftliche Organi­sationsformen und politisches Handeln haben. Integrationsbestre­bungen innerhalb bestimmter gewerkschaftlicher Sektoren werden deutlich werden, einhergehend mit Forderungen nach besserer Ar­beitsplatzstabilität, höheren Löhnen, Mitbestimmungsrechten, berufli­cher Qaulifikation und sozialen Aufstiegsmöglichkeiten. Andere werden hingegen ganz allgemein Arbeitsplätze, bessere Löhne, mehr soziale Gerechtigkeit und tie­fere politische Reformen verlangen. Bei der Entwicklung der einen oder anderen Tendenz wird die Haltung von Unternehmenschaft und Regierung daher stets von großer Bedeutung sein.
Zum ersten Male, nach 16 Jahren Autoritarismus, gab es nun eine kleine Annäh­rung zwischen der Arbeitnehmerorganisation CUT, den Arbeitgeberverband CPC und der Regierung. Bereits Ende Januar unterzeichneten die CUT und der Arbeitgeberverband eine Absichts­erklärung hinsichtlich der Bildung von Kom­missionen zur Frage von Tarifverhandlungen, Arbeitsverträgen etc. Anfang Mai wurde von der Regierung angekündigt die Mindestlöhne von 18.000 auf 26.000 Pesos und das Kindergeld von 550 auf 1.100 Pesos monatlich zu erhöhen. Dies waren erste kleine Ansätze auf dem langen Weg zu sozialen Re­formen. Doch schon Ende Juni gab es keine Verständigung mehr zwi­schen CUT und Regierung im Bezug auf notwendige Reformen der ar­beitgeberfreundlichen Arbeitsgesetz­gebung. Die Unternehmerschaft ist nicht bereit, größere Konzessionen zu ma­chen, die Rechte und Handlungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer und Gewerk­schaften ver­stärken würden. Die Regierung dagegen ist sehr daran interessiert gute Beziehungen zur Unternehmerschaft aufzubauen. Man betrachtet eine sol­che Verbindung als fundamentale Grundlage notwendiger wirtschaftlicher Sta­bilität. Um Konflikte zu vermeiden, versucht die Regierung zwar, ihre Arbeits­politik sowie konkrete Reformen der Arbeitsgesetzgebung in Verhandlungen mit den konservativen Parteien voranzutreiben, um auf diese Weise einen politischen Kon­sens im Parlament zu schaffen. Die CUT sieht in dieser Politik je­doch eine Gefahr: solche Reformen sind in ihrer Wirkung eher unbe­deutend. Bei den jüng­sten Unterredungen mit Vertretern der Regie­rung gab es diesmal keine Annäh­rung. Arturo Martínez, Vize-Präsi­dent der CUT äußert mit tiefer Besorgnis nach langen gescheiterten Verhandlungen mit der Regierung: “Wir befinden uns am Null­punkt, weil es so aussieht, als sei die Regierung – vor allem das Ministerium für Arbeit – nicht an einer starken und soliden Ge­werkschaftsbewegung interes­siert.” Mit großer Enttäuschung wenden sich die CUT-Vertreter nun an die Par­teien, um ihre Forderungen durchzusetzen. Doch auch hier herrscht eine Ten­denz zur Konsens­politik. Deshalb scheint es so, als reiche der momentan über­haupt machbare Minimalkonsens mit der Regierung doch nicht aus, um lang­fristig tiefere Konflikte zu verhindern. Dadurch wiederum vertie­fen sich die Autonomiebestrebungen der chilenischen Gewerkschafts­bewegung. Diese Be­strebung werden vor allem durch zwei Faktoren beeinflußt: Spannungen zwi­schen Forderungen und Angeboten, sowie die Konsolidierung der sozialen Or­ganisationen und die Schaffung einer neuen kulturellen Identität und eines neuen Bewußtseins.

Beteiligung und Selbstbestimmung.

Die Entwicklung gewerkschaftlicher Basisorganisationen sowie die Entstehung zahlreicher Selbsthilfeorganisationen sind Ausdruck eines starkes Bedürfnisses nach Beteiligung und Selbstbestimmung. Neben Stadtteilorganisationen handelt es sich auch um produktive Werkstätten, Gemeinschaftsküchen, Volksbäckerein, Einkaufsgenos­senschaften, Gemüsengärten -und Hausbaukomitees, Gesundheitsgrup­pen usw. Ihre Zahl nimmt seit Beginn der 80er Jahre ständig zu. Im Jahr 1982 gab es im Raum Groß- Santiago 459 wirtschaftliche Basis­organisationen, 1988 schon 2.306. Etwa 200.000 Personen sind von diesen Selbs­hilfeorganisationen begün­stigt, was ungefähr 15% aller Bewohner der Arbeiter- und Elend­sviertel Santiagos entspricht. Bei ihrer Entstehung und Weiterent­wicklung erhalten sie Unterstützung (Betreuung, Bildungsmaßnah­men, usw.) durch sogenannte nicht-staatliche Organisationen (ONGs), die ebensfalls wäh­rend dieser Zeit entstanden. Die Selbsthilfeor­ganisationen bestehen heute in vielen Stadtteile (poblaciones), sind demokratisch organisiert und verfügen über kleine Handlungs­spielräume auf lokaler Ebene, manchmal besitzen sie auch eine re­gionale Koordinierung. Ihr soziales und politisches Handeln könnte sich im Rahmen eines Demokratisierungsprozesses der Kommunen durchaus verstärken.
Alle diese sozialen Sektoren sind verständlicherweise viel stärker an der Mitge­staltung einer sozialen Demokratie mit Selbst­beteiligung interessiert als an der bloßen Änderung politischer Spielre­geln. Dies wird in den Beschlüssen der Ge­werkschaftsbewegung bei der Gründung des neuen Dachverbandes CUT und den gegenwärtigen Auseinandersetzungen mit der demokratischen Regierung deutlich. Auch Frauenorganisationen sowie Indianerorganisationen fordern dies.
Am 5. Oktober 1988, als die Menschen in Chile den Sieg der Op­position kaum fassen konnten, gewann das Volk auch wieder stär­keres Selbstvertrauen. Im De­zember 1989 wurde dieses Selbstver­trauen noch verstärkt durch den Wahlsieg von Aylwin. Hier könnte sich eine neue Qualität kollektiven Selbstbewußtseins entwickeln. Schon während der Protestaktionen der Jahre 1983 bis 1986 artiku­lierte sich allmählich eine neue Form sozialen Bewußtseins, ein­hergehend mit neuen Formen einer oppositionellen Kultur sowie al­ternativen und autonomen gesellschaftlichen Formen. Es ist ein langer Weg, auf welchem auch der kleinste Freiraum wichtig ist. Diese kleinsten Freiräume müssen täglich neu geschaffen werden. Ihre Verschiedenartigkeit muß dabei respektiert werden. Die neue poli­tische Stimmung, die heute unter dem Vormarsch der Demokratie herrscht, wirkt sich auch positiv auf diese Entwicklung aus.
Auf dem Weg zu neuer Stabilität?
Die Stimmung innerhalb des Regierungslagers – trotz erwähnter Schwierigkeiten – ist gekennzeichnet durch Optimismus. Nach den jüngsten Meinungsumfragen bestätigt sich diese Ten­denz: die Popularität der Regierung stieg inzwischen von 55,2% auf 62,8%, während die Aylwins bereits die 70% – Marke überschritt. Ent­gegen allen Prognosen hat sich die Regierungskoalition bewährt. Es fand eine interne Umgruppierung statt, wonach sich unter an­derem die sozialistischen Parteien mit der MAPU zur Partido Socia­lista zusammenschlossen. Parallel dazu hat sich die Erkenntnis ge­festigt, das nur durch breite Mehrheiten eine stabile Politik mög­lich ist. In der Vergangenheit war Chile stets von Minderheiten re­giert worden. Instabilität war die Folge. Man hat aus der Ver­gangenheit gelernt. Die ehemals strenge klassen- und schichtenspe­zifische Zuordnung der Parteien ist durchlässiger geworden. In der Folge bedeutet dies eine höhere Konsensbe­reitschaft, stärkere Kom­promißfähigkeit, was allerdings nicht zwangsläufig im­mer den In­teressen der sozial Benachteiligten entspricht. Andere, nicht an der Regierung beteiligten linken Parteien wie die Kommunisten, der MIR und die Christliche Linke, sind nach ihrer Wahlniederlage vom Dezember 1989 nicht fä­hig, eine alternative linke Politik anzubie­ten. Die Kommunisten führen vielmehr innerparteiliche Auseinander­setzungen um Fehlentscheidungen über ihre Politik der “Rebelión Popular” unter der Militärdiktatur. Außerdem sind sie allgemein durch die Krise des Sozialismus in Osteuropa stark betroffen. Überlegungen zur Neugruppierungen beschäftigen die anderen linken Parteien, die damals zu der instrumentellen Partei “PAIS” gehör­ten.
Die wirtschaftliche Entwicklung gestaltet sich bis heute posi­tiv. 1989 war das BSP um 10% gestiegen. Künstliche Überhitzung trieb diese Rate in die Höhe. Inzwi­schen ist ein Normalisierungs­prozeß eingetreten. Die Steigerung des BSP beläuft sich zur Zeit auf etwa 5%. Nach der tiefen Krise von 1982/83 erholte sich die chilenische Wirtschaft von Jahr zu Jahr. Es wird sogar behauptet, daß parallel dazu ein Rein­dustrialisierungsprozeß stattgefunden hat. Durch die Schaffung neuer Arbeitsplätze im produktiven Bereich ist die Zahl die Indu­striearbeiter ge­stiegen. Nach INE ist die Arbeitslosigkeit insge­samt zurückgegangen. Diese An­gaben dürfen allerding nicht vorbe­haltlos übernomen werden; denn bereits eine Person, die nur zwei Stunden pro Woche beschäftigt ist, gilt als nicht mehr ar­beitslos. Ein entscheidender Schritt nach vorne muß jedoch darüber hinaus im sozialen Bereich liegen. Ohne tiefgreifende Reformen werden sich sozialen Mißstände nicht von allein verändern. Für die Regierung Aylwin ist das Festhalten an jener makroökonomischen Stabilität von lebenswichtiger Bedeutung. Die Re­gierung plant, die bestehende exportorientierte Wirtschaft in eine zweite Phase zu führen, indem hier verstärkt Investitionen getätigt werden sollen. Chile expor­tiert bis heute in der Regel nicht verarbeitete Produkte. Hier soll im Bereich der Verarbeitungsbranche ein Industrialisierungs­prozeß in Gang gesetzt werden. Die gerade be­willigten 13 Milliarden US-Dollar ausländischer Investoren sollen hier gezielt eingesetzt werden. Leider wird dabei zu wenig berück­sichtigt, da die na­türlichen Ressourcen nicht grenzenlos ausgebeu­tet werden dürfen. Es mangelt noch immer an dem notwendigen Be­wußtsein.

