Richtungswechsel im Zeichen des Wiederaufbaus

Die Anspannung stand Sebastián Piñera ins lachende Gesicht geschrieben. Nur noch Minuten trennten ihn am Mittag des 11. März von der Verwirklichung seines größten Projekts. Doch dann hatte die Erde schon wieder stark gebebt, kurz vor Beginn der Zeremonie, bei der der 60-Jährige die rotweißblaue Präsidentenschärpe von Michelle Bachelet überreicht bekommen sollte. Dann bebte es noch einmal. Die Gäste im Nationalkongress blickten nervös zur Decke, aber vorne unter dem großen Staatswappen ging die Amtsübergabe unbeirrt weiter. Als es zum dritten Mal bebte, vereidigte der neue Präsident gerade sein Kabinett. Draußen in Valparaíso herrschte derweil Panik – die Marine hatte eine Tsunami-Warnung ausgegeben, und die Bilder der Verwüstungen, die das Mega-Erdbeben der Stärke 8,8 und die darauffolgende Flutwelle zwei Wochen zuvor angerichtet hatten, waren noch frisch.
Piñera kalkuliert kühl und hat seine Widersacher fest im Blick. Dass aber eine Naturkatastrophe seinen Antritt als chilenischer Präsident überschatten würde, damit konnte auch er nicht rechnen. Bis zu jenem verhängnisvollen 27. Februar war ja alles gut gegangen: die schnittige Wahlkampagne gegen den drögen Eduardo Frei, seinen Herausforderer vom Mitte-Links-Bündnis Concertación, ein solides erstes Wahlergebnis im Dezember, ein Kopf-an-Kopf-Rennen zur Stichwahl am 17. Januar und schließlich ein mit 51,6 Prozent der Stimmen ausreichend deutlicher Sieg. Im Wahlkampf hatte Piñera, einer der reichsten Männer Chiles, vollmundig eine Million neue Arbeitsplätze versprochen, aber jetzt zählte man an die 500 Tote und 200.000 ganz oder teilweise zerstörte Häuser. Dazu Schäden an Straßen, Brücken, Häfen, Schulen. Schätzungen des Finanzministeriums beziffern den volkswirtschaftlichen Schaden auf 30 Milliarden US-Dollar. Vom Durchstarten mit der versprochenen „neuen Form des Regierens“ konnte keine Rede mehr sein.
Bei genauerem Hinsehen aber kommt all das dem neuen Präsidenten gar nicht so ungelegen. „Das Erdbeben und seine Folgen passen hervorragend zu Piñeras Stil“, findet Carlos Peña, Rektor der Diego-Portales-Universität. „Piñera ist ein ehrgeiziger Macher-Typ, der es gewohnt ist, schnelle Entscheidungen zu treffen.“ Der Wiederaufbau, der jetzt vor allem in den Regionen Maule und Bío-Bío ansteht, könnte damit zur Visitenkarte des Mannes werden, der sich rühmen darf, Chiles Rechte zum ersten Mal seit 50 Jahren durch demokratische Wahlen an die Macht gebracht zu haben. Die finanziellen Voraussetzungen dafür sind so gut wie lange nicht: Bachelets Regierung hatte dank des jahrelang hohen Kupferpreises über 20 Milliarden US-Dollar an Devisenreserven gespart und nur einen Teil davon zur Abfederung der jüngsten Wirtschaftskrise aufgewendet. Und das rote Metall, an dem der chilenische Staat immer noch viel verdient, wird seit dem Preisverfall im Jahr 2009 wieder stärker nachgefragt: Im Februar 2010 exportierten staatliche und private Unternehmen Kupfer für 2,7 Milliarden US-Dollar, fast das Doppelte des Vorjahresmonats.
Wiederaufbau und Wiederaufbau-Stimmung könnten auch für geraume Zeit verdecken, dass Piñeras Regierung eine von UnternehmerInnen – und für UnternehmerInnen – ist. Denn angesichts der besonderen Umstände kritisierte Innenminister Rodrigo Hinzpeter sachte den privaten Sektor. „Wir brauchen jetzt verständnisvolle und freigiebige Unternehmer“, sagte der Chef von Piñeras Ministerriege und deutete an, die mit Hilfe der Wirtschaft im Rahmen einer Spendenshow im Fernsehen gesammelten 60 Millionen US-Dollar reichten längst nicht aus: „Sollten die Unternehmen glauben, mit diesem Beitrag hätten sie ihre Schuldigkeit getan, dann haben wir ein Problem.“ Ein Problem für die Angesprochenen war die Hilfskampagne dabei sowieso nicht, sondern eine Gelegenheit, ihr Image für ein paar Peso-Millionen aufzupolieren. Und selbst diese Ausgaben hielten sich bei Kampagnen wie „Kaufen Sie eine Wolldecke für Erdbebenopfer, wir tun eine zweite dazu“ in Grenzen.
Betrachtet man Piñeras Kabinett, fallen zwei Dinge auf: Erstens, der Präsident hat die Posten tatsächlich nicht nur nach Proporz an verdiente Mitglieder der ultrarechten Unabhängigen Demokratischen Union (UDI) und der liberaleren Nationalen Erneuerung (RN) vergeben, sondern auch etliche Männer und einige Frauen mit akademischen Ehren rekrutiert. Gleich vier MinisterInnen kommen freilich aus dem Think-Tank der UDI, dem Institut für Freiheit und Entwicklung. Zweitens, so gut wie alle entstammen jenem Teil der chilenischen Gesellschaft, den viele in Anlehnung an Verteilungsstudien nur „ABC1“ nennen. In Santiagos reichem Osten aufgewachsen und beheimatet, mit klingenden Nachnamen und Studium an der Katholischen Universität, kinderreich, fromm – beinahe ein umgekehrtes Abbild der bisherigen Kabinette der Concertación: dort tummelten sich AbsolventInnen der laizistischen Universität von Chile, Verfolgte der Diktatur, MittelschichtlerInnen, Geschiedene, AgnostikerInnen. Mit Joaquín Lavín, seinem Erzkonkurrenten von der UDI, hat Piñera dagegen einen Mann des Opus Dei zum Erziehungsminister gemacht.
Noch ist es zu früh zu beurteilen, wie sich die kulturellen und programmatischen Unterschiede zwischen der alten und der neuen Regierung auswirken. Programmatisch lag man ohnehin nicht weit auseinander, denn Pinochets neoliberales Entwicklungmodell hatte die Concertación ja längst für sich entdeckt. Auch in anderen Politikfeldern dürfte sich wenig ändern, weder bei Mega-Energieprojekten wie HidroAysén, noch beim Umgang mit radikalen Mapuche-Organisationen im Süden des Landes, denen bereits Bachelet mit massiver Polizeigewalt begegnete. Richtig wehtun könnte es dagegen bei „Werte“-Themen: Im Wahlkampf hat sich Sebastián Piñera zwar mit einem schwulen Paar filmen lassen und in Aussicht gestellt, auch den ärmeren ChilenInnen eine Notfall-Verhütung (die „Pille danach“) zugänglich zu machen. Aber es bleibt abzuwarten, was die ultrakonservativen Bastionen der UDI davon übrig lassen, auf deren parlamentarische Unterstützung der Präsident angewiesen ist.
Überhaupt enttäuschte Piñera gleich zu Anfang in Sachen Ethik. Im Wahlkampf hatte der Dollarmilliardär noch fest versprochen, sich vor Amtsantritt von seinem Aktienpaket der Fluggesellschaft LAN zu trennen, um den Eindruck einer Interessenvermischung gar nicht aufkommen zu lassen. Aber auch zwei Wochen nach der Zitterpartie im Kongress war die Hälfte dieser Beteiligungen noch nicht verkauft. In seinem Blog spielt der Publizist Daniel Mansuy Piñeras Beweggründe durch: Entweder habe Piñera das Ganze einfach nicht ernst genommen oder nicht verkauft, weil die Aktien nach dem Erdbeben an Wert verloren hatten. Oder aber er habe ganz gezielt die öffentliche Reaktion abgewartet, „um zu sehen, ob er damit durchkommt. So oder so – keine dieser Erklärungen ist besonders erhebend“, schreibt Mansuy. „Sie zeigen, dass der Präsident nicht in der Lage ist, eine Trennlinie zwischen Privatem und Öffentlichem, zwischen seinen legitimen persönlichen Interessen und seiner Verantwortung als Staatsoberhaupt zu ziehen.“
Gerade noch rechtzeitig handelte Piñera bei einer Personalie, die seine Regierung in enormen Misskredit hätte bringen können. Kurz nach der Ernennung des stellvertretenden Vorsitzenden des Landwirtschaftsverbands SNA, José Miguel Stegmeier, zum Verwaltungschef der Bío-Bío-Region informierte die Internetzeitung El Mostrador über frühere Machenschaften des Mannes: Stegmeier soll an Dreiecksgeschäften beteiligt gewesen sein, um Gelder der ehemaligen Colonia Dignidad zu waschen. Mit diesen finanzierte der flüchtige Sektenführer Paul Schäfer seinen klandestinen Aufenthalt in Argentinien. Auch wurde gegen Stegmeier wegen des Vorwurfs ermittelt, 1997 eines von Schäfers Missbrauchsopfern versteckt zu haben. Der damit entfachte Eklat war Piñera offenbar zu heiß: Schon bald teilte Innenminister Hinzpeter mit, man habe die Vorwürfe geprüft. Weil diese „in Teilen zutreffend“ seien, ziehe man die Ernennung Stegmeiers zurück. Für den verhinderten Verwaltungschef wird die Affäre wohl keine weiteren Folgen haben: „Wir sind kein Gerichtshof“, erklärte Hinzpeter, „wir sind eine Regierung, die politische Entscheidungen trifft und nicht Urteile fällt.“
Trotz solcher Patzer richten sich derweil die Parteien der Concertación nach 20 Regierungsjahren auf eine lange und mühselige Opposition ein. Ob das einst so erfolgreiche Modell – ChristdemokratInnen und SozialistInnen machen gemeinsam sozialdemokratische Politik – überlebt, wird sich zeigen. Wahrscheinlich ist, dass erst einmal die Zentrifugalkräfte überwiegen. Piñera hofiert den rechten Flügel der ChristdemokratInnenen, aus dem er selbst vor vielen Jahren ausscherte. Der linke Flügel der SozialistInnen hingegen könnte sich mit den drei kommunistischen Abgeordneten verbünden, denen die Concertación durch ein Wahlbündnis nach über 35 Jahren wieder in den Kongress verholfen hat.
Überhaupt scheint die chilenische Linke eine Neuorientierung zu benötigen. Denn in den Tagen nach dem Erdbeben ging eine soziale Erschütterung durch das Land. In den zerstörten Gebieten kam es zu massiven Plünderungen, zuerst in Supermärkten und Warenlagern großer Firmen, dann in mittleren und kleinen Läden, irgendwann auch in zerstörten oder verlassenen Häusern. Die Angst griff um sich, Bürgerwehren wurden selbst in den ärmeren Vierteln gebildet, um sich vor der vermeintlichen oder realen Gefahr von Überfällen zu schützen. Die meisten fanden, dass die scheidende Bachelet-Regierung viel zu spät handelte, als sie am vierten Tag den Ausnahmezustand ausrief. Und in den letzten Tagen der Concertación standen plötzlich die Menschen an der Straße und applaudierten den einrückenden Soldaten – eine schwer verdauliche Ironie der Geschichte.
Viel wurde schon über die Ursachen des kollektiven Kontrollverlustes geschrieben. Konservative Kommentatoren beklagten die überbordende Kriminalität, an der selbstverständlich die laxe Politik der Concertación schuld sein soll. Andere erkannten in den Massen, die ungestört Plasma-TVs und Kühlschränke aus den Läden schleppten, das Ergebnis von vier Jahrzehnten der Konsumverherrlichung bei anhaltend großer sozialer Ungleichheit. Für Efrén Osorio, den Vorsitzenden der linken Humanistischen Partei, hat das gesellschaftliche Nachbeben bloßgelegt, wie wenig in Chile heute übrig ist von früheren sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, Parteien, Vereinen: „Gäbe es ein belastbares soziales Gewebe“, so Osorio, „das auch in einer Krisensituation weiterfunktioniert, würden die Chilenen wohl nicht nach dem Militär rufen, sondern ad hoc Überlebensstrategien und alternative Wirtschaftsformen entwickeln.“ Von Sebastián Piñera dürfen sie dabei wohl kaum eine Hilfestellung erwarten.

Hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen

Aufgrund der seit Jahrzehnten nur bruchstückhaft stattfindenden juristischen Aufarbeitung der Verbrechen der Siedlung blieb die Colonia Dignidad bislang vor ihrer endgültigen Auflösung bewahrt. Am 27. November 2008 verurteilte nun der chilenische Richter Jorge Zepeda die Sektenmitglieder Paul Schäfer, Kurt Schnellenkamp und Rudolf Cöllen wegen Mordes an Miguel Becerra im Jahre 1974. Damit wurden erstmals Sektenmitglieder wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Gleichzeitig bestärkt der Richterspruch aber auch die These, die Sektenchef Paul Schäfer als allmächtigen Einzeltäter darstellt. Das schützt bisher den Rest der Sektenführung vor dem Gefängnis und könnte auch zukünftig den Fortbestand der Siedlung sichern.
Miguel Becerra war als Agent der Geheimpolizei der chilenischen Militärdiktatur (DINA) auf dem abgelegenen Sektengelände stationiert. Als bekannt wurde, dass Becerra aussteigen wollte, gab Schäfer den Befehl, ihn mit einem vergifteten Apfel zu töten – er aß jeden Abend einen Apfel, ein Teller Äpfel stand neben seinem Bett. Um die Tat zu verschleiern, brachten Schnellenkamp und Cöllen die Leiche Becerras in dessen eigenem Auto an einen mehrere Stunden von der Colonia entfernten Ort. Der Getötete wurde hinter das Steuer gesetzt und ein Selbstmord durch Abgasvergiftung vorgetäuscht.
Neben einer genauen Beschreibung des Tathergangs durch die Geständnisse Schnellenkamps und Cöllens enthält das jüngst gesprochene Urteil den Wortlaut weiterer Zeugenvernehmungen, die die systematische und koordinierte Zusammenarbeit der Colonia mit den chilenischen Repressionsorganen belegen. Der damalige Regierungssprecher Pinochets, Federico Willoughby, erklärte beispielsweise, er sei schon vor dem Putsch mehrfach in der Colonia gewesen. Schäfer habe ihm damals seine Unterstützung bei der Destabilisierung der Allende-Regierung angeboten, nach dem Putsch habe die Colonia ihm Leibwachen für Haus und Familie in Santiago gestellt.
Desweiteren gab Willoughby an, am 20. August 1974 zusammen mit Pinochet und dem DINA-Chef Contreras bei einer Waffenschau in der Colonia gewesen zu sein, bei der in der Siedlung hergestellte Maschinenpistolen präsentiert wurden. Willoughby hatte damals den Eindruck, dass Pinochet bestens über die dortigen Vorgänge informiert war. Ein weiterer Heeresgeneral habe ihm bereits vorher dargelegt, dass die Alemanes durch ihr „Personal, ihre Waffen und ihre Artillerie“ in der Lage seien, die hunderttausend EinwohnerInnen zählende Stadt Los Angeles in der Nähe der Kolonie einzunehmen.
Doch das Urteil vom 27. November enthält noch mehr Datails. So zitiert es mehrfach aus Folterhandbüchern in deutscher Sprache, die als Leitfäden für einen gemeinsamen Folterkurs deutscher Siedler und chilenischer Geheimdienstler in der Siedlung Ende 1974 erstellt wurden. Anhand von Erfahrungen der SS mit politischen Gefangenen im zweiten Weltkrieg werden in kochbuchähnlicher Manier Folterrezepte beschrieben: „Der Gefangene wird in eine dunkle Holzkiste gequetscht […]. Nach etwa einer Viertelstunde beginnen die Muskelschmerzen. Nach einer halben Stunde bekommt er Krämpfe. Dann rausholen, auf einen Stuhl setzen, mit einem Scheinwerfer anleuchten und die Augenbewegungen beobachten. Man sagt ihm nun, dass er bei Falschaussagen eine Woche lang in die Kiste gesteckt wird […]“
Über 30 Jahre nach dem Erscheinen der amnesty international-Broschüre Colonia Dignidad – Deutsches Mustergut in Chile – Ein Folterlager der DINA, die Folteraussagen mehrerer politischer Häftlinge aus der Colonia dokumentierte, werden nun Führungsmitglieder der Sekte erstmals wegen Menschenrechtsverbrechen verurteilt. Juristisch möglich wurde dies erst durch die Kategorisierung der Tat als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die eine Verjährung aufhebt und das chilenische Amnestie-Gesetz außer Kraft setzt. Normalerweise verurteilt die chilenische Justiz nur Personen, die im Auftrag des Staates handelten, nach dieser Rechtsfigur, nicht jedoch Privatpersonen. Nun argumentierte das Gericht, dass im vorliegenden Fall Privatpersonen aus politischen Motiven Rechte eines Teils der Zivilbevölkerung systematisch verletzt haben. Damit wird die Colonia als parastaatlicher Akteur begriffen, der in systematischer Weise gemeinsam mit den staatlichen Repressionsapparaten Menschenrechtsverbrechen gegen politische Oppositionelle verübte.
„Die Haupttätigkeit dieser deutschen Siedler bestand zu jener Zeit [Juli 1974] in der Zusammenarbeit mit den Streitkräften bei Geheimdienstaufgaben, Verhaftungen und der allgemeinen Repression gegen Zivilisten, die der Zugehörigkeit der am 11.09.1973 abgesetzten Regierung verdächtigt wurden“, heißt es nun in erster Instanz. Verurteilt wurde der noch immer schweigende Paul Schäfer zu weiteren sieben Jahren Haft. Schnellenkamp und Cöllen bekamen nur 541 Tage auf Bewährung wegen Beihilfe. Das Gericht wertete ihre Geständnisse und die zum Tatzeitpunkt strafrechtliche Unbescholtenheit der beiden als strafmindernd.
Paul Schäfer ist heute das einzige Sektenmitglied, das im Gefängnis sitzt. Viele weitere Prozesse laufen, doch seine Mittäter bekommen meist niedrige Strafen, oft auf Bewährung. All sie sollen lediglich Befehlsempfänger des allmächtigen Schäfer gewesen sein. Menschenrechtsanwalt Hernán Fernández hält dagegen, die Colonia Dignidad sei ein umfassendes kriminelles System gewesen. Die strafrechtliche Aufarbeitung müsse daher alle 22 Personen der Führungsriege der Sekte mit einbeziehen.
Während Folterstätten der DINA wie Villa Grimaldi oder Tejas Verdes gleich nach der Diktatur auch von den Gerichten als Orte der systematischen Folter und des Mordes bezeichnet wurden und heute teilweise Gedenkstätten sind, schaffte es die Colonia Dignidad, das wahre Ausmaß der dort begangenen Verbrechen zumindest offiziell verborgen zu halten. Möglich machte das ein breites Unterstützungsnetzwerk in chilenischer Justiz, Militär und Politik – aber auch das Schweigen der deutschen Außenpolitik. Obwohl das Auswärtige Amt über erdrückende Beweise für Verbrechen der Kolonie verfügte, berief es sich jahrzehntelang auf das in dubio pro reo-Prinzip und ließ so die Verbrechensmaschinerie der Colonia gewähren. Ende der 70er Jahre, also zur schlimmsten Zeit der Pinochet Diktatur, hat der bundesdeutsche Botschafter Erich Strätling die Kolonie mehrfach besucht und sich dort wie bei einem Staatsbesuch empfangen lassen. In einer Begrüßungsrede schwärmte Strätling vor den versammelten Sektenmitgliedern, er fühle sich wie im Märchen bei Schneewittchen. An den vergifteten Apfel, der Miguel Becerra tötete, dürfte er dabei nicht gedacht haben.
// Dieter Maier, Jan Stehle

