Er war einer der Bekanntesten und einer der Mutigsten. „Einer, der uns vom Territorium El Chapos aus gelehrt hat, wie man über die Drogenmafia berichtet“, schrieb die Reporterin Marcela Turati auf ihrer Facebook-Seite über ihren Kollegen Javier Valdez. Kurz zuvor war der Redakteur der Wochenzeitung Riodoce in seiner Heimatstadt Culiacán im nordmexikanischen Bundesstaat Sinaloa erschossen worden. Wie kein anderer hatte er über die Geschäfte des „Sinaloa-Kartells“ berichtet, dessen Chef Joaquín „El Chapo“ Guzmán in den USA im Gefängnis sitzt. Wenige Stunden später starb Héctor Jonathan Rodríguez Cordova. Unbekannte feuerten auf den Journalisten, der im Bundesstaat Jalisco tätig war. Dort, wo das Kartell „Jalisco Nueva Generación“ das Sagen hat.
Die beiden Morde vom 15. Mai stellten den traurigen Höhepunkt einer Serie von Angriffen dar, die Mexiko in den ersten Monaten des Jahres erlebte. Innerhalb von acht Wochen wurden sieben Medienschaffende ermordet und weitere entführt oder überfallen. So raubten etwa 100 Wegelagerer eine Gruppe von sieben Reportern aus, die im südlichen Bundesstaat Guerrero in der von der kriminellen „Familia Michoacana“ kontrollierten Region Tierra Caliente recherchierten.
Vor allem der Tod des preisgekrönten Journalisten Valdez rief eine Welle des Protests hervor. In vielen Städten gingen Pressevertreter*innen auf die Straße, auch in Chile und Spanien fanden Aktionen statt. 186 internationale Korrespondent*innen, die in Mexiko tätig sind, forderten von der Regierung, die Pressefreiheit zu garantieren und die Täter*innen zur Rechenschaft zu ziehen. Vertreter*innen der UNO sowie der Interamerikanischen Menschenrechtskommission beantragten einen offiziellen Besuch. Der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel, der gerade in Mexiko zu Gast war, sprach mit der kritischen Moderatorin Carmen Aristeguí und stellte Hilfe für die Angehörigen in Aussicht.
Angesichts des politischen Drucks berief Präsident Enrique Peña Nieto zwei Tage nach den Morden eine Sondersitzung seines Kabinetts mit Gouverneuren mehrerer Bundesstaaten ein. Es sei der Tag gewesen, an dem der Staatschef festgestellte, dass in Mexiko Journalist*innen getötet werden, merkte Marcela Turati zynisch an. Erstmals trauerte Peña Nieto öffentlich um einen ermordeten Medienschaffenden, obwohl mindestens 35 gewaltsam starben, seit er 2012 sein Amt übernommen hat. Seit 2000 sind es nach Angaben der Nationalen Menschenrechtskommission (CNDH) 126 ermordete Journalist*innen. Laut Reporter ohne Grenzen ist Mexiko damit nach Syrien das Land mit den meisten getöteten Medienschaffenden. Praktisch keines der Verbrechen wurde aufgeklärt.
Die Straflosigkeit sei fehlender Schulung, mangelnder Infrastruktur und der Gleichgültigkeit der Behörden geschuldet.
Die Straflosigkeit sei fehlender Schulung, mangelnder Infrastruktur und der Gleichgültigkeit der Behörden geschuldet, erklärte der CNDH-Präsident Luis Raúl González Pérez und sprach von schweren Versäumnissen. Journalist*innen würden diffamiert, Beweise nicht gesichert, Ermittlungen verschleppt. Bereits 2012 hat die Regierung deshalb eine Sonderstaatsanwaltschaft für Delikte gegen die Pressefreiheit ins Leben gerufen, seit demselben Jahr existiert auch ein Gesetz, das Mechanismen zum Schutz von Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen vorsieht.
Beiden Einrichtungen versprach Peña Nieto nach der Sondersitzung mehr Unterstützung. Ob aber tatsächlich eine Abkehr von der staatlichen Ignoranz gegenüber den Angriffen stattfindet, muss sich erst noch zeigen. In den vergangenen Jahren mussten die Sonderstaatsanwält*innen mit weniger Mitteln auskommen. Ihr Budget wurde trotz der Zunahme an Überfällen von 2014 auf 2016 um die Hälfte gekürzt. Die Konsequenz: Bei 743 Vorermittlungen gab es drei Verurteilungen. „Sie führen politische Diskurse mit uns, obwohl es eigentlich darum geht, die Straflosigkeit zu beenden“, resümiert Edgar Cortez vom Mexikanischen Institut für Menschenrechte und Demokratie.