Der derzeitige Optimismus der Regierung Alywin ist durchaus berechtigt. Die Militärdiktatur hat ein schweres Erbe hinterlas­sen. Aylwin muß nun das Kunst­stück vollbringen, den bestehenden wirtschaftlichen Aufschwung voranzutrei­ben und gleichzeitig spür­bare Verbesserungen im sozialen, politischen und öko­logischen Be­reich in Gang zu setzen. Nur so wird auf die Dauer das momentan vorherrschende positive Meinungsbild innerhalb der Bevölkerung weiterhin be­stehen bleiben können.

Basisbewegung und Demokratie in Chile

Anfänge der Basisbewegungen

Bereits um die Jahrhundertwende beginnen sich die Arbeiter, angeregt durch die Entwicklung in Europa, vor allem in den Städten und den entstehenden Industriezentren zu organisieren. Die Le­bensbedingungen der chilenischen ArbeiterInnen sind zu dieser Zeit unvorstellbar schlecht. Die Erschließung der Ressourcen des fast völlig auf den Rohstoffexport von Salpeter und Kupfer be­schränkten Landes ist nur durch eine menschenverachtende Ausbeutung der chilenischen Arbeite­rInnen möglich. Die aktive Bevölkerung beläuft sich zu dieser Zeit bei einer Gesamtzahl von 3,25 Millionen Einwohnern auf etwa 1,25 Millionen, von denen rund eine Million lohnabhängig be­schäftigt sind.
Verschiedene Arbeitskämpfe und Unruhen in Valparaíso (1903), Santiago (1905) und Iquique (1907) werden durch das brutale Vorgehen der Armee und ohne nennenswerte Erfolge für die Be­troffenen beendet. Allerdings sind diese Arbeitskämpfe Anzeichen einer zunehmenden Organisie­rung: In den Industriezentren werden erste Arbeitervereinigungen gebildet, aus denen später die unabhängigen Gewerkschaften entstehen. 1911 entsteht daraus der erste Arbeiterverband Chiles (FOCH).
Ebenfalls um die Jahrhundertwende entstehen die “juntas de vecinos” ( Nachbarschaftsräte), mit deren Entstehung der Versuch unternommen wird, die Befriedigung der Grundbedürfnisse wie Bildung und Gesundheit zu organisieren und soziale Strukturen und selbstbestimmte Stadtteilar­beit aufzubauen. Mit der Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei im Jahre 1912, die zehn Jahre später unter dem Einfluß der III. Internationalen in Kommunistische Partei Chiles (PC) um­benannt wird, übernimmt sie gemeinsam mit der 1923 gegründeten Sozialistischen Partei Chiles PS) die Organisierung der Arbeiterschaft.
Dennoch bleibt die nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeiterbewegung bis zum Jahr 1938 prä­sent. Durch ein politisches Bündnis zwischen dem 1936 gegründeten chilenischen Gewerkschafts­dachverband CTCh, der PS, der PC und einer der ältesten Parteien Chiles, der Radikalen Partei (PR) kommt es zur Volksfront-Regierung (“Frente Popular”) unter dem Präsidenten Pedro Aguirre Cerda. In dieser Phase werden das Sozialwesen und das Arbeitsrecht reformiert und die industri­elle wie strukturelle Entwicklung des Landes vorangetrieben.
Unter diesen Bedingungen setzt eine starke Landflucht in die sich entwicklenden städtischen Bal­lungszentren ein. Der Bevölkerungsanteil der LandarbeiterInnen nimmt zwischen 1940 und 1960 von 43% auf 27% ab, Santiago z.B. erreicht im Jahre 1940 die Millionen-Grenze. Doch für die neuen StädterInnen gibt es weder Arbeit noch Wohnungen, und so entstehen seit 1947 die sog. callam­pas oder poblaciones marginales, die Armenviertel rund um die größeren Städte, in denen die zuströmenden Menschen meist langfristig eine Bleibe finden. Die Arbeiterorganisatio­nen, Gewerkschaften und Linksparteien nehmen sich in der Folgezeit der Problematik der pobladores, der Bewohner dieser Slums an und werden zu ihrem Sprachrohr.

“La victoria” – erste Landbesetzungen

Dies ändert sich zumindest teilweise mit dem 30. Oktober 1957: Verzweifelt wegen des Woh­nungsmangels besetzen Hunderte von obdachlosen Arbeiterfamilien unbebauten Boden des Großgrundbesitzes La Feria am Rande von Santiago. Dies ist die erste Landbesetzung in Chile und Lateinamerika, es entsteht der Stadtteil La Victoria. Die BewohnerInnen beginnen, Ihr Zusammenleben selbständig zu organisieren; sie wählen als kollektive Leitung der Siedlung ein Kommando der pobladores. 1966 wird eine junta de vecinos gegründet, der neben der politischen Leitung die Aufgabe zufällt, die Befriedigung der Grundbedürfnisse zu organisie­ren. Überwiegend in Eigenarbeit errichten die pobladores eine eigene Schule, eine Poliklinik sowie ein Strom- und Wasserleitungsnetz. Erst später und nach der Anerkennung ihrer Rechtstitel auf den Landbesitz erhalten sie von den christdemokratischen bzw. sozialistischen Regierungen Frei und Allende Unterstützung. La Victoria wird zum Vorbild späterer Landbesetzungen und der Selbstorganisation der pobladores, dieser Stadtteil ist berühmt für seine kämpferische Haltung bei der Durchsetzung ihrer Forderungen nach Selbstbestimmung der politischen Basis. Obwohl viele pobladores – ebenso wie die Siedlungsleitung – naturgemäß enge Bindungen zu den linken Parteien unterhalten, bleiben sie immer unabhängig. Überall in Chile erkämpfen sich nach dem Beispiel von La Victoria Basisgruppen neue Lebensräume. AdMapu beispielsweise, die größte Organisation der Mapuche, der ursprünglichen Bevölkerung des Landes, blickt heute auf einen über 30jährigen Kampf um die Rückerstattung des ihnen von Kolonisatoren, Groß­grundbesitzern und dem chilenischen Staat geraubten Landes. In den allwöchentlichen Vollver­sammlungen der organisierten Mapuches, die in sog. comunidades zusammenleben und nur in dieser Organisationsform bestimmte kollektive Sonderrechte in Anspruch nehmen können, wird über politische Fragen, neue Projekte und v.a. die Möglichkeiten,und v.a. die Möglichkeiten dis­kutiert, der allmählichen Aushöhlung des vor gut 100 Jahren erkämpften Sonderstatus zu begeg­nen
1965 schließlich wird die Bewegung der Revolutionären Linken, MIR, gegründet, die sich als Ver­treterin der Basisbewegung des Industrie- und Landarbeiterproletariats versteht. Nach eigener Darstellung wird der MIR von ehemaligen Parteimitgliedern der Kommunistischen (PC) und So­zialistischen (PS) Parteien Chiles zusammen mit pobladores ins Leben gerufen. Das Ziel seines po­litischen Kampfes ist die proletarische Revolution.

Movimiento Popular – Volksbewegung

Mit dem Wahlsieg des sozialistischen Präsidenten Allende werden ab 1970 die bereits von seinem Vorgänger Eduardo Frei versprochenen und langersehnten Strukturreformen in der chilenischen Volkswirtschaft in Angriff genommen. Bis 1972 sind eine vollständige Landreform durchgeführt sowie die wichtigsten Industriezweige nationalisiert worden. Gleichzeitig mit den Reformen erhält auch die Basisbewegung massive Unterstützung; Allende versucht, die sozialen Bewegungen in seine Politik einzubinden, die seiner Regierung entscheidend zur Macht verholfen hatten.
Viele Landbesetzungen werden legalisiert, besetzte Stadtteile werden an die Wasser- und Strom­versorgung angeschlossen und bekommen vom Staat Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen. Die drei Jahre der Unidad-Popular-Regierung werden auch in den eigenen Reihen sehr unter­schiedlich eingeschätzt, wobei der innen- und außenpolitische Druck auf Allende zweifelsohne von nicht zu unterschätzender Bedeutung war. Ein totaler Wirtschaftsboykott der westlichen In­dustriestaaten verschärfte die Situation erheblich, so daß viele der gut gemeinten Reformen ohne die notwendigen strukturellen Maßnahmen zum Scheitern verurteilt sind. So versucht Allende, der innenpolitisch zusätzlich durch die Opposition von Christdemokraten, Konservativen und Fa­schisten und den destabilisierenden Terror rechtsradikaler Gruppen behindert wird, die Probleme des Landes durch die Einbeziehung der Bevölkerung zu überwinden. Administrative Maßnahmen wie die Beschaffung und Verteilung der Güter des täglichen Bedarfs sollten die Basisorganisatio­nen in die politische Verantwortung einbinden und dadurch die Unidad-Popular-Regierung stüt­zen. Während des Streiks der chilenischen Unternehmerverbände 1972 müssen “kommunale Ar­beiterräte” die Aufrechterhaltung von Produktion und Versorgung und Produktion übernehmen, um den völligen Zusammenbruch der Wirtschaft zu verhindern.
Als die Drohungen und der Terror der Rechten immer offener werden und im Juni 1973 in einem Putschversuch junger Offiziere gipfeln, fordert die Gewerkschaftsbasis zusammen mit anderen Ba­sisorganisationen und v.a. dem MIR die Bewaffnung der ArbeiterInnen. Die Errungenschaften der Volksregierung sollen verteidigt werden! Gegen die Institutionalisierung der Basisbewegung durch die Allende-Regierung regt sich allerdings auch Widerstand. Verschiedene Gruppen ma­chen einerseits durch konkrete Aktionen wie Fabrik- und Landbesetzungen und die Bildung von Selbstverteidigungskomitees Druck auf die Regierung, damit diese verstärkt der wachsenden in­nenpolitischen Gefahr von rechts begegnet, bedrängen aber andererseits die Regierung, indem sie in Eigeninitiative Reformmaßnahmen forcieren.