Klopfzeichen aus der Vergangenheit

1976 tötete die Ex-Geheimdienstagentin Gladys Calderón in einem Geheimgefängnis die verhaftete und gefolterte Führung der kommunistischen Partei durch Giftspritzen. Im Dezember 2007 wurde sie nach einjähriger Haft vorläufig entlassen, während der Prozess gegen sie weiter läuft. Das Echo in der chilenischen Presse war gering.
Ebenfalls im Urlaubsmonat Dezember verkürzte der Oberste Gerichtshof Chiles die Haftstrafen der Verantwortlichen von einem Massaker an 22 GegnerInnen der Pinochetdiktatur im Jahr 1978. Dabei wurden damals die Gefangenen auf das Gelände der deutschen Sekte Colonia Dignidad (heute Villa Baviera genannt) gebracht, an den Rand einer Grube gestellt und erschossen. Die Colonia Dignidad wurde 1961 als Festungsartige, militärisch organisierte Siedlung von dem Deutschen Paul Schäfer gegründet. Während der Diktatur arbeiteten Schäfer und seine Leute eng mit dem Geheimdienst DINA zusammen. Als Pinochet später die Beseitigung aller chilenischen Geheimfriedhöfe anordnete, mussten die deutschen SiedlerInnen die verwesenden Leichen ausgraben und verbrennen.

Der Hauptverantwortliche des Massakers, Hugo Cardemil, war ebenfalls verantwortlich für ein weiteres Massaker, das am Cerro Gallo stattfand, einem Hügel in unmittelbarer Nähe der Colonia Dignidad. Die Sektensiedlung war die Kommandozentrale dieser groß angelegten Militäroperation. Bis heute wurde das Massaker nie gerichtlich untersucht. Dass es stattgefunden hat, steht jedoch außer Zweifel. Sektenführer Paul Schäfer hat das Verbrechen vor ZeugInnen immer wieder beklagt, die Schuld dafür aber anderen zugeschoben.
Der deutsche Siedler Gerhard Mücke, der die Grube für die 22 Opfer ausgehoben und wieder aufgefüllt hatte, der Arzt Hartmut Hopp und Kurt Schnellenkamp, alle enge Vertraute Schäfers, durften nun das Gefängnis „vorübergehend“ verlassen. Sie leben seit vielen Monaten wieder in der heutigen Colonia Baviera. Albert Schreiber, lange Zeit Schäfers rechte Hand, lebt mittlerweile in Deutschland. Die Staatsanwaltschaft Bonn ermittelt gegen ihn, konnte aber bisher keinen Haftbefehl erwirken.
Auch mit dem Verschwinden politischer Gefangener, die in Pinochets offiziellem Sommersitz in Bucalemo ermordet, dann in einen Hubschrauber gesteckt und über dem Meer abgeworfen wurden, hat sich die chilenische Justiz nie beschäftigt.

Sprüche wie „Nun lasst uns doch endlich mal die Vergangenheit vergessen!” gehören zum chilenischen Alltag.

Die Kriminalpolizei steht im Spannungsfeld zwischen Vergessen und Aufarbeitung. Die fünfte Abteilung der Kriminalpolizei, das so genannte Quinto, ist für viele Ermittlungen über Menschenrechtsverletzungen zuständig. Zu Beginn der Militärdiktatur war Luis Henríquez Chef des Quinto. Sein Vorgesetzter Nelson Mery war nach dem Putsch in der Artillerieschule von Linares an Folterungen beteiligt. Henríquez hatte wohl zu gut gearbeitet, denn er wurde geschasst. Henríquez´ Nachfolger Rafael Castillo hat mit seinem hoch spezialisierten Team viele Verbrechen der Pinochetdiktatur aufgeklärt. Manches, was sie rekonstruierten konnten, ging jedoch in den Warteschleifen der Justiz unter. Castillo hatte 2005 unter Einsatz seines Lebens den ehemaligen DINA-Chef Manuel Contreras verhaftet. 2007 protokollierte er, dass ein General Morde der Diktatur vertuscht hatte, indem er die Leichen heimlich ausgraben und entsorgen ließ. Der General verlangte, dass die entsprechende Passage aus dem Protokoll gestrichen werde. Castillo weigerte sich, wurde seiner Aufgaben entbunden, erst nach Protesten von Menschenrechtsorganisationen wieder eingesetzt und schließlich während der Weihnachtstage 2007 in den vorzeitigen Ruhestand geschickt. Castillo berichtete über Behinderungen und Bespitzelung seiner Arbeit. Einer seiner Mitarbeiter wurde ins Archiv versetzt. Die chilenische Präsidentin Michelle Bachelet hat Castillo mittlerweile auf einen Ehrenposten bei der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) gehievt.
Dieses Hin und Her zwischen Geschichtsaufarbeitung und „Entsorgung“ der Vergangenheit ist eine Nachwirkung der transición, des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie, der keinen Bruch mit der Pinochet-Zeit darstellte, sondern vielmehr als ausgehandelter und „konsensgeleiteter“ Systemwechsel stattfand. Straffreiheit war eine der Bedingungen, die das Militär für den Rückzug in die Kasernen damals stellte. Diese Bedingung geriet zwar insbesondere nach Pinochets Verhaftung in London 1998 ins Wanken, aber auf vielen Gebieten wurden weiterhin faule Kompromisse ausgehandelt. Die Justiz definiert das Verschwindenlassen von Personen als Entführung, die so lange andauert bis das Opfer tot oder lebendig wieder auftaucht. Doch nach mehr als 30 Jahren ist die Beweislage schwierig. Opfer und Täter sterben oder die Täter machen Verhandlungsunfähigkeit oder notfalls den „Befehlsgehorsam“ für den Straferlass geltend. Sprüche wie „Nun lasst uns doch endlich mal die Vergangenheit vergessen und einen Schlusspunkt setzen!” oder „Außerdem war ja nicht alles schlecht, was Pinochet machte!“ gehören zum chilenischen Alltag.

Die Zeit unter Pinochet hat die chilenische Gesellschaft atomisiert.

Diese Mentalität öffnet dem Geschichts­revi­sio­nismus Tür und Tor. Chile hatte nach Pinochets Verhaftung 1998 die Chance, den Diktator als Betrüger und Verbrecher wahrzunehmen. Aber auch seine Prozesse wurden so lange hinauszögert und immer wieder auf Eis gelegt, dass es bis zu seinem Tod im Dezember 2006 nie zu einem schlagkräftigen Urteil gekommen ist. Und das heutige Chile interessiert sich nicht mehr für eine kritische Diskussion der von ihm begangenen Verbrechen. Tatsächlich gibt es in dem Land über 500 Orte, an denen gefoltert und gemordet wurde. Doch an historischer Aufarbeitung sowie ausreichenden Kenntnissen über diese Orte mangelt es noch. Eine Gedenkstättenkultur existiert bisher nur in Ansätzen. Der durch eine private Initiative gegründete Parque de la Paz (Park des Friedens) auf dem planierten Gelände des früheren Folterzentrums Villa Grimaldi in Santiago stellt eine der wenigen Ausnahmen dar.
Die Zeit unter Pinochet hat die chilenische Gesellschaft atomisiert. Jeder ist sich selbst der Nächste. An die Stelle der Solidarität, für die die Volksfrontregierung Salvador Allendes (1970-73) stand, ist die Konkurrenz aller gegen alle getreten. Um den Preis des Vergessens behilft sich die chilenische Gesellschaft mit einem neuen, anderen Wir-Gefühl. Das „nationale Interesse” muss beispielsweise herhalten, wenn es um uralte Grenzfragen mit dem Nachbarland Peru geht. Mit dieser Begründung jedenfalls schickte die chilenische Regierung die beiden ehemaligen Pinochet-Minister Miguel Schweitzer und Hernán Felipe Errázuriz in eine chilenisch-peruanische Arbeitsgruppe, die in Den Haag das Grenzproblem lösen soll. Bei so viel billiger Versöhnung droht dem Land ein kollektiver Gedächtnisverlust.

Aber immer wieder stören Klopfzeichen aus der Vergangenheit die nationale Harmonie. Im Oktober 1973 notierte der damals junge Offizier Santelices in Antofagasta in seinem Wachbuch, dass er 14 Gefangene an eine Armeeeinheit übergeben habe. Eben diese wurde später als die „Karawane des Todes“ bekannt und bildete den Ursprung der DINA. Die 14 Gefangenen wurden noch in derselben Nacht in der Wüste ermordet. Es war der Beginn von Pinochets Vernichtungspolitik gegenüber der Linken. Und heute? Heute ist Santelices General. Er habe damals auf Befehl gehandelt, sagt er. Noch ist offen, ob er damit durchkommt.

Wahnsinn und Politik

Die Diktatur Augusto Pinochets hat den politischen Terror in einer bis dahin in Lateinamerika unbekannten Weise gesteigert. Sie hat auch mit Hilfe der Colonia Dignidad als erste das Verschwindenlassen politischer Gefangener, das heute global verbreitet ist, systematisiert. Auch die räumliche Entgrenzung war neu. In den drei Jahrzehnten ihrer Existenz operierte und mordete der chilenische Geheimdienst DINA (Dirección Nacional de Inteligencia) in Lateinamerika, den USA und Europa. Die Geheimdienste Israels und Südafrikas gehörten zu ihren Bündnispartnern. In der Internationalisierung des Staatsterrorismus war die DINA der übrigen Welt eine Generation voraus. Der kommunistische Feind war überall. Die DINA plante Aktionen gegen die baskische ETA, die irische IRA und die deutsche RAF. Die „Operation Condor“ wollte von Chile aus den Kommunismus in ganz Lateinamerika besiegen. Eine der Drehscheiben war die deutsche Siedlung Colonia Dignidad. Sie ist ein frühes, wenn nicht das erste Beispiel für die Auslagerung der staatlichen Folter in einen privaten und rechtsfreien Raum, die ein Vierteljahrhundert später zur weltweiten Tendenz wurde.
Klaus Schnellenkamp, der 30 Jahre lang in der Sekte gelitten hatte, schildert in Geboren im Schatten der Angst, wie diese Gruppe von 300 Menschen unter der brutalen Leitung von Paul Schäfer so lange bestehen konnte. Es ist nach Efrain Vedders Weg vom Leben der zweite Bericht eines Opfers der Sekte.
Die Sekte versuchte, urchristlich zu leben, ohne Geld, ohne Zwischeninstanzen zu Gott, ohne irgendeinen privaten Vorbehalt. Der Teufel selbst trieb sich im Sektendorf herum und führte „Lustangriffe“ durch. Bei Erektionen mussten die Jungen Spagat machen und beten. Wenn das nicht half, bekamen sie Prügel, Elektroschocks und Psychopharmaka. Tatsächlich war aber Paul Schäfer der allmächtige Teufel, der seine pädophilen Neigungen auslebte, indem er die männlichen Kinder missbrauchte. So war Schäfers Sekte bestens darauf vorbereitet, politische Gefangene zu foltern.

Reigen der Politiker

Pinochet besuchte die Siedlung, später tat dies auch seine Gattin, dann der Geheimdienstchef. Schäfer inszenierte ihnen opulente Staatsempfänge mit Musik, Turnübungen und mörderischen Jagden. Besuche von deutschen Diplomaten und Lokalpolitikern folgten. Franz Josef Strauß war entgegen einer landläufigen Meinung nie dort.
Das Buch reflektiert den Wahnsinn der von Schäfer geschaffenen Welt bis in kaum erträgliche Details hinein. Im Zentrum steht die Auseinandersetzung Schnellenkamps mit seinem leiblichen Vater. Er hatte ihn nur als „Onkel Kurt“ gekannt, denn Schäfer trennte die Familien. In seiner Kindheit hatte ihn „Onkel Kurt“, ohne ein Wort zu sagen, brutal zusammengeschlagen. Kurz darauf prügelte ihn „Tante Elisabeth“ blutig, seine Mutter, wie er elf Jahre später erfuhr. Unmittelbar vor der Ausreise besuchte Schnellenkamp seinen Vater im Hochsicherheitsgefängnis von Santiago, bot auch eine Aussöhnung an. Der Vater gab sich reuelos und unschuldig, sagt jedoch Sachen wie „…wenn nur ein Konto gefunden wird, dann fliegt der ganze Laden hier auf.“ Das Gespräch endete im Streit. Schnellenkamp kam bettelarm im Dezember 2005 in Deutschland an, hungerte und fror tagelang.
Schnellenkamps mal poetische, mal etwas pathetische Sprache ist ungewohnt und transportiert noch etwas von dem hinterwäldlerischen, hinter dem 60 km langen Hightech-Zaun konservierten Deutsch der Siedlung. In dem Buch hallen Schäfers oft mehrfach in der Woche gehaltenen, stundenlangen nächtlichen Predigten nach. Der Autor gibt Dialoge, die Jahre zurückliegen, wörtlich wieder. Das klingt gekünstelt. Aber wer das Langzeitgedächtnis und die Intelligenz des Autors, der sich selbst nach einem Lehrbuch Integralrechnung beibrachte, kennengelernt hat, zweifelt nicht daran, dass es so gewesen ist. Nur für sich selbst schrieb Schnellenkamp auf dem Klo Gedichte. Sie wurden gefunden und er zur Strafe halb tot geschlagen. Schnellenkamp berichtet über Prügel, Misshandlungen mit Psychopharmaka und wochenlanger Haft. Diese Schule des Schreibens hat ganz ohne ghostwriter ein Buch hervorgebracht, das so einmalig ist wie die Colonia Dignidad selbst.
In den schlimmsten Phasen der Pinochet-Zeit hat die deutsche Botschaft ihre schützende Hand über diese Unmenschlichkeit gehalten. Der Botschafter ließ seine Residenz von Handwerkern der Colonia renovieren, die ihm zum Dank ein paar Wanzen zum Abhören hinterließen. Abends lud er sie zu seinem exzessiven Alkoholgenuss ein. Mit solchen Tricks erpresste Schäfer den Diplomaten. Heute versuchen die chilenischen und deutschen Behörden, den noch unbekannten Teil der Wahrheit unter Verschluss zu halten. Er möge in Deutschland keinen Skandal machen, sagte die Botschaft, bevor Schnellenkamp Chile verließ. Aber wer Schäfers Hölle überstanden hat, unterwirft sich nicht mehr.
Der Kampf geht als Scharmützel weiter. Albert Schreiber, lange Zeit der zweite Mann nach Schäfer und Herr über die Konten, lebt (oder lebte?) mit Frau und Kind untergetaucht in Deutschland. Hans-Jürgen Riesland, Schäfers rechte Hand und Nachfolger nach dessen Flucht ebenfalls. Insgesamt gingen an die hundert ehemalige Schäfer-Anhänger nach Deutschland. Viele von ihnen treffen sich in der Freien Volksmission in Krefeld. Vergesst alles, was gewesen ist, heißt es dort. Dagegen hat sich Schnellenkamp der Erinnerungsarbeit verschrieben.