Auch die Schutzmechanismen sind umstritten. Nottelefone, Kameras und hohe Zäune sollen für mehr Sicherheit sorgen, doch häufig, so kritisieren die Betroffenen, käme die konkrete Hilfe dann viel zu spät. Vor allem aber will kaum ein*e Reporter*in die angebotene Polizeibegleitung wahrnehmen. Nicht nur, weil nach Angaben der Organisation Artículo 19 die Hälfte aller Angriffe auf Journalist*innen von Sicherheitskräften ausgeht. Wer mit einem Polizisten oder einer Polizistin unterwegs ist, wird kaum einen Interviewpartner oder -partnerin finden, der oder die mit ihm oder ihr spricht. Zu groß ist das Misstrauen, da viele Sicherheitskräfte mit den Banden der organisierten Kriminalität zusammenarbeiten.
Die Hoffnung, dass die Regierung die zunehmende Gewalt gegen Medienschaffende in den Griff bekommt, ist gering.
Die Hoffnung, dass die Regierung die zunehmende Gewalt gegen Medienschaffende in den Griff bekommt, ist gering. Deshalb haben sich nach dem Mord an Valdez Journalist*innen in verschiedenen Gruppen zusammengetan und wollen über eigene Maßnahmen beraten. Die einen planen für Ende Juni große Foren und Diskussionsveranstaltungen, andere – politisch sehr unterschiedlich ausgerichtete Medien – verkündeten in einer gemeinsamen Großanzeige: „Es reicht.“ Rogelio Hernández Lopez von der Union der Journalisten ist optimistisch: „Wenn wir alles umsetzen und uns für gemeinsame Aktionen zusammenschließen, können wir diesem unglückseligen Zyklus, der uns alle und Mexiko so verletzt, etwas entgegensetzen.“
Doch der Feind erscheint übermächtig: Ob das Sinaloa-Kartell, die Nueva Generación Jalisco oder die Familia Michoacana, alle Banden der organisierten Kriminalität arbeiten mit Polizei, Staatsanwaltschaft, Bürgermeisterämtern und auch Gouverneur*innen zusammen. Ihre Kontrolle ist fast total. In Sinaloa, Guerrero, Michoacán und vielen anderen Bundesstaaten können Journalist*innen deshalb nicht frei berichten. Die Macht kommt dort aus den Gewehrläufen, ein Auftragskiller ist angesichts der Armut für wenige Pesos zu haben, und kaum ein*e Richter*in würde sich trauen, eine*n Mörder*in zu verurteilen. Wer sich nicht an die Regeln der Mafia hält, muss mit dem Schlimmsten rechnen. Die Tageszeitung El Norte de Juárez aus dem nordmexikanischen Bundesstaat Chihuahua hat daraus eine deprimierende Konsequenz gezogen: Nachdem deren Korrespondentin Miroslava Breach ermordet worden war, stellte das Blatt am 2. April sein Erscheinen ein. „Es gibt keine Garantien und keine Sicherheit für einen kritischen und ausgewogenen Journalismus“, erklärte der Eigentümer von El Norte, Oscar A. Cantú Murguía, auf der Titelseite der letzten Ausgabe.
Javier Valdez wollte sich dem Terror nicht fügen. „Wenn man mit dem Tod dafür bestraft wird, über diese Hölle zu berichten, dann sollen sie uns eben alle ermorden“, schrieb er nach der Ermordung Breachs, die wie er auch für die linke Tageszeitung La Jornada tätig war. Über die Risiken machte er sich keine Illusionen. Es gebe immer jemanden im Apparat, der für die Kriminellen arbeite und so mancher Mafiaboss werde nur vorgeblich von der Regierung verfolgt, sagte er in einem Gespräch, das nach seinem Tod in der Wochenzeitung Proceso erschien. Darin verdeutlicht er die Macht der Mafia, die sich als Machtstruktur in der Bevölkerung etabliert habe. „Sie ist die Polizei: effektiv, aktiv, omnipräsent. Sie bestraft, tötet und foltert Vergewaltiger, Angreifer und auch einfach Leute, die ohne ihre Erlaubnis agieren.“ Es war das letzte Interview, das Javier Valdez gegeben hat.