Friedhofsruhe

Am 11. September 1973 schließlich putscht das Militär unter Führung von General Pinochet gegen die sozialistische Regierung und alle sie unterstützenden Kräfte. Das Vorgehen ist dabei selbst für lateinamerikanische Verhältnisse äußerst brutal, wer vorher direkt oder indirekt die Politik Allen­des unterstützt hat, ist nun rücksichtsloser Verfolgung, Folter, Mord und Verbannung ausgesetzt. Sämtliche Organisationen der Volksmacht , von den Stadtteilkomitees bis hin zur gewählten Re­gierung werden zerschlagen, ihre Vertreter beseitigt oder aus dem Land geworfen. Durch den Mi­litärputsch wurden bestimmte Voraussetzungen geschaffen, die für das Verständnis der weiteren Entwicklung Chiles von Bedeutung sind und hier kurz genannt werden sollen:
1. Die Parteistrukturen der Arbeiterpartei sind zerschlagen; die Parteien selbst haben ihre führen­den Vertreter verloren.
2. Parteien und Gewerkschaften sind verboten, ebenso wie die Organisationen der Basisbewegung.
3. Die spätere Umstrukturierung der Wirtschaft nach monetaristischen Gesichtspunkten führt zum Konkurs vieler chilenischer Betriebe, mit der Folge einer extrem hohen Arbeitslosigkeit.
4. Für mehr als die Hälfte der Bevölkerung bedeutet dies nicht nur den Verlust ihrer Menschen­rechte, sondern auch Einbußen beim Lebensstandard.
5. Die produzierende Industrie wird zugunsten des Dienstleistungssektors verdrängt.
6. Die linke Kulturbewegung der Allendezeit und die neu entstehende Kultur des Widerstandes können nur im Untergrund arbeiten.
7. Der Bildungsbereich wird von der militärischen Doktrin dominiert, Offiziere der Armee werden als Universitätsrektoren “delegiert”.
8. Ökologische Gesichtspunkte haben im monetaristischen Wirtschaftsmodell keinen Platz.
9. Die traditionelle Rollenverteilung zwischen Mann und Frau gerät durch die Abwesenheit vieler Männer (Verfolgung, Exil, Gefängnis und Mord an Funktionären der UP-Regierung) vor allem in den unteren Gesellschaftsschichten ins Wanken. Die Frauen beginnen, in traditionellen Männer­domänen politische Arbeit zu leisten; dies soll jedoch nicht die tragende Rolle, welche Frauen schon vorher in der chilenischen Basisbewegung inne hatten, schmälern.

“Frauen sind am direktesten betroffen”

So sind es vorwiegend Frauen, die als erste nach dem Putsch wieder mit politischer Arbeit in der Öffentlichkeit beginnen. Dies entspringt aus der Notwendigkeit, die politische Linke neu zu orga­nisieren, die permanenten Menschenrechtsverletzungen vonseiten des Regimes ausgesetzt ist. Frauen sind von den neuen Lebensumständen am direktesten betroffen. Sie sind im besonders ho­hen Maße arbeitslos geworden, und innerhalb der Familien tragen sie die Hauptlast der neuen Armut. Denn gerade die Frauen erleben täglich hautnah die Schwierigkeit, ihre Familien sattzube­kommen. Bei den politisch verfolgten Frauen kommt in den KZs des Regimes zu den üblichen Foltermethoden noch die sexuelle Gewalt hinzu.
Die offizielle Arbeitslosigkeit liegt 1977 bei ca. 20%, der Lohnindex sinkt gegenüber 1970 auf 62,9%. In den Elendsvierteln von Santiago erreicht die Arbeitslosigkeit teilweise 90%. Von dieser Situation sind im besonderen Maße die Kinder betroffen: “5.000 Säuglinge sind nach Aussagen chilenischer Kinderärzte infolge akuter Unterernährung von Hungertod bedroht. Sollten sie geret­tet werden, bleiben körperliche und geistige Schäden. 30-40% aller Kinder leiden an Unterernäh­rung, 350.000 leben von den Resten aus Mülltonnen.”
Grundnahrungsmittel, Gas, Wasser und Strom werden zu Luxusartikeln. In Anbetracht dieser Notlage ist das “Nationale Programm der Junta für die Frauen” an Zynismus und Sexismus kaum zu überbieten: “1. Solidarität mit der Junta; Frauen fühlen sich in Sicherheit und haben ihre Ruhe wiedergewonnen, obwohl sie wenig zu essen haben. 2. Die Frau soll Beispiel für ein tugendhaftes Leben sein. 3. Die Frauen müssen Arbeiten zuhause selber machen, um zu sparen. (…)” Wenn hier von “wiedergefundener Ruhe” die Rede ist, dann wohl nur von Friedhofsruhe: 22.000 Frauen sind durch den Putsch zu Witwen geworden. Frauen finden nur noch in der Grauzone des Dienstlei­stungsgewerbes Arbeit, die schlecht bezahlt ist. Viele Frauen müssen sich sogar prostituieren, um sich und ihre Familien durchzubringen. Vor diesem Hintergrund wird die Organisierung im Ge­fängnis und in den Elendsvierteln zur Notwendigkeit, um der alltäglichen Repression etwas ent­gegensetzen zu können. Viele Frauen tragen die Nachbarschaftshilfen, andere organisieren die Kinderbetreuung, damit sie überhaupt arbeiten gehen können.
Durch diese Erfahrungen schreiten Emanzipation und Selbstbestimmung der Frauen sowohl in­nerhalb der Familie als auch im Sozialgefüge der poblaciones voran. Zwar hatte schon die Unidad Popular den chilenischen Frauen zum Beispiel im Betriebs- und Arbeitsgesetz gleiche Möglichkei­ten, Rechte und Bezahlung eingeräumt, aber gleichzeitig auch die Doppelbelastung Familie/Arbeit verschärft. In den Jahren der Repression entsteht mit der Selbstorganisierung und den mitge­brachten Erfahrungen derjenigen Frauen, die aus dem europäischen und nordamerikanischen Exil zurückgekehrt sind, die Grundlage der heutigen chilenischen Frauenbewegung.

Der Kampf gegen die Repression

Nach den Menschenrechtsorganisationen der Anfangsjahre und parallel zur Organisierung in den Gefängnissen und KZs des Regimes gründen sich sogenannte wirtschaftliche Volksorganisationen zur Subsistenzsicherung der Bevölkerung. Mit der wachsenden Verelendung der städtischen Randbevölkerung wächst auch deren Organisationsgrad, was sich in der Entstehung von Volkskü­chen, Bildungseinrichtungen, Kindergruppen, Polikliniken, Kollektivwerkstätten und Selbstver­teidigungsgruppen niederschlägt. Die städtischen Basisorganisationen reagieren allerdings nicht nur in Form dieser strukturellen Maßnahmen auf diese Misere, sondern zunehmend auch mit De­monstrationen und offenem Widerstand. In diesen Jahren ist es besonders schwierig, zwischen den Interessen der sozialen Bewegung und der im Neuaufbau begriffenen Parteistrukturen von PC, PS, MIR, Gewerkschaften, Studentenvereinigungen, Basiskirche und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zu unterscheiden.
In den 70er Jahren ist der Widerstand gegen die Diktatur relativ punktuell, Grabenkämpfe inner­halb der Opposition können größtenteils vermieden werden. Die Einigkeit stärkt die Arbeiterbe­wegung so weit, daß 1978 erste Streiks in den Kupferminen stattfinden. 1979 führt das Militärre­gime mit dem Plan Laboral eine restriktive Arbeitsgesetzgebung ein, die zwar einige Rechte der ArbeiterInnen aufnimmt, sie aber faktisch in wesentlichen Punkten beschneidet. Das Streikrecht wird dadurch ausgehöhlt, daß übergreifende Streiks verboten und jeder Ausstand per se auf 60 Tage beschränkt ist. Die Bildung von Dachgewerkschaften ist verboten, die Gewerkschaftsbewe­gung wird systematisch zersplittert.

Nationale Protesttage: Die Jahre 1983-86

Die Selbstorganisationen des Volkes gründen 1981 eine landesweite Koordination CODEPU, das “Komitee zur Verteidigung der Rechte des Volkes”. Die Selbsthilfegruppen integrierten bereits in den vergangenen Jahren zunehmend politische und kulturelle Themen in ihre Arbeit. Sie entwickeln stärkere Widerstandsformen, die ihren Ausdruck u.a. in den nationalen Protesttagen der Jahre 1983-86 finden. In diesen Jahren tragen vor allem die Basisgruppen den Protest aus den Armenvierteln heraus in die Stadtzentren. Mehrere nationale Protesttage werden mit Demonstrationen der pobladores eingeleitet und durch Streiks der ArbeiterInnen und Sabota­geaktionen in Fabriken und Versorgungstruktur (vor allem das Stromnetz wird in Mitleidenschaft gezogen…) unterstützt. Während die Pobladores der marginalen Viertel aus den Erfahrungen der Repression heraus, den tausendfachen Verschleppungen und Einsätzen der Armee auf Demon­strationen, schon seit 1973 Selbstverteidigungsgruppen gegründet haben, ruft seit 1984 die neue “Frente Patriótico Manuel Rodriguez” FPMR zum nationalen militanten Widerstand auf und be­ginnt die Aktionen der pobladores und ArbeiterInnen mit Sabotageakten zu unterstützen. Die Frente begründet ihr Eintreten in den politischen Kampf mit der unübersehbaren Institutionalisie­rung des Regimes, der zunehmenden Mobilisierung der Bevölkerung im Widerstand und der Notwendigkeit, diese Mobilisierung durch militärische Aktionen wirkungsvoll zu unterstützen.