Klaus Schnellenkamp: Geboren im Schatten der Angst : Ich überlebte die Colonia Dignidad. Herbig, München 2007, 238 S., 19,90 Euro
Weitere Bücher:
Efrain Vedder/Ingo Lenz: Weg vom Leben : 35 Jahre Gefangenschaft in der deutschen Sekte Colonia Dignidad. 204 S.,Ullstein-Buchverlag. Berlin 2005
Friedrich Paul Heller: Lederhosen, Dutt und Giftgas: Die Hintergründe der Colonia Dignidad
Schmetterlingverlag Stuttgart 2006. ISBN 3 89657 093 5

Lederhosen, Dutt und Giftgas

Die Colonia Dignidad löst sich auf. Nach der Verhaftung des Sektenführers Paul Schäfer am 10. März 2005 in Argentinien fällt die Gruppe auseinander. Ein guter Zeitpunkt für eine Bilanz.
Die zieht Paul Helller unter dem Titel „Lederhosen, Dutt und Giftgas“. Er resümiert die Geschichte der Sekte um Paul Schäfer und gewährt Einblicke in das brutale und freudlose Leben der Sektenmitglieder.
Während in der Sekte Geschlechtlichkeit verteufelt und zum Beispiel Biologiebücher zensiert wurden, schaffte es Schäfer, den sexuellen Missbrauch durch ihn als eine Gabe Gottes darzustellen. Der Autor zeichnet das erschreckende Bild einer Gruppe, die durch weitgehende Isolation von der Außenwelt eigene, von Paul Schäfer gesteuerte Moralvorstellungen entwickelte. Kindesmissbrauch, Psychoterror, gegenseitige Bespitzelung und Zwangsmedikation für die Abweichler gehörten zum Alltag der Gruppe.

Pinochets Helfer

Heller zeigt außerdem auf, wie die Colonia Dignidad mit der chilenischen Militärdiktatur unter Augusto Pinochet zusammenarbeitete. Das Gut diente als Folterlager und Zentrale des Geheimdienstes DINA, und auch Sektenmitglieder haben sich an Folterungen von politischen Gefangenen beteiligt. Besonders eindrücklich gelingt es dem Autor, in Portraits der Peiniger von Regimegegnern der Frage nachzugehen, wie ein Mensch zum Folterer wird.

Neue Fakten

Was die Brisanz des Buches ausmacht, sind die Ausführungen über die weiteren Verstrickungen der Colonia Dignidad in Massenmorde, Waffenschmuggel und die Produktion von B- und C-Waffen. Zwischen 1978 und 1980 wurden erhebliche Mengen des Giftgases Sarin produziert. Die Anlagen dazu wurden als Missionsgut deklariert aus Deutschland geliefert. Einzelheiten über Menge und Umstände der Chemieproduktion beschreibt Heller leider nicht. Eine Schlüsselrolle bei den Schmuggelgeschäften spielte der deutsche Waffenhändler Gerhard Mertins, der zeitweise der Sprecher des deutschen Freundeskreises der Colonia Dignidad war. Im Juni 2005 fand die Polizei auf dem Gelände der Colonia Dignidad größere Mengen von Waffen. Über Mertins soll es eine Zusammenarbeit der Colonia Dignidad mit dem deutschen Bundesnachrichtendienst (BND) gegeben haben. Auch hier geht Heller aber nicht auf weitere Einzelheiten einer Zusammenarbeit mit deutschen Stellen ein.

Und was kommt noch?

In Chile wird derweil Paul Schäfer und der Führungsclique der Sekte der Prozess wegen sexuellem Missbrauchs von Kindern, der Beihilfe zu diesen Taten und wegen der Folterung und Ermordung von politischen Gefangenen gemacht.

Friedrich Paul Heller: Lederhosen, Dutt und Giftgas. Die Hintergründe der Colonia Dignidad. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2006, 136 Seiten, Euro 12,80.

Neue Ermittlungen im Fall Schäfer

Immer wieder glaubten die GegnerInnen der ehemaligen Colonia Dignidad, die pseudo-religiöse Gruppe um den mittlerweile 84-jährigen Paul Schäfer besiegt zu haben. Dem war aber nicht so. Die Enklave im Süden Chiles wurde 1961 von Schäfer gegründet, der dort eine von nationalsozialistischen Gedanken und Sekteneinflüssen geprägte Zwangswelt aufbaute. Zwar wurde sie formal 1991 vom chilenischen Staat aufgelöst, der rechtliche Träger des Guts existierte faktisch jedoch weiter; das Vermögen wurde auf sieben neu gegründete Gesellschaften übertragen und die Kolonie in Villa Baviera umgenannt. Nachdem mehrere chilenische Eltern Schäfer im Juni 1996 wegen Kindesmissbrauch verklagten, nahmen sich die chilenischen Behörden des Problems Colonia Dignidad endlich mit der nötigen Ernsthaftigkeit an. Im August 1996 wurde ein Haftbefehl gegen Paul Schäfer ausgestellt. Doch Schäfer tauchte unter. Auf einer von seinen engsten Vertrauten angemieteten Farm im Großraum Buenos Aires fand der durch ein chilenisches Gericht im November 2004 in Abwesenheit verurteilte Schäfer Unterschlupf. Chilenische ReporterInnen stießen im Januar 2004 in Argentinien auf seine Spur, was dazu führte, dass Schäfer zusammen mit fünf seiner BegleiterInnen am 10. März 2005 verhaftet wurde. Nach einer schnellen Abschiebung nach Chile befindet sich Schäfer, der nach einer Bypass-Operation mittlerweile im Rollstuhl sitzt, seit dem 13. März 2005 im Hochsicherheitstrakt des Gefängniskrankenhauses in Santiago.
Ebenfalls in Santiago in Haft sind fünf der führenden Mitglieder der ehemaligen Colonia Dignidad: Hartmut Hopp, damals Arzt der Sekte, Gerhard Mücke und Karl van den Berg, die für den so genannten „Sicherheitsdienst“ zuständig waren. Außerdem Kurt Schnellenkam. Die fünf in Argentinien verhafteten Begleitpersonen von Schäfer befinden sich dort inzwischen nicht mehr im Gefängnis, stehen aber unter polizeilicher Aufsicht. Sie wehren sich mit juristischen Mitteln gegen ihre Auslieferung nach Chile.

Waffenfund in der Colonia

Im Juni 2005 wurden bei Durchsuchungen der Colonia Dignidad von der chilenischen Polizei weitere Beweise für die Zusammenarbeit der Sekte mit der Pinochet-Diktatur und der ehemaligen Geheimpolizei DINA entdeckt. Neben einem größeren Waffenarsenal mit Handfeuerwaffen, Minen, Granaten sowie Raketenwerfern wurden vergrabene Autos gefunden, die verschwundenen politischen Gefangenen gehört hatten. Der Tipp für die Grabungsstelle kam von Efraim Fedder, der im Dezember 2002 die Kolonie verließ und in seinem Buch „Weg vom Leben“ über das interne Terrorregime der Sekte und auch vom Verschwindenlassen politischer Gefangener in der Colonia in Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst berichtete. Auch andere Angehörige der Sekte haben mittlerweile dem zuständigen Untersuchungsrichter bereitwillig Auskunft erteilt. Anfang Oktober 2005 sind daraufhin die einsitzenden Führungspersonen der Colonia Dignidad zusätzlich wegen illegalen Waffenhandels angeklagt worden.
Darüber hinaus wurde in einem Versteck auf dem Gelände der heutigen Villa Baviera ein Archiv der DINA mit mehr als 40.000 Karteikarten gefunden. Die meisten sind vom Operationskommando Süd und der regionalen Brigade der DINA erstellt worden. Die Materialien dokumentieren laut der chilenischen Zeitung La Tercera den Aufenthalt von verschwundenen Gefangenen auf dem Gut sowie die Namen der Beteiligten an Entführung und Folter. Gerhard Mücke hat inzwischen ausgesagt, dass sich Sektenangehörige auch an Erschießungen von politischen Gefangenen beteiligt haben. Auf den Karteikarten finden sich Abschriften der durch Folter erzwungenen Aussagen sowie Geheimdienstanalysen und Richtlinien der DINA für die Suche nach weiteren politischen GegnerInnen. Unter den Karteikarten befinden sich auch solche, die zwischen 1967 und 1970 von der damaligen Politischen Polizei angefertigt wurden und die GegnerInnen der Sekte betreffen. La Tercera äußerte den Verdacht, dass dieses Material der Sekte Ende 1974 von der DINA zur Verfügung gestellt wurde, als die Zusammenarbeit vereinbart wurde. Das Archiv diente der Colonia Dignidad, sich ein Unterstützungsnetz aus chilenischen PolitikerInnen aufzubauen beziehungsweise Material zu deren Erpressung zur Verfügung zu haben.

Steuerhinterziehung und Zwangsarbeit

Am 26. August 2005 kam die Polizei mit Panzerwagen, Wasserwerfer und Hubschrauber in die Colonia Dignidad. Die Richterin Ximena Pérez aus der Provinzhauptstadt Parral übertrug dem Konkursverwalter Herman Chadwick die Regie über die sieben Firmen, die nach der formalen Auflösung der Sektengesellschaft im Jahr 1991 die Geschäfte der Gruppe betrieb. Die Unternehmen dienen der Vermarktung von Lebensmitteln, Getreide oder Holz und dem Betrieb eines Restaurants in Bulnes. Seit 1991 verschwanden Millionenbeträge. Pérez ermittelt wegen Bildung einer illegalen Vereinigung, Steuerhinterziehung und Zwangsarbeit.
Diese Bemühungen erlitten Mitte September jedoch einen Rückschlag. Der vom Obersten Gerichtshof neu ernannte Untersuchungsrichter Jorge Zepeda, dem sämtliche Ermittlungen gegen die Sekte übertragen wurden, hob die Zwangsverwaltung wieder auf. Seine Ermittlungen will er auf sechs Mitglieder beschränken. Aufgehoben hatte er bereits die richterliche Anordnung, gegen die Führung der Colonia Dignidad ein Verfahren wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung einzuleiten. Seine Entscheidung begründete er damit, dass den Opfern durch die juristischen Maßnahmen nicht geholfen sei. Während die Führungsclique der Colonia Dignidad die Rücknahme der Zwangsverwaltung bejubelte, ist die Generation der etwa 40-jährigen Kolonie-BewohnerInnen enttäuscht, da sie sich erhofft hatten, durch die Bemühungen des Zwangsverwalters Licht in das Dunkel der finanziellen Transaktionen zu bringen und allen ArbeiterInnen reguläre Löhne zu zahlen. Das Innenministerium hat vor dem Obersten Gerichtshof die Aufhebung der Zwangsverwaltung angefochten. Eine Entscheidung ist noch nicht bekannt.
Die Verhaftung eines Großteils der Führungsgruppe hat die im Gut Verbliebenen, etwa 180 deutsche StaatsbürgerInnen, zwar weitgehend führungslos gemacht, andererseits aber eine gewisse Öffnung der Gruppe bewirkt. Das Gut kann nun ohne Kontrollen betreten werden und Presse wird nicht mehr abgewiesen. Auflösungserscheinungen sind unverkennbar: Die früher strikte Trennung nach Geschlecht und Alter wurde aufgehoben und der Kontakt zu Verwandten in Deutschland wieder aufgenommen. Einige Personen verließen sogar das Gut und versuchen in Chile oder auch in Deutschland eine neue Existenz aufzubauen. Eine Gruppe der BewohnerInnen distanzierte sich inzwischen von ihrer bisherigen Führung und ihrer Vergangenheit. In einem Interview mit der chilenischen Zeitung La Nación vom 5. Juni 2005 äußerte Michael Müller, damals provisorischer Sprecher der Colonia Dignidad, dass schwere Anschuldigungen geäußert worden seien und jeder seinen Teil der Verantwortung übernehmen müsse. Angehörige dieser Gruppe arbeiten mit den chilenischen Behörden zusammen und erteilen Auskunft über das Leben in der Colonia Dignidad und deren Zusammenarbeit mit der Pinochet-Diktatur. Mit einem in Deutsch und Spanisch verbreiteten Memorandum vom Oktober 2005 wurde außerdem öffentlich um Vergebung gebeten.

Deutsche Beteiligung

Seit Ende des letzten Jahres muss sich Paul Schäfer, zusammen mit zwei Mitgliedern der DINA, wegen der Beteiligung am Verschwindenlassen des politischen Gefangenen Alvaro Vallejo verantworten. Auch in weiteren Verfahren, zum Beispiel wegen der Entführung des Mitglieds der bewaffneten Widerstandsgruppe MAPU Juan Maino Canales, wird er von verschiedenen RichterInnen verhört. Außerdem ist er der Bildung einer illegalen Vereinigung und des Waffenhandels angeklagt. Ihm wird in absehbarer Zeit der Prozess gemacht werden. 20 weitere Führungsmitglieder, die bereits vor einem Jahr wegen Beihilfe zum Kindesmissbrauch und Kindesentführung verurteilt worden sind, stehen kurz vor einer weiteren Verurteilung. Dabei wird viel davon abhängen, inwieweit es gelingt, die ökonomische Existenz der Enklave nach Verurteilung der Führungsclique zu sichern. Eine bedeutende Rolle spielt hier der chilenische Staat, der gegen die Colonia Dignidad Steuernachzahlungen in Millionenhöhe geltend macht und deshalb eine Beschlagnahme der Güter bewirkt hatte.
Eine Lösung muss auch für die chilenischen Opfer der Colonia Dignidad gefunden werden. Ehemalige politische Gefangene haben zivilrechtliche Ansprüche gegen die deutschen Helfer der Folterer gestellt. Die Lösung für diese Probleme wäre die Gründung einer Art Stiftung aus Teilen des Vermögens der Sekte. Aus diesem Grundstock könnte den Opfern der Diktatur zum Beispiel eine kleine Rente gezahlt werden. Im März 1976 veröffentlichte die deutsche Sektion von Amnesty International ihre Broschüre „Colonia Dignidad – Ein Folterlager der DINA“. Es bleibt zu hoffen, dass nun nach mehr als 30 Jahren endlich der wesentliche Teil der Verbrechen aufgeklärt wird, der in der Colonia Dignidad vom chilenischen Geheimdienst mit Hilfe der Deutschen begangen wurde. Hilfreich dazu könnte sein, dass endlich auch die Bundesregierung ihre Kenntnisse, einschließlich derer der deutschen Geheimdienste, veröffentlicht.

Paul Schäfer gefasst

Paul Schäfer, der „Führer“ der einst als „Mustergut“ gerühmten, dann nur noch berüchtigten, Siedlung Colonia Dignidad, verhaftet! Die Nachricht hat zu Recht Aufsehen erregt, sowohl in Deutschland als auch, mehr noch, in Chile. Es ist in der Tat erstaunlich, dass es acht Jahre nach seinem Untertauchen 1997 gelungen ist, Schäfer aufzuspüren.
Aber mindestens so erstaunlich ist es, dass sich Schäfer erst 1997, also im achten Jahr nach dem Ende der Pinochet-Diktatur, nicht mehr sicher vor juristischer Verfolgung fühlte. Um ein möglicherweise langwieriges Auslieferungsverfahren zu vermeiden, entschied sich die argentinische Regierung für eine schnelle Abschiebung Schäfers nach Chile: Denn, natürlich, lebte er in der Nähe von Buenos Aires unter falschem Namen.