Die Diktatur in der Krise

Diese Einschätzung der Frente Patriótico spiegelt in etwa auch die neue Haltung vieler Gruppen an der Basis wider. Vor allem Mitte 1986 kommt die Hoffnung auf, das Regime könne durch den Volkswiderstand in die Enge getrieben oder gar gekippt werden. Wenn auch die teilweise als avantgardistisch kritisierte Haltung der Frente nicht überall auf Gegenliebe stößt, so reflektieren deren Vorstellungen auf jeden Fall die kämpferische Stimmung der Jahre 1983-86, in deren Verlauf sich eine bedeutende Veränderung in der politischen Landschaft vollzieht. Diejenigen, die am mei­sten Angst vor einer unkontrollierten bzw. unkontrollierbaren Entwicklung des Widerstands im Land haben, die Parteien, können die von den ArbeiterInnen und pobladores erkämpften Frei­räume nutzen, um ihre Rückkehr auf die politische Bühne vorzubereiten. Dies gilt in besonderem Maße für die Christdemokratische Partei (DC), die sehr früh ihre Arbeit wieder aufnehmen und sich so z.B. in der Gewerkschaftsbewegung etablieren konnte. Dieser Vorsprung ist bis heute in den Führungsgremien der Gewerkschaften zu spüren.
Zunehmend erheben Funktionäre der halblegal auftretenden linken Parteien den Führungsan­spruch innerhalb der Protesttage. Sie benützen die Aktionen in den Poblaciones, um ihre Presseer­klärungen und damit auch ihre Inhalte in der Öffentlichkeit zu lancieren und beginnen damit, ihre Parteienhegemonie der angeblichen “VolksvertreterInnen”, zu installieren. Auch hierüber sind die Meinungen vielfach geteilt, interne Kämpfe um die neuen Führungspositionen spalten die Par­teien. MIR zerfällt in ein halbes Dutzend Gruppierungen, welche Inhalte vom Festhalten am be­waffneten Kampf bis hin zur Einführung der Parteiendemokratie vertreten. Die Spaltungen betref­fen auch die sozialistische Partei Chiles. Die einen begrüßen den Rückgewinn des politischen Ter­rains, die anderen kritisieren daran, daß gerade das Einlassen auf die Plattform der Verfassung von 1980 über kurz oder lang zu Verhandlungen mit den Militärs führen muß; das bedeutet die Anerkennung der Militärs als politische Instanz – entgegen den Beteuerungen der 70er Jahre.

“Fahrplan in die Demokratie”

Tatsächlich verläßt die PDC 1986 auf dem Höhepunkt der Protesttage die Oppositionsplattform und beginnt Verhandlungen mit dem Regime. Den Verlockungen eines “Fahrplanes in die Demo­kratie”,, welcher das am 5. Oktober 1988 stattgefundene Plebiszit (das die Opposition mit ca. 55% Nein-Stimmen gegen Pinochet gewinnt) und die Parlamentswahlen für den 14. Dezember 1989 vorsieht, kann sich auf Dauer keine der “Volksparteien” entziehen… “Die von den Christ­demokraten angeführte gemäßigte Opposition ist generell gegenüber dem Militär verhandlungs- und kompromißbereit. Diese Haltung kommt klar zum Ausdruck in den beiden Grundsatzdokumenten “Acuerdo Nacional” von 1985 und “Bases de Sustentacion de un Regimen democratico” von 1986. So spricht sich hier die gemäßigte Opposition generell für eine nationale Versöhnung aus, erkennt in einer gemischten Wirt­schaftsordnung das Recht auf Privateigentum ausdrücklich an, will Strafverfolgung wegen Menschenrechtsverletzungen nur in belegbaren Einzelfällen vornehmen und lehnt Kollektivverurteilungen (also Verurteilungen des Militärs als Institution) ab; sie akzeptiert, daß das Verfassungsgericht Parteien für verfassungswidrig erklärt, die sich nicht an die demokratischen Spielregeln halten.”
Viele fragen sich, welche Spielregeln in einem Land gelten können, in dem die Militärs auf Jahre hinweg die Richter bestimmen, eine Verfassung von 1980 nur mit einer unmöglich zu erringenden Zweidrittelmehrheit in den Parlamenten zu ändern ist und Wahlgesetz und Verfassung den Mili­tärs immer eine überdimensionale Präsenz in den Parlamenten sichern. Bisher sind ebenfalls we­der die Geheimdienste noch die Militärs in irgendeiner Weise durch das Volk zu kontrollieren.
Die meisten Parteien sehen diesen Abschnitt als Redemokratisierung Chiles im Sinne einer parla­mentarischen Demokratie an. Tatsächlich beteiligen sich alle Linksparteien, von MIR renovado bis zu den Sozialisten Almeydas am Plebiszit. Viele Basisgruppen jedoch verbinden mit dem Plebiszit sehr viel weitergehende Forderungen: Sie verlangen, ihre in der Vergangenheit aufgestellten For­derungen in den Redemokratisierungsprozeß miteinzubeziehen, vor allem die Beteiligung der Ba­sis am politischen Geschehen. Diese ganzen Forderungen, wie nach einem “Nein zur Straffreiheit für die Militärs”, nach Gerechtigkeit für die Opfer des Regimes, nach der rückhaltlosen Aufklä­rung der begangenen Verbrechen, nach einem sozialistischen Wirtschaftsmodell, nach einer Auflö­sung der Militär- und Geheimdienststrukturen, nach dem Recht auf Ausbildung und Bildung (bei den Mapuche vor allem in ihrer eigenen Sprache, dem mapudungu), dem Recht auf Arbeit und Wohnung und nach Sozialstrukturen und nicht zuletzt nach Freilassung ALLER politischen Ge­fangenen, auch solcher aus militanten Organisationen, beinhaltet das “No – hasta vencer”.

“Keine Verhandlungen mit dem Regime!”

Gerade der Bedarf nach einer radikalen Umwandlung des privatmarktwirtschaftlichen Modells der Junta bedeutet für viele Pobladores die Umsetzung ihrer Forderungen nach sozialer Gerech­tigkeit in einem Land, in dem nach Einschätzungen von SozialarbeiterInnen 1989 ca. 5 Mio. Men­schen an oder unterhalb der Armutsgrenze leben (bei insgesamt 14 Millionen Einwohnern Chiles), ca. 600.000 Kinder unter 14 Jahren obdachlos und ohne Familie sind und sich teilweise individuell oder für Kinderbanden prostituieren oder klauen gehen müssen, um zu überleben, mehrere hun­derttausend Kinder und Jugendliche drogenabhängig oder spielsüchtig sind. Forderungen, die al­lein mit einer Beteiligung am politischen System der Herrschenden Utopie bleiben müssen.
So kommt es immer wieder zu Spannungen zwischen den sozialen Bewegungen und den Parteien. Das heißt nicht, daß die Basisgruppen allgemein die Arbeit der Parteien, der mit ihnen verbun­denen NGOs (Nichtregierungsorganisationen) und anderer parteilicher Strukturen ablehnen, zumal innerhalb der Gruppen viele Parteimitglieder mitarbeiten. Allerdings ist die Enttäuschung über die Funktionalisierung der Basisstrukturen nicht zu übersehen: “Merkst Du, wovon ich rede? Wir kämpfen, bauen eine Kraft auf, die den Pin8 an die Wand drückt und Sie verhandelt in unse­rem Namen, unsere Bewegung hinter sich. Arschlöcher! Erst das Plebiszit und dann in eineinhalb Jahren diese Wahl, die sie jetzt schon vorbereiten. Bald gibts wieder Abgeordnete und saftige Diäten, schicke Parteibüros haben wir jetzt schon. Politik wird wieder eine saubere Angelegenheit. Und wir bleiben die Angeschissenen in der gleichen Scheiße! An der Wirtschaftspolitik wird sich sowieso nichts ändern, auch nicht an der Bildungs- oder Gesundheitssituation.”
Diese Einschätzung teilen – wenngleich auch etwas weniger krass ausgedrückt – viele AktivistIn­nen der Poblaciónes. Eine Frau aus der chilenischen Frauenbewegung schreibt dazu: “Im Zuge der stärkeren Präsenz von Parteien seit 1987 absorbieren sie die sozialen Bewegungen (nicht nur der Frauen), oder sie gaben ihnen schlichtweg keine Partizipationsmöglichkeiten bei Verhandlungen, Verträgen der Ausarbeitung eines Regierungsprogramms und ebensowenig bei der Ernennung der Parlamentskandidaten. Einige Leiterinnen der sozialen Bewegung gaben der politischen Aktivität den Vorrang; so geschehen mit wichtigen Leiterinnen und aktiven Mitgliedern der Frauenbewe­gung, die sich auf Führungsebene der Bündnisparteien begaben oder dazu übergingen, sich an Kommissionen für ein Programm der nächsten Regierung zu beteiligen.” Bei der Institutionalisie­rung der Basisbewegung spielen ebenfalls die NGOs eine tragende Rolle, oft durch Parteistiftun­gen finanzierte Institutionen, welche verhältnismäßig gute Arbeitsbedingungen für alternative Forschungen bieten. So wird an diesen oft kritisiert, daß sie zwar die Folgen der Repression ausrei­chend dokumentiert haben, aber keine strukturelle Forschung zu Lösungsmöglichkeiten der Krise betreiben. Die Enttäuschung über die Parteistrukturen rührt also auch daher, daß Parteien in di­rekter politischer Konkurrenz zu den Basisgruppen aus diesen neue AktivistInnen anwerben, ver­lockend durch die gebotenen Arbeitsbedingungen: “Kaum tauchen in unseren Gruppen, ich meine den Basisorganisationen, fähige Kader auf, die wir in mühevoller Kleinarbeit geformt haben, denn es ist noch keiner vom Himmel gefallen, werden sie von der “cupula” (Spitze) der Parteien oder Gewerkschaften umworben, bekommen Unterstützung, werden vielleicht zum Studium ins Aus­land geschickt und weg sind sie und Du kannst sie getrost vergessen. Wer einmal aus seiner Pobla­ción entwurzelt wird, kommt selten wieder. Im besten Fall wird er einer unserer Genossen Partei­strategen, die im Trockenen sitzen und schön reden.”
In diesem Spannungsfeld zwischen dem Bedürfnis der Parteien, sich zu etablieren und den durch viele Erfahrungen in der alltäglichen Konfrontation erstarkten und selbstbewußter auftretenden Basisgruppen wird sich die Politik der “Redemokratisierung” Chiles innerhalb der Linken abspie­len. Die Basisbewegung hat dabei viele gute Argumente auf ihrer Seite, vor allem was die Kämpfe der Jahre 1983-86 angeht. Sie können auf eine ganze Bandbreite gewachsener Strukturen zurück­greifen.

Die Krise der Linken

Dennoch: Die Linke Chiles insgesamt befindet sich in einer Krise, die der weltweiten ähnelt. Nach Jahren der Militärdiktatur wollen viele Menschen nichts mehr von Gewalt hören, auch nicht von revolutionärer. Der tägliche Kampf ums Brot läßt nicht viel Raum für Utopien. Aus dem solidari­schen Widerstand ist in den langen Jahren der Diktatur eine Ellenbogengesellschaft geworden, nach dem Motto: “Rette sich, wer kann”. Es ist schwierig für die Älteren, mit dem Trauma der er­littenen Niederlage umzugehen, genauso wie es für die in der Diktatur herangewachsene Genera­tion schwierig ist, aus den traumatischen Verhältnissen heraus an den Aufbau ihrer Zukunft zu gehen. Nicht umsonst beschäftigt sich in Chile eine für Lateinamerika bedeutende Anzahl von So­ziologInnen, PsychologInnen, PsychotherapeutInnen und SozialarbeiterInnen mit dem Thema der “traumatisierten Gesellschaft”.
Diese Legitimierungskrise trifft zuerst die etablierten linken Parteien: Bei den Parlamentswahlen schneiden sie schlecht ab. Es gelingt den Christdemokraten und den sozialdemokratischen Frak­tionen der SozialistInnen, die wichtigsten Ämter der neuen Regierung unter sich aufzuteilen, ob­wohl doch insgesamt 17 Mitte-Linksparteien in der “Konzertation für die Demokratie” zusam­mengeschlossen sind. Bei den kommunalen Neuwahlen zu den 1973-89 vom Pinochet-Regime als Disziplinierungsinstrument in den Poblaciones eingesetzten “juntas de Vecinos” treten zum ersten Mal wieder KandidatInnen der verschiedenen Links-Parteien an. Die Wahlbeteiligung der Pobla­dores liegt in vielen Stadtteilen allerdings nur bei ca. 30%.
Spätestens nach der Wahl 1989 muß sich die parlamentarische Linke fragen lassen, ob sie nicht die meisten ihrer politischen Prinzipien am Eingang zum Parlament wie einen zu schäbig gewordenen Mantel ablegt, ob sie nicht die Basisbewegung nur für ihren politischen Staffellauf in die Parla­mente funktionalisiert hat, hinter der Ziellinie aber ohne die anderen MitstreiterInnen aufs Sieger­treppchen treten will. Noch ist die Situation nicht ausweglos: Es kann viel dadurch gewonnen werden, über die Massenmobilisierung zu Brennpunkten hinaus die gewachsenen Strukturen der Pobladores, Landarbeiter und Mapuche als eine Stärke der Linken zu begreifen und als politische Kraft anzuerkennen. Nur so kann durch die Zusammenarbeit die Basis für einen Erhalt der er­kämpften Freiräume breiter werden. Wenn nicht, dann droht den Parteien der Verlust des Mo­mentes der radikalen Mobilisierung und ihr politisches Konzept wird zum Papiertiger: Von Rechts leicht zu kontrollieren?

Basisbewegungen wieder in der Opposition?

In diesem Sinne sehen sich viele der Basisgruppen heute als neue Opposition. Die aufgeworfenen Fragen verlangen jedoch nicht nur eine Antwort aus Chile, sondern auch von der Solibewegung in der BRD, die sich seit Jahren viel zu wenig um eigenständige Perspektiven einer selbstorganisier­ten, herrschaftsfreien Gesellschaft bemüht und Politik meist mehr als Forderung an irgendwelche Parteien versteht, denn als soziale Kämpfe: “Nun, erst einmal denke ich, solltet Ihr euch um Eure Dinge kümmern. Für hier nehmt Ihr Euch manchmal zu wichtig. Ihr seid uns erst glaubwürdig, wenn Ihr Euer eigenes politisches Projekt habt und nicht nur nach Chile kommt und uns erzählt, was wir tun können. Klar, Euer Geld wird immer willkommen sein. Egal, wem Ihr es anbietet. So­lidarisiert Euch aber mit den Teilen des chilenischen Volkes, die auch nach der offiziellen Einset­zung der Demokratie für einen grundsätzlichen Wandel kämpfen müssen, um eine Chance zu ha­ben, ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Leben zu verwirklichen. Dann hört auf, die Gruppierungen und Parteien zu unterstützen, die das Projekt der Scheindemokratie propagieren. Informiert in Eu­ren Ländern über die Situation im Land, über die Armut, die Folter, das Morden, die Ungerechtig­keit und die Lügen der Demokratisierung. Und unterstützt solche Gruppen von Menschen, die an­gefangen haben, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Es gibt viele Basisgruppen, die ein radi­kales politisches Projekt verfolgen, oder unterstützt die NGOs, die mit solchen Gruppen zusam­menarbeiten. Aber vor allem: Informiert in Euren Ländern über die Situation hier und bekämpft den Imperialismus dort, wo er herkommt. Da ist jede/r von Euch unentbehrlich.”

Präsidenten-Gattinnen: Dallas in Argentina – und eine ideale Ehe in Chile

Solide, bescheiden und versöhnlich gibt sich die neue “Primera Dama” von Chile, Leonor Oyarzún de Aylwin. In einem Interview mit der Zeitschrift Analisis vom März ’90 plaudert sie aus dem Nähkästchen, von Frau zu Frau. Sie ist erstmal er­schrocken über ihre neue Aufgabe, aber: “Ich bin eine sehr verantwortungsvolle Person” und : “wenn der Herr uns diese Herausforderungen auferlegt, wird er uns auch helfen, ihnen auf die bestmögliche Weise gegenüberzutreten.” Ihre Ar­beit im sozialen Bereich hat sie auch schon aufgegeben, um Aylwin bei seinem schweren Amt zur Seite zu stehen. Ihren Mann lernte sie 1949 kennen, als Be­wundererin eines seiner Zeitschriftenartikel: “Zehn Monate später waren wir verheiratet.” Sie bekam 5 Kinder (vier davon christdemokratisch!) und war zunächst hauptsächlich Hausfrau, allerdings mit Personal (“Ich habe meiner Hausangestellten alle Möglichkeiten zum Lernen und Sparen verschafft”). Bald nach der Heirat trat sie der Partei ihres Mannes bei, der damals schon als Abge­ordneter kandidierte, enthielt sich aber aus “Diskretion” ihm gegenüber politi­scher Aktivitäten, “weil ich dachte, daß er für seine Arbeit viel Freiheit haben muß”. Sie selbst betätigt sich von Jugend an im Wohlfahrtsbereich, hatte schon immer ein Herz für die Armen. So weit, so brav. Aber es kommt noch schöner: in ihrer Ehe mit Patricio gab es in 41 Jahren, sie traut es sich kaum zu sagen, keinen einzigen Streit. Und wenn sie im Urlaub allein sind, bringt er ihr das Frühstück ans Bett! So viel – unglaubliche – Harmonie führt sie auf die Ähnlichkeit ihrer beider Herkunft zurück: gebildete Mittelstandsfamilien mit denselben Wertvor­stellungen. Gefragt, welcher anderen First Lady sie sich verwandt fühle, nennt Leonor Barbara Bush mit ihrem “zwanglosen, schlichten und fröhlichen Stil”. Da­bei will sie gar nichts Besonderes sein: “Ich fühle mich als eine Chilenin wie alle anderen”. Jetzt reicht es aber…
Doch noch ein paar Worte zur Politik: von der Regierung Aylwins erhofft die Präsidentengattin, daß sie denjenigen Chilenen Arbeit verschafft, die in einer “kritischen wirtschaftlichen Lage” sind, wünscht sich eine Demokratisierung in­nerhalb der Familie, Entlastung der doppelt-belasteten Frauen… und überläßt das alles IHM und seinen Mannen. Als Katholikin ist sie für die Vergebung der Dik­tatur-Verbrechen. “Wenn wir in der Vergangenheit verhaftet bleiben, tun wir der Zukunft keinen Gefallen…” Wo hat man das schon mal gehört…?
Am 8. März dieses Jahres, als die chilenischen Frauen den internationalen Frau­entag erstmals wieder ohne Polizei-Einsatz begehen konnten, tauchte Leonor Aylwin bei ihrem Treffen auf, freute sich über die Möglichkeiten der Demokratie und ließ ein etwas unglaubwürdiges “Wir Frauen” vernehmen. Von solchen Auftritten Frau Leonors in schwierigeren Zeiten ist uns nichts bekannt…
Nicht ganz so introvertiert und die Privatheit liebend präsentiert sich Leonors argentinische Kollegin, Zulema Fátima Yoma (47), der die gemeinsame kulturelle Abstammung mit ihrem illustren Gatten, Carlos Menem, weniger genutzt hat.
Seit Menem Frau und Kinder Anfang Mai im Stile eines Sultans von Bagdad mit Hilfe von Militär und Militärpolizei aus dem Palast geworfen hat, kann die er­staunte argentinische Öffentlichkeit täglich den “Krieg der Menems” in allen Me­dien verfolgen, von Talkshows bis zu den Nachrichten und politischen Magazi­nen. Das Ehepaar selbst kommuniziert nur noch per Telegramm und Anwalt oder über den Sohn Carlitos miteinander. Zulema war im Mai in Fernsehen und Zeitschriften aufgetreten mit markigen Sätzen wie: “Dieses Wirtschaftsprogramm taugt nichts. Ich will nicht der Sündenbock sein, wenn im August dieses Land zum Teufel geht. Im Moment heißt das Land noch alles gut, was Menem macht, aber was willer tun, wenn das ganze Volk sich gegen ihn erhebt? Ich habe keine Lust, dasselbe Schicksal wie die Frau Ceaucescus zu erleiden”. Die Minister Bauzá (Soziales) und Dromi (Obras Públicas), sowie den Senatspräsidenten (Menems Bruder) und den Chef der Peronisten im Parlament, Manzano, soll Zu­lema als Verbrecher bezeichnet haben. Menem konterte: “Wer so redet, hat keine Ahnung. Im August wird es uns viel besser gehen”. Und: “Wenn ich gezwungen bin, zwischen Familie und Vaterland zu wählen, wähle ich mein Vaterland”. Sprach’s und verschwand zu einer 12tägigen Weltreise, u.a., um in Rom die Fuß­ballweltmeisterschaft zu eröffnen. Vorher hatte er schnell noch das Dekret Nr. 1006 erlassen, das ihm die Ausquartierung Zulemas rechtlich absichern hilft. Auch entließ er die zwei Sekretäre seiner Frau, enthob ihren Anwalt seines Po­stens und ließ ihre Telefongespräche abhören. Ansonsten versucht er bei diesem peinlichen Spektakel, Privates und Politik für die Äffentlichkeit auseinanderzu­halten: “Der Präsident ist Carlos Menem – nicht das Ehepaar!” “Es gibt keine Staatskrise.”
Ähnliche Ehekrisen hatte es schon früher gegeben, aber es kam immer wieder rechtzeitig zu Menems Wahlkämpfen zu spektakulären Versöhnungen, so etwa 1983, als er Gouverneur der Provinz La Rioja wurde. Menem läßt keine Gelegen­heit aus, sich als Bilderbuch-Macker zu präsentieren. Auf die Frage eines Journali­sten nach seinem Schürzenjägertum meinte er: “Was wollt Ihr – daß mir die Män­ner gefallen?” und seine jüngste Weltreise bezeichnete er als “lang und langwei­lig, wie die Ehe”. Böse Zungen erzählen, er habe Zulema in den 60er Jahren in ei­ner Straße von Damaskus kennengelernt, indem er ihr hinterherzischte: “Willlst Du mich nicht für eine Nacht heiraten?” Womöglich hat er selbst diese Version in die Welt gesetzt…
Daß eine so gedemütigte Frau Haß- und Rachegefühle in sich anstaut, ist nicht verwunderlich. Nur: eine politsche Frau ist Zulema Yoma sicher genausowenig wie Leonor Qyarzún, und die Art, wie sie zur Zeit Eingang in die Politik findet, sieht eher nach benutztwerden für die Interessen anderer aus…
Es fällt auf, daß Zulema sich just zum Präsidentschaftswahlkampf ihr bishers schwarzes Haar blond färbte. Menem als neuer Peron mit einer Ersatz-Evita an seiner Seite. Eva Perón, der blonde “Engel der Armen”, die 1952 jung starb, als Linke verehrt, noch lange nachdem Juán Perón und der ganze Peronismus schwer nach rechts abgerutscht waren. Mit diesem Klischee arbeitet Zulema auch jetzt, wo sie Menem nicht mehr nutzen, sondern schaden will. Was bei ihr eher persönliche als echte politische Motive haben dürfte, kommt den politischen Gegnern Menems gelegen. Seit sich ihr Konflikt mit Menem zugespitzt hat, un­terhält Zulema Kontakte zum Gewerkschaftsboß Saúl Ubaldini und angeblich auch zum Chef der rechtsradikalen “Carapintadas” in der Armee, Mohamed Alí Seineldín.
Vor Zulemas Ersatz-Wohnung nach ihrem Rausschmiß durch den allgewaltigen Präsidenten gab es ein paar Solidaritätsbekundungen. Von anderer Seite erhielt sie Morddrohungen. Im Fernsehen sagte sie: “Es war schön, die Solidarität der Frauen in diesem Moment zu spüren. Schön, weil ich die argentinische Frau re­präsentiere, jetzt und in Zukunft, mit großem Stolz”. Armes Argentinien! Ich möchte nicht die Sprüche der Männer zum “Krieg der Menems” hören, der die Leute zur Zeit ein wenig von den politschen und wirtschaftlichen Katastrophen ablenkt.
Alles in allem ein trauriges Spiel. Traurig auch, wenn sich das politische Enga­gement der Frauen hochrangiger Politiker im Wesentlichen darauf beschränkt, dem Financier ihres Hausmädchens und ihrer Krokotasche entweder kritiklos den Steigbügel zu halten oder ihm im Stile von Sue Ellen aus Dallas, Texas, in ih­rer Gekränktheit das Business ein bißchen zu verderben. Traurig, wenn gesell­schaftliche Stellungnahme nur darin besteht, daß frau sich entweder neben einem linken Politiker, oder neben einem konservativen oder neben einem Diktator möglichst hübsch und nützlich macht.