Prozess in Chile

In Chile erwarten ihn mit Sicherheit mindestens zwei Verfahren: ein Prozess wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger in 26 Fällen und darüber hinaus seine vermutete Beteiligung an Folter und Ermordung politischer GegnerInnen der Pinochet-Diktatur.
Die Untersuchungen wegen sexuellen Missbrauchs begannen im Jahre 1998. Über sechs Jahre danach, im November 2004, verurteilte der Richter González in erster Instanz 20 Mitglieder der Führungsriege Schäfers wegen Begünstigung und Komplizenschaft in diesen Fällen zu Strafen zwischen anderthalb und fünf Jahren Gefängnis; das Verfahren gegen Schäfer selbst wurde wegen seiner Flucht ausgesetzt. Für den internationalen Haftbefehl, der als Grundlage seiner Festnahme in Argentinien diente, hatte dagegen Richter Billard gesorgt – er ermittelt im Fall des Chilenen Álvaro Vallejos, der nach Aussagen ehemaliger Geheimdienstagenten im Jahre 1974 von der DINA in die Colonia Dignidad gebracht und dort an Schäfer übergeben wurde. Seitdem ist Vallejos „verschwunden“.
Die Vorwürfe, in der Colonia Dignidad seien ab 1974 RegimegegnerInnen gefoltert worden, erhielten in Chile offiziellen Charakter durch den „Rettig-Bericht“, der 1991 veröffentlicht wurde. Er fasste zusammen, was die von Präsident Aylwin eingesetzte Kommission „Wahrheit und Versöhnung“ über das Schicksal der unter der Diktatur Ermordeten bzw. „Verschwundenen“ ermittelt hatte. Juristische Folgen hatte dieser Bericht zunächst nicht, denn noch galt uneingeschränkt das von Pinochet erlassene Amnestie-Gesetz, das nach der damaligen Interpretation durch den Obersten Gerichthof nicht nur die strafrechtliche Verfolgung, sondern auch die Aufklärung schwerster Menschenrechtsverletzungen ausschloss.
Die Colonia Dignidad verlor, unabhängig vom „Rettig-Bericht“ , im selben Jahr 1991 ihren Status als wohltätige Organisation. Sie hatte entgegen den Statuten gewinnorientiert gearbeitet und die Gewinne auch nicht versteuert. Darüber hinaus, so schien es, hatte der Chef des „Musterguts“ nichts zu fürchten. Seit seiner Übersiedlung mit einigen hundert AnhängerInnen nach Chile im Jahre 1961 (aufgrund eines drohenden Verfahrens wegen Päderastie in der Bundesrepublik), war es Schäfer gelungen, das Bild einer hart arbeitenden Gemeinschaft zu vermitteln, die aber auch selbstlos für arme ChilenInnen – etwa im eigenen Krankenhaus – sorgte: Die Colonia Dignidad genoss Respekt. Erste Berichte – schon Ende der sechziger Jahre – über Misshandlungen erregten zwar kurz Aufsehen, führten aber zu keinerlei Konsequenzen.
In der Zeit der Militärdiktatur kam zum Respekt der regionalen Autoritäten vor der angeblichen Wohltätigkeit der ideologische Kitt: Kampf gegen den Kommunismus. Anders gesagt: Die Affinität zwischen den totalitären Strukturen innerhalb der Siedlung und dem Pinochet-Regime. Die geografische Lage der ausgedehnten Siedlung (die Angaben schwanken zwischen 14.000 und 17.000 Hektar) am Rande der Kordillere an der Grenze zu Argentinien war möglicherweise ein weiteres Plus für den Geheimdienst DINA. Da kein Siedler das Gelände ohne Erlaubnis der Führung verlassen konnte, war keine Entdeckung zu fürchten.
Das Image der hart arbeitenden und gleichzeitig wohltätigen Muster-Deutschen strahlte bis in die damalige Bundesrepublik, wo auch das Pinochet-Regime damals renommierte BewundererInnen hatte, etwa den damaligen bayrischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß. Als die deutsche Sektion von Amnesty International im Jahre 1977 eine Broschüre veröffentlichte, in der sie Foltervorwürfe gegen die Colonia Dignidad erhob, erwirkte ein Verein von Colonia-SympathisantInnen in Siegburg (wo Schäfer bis zu seiner Flucht gearbeitet hatte) eine einstweilige Verfügung gegen Amnesty wegen Verleumdung. Auch die Illustrierte Stern, die sich der Aufklärungskampagne von Amnesty anschloss, wurde verklagt. Es bildete sich ein bundesdeutscher Freundeskreis für die Colonia Dignidad mit solider Verankerung in Bayern. Auch der deutsche Botschafter in Santiago de Chile Strätling wurde nach seiner Rückkehr zum Freundeskreis gezählt.
All das war 1980 nachzulesen in einer Sonderausgabe der Lateinamerika Nachrichten. Der Prozess gegen amnesty übrigens wurde erst 1997, also nach zwanzig Jahren, eingestellt. Der Siegburger Verein hatte sich stillschweigend aufgelöst, auch die Colonia existierte nicht mehr als juristisches Subjekt – es gab keinen Kläger mehr. Und irgendwann in den neunziger Jahren verzichtete das Mustergut auf den Namen „Dignidad“ (Würde). Es firmiert jetzt einfach als Villa Baviera – bayrisches Dorf.

Die würdelose Kolonie

Im April 2003 flüchteten erneut Mitglieder der Colonia Dignidad und vertrauten sich den chilenischen Behörden an. Walter Szurgelies (73), seine Frau Mathilde (75) und ihre Tochter Ingrid sowie ihr Schwiegersohn Francisco Morales nutzten die Anwesenheit eines Untersuchungsrichters in der Colonia, um das Gelände der deutschen Sekte im Süden von Chile zu verlassen. Francisco Morales war als Junge von Hugo und Waltraut Baar adoptiert worden und hatte in der Kolonie den Namen Franz Baar. Sein Spanisch hatte er nahezu gänzlich vergessen. In Dignidad sprechen alle Deutsch. Die Geflohenen berichteten von anhaltender eingeschränkter Bewegungs- und Informationsfreiheit. „Wir wissen, dass noch mehr Menschen dort raus wollen“, erzählten die Szurgelies einem US-amerikanischen Journalisten.

Wer gehen will, gilt als geisteskrank

Walter und Mathilde Szurgelies waren in den 60er Jahren mit ihren acht Kindern nach Chile gegangen. Ihr jüngster Sohn Jürgen hatte mehrfach versucht, aus Dignidad zu flüchten, zuletzt 1989. Damals erklärten die Eltern öffentlich: „Unser Sohn ist seit der Geburt geistig behindert.“ Sie holten ihn zurück in die Colonia. Jürgen Szurgelies wurde wohl als Abweichler jahrelang mit Psychopharmaka behandelt, da Personen, die die Gruppe verlassen wollen, als krank angesehen werden. Er lebt noch heute in der Kolonie – seine Eltern dagegen sind draußen.
Nach ihrer Flucht im April blieben sie zunächst in Talca. Dort wurden sie im Rahmen eines lokalen Schutzprogramms für Opfer von Straftaten betreut. Mathilde Szurgelies konnte sich das erste Mal seit 40 Jahren eigene Kleidung kaufen. In der Colonia hatte sie weder über Geld verfügt, noch durfte sie die Kolonie verlassen.
Noch im gleichen Monat traf das Ehepaar Szurgelies mit ihren in der Colonia verbliebenen Kindern zusammen. Die Eltern drängten sie, Dignidad zu verlassen, die Kinder dagegen drängten ihre Eltern zur Rückkehr. Die Tragik im Fall der Szurgelies ist kein Einzelfall. Die psychische und physische Abhängigkeit der Sektenmitglieder von ihrer Gruppe ist nach wie vor unberechenbar.
Mittlerweile befinden sich die Flüchtlinge bei Verwandten in Deutschland, völlig mittellos und auf Sozialhilfe und die Unterstützung der Verwandten angewiesen.

Sektenführer auf der Flucht

Seit sechs Jahren ist der 81-jährige Paul Schäfer untergetaucht. Er hat die Colonia Dignidad gegründet und gilt noch heute als ihr unumschränkter Herrscher. Aber 1997 konnten es die chilenischen Behörden nicht mehr leugnen, dass es in der Kolonie nicht mit rechten Dingen zuging. Zu viele Anzeigen waren gegen Schäfer eingegangen. Ihm wird vorgeworfen, dass er sich an minderjährigen chilenischen Jungen vergangen hat, die das Schulinternat auf dem Gelände der Kolonie besuchten.
Damals wurde das Landgut mehr als ein Dutzend Mal von der Polizei durchsucht. Paul Schäfer fanden sie angeblich nicht, dafür aber ein unterirdisches Tunnelsystem. Das deutet daraufhin, dass die Colonia Dignidad auch ein Kommunikationszentrum des Geheimdienstes DINA (Dirección de Inteligencia Nacional) beziehungsweise der chilenischen Armee war.
Noch im gleichen Jahr stellte Untersuchungsrichter Hernan Gonzalez seinen Bericht vor. Darin führte er aus, dass Paul Schäfer in 27 Fällen Kindesmissbrauch begangen habe, darunter fünf Vergewaltigungen. Offiziell ist damit, was geflüchtete Sektenmitglieder seit vielen Jahren berichtet haben.
Als Paul Schäfer noch in Dignidad lebte, begleiteten ihn täglich zwei Jugendliche. Im Sektenjargon hießen sie „Sprinter“. Es gab einen Nachmittags- und einen Nachtdienst. Ein Junge musste bei Schäfer im Zimmer schlafen, ein weiterer vor der Tür. Die Jungen standen Schäfer jederzeit zur Verfügung. Für die Sektenmitglieder war das seit Gründung der Sekte in den 1950er Jahren „normal“. Der Skandal wurde in Chile erst zum Skandal, als Schäfer auch chilenische Kinder sexuell missbrauchte und diese die Vorkommnisse zu Hause berichteten.

Verfahren gegen Schäfer eingestellt

Gegen Paul Schäfer besteht weiterhin ein internationaler Haftbefehl. Offiziell scheint niemand zu wissen, wo er sich aufhält. Aber es gibt Gerüchte: Schäfer solle sich weiterhin in der Kolonie oder in deren Nähe versteckt halten. Mit Schäfer verschwanden rund 15 weitere Mitglieder der Sekte. Offiziell ist auch deren Aufenthaltsort nicht bekannt. Eine Spur führt jedoch in die Schweiz, wo sich in einem kleinen Ort mit Namen Burghaslach das Sektenmitglied Renate Freitag im Oktober 2001 polizeilich angemeldet hat. Dort ist auch das Sektenmitglied Dorothea Hopp, geb. Witthahn, gemeldet.
Im Rahmen der Ermittlungen erweiterte der Untersuchungsrichter Gonzalez den Kreis der Beschuldigten. Acht Führungsmitgliedern der Gruppe wird Beihilfe und Mitwisserschaft nicht nur der Flucht Schäfers, sondern auch der Vergewaltigung der Kinder zur Last gelegt: Hans-Jürgen Blanck, Hartmut Hopp, Gerd Seewald, Kurt Schnellenkamp, Alfred Gerlach, Günter Schaffrik, Gerhard Mücke und Richardo Alvear. Sie wurden im April 1998 festgenommen, aber gegen Kaution wieder freigelassen. Über die Anklage ist noch nicht entschieden.
Das Verfahren gegen Schäfer stellte Hernan Gonzalez im vergangenen Jahr vorübergehend ein. Der Grund: der Beschuldigte sei nicht auffindbar. Warum es den chilenischen Behörden nicht gelungen ist, Schäfer zu verhaften, bleibt im Dunkeln. Eine mögliche Erklärung: Schäfer weiß um die Verbrechen des Geheimdienstes und hat Material, an deren Veröffentlichung weder Polizei, Geheimdienst noch Armee ein Interesse haben können.

Wirtschaftliche Basis wackelt

Juristische Auseinandersetzungen um Geld, Kinder, Erbe, Zollvergehen und Straftaten haben die Sekte seit ihrer Gründung begleitet und waren zeitweise eine erfolgreiche Strategie, das Imperium zusammenzuhalten. Jetzt wenden sich die rund 70 Prozesse, die die Gruppe führt, gegen sie.
So endete der Prozess der Colonia Dignidad gegen Amnesty International im November 1997 spektakulär. Ziel der Sekte war es, Amnesty International die weitere Verbreitung der Broschüre „Colonia Dignidad – ein Folterlager der DINA“ zu untersagen.
Da sowohl die chilenische Klägerin als auch die deutsche Sektenmutterorganisation „Private Sociale Mission“ juristisch nicht mehr existierten, wurde die Klage nach 20 Jahren abgewiesen. Amnesty International blieb auf mehreren Hunderttausend Euro Prozesskosten sitzen.
Ein schwerer Schlag für die Ökonomie der Sekte war der 2002 verlorene Prozess wegen Steuernachzahlungen an die chilenischen Finanzbehörden in Höhe von 13,4 Millionen US-Dollar. Der Prozess war 1991 eröffnet worden. Die Colonia Dignidad hatte sich wirtschaftlich betätigt, konnte sich dabei aber nicht auf ihre vom chilenischen Staat erteilte Gemeinnützigkeit berufen. Gegen das Urteil des Berufungsgerichts Talca besteht noch die Möglichkeit der Revisionsklage vor dem Obersten Gerichtshof. Sollte die Forderung tatsächlich durchgesetzt werden, kann dies das ökonomische Ende der Colonia Dignidad bedeuten.

Dignidad öffnet sich langsam

Die Flucht der Familie Szurgelies zeigt, dass sich das interne Regime lockert und sich die Kolonie langsam öffnet. Die alten Getreuen von Schäfer – unter anderem Hans-Jürgen Blanck und Kurt Schnellenkamp – bilden die neue Führung. Was jahrelang nicht möglich war, passiert jetzt. Nach 15 Jahren dürfen die Sektenmitglieder heiraten und zusammenleben. Frauen und Männer werden nicht mehr voneinander getrennt. Deutsche Verwandte erhalten nach vielen Jahren des Schweigens Briefe, in denen Verfehlungen der Sekte eingeräumt werden. Und Besuche aus Deutschland werden gestattet.
Nach Angaben der Zeitung La Tercera studieren sogar 20 jüngere Gruppenmitglieder an chilenischen Universitäten. 30 leben in Bulnes, wo sich das Restaurant der Gruppe befindet, sechs in Santiago, wo die Gruppe unlängst einen Lebensmittelladen eröffnet hat. Und ein paar Kinder besuchen die Schule von Parral.
Welche Bedeutung diese Öffnung tatsächlich für Dignidad hat, ist unklar. Denn schon bei Gründung der Sekte Mitte der 1950er Jahre gingen zahlreiche Sektenmitglieder außerhalb der Gruppe einer Arbeit nach oder machten eine Ausbildung. Eine mögliche Erklärung für den freien Ausgang wäre heute: Neue Gruppenführer werden auf ihre zukünftigen Aufgaben vorbereitet.

Folterkammer im Untergrund

Bis heute ist nicht geklärt, welche Rolle die Colonia Dignidad für die Armee oder den Geheimdienst der Pinochet-Diktatur gespielt hat. Feststeht, vor dem Putsch diente sie der rechtsradikalen Organisation „Patria y Libertad“ als Stützpunkt und nach dem Putsch als Verhör-, Folter- und Ausbildungslager des chilenischen Geheimdienstes DINA. Gegner des Pinochet-Regimes wurden in der Colonia gefoltert und ermordet – auch Sektenmitglieder legten hier Hand an.
1999 entdeckte die Polizei bei einer Durchsuchung einen Bunker. Nach chilenischen Presseberichten identifizierten ihn Überlebende als Folterkammer. Weitere Bunkeranlagen geben Rätsel auf. Vom Empfangshaus am Eingang des Grundstücks verläuft ein 20 Meter langer Tunnel aus Stahlbeton bis zum Fuß des nahe gelegenen Hügels. Eine andere 18 Meter lange Öffnung geht bis zu einer Schlucht. Von diesem Tunnel aus verläuft eine 60 cm dicke Wasserleitung dicht am Boden bis zum Fluss. In dem Tunnel befindet sich ein umgebauter Schlitten auf Kugellagern, der zu Transportzwecken gedient haben könnte.
Paul Schäfer bewohnte vermutlich einen drei Kilometer vom Eingangstor und 180 Meter vom Gästehaus entfernten Bunker: beleuchtet, acht Meter lang mit Flur, Bad und zwei weiteren Räumen. Besonders auffällig sind die elektrischen und Telefonleitungen, die für eine Siedlung von rund 250 bis 300 EinwohnerInnen überdimensioniert sind. Das könnte auf einen Horchposten des chilenischen Geheimdienstes oder der Armee zum Abhören des nationalen Funkverkehrs hinweisen.
Die Colonia Dignidad war eingebunden in das Machtgeflecht der Pinochet-Diktatur. Und deshalb existiert sie vermutlich heute noch – trotz erdrückender Beweise für zahlreiche Straftaten. Armee und Geheimdienst haben bei den Deutschen sprichwörtlich „Leichen und noch einiges andere im Keller.“ Aber die sollen nicht ins Licht der Öffentlichkeit.

Hilfe des Auswärtigen Amtes bleibt aus

Vor zwei Jahren führte die Deutsche Botschaft in einem öffentlichen Restaurant in Parral für Colonia Dignidad-Angehörige einen Konsularsprechtag durch, den rund 70 Angehörige auch nutzten. Einen ähnlichen Sprechtag führte die Botschaft noch einmal im März 2003 durch. Auf dem Fragebogen standen Rentenzahlungen, Passangelegenheiten und Fragen zum Staatsangehörigkeitsrecht wurden erörtert. Was die Kolonie sonst betrifft, hüllt sich das Auswärtige Amt in Schweigen.
Auf Initiative des SPD-Bundestagsabgeordneten Lothar Mark, debattierte der Auswärtige Ausschuss im Dezember 2001 über die Colonia Dignidad. Das Plenum des Deutschen Bundestages verabschiedete schließlich am 16. Mai 2002 eine umfangreiche Entschließung, die von SPD, Bündnisgrünen und PDS bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion angenommen wurde.
Mit der Entschließung „Hilfe für die Opfer der Colonia Dignidad“ (BT-Dr. 14/7444) wird die Bundesregierung aufgefordert,
– dem Fall Colonia Dignidad eine höhere Priorität einzuräumen,
– den politischen Wandel in Chile für eine verstärkte Zusammenarbeit zur Aufklärung der Vergehen und zur unverzüglichen Hilfe für die BewohnerInnen der Kolonie zu nutzen,
– sich für die Einrichtung einer deutsch-chilenischen Arbeitsgruppe einzusetzen mit dem Ziel, nach sechs Monaten ein Strategiepapier zur Lösung des Problems zu erarbeiten im engen Dialog mit der chilenischen Seite Möglichkeiten der personellen und technischen Unterstützung zu klären,
– einen Fonds zur Finanzierung der notwendigen Hilfs- und Reintegrationsmaßnahmen einzurichten,
– bei den Bemühungen um Aufklärung auch die Zusammenarbeit mit der lateinamerikanischen Menschenrechtskommission zu suchen und nach 12 Monaten über ihre Aktivitäten zu berichten.
Im August 2003 lag immer noch kein Bericht vor. Die Signale aus dem Auswärtigen Amt sind vernichtend. Von erhöhter Priorität, dieses Problem anzugehen, ist nichts zu bemerken. Von einem Hilfsfonds scheint das Auswärtige Amt nichts zu halten, erst recht nicht für die in der Colonia Dignidad gefolterten ChilenInnen. Es gab weder intensive Kontakte mit chilenischen Behörden noch zu lateinamerikanischen Menschenrechtsorganisationen.
Auch in Deutschland drängt sich der Verdacht auf, dass die rot-grüne Bundesregierung die Angelegenheit Colonia Dignidad als lästiges Übel ansieht – und sich um die Verantwortung für ihre StaatsbürgerInnen drückt.