Chile-Gewalt gegen Frauen

“Ich bin nun 50 Jahre verheiratet und bis auf den heutigen Tag schlägt er mich. Sogar am 35. Hoch­zeitstag hat er mich so heftig geschlagen, daß sie mich blut­überströmt zum Sanitätsposten brach­ten. Trotzdem bleibe ich bei ihm, weil ich ihn mag, und es täte mir leid, ihn zu verlassen, vor allem jetzt, wo wir alt sind.” (Ester, 80 Jahre, Krankenschwester)
Täglich werden in Chile Hunderte von Frauen, Mädchen und Erwachsene vergewal­tigt, viele Frauen aus allen sozialen Schichten werden durch ihre Ehe­männer und Partner zuhause geschla­gen. Nur wenige dieser Fälle gelangen an die Öffentlichkeit. Meist schämen sich die Frauen über das, was ihnen angetan worden ist, oder haben Angst, den Täter bloßzustellen. Diejenigen, die schließlich die mühselige und demü­tigende Tortur einer Anzeige in Kauf nehmen, werden mit dem Unverständnis und den Vorurteilen der meist männlichen Polizeibe­amten und Richter kon­frontiert. Diese nehmen letztendlich ihre Geschlechtsge­nossen in Schutz und geben den Frauen die Schuld, durch ihr Verhalten die Männer zu dieser Tat provoziert zu haben, oder tun die Tat als Ka­valiersdelikt ab.
Das Institut der Frau in Santiago griff dieses lange Zeit tabuisierte und “heiße” Thema noch in der Zeit der Diktatur auf und organisierte wenige Tage vor den Präsidentschaftswahlen im Dezember 1989 in seinen Räumen eine Diskussionsveran­staltung.
Das Interessante und bisher Einmalige an dieser Veranstaltung war zudem die Zusammensetzung des Podiums: Neben Expertinnen in Frauenfragen aus psychologi­scher, psychiatrischer und recht­licher Sicht war ein Vertreter von CA­VAS geladen, einer Anlauf- und Beratungsstelle der chileni­schen Polizei für Frauen, die ge­schlagen oder vergewaltigt worden waren.
Die Psychologin Rosario und die Psychiaterin Sofìa beleuchten in ihren einlei­tenden Ausführun­gen den sozialen Hintergrund dieses Problems. Schuld an der männlichen Gewalt ist das beste­hende Mann-Frau-Verhältnis. Die dominierende Rolle des Man­nes hat eine entsprechende Denk- und Verhaltensweise geprägt, die dem Mann selbstverständlich erscheinen läßt, daß die Frau sein Eigentum ist, über das er bestimmen kann. Ihre Entscheidungen, ihre Mei­nung sind nicht ge­fragt und nicht akzeptiert. Zum Beispiel brauchen viele Frauen die Er­laubnis ihres Mannes, um arbeiten zu gehen.
Ohne sich in platten Pauschalitäten verlieren zu wollen, sollen hier Grundstruktu­ren von Mann-Frau-Verhältnissen aufgezeigt werden, sozusagen als Erklärungsmu­ster, die selbstverständlich in­dividuell abweichen können. Männer, die der Erwar­tung der Gesellschaft nicht entsprechen, grei­fen nicht sel­ten zu Drogen, Alkohol oder sie werden gewalttätig. Ihre Aggression richtet sich gegen ihre “Untergebenen” – Frau und Kinder. Die höchste Form der Beherr­schung und Demütigung der Frau ist die sexuelle Gewalt. Manche Männer scheinen ihr mangelndes Wertgefühl nur dadurch aufbessern zu können, wenn sie ihre sexuelle Potenz unter Beweis stellen und eine Frau durch ge­waltvolle In­besitznahme demütigen. Die Frauen fügen sich in die ihnen vermeintlich zuste­hende Rolle. Sie ertragen die Situation, weil sie auf­grund ihrer Sozialisation so dressiert sind, verstehen alles – und vergeben letz­tendlich.
Wenn psychische und psychiatrische Beratung aufgrund von Gewalttätigkeit in An­spruch ge­nommen werden, dann von den Frauen. Dabei klagen sie oft nicht ihre Männer an, sondern bitten um Hilfe, um ihre Partnerschaftsprobleme be­wältigen zu können; einmal mehr ein Beweis, daß Frauen immer wieder zunächst die Schuld bei sich suchen.
Die Medien tragen einen erheblichen Teil zu dieser Situation bei. Sie vermitteln in Zeitschriften, Illustrierten, in Funk und Fernsehen das Bild des Mannes, der über die Frau herrscht und be­stimmt. Die Frau – ohne Meinung und Verstand – hat in dieser Vision keinerlei Rechte und defi­niert sich über den Mann. Die Frau glaubt, ohne den Mann nicht existieren zu können, ist ihm hö­rig, liegt ihm zu Füßen, all­zeit bereit. Der Mann hat jederzeit Zugriff auf die Frau und somit auch auf ihren Körper. Auch in der Werbung wird dem Mann die freie Verfügung über den Körper der Frau suggeriert und er ihm als Beigabe zum Rasierwasser oder Auto schmack­haft gemacht. Eine eigenständige Frau, die unabhängig von Männern weiß, was sie will und was sie nicht will, exi­stiert in diesem Frauenbild nicht. Ein Recht auf eigene Entscheidung wird ihr nicht zugestanden. Dem Mann jedoch obliegt das Recht, über sie und ihren Körper zu bestimmen und ihn jeder­zeit und jederorts zu “nehmen” oder zu züchtigen, wie es ihm gefällt; kann er sich doch immer wieder der (zumindest unterschwelligen) Anerkennung der Gesell­schaft oder dem Verständ­nis der männlichen Polizisten und Richter sicher sein.
Aus ihrer alltäglichen Erfahrung mit der Verteidigung von Frauen, die (sexuelle) Gewalt erlitten haben, berichtet die Rechtsanwältin Berta. Mit einem bekannten chilenischen Sprichwort drückt sie genau das aus, was Männer über Gewalttätig­keit gegenüber Frauen denken: “Kümmere dich nicht um die Frage, warum du deine Frau schlägst, sie weiß es ohnehin.” Die Frau wird geschlagen, aber sie als Opfer fühlt sich schuldig. Sie ist isoliert mit ihren Problemen, erfährt nur in den seltensten Fällen Solidarität von anderen Frauen, sondern sie wird mit den An­forderungen der Gesellschaft konfrontiert: Reize Deinen Mann nicht! Wider­sprich ihm nicht, sonst…! Gib nach!
Die Frau fühlt sich verantwortlich für die Stimmung in der Familie. Sie gibt also nach, damit Ruhe ist. Sie hat Angst, ihn anzuzeigen, um nicht seinem Zorn ausge­liefert zu sein. Sie hat auch Angst, ihn zu verlieren. Wenn sie sich schließ­lich doch durchringt, ihn anzuzeigen, kann es durchaus sein, daß sie einem Richter be­gegnet, der sie mit dem Rat abschiebt: “Gute Frau, benehmen Sie sich halt nicht so provozierend, daß er sie immer schlagen muß. Warum wollen sie ihn denn nicht be­dienen? Warum widersprechen sie ihm denn immer?” Und die Frau internalisiert das, fühlt sich schuldig und zeigt ihn das nächste Mal nicht an. Der Mann seinerseits fühlt sich in seinem Ver­halten bestärkt.
Aber dieser “Mythos vom schuldigen Opfer”, das seinen Täter provoziert, der von Männern immer wieder zur Rechtfertigung herangezogen wird, bricht letzt­endlich dann endgültig zusammen, wenn man sich die Beispiele aus der alltägli­chen Praxis an­sieht: Ein 8jähriges Mädchen wird von ihrem Vater vergewaltigt, ein Taxifahrer mißbraucht ein schlafendes Kind…
Nach dem beeindruckenden Beitrag von Berta stellt Elías Escaff von CAVAS seine Organisation und ihre Arbeit vor. CAVAS wurde vor zwei Jahren innerhalb der Kri­minalpolizei in Santiago ge­gründet. Es gibt zwar schon eine Reihe von staatlichen Stellen, die sich um Rehabilitation und Re­sozialisation von Tätern kümmern, aber es gibt bisher keine Instanz, die sich um “Gewalt gegen Frauen” und speziell um die betroffenen Opfer bemüht. CAVAS hat dieses Thema aufge­griffen und Strategien entwickelt, die Opfer zu betreuen. CAVAS dient nun als Anlaufinstanz für Frauen und Mädchen, die sexuelle Gewalt erlitten haben und bei der Polizei eine Anzeige erstatten wol­len. Die Pädagogen und Psychologen wirken unterstützend auf die Op­fer ein und betreuen sie, bevor die oft demüti­genden Verhöre durch Polizei und Gericht beginnen.