Die Nazis in Chile

Die Forschungen zum Nationalsozialismus einerseits, zu Südamerika andererseits, werden in der Bundesrepublik fast völlig getrennt betrieben. Obwohl zahlreiche VertreterInnen zum Beispiel der Chile-Solidaritätsbewegung ihr Verständnis und ihre Motivation aus der eigenen, der deutschen, Geschichte herleiten, wurden Auseinandersetzung und Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus nur oberflächlich und an besonders neuralgischen Punkten in konkrete inhaltliche Verbindung zur Geschichte einzelner südamerikanischer Staaten gesetzt. Hinsichtlich der Beziehungen zwischen Deutschland und Südamerika sind die deutsche Einwanderung in einzelne Länder Lateinamerikas oder die wichtigen preußischen Einflüsse auf die Streitkräfte, insbesondere in Chile und Argentinien, allgemein bekannt und in zahlreichen Veröffentlichungen festgehalten.
Geht es allerdings darum, die Verbindung zwischen Deutschland und Südamerika in der Zeit des NS-Regimes zu thematisieren, beschränken sich die Veröffentlichungen bis auf wenige Ausnahmen auf das Thema südamerikanische Staaten als Exilländer für Flüchtlinge des NS-Regimes und später als Zuflucht für NS-Verbrecher. Bei der letztgenannten Thematik entwickeln sich allerdings nicht selten Mythen und aufgebauschte Sensationen und Legenden, wie in Zusammenhang mit der „Rattenlinie“ oder der Organisation „Odessa“. Kein Zufall: die in Europa begangenen Verbrechen „passen“ gut zu den Menschenrechtsverletzungen, die von den Diktaturen in Südamerika zu verantworten sind. Wenn ein Klaus Barbie alias Altmann in Bolivien für die Banzer-Diktatur tätig war, stellt sich die Frage, warum sollte ein Nazi-Verbrecher wie Walter Rauff in Chile nicht in engem Kontakt zur Colonia Dignidad gestanden haben, wo im Auftrag des chilenischen Geheimdienstes DINA chilenische Oppositionelle gefoltert wurden?
Das Wissen über die Verbindung des nationalsozialistischen Deutschlands mit Südamerika ist oft mehr ein Vermuten und eigene Schlüsse aus dem Vergleich zu anderen historischen Abschnitten der deutsch-südamerikanischen Beziehungen ziehen. So war zum Beispiel, angesichts der zahlreichen nach Argentinien geflohenen Nazis eine weit verbreitete Meinung, hier seien die Akzeptanz für das NS-Regime und die Anhängerschaft für die Auslandsorganisation der NSDAP innerhalb der deutschen Gemeinden im Vergleich zu anderen südamerikanischen Ländern besonders hoch gewesen. Chile hingegen schien keinen guten Nährboden für das rassistische Gedankengut der Nationalsozialisten geboten zu haben. Schließlich waren es chilenische Institutionen gewesen, die NSDAP-Ortsgruppen zu einem relativ frühen Zeitpunkt untersagten.

Chile als Nährboden für NS-Ideologie

Víctor Farías hat nunmehr eine sehr umfassende historische Studie vorgelegt, die einerseits bestehende Vorurteile korrigiert und andererseits, und das ist ihr großer Verdienst, grundlegend über die Auswirkungen des Nationalsozialismus in Chile informiert. Grundlegend, weil Farías, obwohl er unter anderem wegen der zum Teil mangelhaften Quellenlage nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, einen Querschnitt durch alle wesentlichen gesellschaftlichen Bereiche erstellt. Die Anzahl der genutzten Dokumente ist in Anbetracht des sehr breit angelegten Themas des Buches nicht sehr hoch. Dafür konzentriert sich Farías auf umso aussagekräftigere und vor allem bislang unbekannte Dokumente, die weit reichende Rückschlüsse auf die allgemeine Befindlichkeit der jeweiligen Institution für den besagten Zeitraum zulassen.
Wie brisant die Akzeptanz der nationalsozialistischen Ideologie in verschiedenen chilenischen Institutionen tatsächlich ist, macht Farías deutlich, indem er die Ereignisse in Chile immer in Relation zu dem zeitgleichen Geschehen in Deutschland setzt. Dieser Logik folgend, beginnt das Buch mit einer Betrachtung der in der Verbreitung des NS-Gedankenguts im Ausland aktiven Institutionen und Organisationen, die in eine Beschreibung der Funktion des Ibero-Amerikanischen Instituts in Berlin und des Institutsleiters General Wilhelm Faupel mündet.

NSDAP/AO Landesgruppe Chile

Bei der Beschäftigung mit der Geschichte, Struktur und den Aktivitäten der NSDAP/AO Landesgruppe Chile, sowie der Rolle der deutschen Schulen und der deutschen Evangelischen Kirche konzentriert sich Farías auf die primären Adressaten, die Mitglieder der deutschen Kolonie in Chile, der zuvor beschriebenen Organisationen und ihrer Politik. Interessant ist in diesem Kapitel insbesondere, wie die Chilenen deutscher Herkunft und die in Chile lebenden Deutschen das rassistische Gedankengut der Nationalsozialisten in ihrem sozialen und gesellschaftlichen Kontext propagandistisch weiter gaben. Fast absurd klingt es, wenn sie, die als Minderheit in Chile leben, betonen, von einer höherwertigen Rasse zu stammen, oder vor einer Vermischung des Blutes warnen. Wie groß die Akzeptanz für die rassistische Anthropologie der Nationalsozialisten allerdings nicht nur innerhalb der deutschen Kolonie ist, belegt Farías unter anderem mit bisher kaum gekannten Dokumenten zu medizinischen Experimenten an chilenischen Kindern im Deutschen Reich. Die Kinder, die aus Waisenhäusern, Armenschulen und Klöstern aus der Gegend von Concepción stammten, wurden auch mit Hilfe chilenischer Mediziner nach Deutschland gebracht.
In dem der Autor im Rahmen zweier Kapitel den Blick auf die Außenpolitik Chiles, die chilenisch-deutschen diplomatischen Beziehungen und die chilenischen Streitkräfte wirft, wendet er sich den Institutionen zu, die in Zusammenhang mit der Fragestellung nach Einflüssen des Nationalsozialismus auf ein Land üblicherweise untersucht werden. Das von ihm mit unterschiedlichen Dokumenten herausgearbeitete Bild, spiegelt die unverhohlene Bewunderung für das NS-Regime und seine „Leistungen“ seitens zahlreicher Vertreter sowohl der chilenischen Diplomatie als auch der Streitkräfte wieder. Wie sich diese Bewunderung in konkreten Aktivitäten zur Verbreitung der NS-Ideologie und zur Unterstützung der NSDAP/ AO Chile niederschlägt, macht Farías anhand zahlreicher Beispiele deutlich. Auch erfährt man hier, dass Pinochet bereits als junger Offizier die von Faupel mit dem eindeutigen Ziel der Verbreitung nationalsozialistischer Propaganda innerhalb der lateinamerikanischen Streitkräfte herausgegebenen Zeitschrift „Ejército-Marina-Aviación“ abonnierte. Indem Farías allerdings eine 33 Namen umfassende „Schwarze Liste“ mit auf Seite der Alliierten stehenden chilenischen Offizieren veröffentlicht, weist er auch auf das Vorhandensein konträrer Positionen und die damit verbundene Ambivalenz zum Beispiel innerhalb der Streitkräfte hin.
Inhaltlich eng mit diesen Ausführungen verknüpft ist ein Kapitel, das sich mit den Bemühungen Nazi-Deutschlands beschäftigt, in Lateinamerika – hier Chile – einen strategisch wichtigen Stützpunkt gegenüber den USA unter anderem für den U-Boot-Krieg aufzubauen. Militärische, politische, wissenschaftliche und kulturelle Institutionen sollten zu diesem Zweck unterwandert werden, wie Farías in dem Kapitel „Nazi-Spionage in Chile“ anhand zahlreicher Fallbeispiele belegen kann. Darüber hinaus präsentiert Farías an dieser Stelle Berichte von unterschiedlichen US-amerikanischen Institutionen, die im Rahmen der ab 1942 von den USA in Chile durchgeführten Gegenspionage verfasst wurden und die eine Einschätzung der Aktivitäten der Nationalsozialisten wiedergeben.
Das letzte Kapitel „Musikalisches Intermezzo“, das näher auf die Einstellungen und Handlungen der Sängerin und Schauspielerin Rosita Serrano und des Pianisten Claudio Arrau im Deutschen Reich eingeht, ist erneut ein gelungener Versuch Farías, die große Bandbreite der gesellschaftlichen Bereiche, in denen es Beziehungen zwischen Chile und Nazi-Deutschland gegeben hat, darzustellen. Beide machten in Deutschland Karriere und konnten selbst in Zeiten, in denen jüdische Komponisten, Sänger und Schauspieler bereits lange verboten waren, vielumjubelte Auftritte feiern, die oft zu Propagandazwecken dienten. Damit räumt Farías insbesondere im Hinblick auf Claudio Arrau mit der in Chile verbreiteten Erzählversion auf, nach der Arrau sich deutlich vom NS-Regime und seinen Verbrechen distanziert haben soll.
Dass das Buch „Los nazis en Chile“ in seiner ersten Auflage binnen weniger Tage in Chile vergriffen war, lag aber im Wesentlichen am Epilog und an dem etwa dreißig Seiten langen Dokumentenanhang. Der Epilog „Der SS-Standartenführer Walter Rauff in Chile: Salvador Allende, Simon Wiesenthal und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ enthält nach einer Einführung zur Person Rauffs zwei Briefe. Einer ist die Bitte von Simon Wiesenthal um Revision der 1963 in Chile getroffenen Entscheidung Walter Rauff nicht auszuliefern, der andere ist die Antwort von Salvador Allende, der sich aus formal-juristischen Gründen entschließt, die Ablehnung der Auslieferung nicht aufzuheben und damit der Bitte von Wiesenthal nicht entspricht.
Bei den im Anhang abgedruckten Dokumenten handelt es sich zu einem großen Teil um Mitgliederlisten der NSDAP Chile. Aus interessierten Kreisen in Chile hört man, die Linken würden das Buch wegen des Briefes von Salvador Allende, die Rechten wegen der Mitgliederlisten kaufen. Wenn auch nicht in dieser Plattheit, so ist doch auffällig, dass das Schreiben Salvador Allendes Enttäuschung bei der einen, eine gewisse Häme bei der anderen Seite hervorruft. Die Mitgliederlisten scheinen für alle eine Möglichkeit zu sein, Verdachtsmomente oder Zweifel zu überprüfen.
Reduzierte man es auf Epilog und Anhang, würde man dem Buch von Farías allerdings nicht einmal annähernd gerecht. Minuziös recherchiert, liefert sein Werk einen wichtigen Beitrag über ein Thema, das bislang weit gehend unerforscht geblieben ist.
Ohne das Vorangegangene einzuschränken, sei allerdings auch darauf hingewiesen, dass dieses 586 Seiten umfassende Werk, zumal noch nicht in deutscher Sprache erschienen, auch etwas an „Lesearbeit“ erfordert. Zwar versteht auch der im Hinblick auf das NS-Regime und seine Strukturen eher unkundige Leser durch die von Farías immer wieder vorgenommene Rückkoppelung zur Entwicklung in Deutschland und die teilweise sofort durchgeführte Übersetzung einzelner Begriffe die beschriebenen Sachverhalte. Dennoch bedarf es gerade im Hinblick auf die genutzten Dokumente selbst für die des Spanischen im Allgemeinen mächtigen LeserInnen einer Gewöhnung an das fachspezifische Vokabular.

Victor Farías: Los Nazis en Chile. Seix Barral, Barcelona 2000. 586 S.

“Wir brauchen keinen idealisierten Allende“

Ihr Buch zeigt, daß Chile eine herausragende Rolle in den Beziehungen Lateinamerikas zum dritten Reich einnimmt. Warum gerade Chile?

Deutschlands Kolonialpolitik fußte auf der Schaffung von reinrassigen Enklaven. In Chile gab es die vielleicht größte deutsche Kolonie der Welt. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung war der Anteil der Deutsch-Chilenen sehr hoch, so dass sie in der Verwaltung und der Armee, also den entscheidenden Institutionen, stark repräsentiert waren.
Außerdem war diese Kolonie schon zu Zeiten der Weimarer Republik sehr militaristisch und stark deutsch-national. Das waren beste Voraussetzungen für die Herausbildung einer militanten Kolonie. Schon Kaiser Wilhelm hatte das Ziel mit dem chilenischen soldatischen Volk ein Bündnis zu schließen. Später mündete diese Absicht in der geopolitischen Auffassung der Nazis, Amerika als letzte Bastion der Menschheit zu versklaven. Das Wort „…und morgen die ganze Welt“ bedeutete eben: Morgen kommt Amerika dran. Süd-, besonders aber Nordamerika, weil dort sozusagen der judaisierte, demokratische Hauptfeind sass. Chile spielte dabei eine wichtige strategische Rolle: Von dort aus sollte der Rest Süd- und Mittelamerikas unterworfen, und dann gegen die eingekreisten Vereinigten Staaten zum letzten Schlag ausgeholt werden.

Auffällig ist ja die große Bereitschaft, mit der Teile der chilenischen Gesellschaft und wichtige chilenische Institutionen, beispielsweise die Kirche, die Nazipropaganda aufgenommen haben.

Chile steht in einer alten katholischen Tradition, deren Wurzeln weit vor dem Nationalsozialismus liegen. Diese Tradition ist stark antisemitisch. Der Erzbischof von Santiago schreibt 1927, dass Freimaurer und Juden vereinigt werden durch den Hass gegen unseren Herrn Jesus Christus und seine heilige Kirche. Auch chilenische Diplomaten schreiben in den 20-er Jahren, dass Juden aus rassischen Gründen nicht nach Chile gebracht werden dürfen. Sie hätten keine Fähigkeiten sich anzusiedeln und sich anzupassen und dazu noch wären sie noch hässlich. Verbunden mit der „Indianerrasse“, so ein Minister wörtlich, würden rassische Monster entstehen. Dieses Gedankengut spiegelte sich auch in anderen Institutionen der Gesellschaft wider. Auch über die Institutionen hinaus waren diese ideologischen Tendenzen überall in der Gesellschaft vorhanden. Im gesamten chilenischen Heer und der Marine ist bis heute kein einziger Jude zu finden.

Sie haben im Epilog ihres Buches den Briefwechsel zwischen Präsident Allende und Simon Wiesenthal veröffentlicht, in dem es um die Auslieferung vom Naziverbrecher Walter Rauff geht.Das hat in Chile zu einer großen öffentlichen Diskussion geführt. Sie waren gerade in Chile, was gab es für Reaktionen?

Diese Diskussion wurde auf sehr lustige Weise weiter geführt, lustig im zynischen Sinne des Wortes. Es geschah nämlich eine Art Wunder. Der erzkonservativste Historiker Chiles, Gonzalo Vial, hat Allende verteidigt, gegen Wiesenthal und gegen meine Publikation. Don Gonzalo sagte, er müsse zum ersten und wahrscheinlich letzten Mal Präsident Allende beglückwünschen, weil er die Gesetze in Chile einhielt. Natürlich ist die Frage noch viel komplexer. Wiesenthal argumentierte für die Auslieferung Rauffs mit den selben Argumenten, mit denen heute der Richter Garzón und der Rechtsanwalt Garcés Pinochet attackieren. Allende stützte sich in seiner Ablehnung auf die gleichen Argumente, wie Pinochets Verteidiger heute, nämlich dass die nationale Rechtssouveränität nicht angegriffen werden kann. Aus dem Grunde hat sich Gonzalo vielleicht entschieden, Allende zu verteidigen, obwohl dieser Marxist war. Das ist immer noch besser als einem Mann Recht zu geben, der 500.000 Juden verteidigt.
Aber in der Diskussion kam es noch zu einem zweiten Akt. Als ich nach Chile kam, hatte sich eine Gruppe von Rechtsanwälten zusammengetan und für mich ein Dossier vorbereitet. Darin haben sie geprüft und festgestellt, dass Allende überhaupt keine Kollision mit dem Obersten Gerichtshof in Chile riskiert hätte, hätte er Rauff ausgewiesen, wie Konservative und auch Linke behaupten. Allende hätte sich auf das Ausländergesetz berufen können, welches dem Präsidenten der Republik die Möglichkeit einräumt, jeden Ausländer innerhalb von 24 Stunden aus Chile auszuweisen, wenn dieser das Prestige oder die Sicherheit des Landes in Frage stellt. Wenn Allende gewollt hätte, hätte er dieses Recht in Anspruch nehmen können. Das Dossier goss natürlich noch mehr Öl ins Feuer, jetzt fragen sich viele Leute: Was steckt eigentlich hinter der ganzen Angelegenheit?
Ich habe bei der jüdischen Gemeinde von Santiago einen Vortrag gehalten, wo sich mehrere junge Leute erhoben und fragten, ob sich die Unidad Popular (UP) überhaupt, ganz unabhängig von Wiesenthal, die Mühe gemacht habe, über diesen Verbrecher nachzudenken. Und ob sich die UP irgendeinen Gedanken über die Colonia Dignidad gemacht habe, bevor bekannt war, dass der Mann von Gladys Marín und andere Leute da auf furchtbare Weise gefoltert und getötet worden waren. Das hat niemanden interessiert. Eine Reihe von Studenten, die von mir infiziert wurden, forschen jetzt weiter.

Was können Sie zur Forschungssituation in Chile in diesem Bereich sagen? Sind die Archive in Chile überhaupt zugänglich? Was ist zum Beispiel mit den Militärarchiven?

Die Archive in Chile sind sehr gut ausgestattet. Per Gesetz und auch in der Tat ist jedes Dokument nach 3-5 Jahren für jedermann zugänglich. Das heißt, sämtliche Dokumente aus der Zeit der Unidad Popular sind einsehbar. Die einzige Ausnahme bilden die Archive der Streitkräfte und der katholischen Universität, an diese Geheimdokumente kommt man wirklich nicht ran. Aber man kann mit archivarischen Tricks sehr viel rekonstruieren. Es gibt eine Art natürlicher Filtrierung, das heißt, dass man aus Dokumenten ziviler Archive oftmals Rückschlüsse auf Geheimdokumente ziehen kann. So kann man eine Statue bilden, die natürlich in der Mitte hohl ist, weil der Kern fehlt. Aber die Form sieht oft ziemlich passabel aus.
Die Leiterin eines Archivs bemerkte einmal:“Die politische Geschichte Chiles wurde in den Zeitungsabteilungen der Bibliotheken geschrieben. Hier in die Archive, wo kilometerweise die Dokumente der Verwaltung, der Ministerien liegen, ist bislang noch kaum einer gekommen, weder von rechts noch von links.“ Hier liegt die gesamte Geschichte.

Um nochmal darauf zurückzukommen, dass von Allende die selbe Argumentation benutzt wurde wie heute im Fall Pinochet. Wieso ist das so bedeutsam?

Also die, die mich kennen, wissen, was ich für ein Verständnis von Forschung habe. Mir geht es darum Erstaunen hervorzurufen, die Sicherungen zum Platzen zu bringen, nur so kommt man zu kritischem Denken. In dem Briefwechsel sieht man das ganze Dilemma der chilenischen Geschichtsaufarbeitung.
Erstens: Sollen die fortschrittlichen Menschen in Chile weiter mit Göttern leben, die unerreichbar sind für jede Kritik? Zweitens: Warum wurden wir, wenn wir doch so gut waren, so leicht von der Macht entfernt? Warum endete das sozialistische Projekt in einer absoluten Katastrophe? Drittens: Wo ist die ganze Dokumentation und das kritische Studium, das uns erklärt, warum Pinochet und die CIA so leichtes Spiel mit uns hatten? Also wenn wir selber nicht in der Lage waren diesen übermächtigen Feind im Vorraus zu erkennen und selbst eine Gegenstrategie zu entwickeln, dann brauchen wir dringend eine vernünftige historische Erklärung. Es ist wichtig zu benennen, dass Allende die gravierende Bedeutung nicht gesehen hat, einen Kriegsverbrecher wie Walter Rauff zu Hause ruhig sitzen zu lassen, während im ganzen Land eine sozialistische, halbproletarische Revolution im Gange war. Wenn er das nicht mal kapiert hat, dann ist es nicht primär ein moralisches Problem, sondern ein politisches. Wie kann ein Mann, der entweder willentlich oder aus lauter Ignoranz so handelte, ein Volk in einer Revolution führen?
Ich habe provokativ meine LeserInnen mit dieser skandalösen Tatsache konfrontiert, so dass endlich weiter in der Richtung geforscht werden kann.
Von Gabriel García Márquez stammt ein goldenes Wort: ein gutes Buch fängt erst mit der letzten Seite an. Man könnte sagen, auch mein Buch fängt mit dem Epilog an.

Es stört sie also nicht, dass gerade der Briefwechsel von der chilenischen Presse als „Aufhänger“ benutzt wurde?

Einerseits ist es schade, weil das Buch noch 99 Prozent mehr Inhalt hat. Andererseits hatte ich befürchtet, dass man das Buch totschweigt. Das Schweigen ist das Schlimmste, was passieren kann. Durch die Diskussion um den Briefwechsel ist das Buch noch bekannter geworden und auf den Schreibtischen gelandet. So werden die restlichen 99 Prozent, die in der Presse jetzt nicht besprochen werden, doch irgendwann gelesen. Es ist doch notwendig, so ein wichtiges Thema wie die Beziehung eines Landes zu einem der verbrecherischsten Regime der Menschheit zu analysieren und damit den Demokratisierungsprozess voranzutreiben.

Also wird Ihr Buch einen Einfluss auf die geschichtliche Aufarbeitung in Chile nehmen?

Ich habe das Buch mit dieser Intention geschrieben. Aber ich kann nichts Konkretes sagen und lasse mich gerne überraschen. Ich sah so viele interessierte Gesichter, so viele Menschen, die fragten und fragten. Ältere Damen und Herren, die kamen und mir Briefe gaben, auch Tips, wo es weitere Materialien, privaten Ursprungs zu finden gibt. Es gibt noch Berge von Papieren aus der deutschen Kolonie, die im Verborgenen liegen.
Und dann habe ich ja auch die berühmte Liste aufgestellt, die hinten im Buch steht. Dazu ist ein großer Aufsatz in der Tageszeitung El Mercurio erschienen: Farías Liste, in Anspielung an den Film Schindlers Liste. Das ganze Land sucht jetzt Leute und das ist natürlich interessant. Übrigens ist eine der Firmen von der Liste, die mit den Nazis zusammenarbeitete, genau die Firma, die Rauff aufgenommen hat.

Wird es weitere Forschungsprojekte geben?

Mit der jüdischen Gemeinde in Santiago werde ich eine systematische Arbeit beginnen, ebenso mit dem von der Simon Wiesenthal Stiftung iniziierten Zentrum für Toleranz, das an den Holocaust erinnern will. Präsident Lagos hat für dieses Projekt schon ein Gelände zur Verfügung gestellt.
Außerdem sind Vorträge und Vorlesungen meinerseits, aber auch Seminare und Dissertationen an den Universitäten geplant.
Was die Leute selber machen werden? Ich weiss es nicht. Als Halb-Historiker und Halb-Philosoph bin ich weder optimistisch noch pessimistisch, sondern liefere die Sache so gut verpackt es geht, ohne Verfallsdatum. Ich werde weiter kämpfen, um die Tatsachen ans Licht zu bringen.

Wann wird voraussichtlich eine deutsche Übersetzung erscheinen?

Keine Ahnung. Es gibt diesen Verlag in Barcelona, der seine Kontakte in alle Richtungen spielen lässt. Ich hoffe sehr, dass es bald eine deutsche Übersetzung geben wird. Wahrscheinlich wird das aber noch eine Weile dauern.
Übrigens, ich habe Material genug für den zweiten Band. Es gibt zwei Aspekte, die bisher noch nicht berücksichtigt wurden. Zum einen müßte die gesamte Finanzpolitik, d.h. die Archive der Firmen und Banken beleuchtet werden.
Und ein zweiter riesiger Aspekt ist die Rezeption des Nazismus in Chile von 1933 bis 1945 in der politischen, sozialen, religiösen und institutionellen Presse. Diese Untersuchung wird vieles klären, sowohl rechts, wie auch links. Auch bei den Linken findet man viele Ungereimtheiten. So kämpfte zum Beispiel Pablo Neruda, anfangs konsequent gegen Nazideutschland und machte Propaganda. Damit hörte er schlagartig auf, als Ribbentrop und Molotov sich getroffen hatten. Dass Stalin mit dem Pakt aufhörte, gegen Hitler zu polemisieren, um sich selbst bewaffnen zu können, kann man verstehen. Aber dass Neruda in Chile auf die Bremse trat, das kann man nicht erklären. Er fängt erst wieder an als die Nazis in die Sowjetunion einmarschieren. Ich möchte diese lange Pause dokumentieren, weil es Licht bringt in unsere Gesellschaft. Wir brauchen keinen idealisierten Neruda oder Allende, sondern eine kritische Sicht auf Licht und Scheisse der gesamten chilenischen Gesellschaft.

Interview: Anja Witte, Nisha Anders und Olga Burkert

Der Fall Boris Weisfeiler und die Colonia Dignidad

Boris Weisfeiler, ein 1941 in Moskau geborener russischer Jude war begeisterter Wanderer und floh 1975 zu Fuß über Sibirien aus der UdSSR. Er wurde US-amerikanischer Staatsbürger und erhielt eine Professur für Mathematik an der Harvard-Universität. Seine Kollegen schildern ihn als „wirklichen Athleten“ und „streng konservativen“ Antikommunisten.
Am 25. Dezember 1984 flog Weisfeiler nach Chile. Im südchilenischen Antuco begann er eine seiner einsamen Wanderungen. Weisfeiler konnte kaum Spanisch. Während der mühsamen Unterhaltung mit einem Schafhirten deutete Weisfeiler auf seiner Landkarte auf sein Reiseziel San Fabian de Alico. „Aber San Fabian de Alico ist zufällig auch der Südzugang des unzugänglichen Eigentums der Colonia Dignidad“, heißt es später in einem vertraulichen US-Bericht. Nach einigen Kilometern Marsch wurde Weisfeiler von dem Bruder des Schafhirten gesehen, der dies den Carabinieros (bewaffnete Militärpolizei) meldete. Alle Fremden sollten dort gemeldet werden, hatte man ihm gesagt. Die Carabinieros veranlaßten, daß eine Armeepatrouille ausgeschickt wurde, die aus vier Soldaten bestand.
Am 5. Januar 1985 wurde Weisfeiler zum letzten Mal gesehen. Die Carabinieros schlossen aus Fußspuren und dem durchnäßten Rucksack, der am Ufer eines Flusses lag, daß er beim Versuch, diesen Fluß zu überqueren, ertrunken sei. Die Fundstelle ist etwa zehn Kilometer von der Colonia Dignidad entfernt.
Die US-Botschaft schickte daraufhin zwei „Konsularbeamte“, einen Mann und eine Frau in die Region. Die Frau war nach einem Zeitungsbericht Mitarbeiterin des CIA. Die US-Beamten konnten Weisfeilers Schicksal zwar nicht aufklären, stießen aber auf eine Reihe von Widersprüchen. So heißt es in ihrem Bericht – der nach der Freedom of Information Act freigegeben wurde, an vielen Stellen aus Geheimhaltungsgründen allerdings unleserlich gemacht wurde – daß ein Bauer, der ausgesagt hatte, in der Nähe des gefundenen Rucksacks Fußspuren gesehen zu haben, später einräumte, er habe diese Aussage unter Druck gemacht.

Berichte unleserlich gemacht

Aus einer verläßlichen Quelle erfuhren die US-Beamten, daß Weisfeiler versucht hatte, den Fluß an einer Stelle, wo es eine primitive Kabelfähre gab, zu überqueren, daß aber eine Gruppe Soldaten ihn daran hinderte. Der Fährmann hatte hingegen ausgesagt, er habe niemanden gesehen. Die US-Beamten bemerkten, daß die Carabinieros „äußerst besorgt darüber waren, daß politische Extremisten über die argentinische Grenze kommen könnten, um nach San Fabian oder San Carlos zu gelangen“.
Im April 1985 wurden drei und wenig später ein weiterer der fünf Carabinieros, aus der die Garnison in der abgelegenen Gegend bestand, versetzt; der fünfte wurde im August zwangsweise in den Ruhestand versetzt.
Der Besitzer des Hotels, in dem Weisfeiler zuletzt übernachtet hatte, sagte laut den US-Dokumenten, Weisfeiler habe seine Rechnung mit einer Visa-Card beglichen. Der Betrag wurde jedoch nie von Weisfeilers Konto abgebucht. Mitte 1985 hielt sich eine Gruppe von Agenten des CNI, der Nachfolgeorganisation der DINA, in der Gegend auf. Die chilenische Mathematikergesellschaft, die von Weisfeilers Kollegen um Hilfe gebeten worden war, antwortete mit einem wenig diplomatischen Schreiben: „Die Möglichkeit, daß Dr. Weisfeiler in die Colonia Dignidad gegangen ist, kann ausgeschlossen werden, denn diese ist mehr als 100 Kilometer von der Stelle entfernt, wo er zuletzt gesehen wurde“– eine offenkundige Fehlinformation.
In einem Telegramm der US-Botschaft in Santiago vom Oktober 1985 heißt es, der „Fall Weisfeiler nimmt eine sehr ernste Wendung“. Da das Dokument an vielen Stellen unleserlich gemacht wurde, wird nicht klar, worin diese Wendung besteht. Auf die Frage, ob Weisfeiler in der Colonia Dignidad verschwunden sein könnte, gab die US-Botschaft die Antwort, darüber wisse sie nichts. Im Januar 1988 sandte sie in Santiago ein vertrauliches Telegramm an das US-Außenministerium, in dem berichtet wird, daß ein Konsularbeamter am 8. Januar 1988 einzeln mit vier der Carabinieros gesprochen hatte, die zur Zeit des Verschwindens Weisfeilers in der Gegend stationiert waren. Offenbar waren diese auf das Gespräch vorbereitet worden. Sie machten keinen Hehl daraus, daß Weisfeiler „mehr als nur ein Tourist“ gewesen sei. Die Carabinieros widersprachen sich in einigen Punkten. Die vier Armeesoldaten, die Weisfeiler gesucht hatten, waren nie vernommen worden.
In seinem neuesten Buch „Colonia Dignidad – ein Reporter auf den Spuren eines deutschen Skandals“ (Frankfurt am Main, 1998) erwähnt Gero Gemballa ein internes Funkgespräch zwischen Sicherheitsleuten der Colonia Dignidad. Aus diesem Gespräch geht nach Gemballa hervor, daß die Colonia Dignidad Weisfeiler „unter die Kartoffeln“ und „auf den Friedhof“ gebracht hat (Seite 106). Ein ehemaliger chilenischer Heeressoldat, der angibt, innerhalb der Colonia Dignidad Dienst getan zu haben, teilte der US-Botschaft Ende 1997 in einem anonymen Brief seine Version des spurlosen „Verschwindens“ von Boris Weisfeiler mit. Nach dieser Version wollte Weisfeiler 1984/85 im Auftrag des israelischen Geheimdienstes Mossad den KZ-Arzt Josef Mengele aus der Colonia Dignidad herausholen. Eine chilenische Militärpatrouille habe ihn verhaftetet und einem Kommando der Colonia Dignidad übergeben. Paul Schäfer habe ihn „wild verhört“ und danach durch einen Genickschuß ermordet. Die US-Regierung nimmt den anonymen Hinweis ernst und hat eine gerichtliche Untersuchung verlangt. Dieser Prozeß wurde eröffnet. Der anonyme Brief ist Teil des Schriftsatzes der US-Botschaft.

Quelle: La segunda, 9.2.98, Ercilla 23.2.98 und die erwähnten, vom US-Außenministerium teilweise freigegebenen Dokumente.

KASTEN:
Leserbrief:

In Pinochets Sommerresidenz „veschwanden“ politische Gefangene
Pinochet ist nicht nur als Ex-Diktator und Oberbefehlshaber für das spurlose „Verschwinden“ politischer Gefangener verantwortlich, sondern auch als Hausherr. Dies berichtet ein ehemaliger chilenischer Offizier in mehreren unveröffentlichten Interviews, die eine Fülle überprüfbarer Einzelheiten enthalten und auf Band festgehalten sind. Nach diesem Bericht war Pinochets Sommerresidenz, ein Küstenort namens Bucalemu, in den Jahren 1974/75 einer der Orte, zu denen Gefangene gebracht wurden, die dann „verschwanden“. Sie wurden am Hubschrauberplatz dieser Residenz in Leinensäcke verpackt, in Hubschrauber (die französischen Pumas) verladen und von diesen aus ins Meer geworfen. Viele dieser Gefangenen kamen aus dem Lager innerhalb des nahegelegenen Militärstützpunktes Tejas Verdes, dessen Kommandant damals Geheimdienstchef Manuel Contreras war. Contreras war einige Zeit lang fast täglich in Bucalemu. Die Wachsoldaten von Tejas Verdes übergaben die Gefangenen in einer Garage rechts von der Einfahrt zur Residenz an eine Vernichtungseinheit des Geheimdienstes DINA. Der interviewte Ex-Offizier hat persönlich Gefangene dort abgeliefert. Es wurde auch gefoltert. Danach entschied die DINA, ob sie am Leben gelassen oder ermordet wurden. Einer der Offiziere, die mit diesem „Verschwindenlassen“ zu tun hatten, hieß Vitalua. Ein Offizier der Leibwache Pinochets, Javier Miguel Toro, war in dieser Zeit in Bucalemu stationiert und weiß ebenfalls über das „Verschwinden“ der Gefangenen. Auch der Militärarzt Dr. Orieto war häufig dort. Zu den Contreras unterstellten Offizieren in Tejas Verdes gehörte Juan Morales Salgado, der später Offizier des Geheimdienstes DINA wurde und die Leibwache Contreras’ befehligte. Morales hatte in den Wochen nach dem Putsch in Linares und anderen Orten Südchiles politische Gefangene „verschwinden“ lassen und war Verbindungsmann zur Colonia Dignidad.
F.P. Heller

Was kommt nach der Würde?