In Flugblättern, Plakaten und Zeitungsanzeigen ruft CAVAS die Frauen und Mäd­chen auf, über die erlebte Vergewaltigung und Gewalt nicht zu schweigen, sondern sie öffentlich zu machen. Als Erfolg ihrer Arbeit wertet CAVAS die Tat­sache, daß die Zahl der Anzeigen in den ersten zwei Mo­naten um über 40% ge­stiegen und demgegenüber die Dunkelziffer der Gewalttaten gegen Frauen ge­sunken sei.
Eine Plakataktion von CAVAS warnt Frauen vor möglichen sexuellen Übergrif­fen durch Männer und erteilt Ratschläge: Sie sollen jede gefährliche Situation vermei­den, keinen Minirock anziehen, und wenn, dann nur in Begleitung gehen, nicht trampen, nicht einsame Plätze aufsuchen, nicht abends ohne Begleitung ausgehen, nicht durch anzügliche Kleidung und leichtfertiges Verhalten Männer provozie­ren…lautet der Tenor. Nach der Einschätzung von CAVAS werden die sexuellen Übergriffe darüberhinaus ohnehin von sexuell gestörten Psychopathen begangen.
Die Ausführungen von Elías Escaff über die Arbeit von CAVAS und die Erfolge, die bereits er­reicht wurden, riefen Unruhe und Widerstand bei den anwesenden Frauen hervor und zogen eine erregte Diskussion nach sich. Die vorgetragenen Strategien und Arbeitsansätze von CAVAS wur­den in wesentlichen Punkten zerpflückt.
Unter den Anwesenden waren viele Expertinnen, die jahrelange Erfahrung in der Arbeit mit ge­schlagenen und vergewaltigten Frauen haben. Ihnen erschien es an­maßend, daß Elías CAVAS als einzige Organisation präsentierte, die auf diesem Ge­biet arbeitet, und daß seit dem Beginn der Ar­beit von CAVAS die Zahl der Anzei­gen dermaßen gestiegen sein soll. Die Frauen stellten infrage, daß eine Organisa­tion, die obwohl sie vielleicht gute Ideen hat, erfolgreich ihre Arbeit re­alisieren kann, wenn sie innerhalb der Polizei angesiedelt ist; denn nach 16 Jah­ren Diktatur hat die chileni­sche Bevölkerung nicht viel Vertrauen in die Polizei, und es beste­hen viele Vorurteile und genü­gend schlimme Erfahrungen. Zudem wurde ihm vorge­worfen, daß bei CAVAS mit Ausnahme der Sekretärin aus­schließlich Männer tätig sind, die Frauen betreuen wollen, die Gewalt durch Männer erlitten haben.
Nach Auffassung von CAVAS sind die Täter bei sexuellen Übergriffen psychopathi­sche Männer. Die Frauen dagegen sind überzeugt, daß jeder Mann allein aufgrund der Tatsache, daß er männli­chen Geschlechts ist, ein potentieller Vergewaltiger ist. Die Einschätzung von Vergewaltigung als Problem von Psy­chopathen wird unter dem Hinweis als absurd abgetan, daß nur wenige der vielen Vergewaltigungen nachweis­lich von psychopathischen Tätern begangen wurden. Außer­dem, so dokumentieren auch Plakate an den Wänden im Ver­sammlungsraum des Fraueninstituts, sind 80% der Vergewaltiger dem Opfer vorher bekannt. So ist auch die Forderung von CAVAS un­sinnig, die Frauen und Mädchen sollen nur in Begleitung ausgehen, da sie gerade durch diese männliche Begleitung wiederum gefährdet sein können.
Ein anderer Kritikpunkt war die präventive Arbeit von CAVAS. Die Kampagne zur Verhinderung sexueller Übergriffe richtet sich an die Frauen und stellt eine mög­liche Vergewaltigung als ein in­dividuelles Problem jeder einzelnen Frau dar, das sie mit ihrem Benehmen, ihren Handlungen verursachen oder abwenden kann. Die Prä­ventionskampagnen beinhalten immer irgendeine Art der Ein­schränkung für die Frau. Es wird mit erhobenem Zeigefinger gearbeitet: Zieh’ keinen Mini­rock an, fahr’ nicht per Anhalter, mach nicht dies, mach nicht das! So hat CAVAS ein Poster mit ei­nem Mädchen herausgebracht, die auf der Straße steht und trampt: dies sei eine Situation von höchster Gefahr. Außerdem, so kriti­sieren die Expertinnen im Saale, richtet sich die Präventivar­beit dieser Organisa­tion der Polizei in keinster Weise an die Männer, die ja schließlich Täter und Ver­ursacher des sexuellen Übergriffs und der Gewalt sind.
Da die Gewalt gegen Frauen ein soziales Problem ist und als solches angegangen werden muß, werden Gesetze gefordert, die den Medien verbieten, ein Bild der Frau als Sexualobjekt darzustel­len und den Körper der Frau gewerblich zu be­nutzen.
Elías wurde gefragt, warum CAVAS niemals den Austausch mit den zahlreichen Frauengruppen gesucht hat, die in diesem Bereich arbeiten, um von der bereits existierenden Erfahrung zu profi­tieren und diese auszubauen. Der Vertreter von CAVAS wirkte konsterniert angesichts der Vor­würfe und Argumente und ver­suchte, die Einschränkungen und Schwierigkeiten in seiner Arbeit offenzulegen. Er zeigte sich sehr interessiert an einem weiteren Treffen zu diesem Thema und be­tonte, daß er den Austausch und die Diskussion mit den Expertinnen suche, um letztendlich eine bessere Arbeit mit größerem Erfolg für die betroffenen Frauen erreichen zu können. Man trennte sich an diesem Abend mit dem festen Vorhaben, weitere Tref­fen dieser Art zu organisieren, um dieses wichtige Thema nicht wieder in Verges­senheit geraten zu lassen.
Das Bemerkenswerte an dieser Diskussion war, mitzuerleben, wie vehement die Frauen im Saal auftraten und das Problem der sexuellen Gewalt öffentlich machten. Die Frauen machten keinen Hehl aus ihrem Mißtrauen und Unmut ge­genüber der Diktatur und der chilenischen Polizei. Viel­leicht war es die Aussicht auf die bal­dige Demokratie, die die Frauen ermutigte. Von der Demo­kratie erhof­fen sie sich unter anderem, daß sich ihre Situation als Frau in der chilenischen Gesell­schaft ändern wird… und damit nicht zuletzt auch das leidige Problem der (sexuellen) Ge­walt ge­gen Frauen.
Doch das Problem der sexuellen Gewalt gegen Frauen wird sich solange nicht än­dern, wie das bis­herige Mann-Frau-Machtverhältnis bestehen bleibt. Es wird sich auch nichts ändern, wenn sexu­elle Gewalt weiterhin als privates Problem abge­tan und in seiner politischen Dimension nicht nur nicht ernst genommen, son­dern durch staatliche Gewalt auch noch legitimiert wird.

Chronik eines angekündigten Ausverkaufs

Die staatliche Telefongesellschaft ENTEL wurde für den Verkauf in zwei Teile, Telco Sur und Telco Norte, aufgeteilt. Das Konsortium aus der US-Bank Citi­corp und der schweizerisch-argentinischen Frima Techint unter der Führung der spanischen Telefónica sichert sich 60% der Aktien von Telco Sur für 114 Mil­lionen US-Dollar und 2,27 Mrd. US-Dollar in Auslandsschuldscheinen. Diese Schuld­scheine Argentiniens kaufen die Firmen auf dem Sekundärmarkt für 13% ihres Nominalwertes, also für ganze 354 Millionern US-Dollar. Dept-to-equity-swaps heißt das in der Sprache der WirtschaftswissenschaftlerInnen – als Farce könnte mensch es auch bezeichnen. Für den Kauf der anderen Hälfte, Telco Norte, legte das Konsortium von Bell Atlantic und Hannover Trust, zwei US-amerikanischen Firmen legt lediglich 100 Millionen US-Dollar in bar und 300 Millionen für den Kauf von Schuldscheinen mit einem Nominalwert von 2,3 Mrd. US-Dollar auf den Tisch. Insgesamt verkauft also der argentinische Staat sein wohl lukrativstes Unternehmen für 868 Millionen Dollar, reduziert dabei allerdings seine Aus­landverschuldung um 4,6 Mrd. US-Dollar.