“Ein später, aber teurer Sieg der Wahrheit” betitelte Amnesty International die Presseerklärung. Amnesty darf jetzt das wieder, was der Organisation vor 20 Jahren durch eine Einstweilige Verfügung verboten worden war: zu behaupten, daß in der Colonia Dignidad im Auftrag der chilenischen Militärregierung gefoltert worden ist. Juristisch muß dazu noch die vom Kölner Oberlandesgericht bestätigte Einstweilige Verfügung aufgehoben werden. Damit ist in Kürze zu rechnen. Das Urteil hat einen faden Beigeschmack, denn das Gericht hat nicht etwa in der Sache entschieden, sondern die Klage lediglich deswegen zurückgewiesen, weil beide Klägerorganisationen rechtlich nicht mehr existieren. Amnesty International wird höchstwahrscheinlich auf den für den Prozeß bisher ausgegebenen 160.000 DM sitzenbleiben, denn Organisationen, die nicht mehr existieren, können schlecht auf Zahlung der Gerichtskosten verklagt werden.
Für das weitere Schicksal der Colonia Dignidad, deren Mitglieder und deren Opfer stellt sich ein weiteres Problem. Es ist eine Frage der Zeit, bis der eigentliche Führer der Kolonie der Würde, Paul Schäfer, der sich seit fast einem Jahr versteckt hält, verhaftet wird. Was aber geschieht, wenn die Siedlung ohne Führung ist? Wie viele alte Wunden werden aufbrechen? Wie viele Panikreaktionen wird es geben? Fast alle deutschen und chilenischen BewohnerInnen der Siedlung sind Opfer Schäfers, wenn auch einige von ihnen seine Verbrechen gedeckt oder gefördert haben. Schäfer kontrolliert die Arbeit, die Gedanken, die Gespräche und die Sexualität seiner Anhänger. Die SiedlungsbewohnerInnen haben Jahrzehnte oder sogar ihr ganzes Leben hinter dem Siedlungszaun verbracht und kennen weder Deutschland noch Chile. Sie können, bis auf die Führungsgruppe und die in Chile zur Schule gegangenen Kinder, kein Spanisch und haben keine anerkannte Schul- und Berufsausbildung. Viele haben keine Alterssicherung. Die “Not- und Interessengemeinschaft für die Geschädigten der Colonia Dignidad” hat bereits erklärt, daß die Mehrzahl der Angehörigen in Deutschland nicht in der Lage ist, ihre Verwandten aufzunehmen, und daß deshalb zumindest für eine “Übergangszeit die Lebensgrundlage der Bewohner … auf dem Gelände der Colonia Dignidad” erhalten bleiben müsse. Auch die chilenischen Behörden und Menschenrechtsorganisationen stehen vor dem Problem, was sie mit der Siedlung einmal anfangen sollen, wenn diese kein Staat im Staate mehr ist. Es liegt nahe, die SiedlungsbewohnerInnen, die bleiben wollen, weiter in der florierenden Landwirtschaft zu beschäftigen und langsam mit den Realitäten der heutigen Gesellschaft vertraut zu machen. Die Colonia Dignidad könnte als ökologisches Gemeinschaftsgut mit einer starken therapeutischen Stütze weitergeführt werden. Berufliche Qualifikation und sichere Rentenansprüche müßten das urchristliche Gemeinschaftsunternehmen, das Schäfer aufzubauen vorgab, ergänzen und nach und nach zu einem Wirtschaftsunternehmen mit geregelten Arbeitsverhältnissen und geregelten Besitzanteilen für die AnwohnerInnen machen.
Unter den vielen tausend Folteropfern, die die Pinochet-Diktatur hinterlassen hat, verdienen die überlebenden Gefangenen des DINA-Folterzentrums in der Colonia Dignidad besondere Beachtung. Es gibt allein in der südchilenischen Stadt Talca etwa 80 von ihnen, meist gebrochene Menschen mit schweren gesundheitlichen und familiären Problemen. Fast alle haben durch die Haft ihre Arbeitsstellen verloren. Noch schwerer hat es die Angehörigen der “Verschwundenen”, die nicht aus der Haft zurückgekehrt sind, getroffen. Die Pinochet-Diktatur hat hunderte politischer Gefangener “verschwinden” lassen. Viele von ihnen wurden zuletzt in der Colonia Dignidad gesehen. Einige dieser “Verschwundenen” haben das Martyrium offensichtlich überlebt und geben sich jetzt als ehemals Verschwundene zu erkennen. Die Ehepartner und Kinder der “Verschwundenen”, die nicht zurückgekommen sind, haben neben dem Verlust von Mann, Frau, Vater oder Mutter besondere Schwierigkeiten in der Altersversorgung und Berufsausbildung oder Studienfinanzierung zu verkraften, wenn der Geldverdiener in der Familie ermordet wurde. Da die politischen Gefangenen auf dem Privatgelände und unter dem Schutz, wenn nicht gar mit aktiver Beteiligung der Colonia Dignidad gefoltert wurden, haben sie einen moralischen und vielleicht auch einen juristischen Anspruch auf Linderungen wenigstens ihrer materiellen Probleme gegen den Rechtsnachfolger der Colonia Dignidad. Es bietet sich an, einen Hilfsfonds zu gründen, der von Vertretern der Opfer- und Menschenrechtsorganisationen verwaltet wird. Ziel sollte es also sein, mit einem Hilfsfonds aus den Mitteln der aufgelösten Colonia Dignidad sowohl den unterdrückten ehemaligen Sektenmitgliedern als auch den chilenischen Folteropfern und ihren Verwandten Unterstützung zu gewähren.
Darüber hinaus muß ein zumindest zeitlich begrenztes Dokumentationszentrum errichtet werden. Wenn der Ring des Schweigens und der Lüge, der die Colonia Dignidad umgibt, einmal aufgebrochen ist, wird eine Menge neuer mündlicher und schriftlicher Informationen auszuwerten sein. Schon jetzt gibt es weit mehr Material über die Siedlung als ausgewertet werden konnte. In dem Buch “Colonia Dignidad – Von der Psychosekte zum Folterlager” von Friedrich Paul Heller sind Beweise und Vermutungen weit größerer Verbrechen als bisher bekannt beschrieben bzw. angedeutet worden. Möglicherweise ist die Wirklichkeit sogar noch erschreckender. Das Thema Colonia Dignidad ist ein einzigartiges Beispiel dafür, wie alltägliche Gewalt und die entfesselte Gewalt einer Militärdiktatur, Politik und Verbrechen, Folter und Sektenwahn ineinanderspielen. Die Sicherung und Auswertung der Dokumente ist ein Teil der Aufarbeitung des Themas Colonia Dignidad und ein substantieller Beitrag zur Folterverhütung und Menschenrechtspädagogik.
Wir fordern daher, nach dem Ende der Colonia Dignidad einen materiellen Hilfsfonds für die deutschen Sektenopfer und die chilenischen Folteropfer der Colonia Dignidad einzurichten. Daneben muß ein Dokumentationszentrum “Colonia Dignidad” errichtet werden.

Die Festung wankt

Derzeit werden in Chile mehr als dreißig Gerichtsverfahren mit unterschiedlichen Vorwürfen gegen Mitglieder der Colonia Dignidad geführt. Gegen Paul Schäfer besteht seit August 1996 ein internationaler Haftbefehl wegen Kindesmißbrauchs. Mittlerweile liegen Klagen wegen Vergewaltigung von sieben chilenischen Kindern vor. Der Sonderrichter Hernán Gonzáles Garcia ermittelt außerdem wegen eines angeblichen Jagdunfalls 1987, bei dem ein 14-jähriger Junge mit einem Schuß aus Paul Schäfers Waffe getötet wurde, Der Junge wurde auf dem privaten Friedhof der Kolonie beerdigt, ohne daß die Polizei benachrichtigt wurde. 27 Klagen gegen Kolonie-Bewohnerlnnen sind wegen Steuerhinterziehung in einer Höhe von 2,8 Mio DM erhoben worden.
Am 9. Mai 1997 durchsuchte die chilenische Polizei die Kolonie zum ersten Mal. Sie kam aber nicht wie angekündigt mit 2.000 Mann. Lediglich dreißig Beamte ersuchten am Haupteingang höflich Einlaß, inspizierten Wasser-und Telefonleitungen, Hühnerställe und einige Kellerräume und zogen wieder ab. Mittlerweile ist das Gelände neunmal vergeblich durchsucht worden. Die größte Aktion fand am 18. Juni statt. 600 Carabineros tauchten vor den Toren der Colonia Dignidad auf, 250 davon durchsuchten elf Stunden lang einen Teil des 1 300 Quadratkilometer großen Geländes mit Hubschraubern, Spürhunden und Metalldetektoren. Der Kommandant der Polizei, Mario Flores, gab an, nach „Personen, Sprengstoff und Material gesucht” zu haben. Gefunden wurde allerdings nichts. Dies nährt den Verdacht, daß die chilenische Polizei, die auf Orts- ebene immer einen sehr guten Draht zur Führungsclique der Sekte hatte, auch gar kein Interesse am Auffinden von Paul Schäfer hat.
Möglicherweise fürchtet sie auch eine blutige Eskalation. Es ist bekannt, daß die Sekte mindestens
150 Schußwaffen unterschiedlichen Kalibers und mehrere Schnellfeuergewehre hat.

Im Juni 1997 demonstrierten dann vor den Toren der Colonia Dignidad Angehörige von verschwundenen chilenischen politischen Gefangenen. Die Beweise dafür, daß zwischen 1974 und 1976 etwa 100 politische Gefangene in der Kolonie gefoltert und ermordet wurden, sind inzwischen erdrückend. Angehörige der Kolonie griffen die Demonstrantlnnen mit einer Wasserkanone und Steinen an. Der öffentliche Druck war in Chile so stark, daß der Sonderrichter seit Anfang August 1997 nun auch beauftragt ist, die Morde an den politischen Gefangenen aufzuklären. Bei den Angreifern handelte es sich um chilenische „Amigos” der Colonia Dignidad. Sie wurden für einige Zeit in Untersuchungshaft genommen. Auch Hartmut Hopp (53), zweiter Mann der Sekte, Arzt und Leiter des Krankenhauses der Kolonie, hat in diesem Jahr chilenische Gefängnisse von innen kennengelernt. Ende Juli sollte er in Parral vor Gericht er-scheinen, um in einem Prozeß gegen ihn wegen illegaler Adoption eines chilenischen Kindes auszusagen. Er setzte sich in die argentinische Stadt Mendoza ab und kam nach zwei Tagen ohne seinen Adoptivsohn Michael zurück. Er wurde bei seiner Rückkehr verhaftet, aber schon nach einem dreistündigen Verhör wieder freigelassen. Michael sollte in dem Verfahren gegen Paul Schäfer aussagen. Am
9. August 1997 wurde Hopp erneut verhaftet und nach drei Wochen gegen eine geringe Kaution freigelassen, da dem Gericht die Beweise für eine Komplizenschaft Hopps mit Paul Schäfer nicht aus-reichten.
Zwei Flüchtlinge
Mitte Juli gab es den schwersten Schlag für die Colonia Dignidad. Dem 24-jährigen Tobias Müller, der aus Gronau in Deutschland stammt, und dem 18-jährigen Chilenen Zalo Luna gelang die Flucht aus dem Lager. Gegenüber der Presse (Interview mit dem SPIEGEL 33/ 1997) bestätigten die beiden die schlimmsten Vorwürfe im Hinblick auf das interne Terrorsystem der Sekte. Müller, von seiner Mutter in die Kolonie geschickt, war 14 Jahre lang in den Händen der Colonia Dignidad, Luna zehn Jahre lang. Müller bestätigte, von Paul Schäfer vergewaltigt und mehrere Jahre mißbraucht worden zu sein. Dies sei bei den Jungen der Sekte üblich. Männer, Frauen und Kinder lebten getrennt in den jeweiligen Gruppen. Sie berichteten von unmenschlich harter Arbeit, ständiger gegenseitiger Kontrolle, Mißtrauen untereinander und blinder Ergebenheit gegen Paul Schäfer. Die Gruppe sei von Nachrichten völlig ab-geschnitten, denn es gebe kein Radio und keine Zeitung. Nur fünf Leute dürften einen Fernseher haben. Die
Mitglieder der Sekte verachteten die Demokratie und die Parteien, von den Christdemokraten bis zu den Kommunisten. Militärregime würden befürwortet. Zahlreiche Jugendliche der Sekte seien fanatische Anhänger des Militärlebens. Sie bewunderten „deutsche Soldaten” und deren ,,kriegerische Fähigkeiten” (Die Welt vom 12.8.1997). Paul Schäfer sei immer noch in der Kolonie, zeige sich aber nur gegenüber den Sektenmitgliedern und verstecke sich in den Wäldern des Landguts. Die Flucht hatten Müller und Luna unter extremer Geheimhaltung seit Jahren geplant. Für den Fall, daß sie erwischt worden wären, hatten die Freunde verabredet, bis zum letzten zu kämpfen, da sie anderenfalls ins sekten eigene Krankenhaus gesteckt und mit Psychopharmaka vollgepumpt worden wären. Durch eine solche „Behandlungn waren in der Vergangenheit mehr-fach Abweichler zu menschlichen Wracks gemacht worden. „Oppositon ist Selbstmord”, faßte Müller das Klima in der Colonia Dignidad zusammen. Müller ist inzwischen in Deutschland. Luna, der mit Müller nach Deutschland gereist war, ist nach Chile zurückgekehrt.
Die Aussagen der beiden Flüchtlinge haben in Chile weitere Vorwürfe aufkommen lassen. Mehrere Bäuerlnnen aus der Umgebung erklärten gegenüber dem staatlichen chilenischen Fernsehen TVN, ihren Kindern seien im Krankenhaus der Kolonie die Hoden entfernt worden. In eine ähnliche Richtung gehen die Vorwürfe des deutschen Journalisten Gero Gemballa in seiner Dokumentation „Die Kinder der Colonia Digniddad” (ARD 27.8.1997). Gemballa mutmaßt über Menschenexperimente und künstliche Befruchtung in der Sekte. Eine Art nationalsozialistischer „Lebensborn“ könnte aufgebaut sein.
Politischer Druck wird jetzt auch in Chile erzeugt. Das chilenische Parlament forderte nach einer Debatte am 20. August 1997 mit klarer Mehrheit die Ausweisung der Sektenmitglieder, gegen die kein gerichtliches Verfahren läuft. Wenige Tage später erklärte der chilenische Präsident Eduardo Frei allerdings, daß eine Ausweisung der Sekten- mitglieder nicht in Frage komme. juristisch ist in Chile erst einmal wieder ein Stillstand eingetreten. Da Schäfer bis zum heutigen Tage nicht gefaßt worden ist, ist das gegen ihn angestrengte Gerichtsverfahren Ende September vorübergehend einstellt worden, da nach der chilenischen Prozeßordnung ohne den Angeklagten nicht verhandelt wer-den darf. Der Haftbefehl bleibt aber weiterhin in Kraft.