Ruinöser Deal als Vorbild für weitere Maßnahmen

Doch damit nicht genug der Tragödie: Der argentinische Staat garantiert den Käufern in den ersten drei Jahren einen jährlichen Reingewinn von 16%. Die Schulden von ENTEL in Höhe von 1,7 Mrd. US-Dollar(!), die in den letzten 1 1/2 Jahren angehäuft wurden, übernimmt ebenfalls der Staat. Und zu alledem sind die neuen Betreiber lediglich zu Investitionen in Höhe von 1 Mrd. US-Dollar in den ersten drei Jahren verpflichtet. Das entspricht einer Installation von 620.000 neuen Telefonleitungen, bei derzeit 1,8 Millionen Anschlüssen, von denen ein Drittel seit längerer Zeit nicht funktioniert. Somit wird das, was sich die argenti­nischen TelefonbesitzerInnen von der Privatisierung versprechen, nämlich end­lich funktionierende Telefone, weiterhin auf absehbare Zeit ein Traum bleiben. Und die Menschen, die gerne ein Telefon hätten und es sich leisten könnten, brauchen sich wohl gar nicht erst um einen Anschluß bemühen. Eine über die drei Jahre hinausgehende langfristige Investitionsverpflichtung für die Käufer gibt es nicht. So dämpften die neuen Gesellschafter bereits eine Woche nach dem Verkauf allzu große Erwartungen mit der schlichten Feststellung, daß bessere Dienste frühestens in zwei Jahren zu erwarten seien. Vorleistungen für diese eventuellen Verbesserungen müssen die argentinischen TelefonbesitzerInnen allerdings schon bald in Form von saftigen Tariferhöhungen erbringen. Die 46.000 Angestellten von ENTEL werden ebenfalls mit einer Negativentwicklung zu rechnen haben: ein Teil von ihnen wird sicherlich im Zuge der Rationalisie­rung entlassen werden. Ein derart skandalöser Privatisierungs-Deal dürfte selbst in der Geschichte der “freien Marktwirtschaft” bisher einmalig sein. Wo auch sonst stürzt sich der Staat für eine kurzfristige Verringerung der Auslandsschul­den freiwillig in ein solch ruinöses Geschäft? – In den USA, dem Land mit der größten Auslandsverschuldung sicherlich nicht.
Das Fatale ist, daß dieses Privatisierungsschema von ENTEL das Modell für alle weiteren Verkäufe von Staatsbetrieben Argentiniens darstellen soll. Und diese weiteren Aus­verkäufe werden nicht lange auf sich warten lassen: 10.000 Kilometer National­straßen sind bereits an fünf ausländische Firmen vergeben, die ihre Investitions­kosten über die Einführung einer Autobahngebühr wieder reinbekommen wol­len. Die nationale Fluggesellschaft Aerolineas Argentinas wird ein Konsortium unter der Führung der spanischen Fluglinie Iberia aufkaufen. Thyssen und das spanische Staatsunternehmen (!) Renfe wollen sich hingegen die profitable Eisenbahnlinie von der Pampa zum Hafen in Bahia Blanca, auf der 85% der argentinischen Getreideexporte befördert werden, unter den Nagel reißen. Das staatliche Erdölmonopol YPF lädt ausländische Firmen zwecks Bildung von Gemeinschaftsunternehmen zur Förderung der profitablen Erdölvorkommen ein…

Loch in der Kasse und Strangulierung durch den IWF

Begründet werden diese Verkäufe immer wieder mit dem chronischen Haus­haltsdefizit des argentinischen Staates. 8,4 Mrd. US-Dollar beträgt dieses Loch in der Haushaltskasse – die Defizite der Staatsbetriebe haben daran einen Anteil von fast 50%. Kein Wunder also, wenn der Staat diese lästigen Firmen loswerden will. Geschieht dies allerdings wie bei ENTEL nach der Devise: Gewinne privati­sieren – Defizite verstaatlichen, geht dies an dem eigentlichen Problem vorbei.
Der IWF macht diese Verringerung des Haushaltsdefizits immer wieder zur Bedingung für eine Kreditgewährung. Den bereits im November 1989 beschlos­senen Überbrückungskredit für Argentinien in Höhe von 1,4 Mrd. US-Dollar ver­sah der Fond bei den erneuten Verhandlungen in diesem Jahr allerdings mit weiteren Auflagen. Neben der Veringerung des Defizits auf 1% verpflichtete sich Argentinien die Steuern weiter anzuheben, die Löhne zu senken, die Preise für öffentliche Dienstleistungen erneut zu erhöhen und gleichzeitig die Ausgaben für diese Staatsdienste sowie die Zuschüsse an die Provinzregierungen zu verrin­gern. Darüberhinaus mußte Argentinien Anfang Juni zum ersten Mal seit April 1988 in Umschuldungsverhandlungen mit den privaten Gläubigerbanken ein­treten. Seit 1988 hat Argentinien faktisch keinen Cent an Zinszahlungen geleistet, wodurch die Zinsen für die 60 Mrd. US-Dollar Auslandsschulden auf 6,5 Mrd US-Dollar angewachsen sind. Als Geste des guten Willens tätigte Argentinien im Mai eine symbolische Zahlung von 100 Millionen US-Dollar Zinstilgung. Bei den derzeitigen Verhandlungen mit den privaten Gläubigerbanken wird eine solche Summe wohl allerhöchstens als wöchentliche Zahlung angenommen werden.
Die härteste Bedingung des IWF ist allerdings die Verpflichtung, die Inflation ab August auf unter 2% monatlich zu verringern. Ein schier unmögli­ches Unternehmen. Führte die Hyperinflation im Februar und März dieses Jahres (fast 100% monatlich) zur Blockierung des schon vereinbarten IWF-Kredites, so konnte durch den neuen Wirtschaftsplan von Wirtschaftminister Gonzales (LN 192) die monatliche Inflation im April immerhin auf 11,4% gesenkt werden. Doch damit war’s auch schon wieder vorbei. Im Mai stieg die Monats-Inflation auf 13,6%, der Juni schlug mit 15% zu Buche – Tendenz steigend. Für die erste Jahreshälfte 1990 akkumuliert sich somit die Inflation auf 617%. Dennoch konnte Argentinien die Auszahlung von 240 Millionen US-Dollar des erwähnten 1,4 Mrd.US-Dollar Stand-By-Kredites erreichen – die zweite Tranche nach den 140 Millionen im November. Der IWF geht anscheinend kein Risiko ein und gibt Argentinien immer wieder kleine Häppchen des ohnehin nicht gerade großen Kuchens, um wenige Monate später eine weitere Auszahlungen mit neuen, noch härteren Bedingungen zu verknüpfen.

Neoliberale Logik für “nicht-kapitalistische Kapitalisten”

Wirtschaftsminister Ermán Gonzales verkündete entsprechend Ende Juni mit ernster Mine gemäß dem Diktat des IWF, neben der Verlängerung des seit Juli 1989 bestehenden ökonomischen Ausnahmezustandes um ein weiteres Jahr, eine erneute Anpassung der Anpassung an seinen Wirtschaftsplan vom März…
Eine erneute Blockierung des Kredits und somit weitere wirtschaftliche “Liberalisierungsmaßnahmen” stehen gewiß schon bald wieder ins Haus, denn die Bedingung des IWF, die Inflation ab August auf 2% monatlich zu drücken ist schon jetzt zum Scheitern verurteilt. Daß Argentiniens Wirtschaft in der ersten Hälfte dieses Jahres mit 1,79 Mrd. US-Dolllar einen unerwartet hohen Export­überschuß erbracht hat, verdeckt die Tatsache, daß das Land sich in einer schwe­ren Rezession befindet. In keine Branche sind die Kapazitäten der Unternehmen auch nur annähernd ausgelastet. Stattdessen führen massenhafte Entlassungen und Betriebsschließungen zur weiteren Verstärkung der Wirtschaftskrise. Der industrielle Ausstoß verringerte sich in den ersten vier Monaten dieses Jahres um 13% und das Investitionsvolumen der argentinischen Wirtschaft ist so niedrig wie nie zuvor.
Der Reallohn der ArbeiterInnen hat sich seit Januar um über 30% verringert und das in einer Situation, in der das Land mit den einst höchsten Löhnen Lateinameri­kas schon im Jahr zuvor auf ein Niveau unterhalb von Chile oder Paraguay abge­sunken ist. Entsprechend sucht ein Großteil der ArgentinierInnen, die nicht nach Europa auswandern können, sein Glück und vor allem Arbeit in den angrenzen­den Ländern und wandert aus. Die Lebenshaltungskosten steigen permanent durch die inflationsbedingten Preissteigerungen. Doch Präsident Menem argu­mentiert diesbezüglich ganz in seiner neoliberalen Logik: “Viele Grundnah­rungsmittel sind im Ausland billiger als in Argentinien. Wir werden all diese Produkte, die billiger auf dem heimischen Markt verkauft werden können importieren”. “Der Fall Argentinien hat das Interesse der weltbesten und bekanntesten Ökonomen geweckt, die immer noch nicht erklären können, was in diesem Land passiert”, äußerte kürzlich der frühere Minister für öffentliche Dienste der Regierung Alfonsín, Rodolfo Terragno. “Argentinien ist das einzige Land der Welt, wo eine schwere Rezession, die in der Theorie die Märkte stabili­siert und die Inflation beseitigt, von einer Hyperinflation begleitet ist.” Selbst die Experten des IWF und der Weltbank stehen vor einem Rätsel. Sie akzeptierten im Juli das Argument der Regierung, daß die Unternehmen in Argentinien ihre Preise enorm überhöhen und sich somit überhaupt nicht an die Regeln der “freien Marktwirtschaft” halten und zur Inflation beitragen. “Auf diesem Niveau der Inflation könnte jeglicher interne Schock oder eine externe Agitation der Auslöser für eine Hyperinflation sein”, meinte IWF-Chef Michel Camdesus im Juli. Die argentinischen Kapitalisten sind eben nicht kapitalistisch genug.
Die beginnenden Streiks in der Provinz Buenos Aires, an denen im Moment 500.000 ArbeiterInnen, unter anderem die Metalle­rInnen, beteiligt sind, sind ein Beispiel für die Herausforderungen, denen sich Präsident Menem in den näch­sten Wochen und Monaten stellen muß. Die argentinische Bevölkerung kann und will die Politik seiner Regierung nicht mehr länger ertragen. Die Plünderungen während der nächtlichen WM-Feiern in Buenos Aires Anfang Juli sind ein Indiz für die Hoffnungslosigkeit der sozialen Situation in Argentinien. Daß Menem dabei auf die repressive Karte setzt ist sehr wahrscheinlich und wird durch das Ergebnis der nächtlichen Ausschreitungen vom Juli verdeutlicht: um 3500 Mann verstärkte Polizeipräsenz in Buenos Aires, über 200 Festnahmen und mehrere Tote.

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