Deutscher Haftbefehl gegen Schäfer
In Deutschland ist eine Behörde aus ihrer jahrelangen Lethargie erwacht: Die Staatsanwaltschaft in Bonn. Sie hat einen Haftbefehl gegen Paul Schäfer wegen sexuellen Kindesmißbrauchs beantragt. Am 18. September 1997 hat das Amtsgericht Siegburg den Haftbefehl erlassen. Ein solches Verfahren hätte es schon 1988 geben können, als Hugo Baar und Georg und Lotti Packmor aus der Sekte geflüchtet waren und detaillierte Berichte über das interne Terrorregime des Paul Schäfer geliefert hatten. In juristischer Sicht ist auf deutschem Boden ein neu- er Aktionsplatz gegen die Kolonie eröffnet worden, während ein uralter bald nicht mehr existieren wird. Im Frühjahr 1977 hatte die Sekte amnesty international und die Zeitschrift Stern auf Unterlassung der Behauptungen verklagt, die Colonia Dignidad sei ein Folterlager des chilenischen Geheimdienstes.
Bis zum heutigen Tage ist gegen amnesty international eine Einstweilige Verfügung in Kraft, die der Organisation verbietet zu behaupten, was alle Welt weiß: daß die Colonia Dignidad ein Folterlager der DlNA war. Nach anfänglichen zahlreichen Zeuglnnenvernehmungen und einem Ortstermin in Chile im Jahre 1988 dümpelte der Prozeß jahrelang vor sich hin. Man stritt sich um Übersetzungen und Formalia.
Nach 13 Jahren war der Termin am 10. Oktober 1997 im Saal 13b des Bonner Landgerichts die erste öffentliche Verhandlung. Vor den drei Richtern der 15. Kammer stapelten sich Akten, denen man ihr Alter von 20 Jahren schon von weitem ansehen konnte. Wäre es an diesem Morgen nicht um Folter und Mord gegangen, hätte man der 25 Minuten dauernden Verhandlung eine heiter-absurde Seite abgewinnen können. Sätze wie: „Ich verweise auf meinen Antrag vom 19.12.1978″, waren aus dem Mund des Rechtsanwalts Classen zu hören. Am Tag zuvor hatte Anwalt Classen, der jahrelang die chilenische Klägerin „Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad” und den deutschen Ableger „Private Sociale Mission e.V . vertrat, einen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens gestellt. Man solle bitte warten, bis in Chile die Prozesse um die 199 1 angeordnete Auflösung der Colonia Dignidad entschieden seien. Die Sekte versucht nämlich zur Zeit mit Verfahren vor
unteren Gerichten, die Auflösungsanordnung der chilenischen Regierung, die inzwischen höchstrichtlich bestätigt wurde, anzugreifen.
Ob Rechtsanwalt Classen heute noch den deutschen Kläger „Private Sociale Mission” vertreten kann, ist ebenfalls sehr zweifelhaft. Der verbliebene Teil der Sekte in Deutschland hatte nämlich 1995 amnesty international und dem Stern mit der Begründung ablehnen wird, daß sie wegen Nicht- Parteifähigkeit der Klägerinnen unzulässig geworden sind.
Es war offensichtlich: Das Gericht sieht sich nicht in der Lage und war auch nicht bereit, die mittlerweile erdrückenden Beweise zu würdigen und per Gerichtsurteil
dem Amtsgericht Siegburg mitgeteilt, daß die Mitgliederzahl des Vereins unter drei gesunken sei. Daraufhin entzog das Amtgericht dem Verein im August 1995 die Rechtsfähigkeit und stellte diese Entscheidung sogar in Chile der Colonia Dignidad zu. Während Rechtsanwalt Classen noch im Februar 1996 argumentierte, daß der Klägerverein weiterbestehe, hatte die Sekte hinter seinem Rücken den Laden schon aufgelöst. Diese Schizophrenie vermochte auch das Landgericht nicht einzusehen. Es deutete an, daß es beide Sektenvereine für nicht mehr parteifähig in diesem Prozeß ansehe. Eine Entscheidung wurde für den 18.1 1 ,1997 angekündigt. Es spricht viel dafür, daß das Gericht die Klagen gegen festzustellen, daß die Colonia Dignidad ein Folterlager der DlNA war. Alles deutet auf einen Sieg von amnesty ,und dem Stern aus formalen Gründen hin. Amnesty international wird wohl trotz des Prozeßsiegs auf seinen 150.000 DM Prozeßkosten sitzen bleiben, die
sie dem Gericht als Vorschuß für zahlreiche Zeugen, Übersetzungsdienste usw. zu leisten hatte. Nachträglich muß sich amnesty international fragen lassen, ob es nicht den Prozeß zu unpolitisch und zu zurückhaltend betrieben hat. Es wäre das erste Mal gewesen, daß ein ausländisches Gericht die Terrorherrschaft der Pinochet-Diktatur und ihrer Helfer in der Colonia Dignidad verurteilt hätte.
Jürgen Karwelat

Der unendliche Prozeß

Das Aktenzeichen 3 O 123/77 wird in die Geschichte der deut­schen Justiz eingehen als Kürzel für einen der längsten Zivilpro­zesse, die es in diesem Land je gegeben hat. Nach 20 Jahren be­findet sich der Prozeß, der am 25. Mai 1977 seinen Anfang nahm, noch immer in der ersten Instanz vor dem Landgericht in Bonn.
Die bemerkenswerte Dauer des Prozesses hängt auch mit der außergewöhnlichen Tatsache zu­sammen, daß ein deutsches Ge­richt Untersuchungen darüber an­stellen mußte, ob in Chile zur Zeit Pinochets im Auftrag des chilenischen Geheimdienstes DINA gefoltert und gemordet wur­de – und zwar mit Hilfe der deutschen Sekte Colonia Digni­dad. Im März 1977 hatte die deutsche Sektion von amnesty international in der Broschüre “Colonia Dignidad – Deutsches Mustergut in Chile – ein Folter­lager der DINA” drei Zeugen­aussagen zusammenge­tragen, die be­legten, daß die Colonia Digni­dad der Geheimpolizei DINA dabei behilflich gewesen war, nach dem Putsch in Chile im Sep­tember 1973 politische Geg­ner zu foltern und zu ermorden. Ein entsprechender Artikel der Journalisten Kai Hermann und Hero Buss erschien am 17.3.1977 in der Illustrierten STERN. Über einen Monat lang war die Colonia Dignidad Ge­gen­stand zahlreicher Veröffent­lichungen und Fernsehberichte, ohne daß die Sekte darauf reagierte. Erst als amnesty international für den 23. April 1977 eine Infor­ma­tions­veranstaltung in Sieg­burg, dem Sitz der Sekte in Deutsch­land ankündigte, bean­tragte diese den Erlaß einer Einstweiligen Verfügung gegen amnesty inter­natio­nal, mit der sie sogar Erfolg hatte, und verklagte am 27. April 1977 den STERN und am 25. Mai 1977 amnesty international auf Unterlassung der Behaup­tungen. Die Sekte stritt schlicht alles ab.

Ein schleppender Prozeß

Dies war der Beginn eines zum Teil absurden Prozeßver­laufs, der zum einen durch Quer­schüsse und Verfahrenstricks der Kläger und der chilenischen Mi­litärregierung und zum anderen durch offensichtliches Desinte­resse des Bonner Landgerichts an der Beschleunigung des Verfah­rens gekennzeichnet ist. Darüber hin­aus scheint auch amnesty in­ternational nach eini­gen Jahren das Interesse an die­sem Prozeß, mit dem ein dunkles Kapitel der chilenischen Militär­diktatur auf­geklärt werden könnte, verloren zu haben.
Nach Einlegung der Klage durch die “Sociedad Benefactora Y Educacional Dignidad”, Chile, und der “Privaten Sozialen Mis­sion e.V.”, Siegburg, der deut­schen Restgruppe der Sekte, muß­ten ai und der STERN Be­weise für ihre Behauptungen lie­fern. 1978/79 präsentierte ai ins­gesamt neun Zeugen. Es waren sie­ben ehemalige politische Ge­fangene, die allesamt aussagten, in der Colonia Dignidad gefoltert worden zu sein. Außerdem wur­de ein ehemaliger Geheim­dienst­agent präsentiert, der be­richtete, mehr­fach Gefangene in die Ko­lo­nie transportiert zu ha­ben. Zu den Örtlichkeiten wurde auch ein Polizeibeamter aus Brühl be­fragt, der einen Bruder und sei­nen Vater in der Kolonie hatte und als Besucher dort ge­wesen war.

Viele Zeugen – kein Urteil

Die geschilderten Einzelhei­ten und Ortsbeschreibungen der Gefangenen, die alle mit verbun­den­en Augen in die Kolonie transportiert worden waren, reich­ten dem Landgericht als Beweis nicht aus, auch nicht die als Tonbandprotokoll vorlie­gen­de Aussage des 1977 ermor­deten ehemaligen DINA-Agen­ten Juan René Muñoz Alarcón, dem be­rüch­tig­ten Kapuzenmann aus dem Nationalstadion, der politi­sche Gegner identifizierte, die anschließend gefoltert wur­den. Kurz vor seiner Ermordung hatte Alarcón in einer Lebens­beichte dem katholischen Solida­ritäts­vikariat berichtet, daß er in der Colonia Dignidad an der Er­mor­dung von politischen Gefan­gen­en beteiligt gewesen war.
Das Bonner Landgericht er­ließ am 22.1.1980 einen umfang­reichen Beweisbeschluß, der die Über­prüfung der Zeugenaussa­gen vor Ort, also in Chile, zum Gegenstand hatte. Mitte 1981 lehn­te die chilenische Regierung unter Pinochet dieses Ansinnen mit dem Hinweis auf die rechtli­che Souveränität Chi­les ab. Prof. Dr. D. Blumenwitz von der Uni­versität Würzburg leistete der Sekte und der chile­nischen Dik­tatur Hilfe durch ein entspre­chendes Rechtsgutachten. Dar­auf­hin beschloß das Gericht, die Unter­suchungen “in Amts­hilfe” von einem chilenischen Gericht durchführen zu lassen. Es folgte ein Hin- und Herschie­ben der Akten zwischen Deutschland und Chile über fast fünf Jahre. Immer wieder wur­den Überset­zungen angezweifelt und neue Unterlagen angefor­dert. Im Herbst 1987 wurde dann endlich die erste Zeugenverneh­mung durch das chilenische Ge­richt vorgenom­men. In Deutschland kam es derweil im Februar 1988 zu einer Anhörung im Unter­ausschuß des Deut­schen Bundes­tages zum Thema Colonia Dig­nidad, bei der nicht nur das brutale Vorge­hen der Sekten­spitze gegenüber den ein­fachen Mitgliedern of­fenbar wur­de, sondern sich auch die Zu­sammenarbeit mit den Geheim­diensten bestätigte. Drei geflo­hene Sektenmitglieder schilder­ten Einzelheiten über Gefangene, Waffenkäufe und ge­stohlene Fahr­zeuge von politi­schen Ge­fangenen.

Ortsbegehung

Im Eindruck dieser Enthül­lungen fand im April 1988 schließlich der Lokaltermin in der Colonia Dignidad statt, der weltweit Aufmerksamkeit er­reg­te. Unter Beobachtung von 40-60 JournalistInnen führte eine chi­le­ni­sche Richterin die Unter­suchungen durch, bei der sie sich an dem umfangreichen Fragen­katalog des Bonner Landgerichts halten mußte. Für Chile war dies eine Premiere, denn hier sollte ein chilenisches Gericht im Auf­trag eines ausländischen Gerichts überprüfen, ob der chilenische Ge­heimdienst gefoltert und ge­mordet hatte – und dies zu einer Zeit, als die Pinochet-Diktatur noch an der Macht war. Obwohl die Sekte und der Geheimdienst 11 Jahre lang Zeit hatten, die Spuren zu beseitigen, wurden zahl­reiche Details der Zeugen­aussagen bestätigt. Seitdem ist in dem Prozeß praktisch nichts ge­schehen. Die Aussagen und Protokolle der chilenischen Rich­terin wurden nach Deutsch­land geschickt. Ein erneutes Ge­plänkel über die Form der Über­setzungen begann.
In Chile hingegen gab es meh­rere Untersuchungen und eine nicht zu überblickende Zahl von Straf- und Zivilverfahren ge­gen die Colonia Dignidad bzw. von der Sekte angestrengte Ver­fah­ren. Im März 1991 stellte die so­genannte Rettig-Kommission des neu gewählten demokratischen chile­nischen Parlaments fest, daß die Colonia Dignidad Folterort der DINA war.

Haftbefehl gegen Paul Schäfer

Vor einigen Monaten geriet die Colonia Dignidad erneut in die Schlagzeilen: Gegen den Sektenführer Paul Schäfer liegt ein Haftbefehl vor, da er be­schul­digt wird, mehrere Jungen sexuell mißbraucht zu haben. Ende Mai durchsuchte die Poli­zei erfolglos das Sektengelände, um den Flüchtigen, der bereits mit Selbstmord gedroht hat, fest­zunehmen. In verschiedenen anderen Verfah­ren geht es um Steuer­hinterzie­hung, Betrug, Zollvergehen und Entführung.
Am 18. März 1993 wurde der Sociedad Benefactora Y Educa­cional Dignidad durch den christ­demokratischen Präsiden­ten Aylwin endgültig der Rechts­status entzogen. Die Gesellschaft ist aufgelöst. Die Sekte war al­lerdings so schlau, vor dieser Entscheidung praktisch alle Vermögensgegenstände der Gruppe auf neu gegründete Ge­sellschaften zu übertragen. Fak­tisch existiert die Colonia Digni­dad weiter.
Für den Zivilprozeß bedeutet dies jedoch, daß amnesty inter­national und dem STERN die Prozeßgegner abhanden gekom­men sind, denn auch der deut­sche Arm der Sekte in Siegburg existiert nicht mehr.
Amnesty international und der STERN haben jetzt das Bonner Landgericht aufgefordert, nach der gegebenen Aktenlage zu ent­scheiden, denn für Beide besteht die absurde Situation, daß es ih­nen auf Grund der Einstweiligen Verfügung von April 1977 unter­sagt ist, die Colonia Digni­dad als Folterlager zu bezeich­nen, ob­wohl dies mittlerweile All­ge­mein­wissen ist.

Späte Hilfe

So kann es doch noch dazu kommen, daß nach über 20 Jah­ren ein deutsches Gericht bestä­tigt, daß nach dem Militärputsch in Chile 1973 die deutsche Sekte Colonia Dignidad den chileni­schen Geheimdienst dabei unter­stützt hat, politische Gegner zu foltern, zu ermorden und ver­schwinden zu lassen. Es ist eine (fast zu) späte Hilfe für die vielen ehemaligen politischen Ge­fangenen in Chile, die die Aufklärung der Verbrechen der Pinochet-Diktatur und ihrer Hel­fer fordern.

KASTEN

Späte Gerechtigkeit

Das hätten wir nicht ge­dacht! Als wir vor 20 Jah­ren In­for­ma­tio­nen darüber sammel­ten, daß die deut­sche Sekte Colo­nia Di­gni­dad dem chilenischen Ge­heim­dienst DINA ihr rie­siges land­wirtschaftliches Gut zur Ver­fügung gestellt hatte, um politische Gegner zu foltern und zu ermor­den, hatten wir die Hoff­nung, daß diese Ter­ror­gruppe, die auch ihre eige­nen Mit­glieder wie Sklaven behan­del­te, bald auffliegen würde. Jetzt scheint die Verhaftung des Sektenfüh­rers Paul Schäfer end­lich kurz bevor zu stehen.
Nie in meinem Leben ist mir eine solch merkwürdige Kom­bi­nation von pseudo-re­ligösem Fa­na­tismus, Per­fektion von Über­wa­chungs­systemen, wirt­schaft­lich­em Erfolg und Drei­stig­keit beim Lü­gen begegnet.
Daß diese Psychoterror­gruppe, die auch vor Mord nicht zurückschreckte, so­lange be­ste­hen konnte, hat verschiedene Grün­de. Jah­relang hat sie die Pinochet-Diktatur als Verbünde­ten ge­habt, die natür­lich kein Interesse daran hatte, ihre Helfer auffliegen zu lassen. Auch der langjährige Ge­heimdienstchef Ma­nuel Con­tre­ras ist Freund der Colonia Dignidad.
Durch milde Gaben an die unmittelbare Umge­bung, sicher­lich auch Schmiergeldzahlungen und Wohltaten an lokale Grö­ßen, hatte sich die ver­schrobene Sekte auch eine örtliche Macht ge­schaffen. In der Region ist die Colo­nia Dignidad ein Wirt­schafts­faktor. Nicht zuletzt hat die deutsche Botschaft dem Trei­ben der rechten Sek­te jahrelang ta­ten­los zu­gesehen.
Auch in Deutschland hatte die Sek­te einflußrei­che Freunde, meist aus Bayern – von der CSU. Zwei Hochschulprofesso­ren, die der CSU naheste­hen, Lothar Bossle und Dr. Dieter Blumen­witz haben die Sekte jahrelang unter­stützt.
Daß die Sekte unter der Führung des heute 76-jäh­rigen Paul Schäfer mittler­weile wankt, liegt nicht an deren Verbrechen kurz nach dem Militärputsch 1973. Schon 1992 hat eine chilenische Parlaments­kom­mis­sion festgestellt, daß in der Kolonie politische Ge­fangene ge­foltert und er­mor­det worden sind. Paul Schäfers Terrorregime schei­tert jetzt, 40 Jahre nach seinem Entstehen, an der sexu­ellen Perversion ihres Führers, der chileni­sche Jungen sexuell miß­braucht hat. Erst bei diesen Vorwürfen wurde die chile­nische Öffentlichkeit hell­hörig. Sexu­eller Mißbrauch von Kindern und Jugend­lichen, das war auch der Grund für Paul Schäfer, mit seinen Getreuen 1961 Hals über Kopf Deutschland zu verlassen.
Es bleibt zu hoffen, daß nicht nur diese Straftaten aufgeklärt werden, sondern auch das Ver­schwinden von mehreren dut­zend, vielleicht sogar mehreren hundert poli­tischen Gefangenen der Pinochet-Dik­tatur, die in der Colonia Dignidad ge­wesen sind. Wir haben wie­der einmal Hoff­nung auf späte Ge­rechtigkeit.
Für die deutschen Be­hörden bleibt die Aufgabe, sich um etwa 200 deutsche Staatsangehörige zu küm­mern, die intensive psycho­logische Betreuung brau­chen, weil sie zum Teil ihr gan­zes Leben un­ter der Terror­herschaft einer men­schen­ver­ach­ten­den Sekte ver­bracht haben.

Kindesmißbraucg in der “Kolonie der Würde”

Eine Frau hatte Schäfer im Juni 1996 beschuldigt, ihren Sohn sexuell mißbraucht zu haben. Ob es zu einer Verhaftung und einem späteren Prozeß kommen wird, bleibt abzuwarten. Im Laufe der mittlerweile 35-jährigen Geschichte der Sekte auf chilenischem Boden hat es ihr Führer Paul Schäfer immer wieder geschafft, Verhaftungen und Nachprüfungen zu entgehen. Schon 1961, noch in Deutschland, war Paul Schäfer wegen Kindesmißbrauchs angezeigt worden. Die Staatsanwaltschaft in Bonn kam damals nicht mehr dazu, die Ermittlungen erfolgreich zu Ende zu führen. Bevor weitere Kinder gehört und Schäfer verhaftet werden konnte, hatte er sich bereits nach Chile abgesetzt. Seine Anhänger folgten ihm später. Dort tauchte er erst einmal auf dem großen Landgut der Sekte unter. Offiziell war er wieder aus Chile ausgereist. Die Sektenmitglieder erklärten, er sei tot. Erst nachdem die Delikte verjährt waren, leugnete die Sekte nicht mehr die Existenz ihres Führers, der bis heute darauf bedacht war, nie eine offizielle Funktion in der Sekte wahrzunehmen. An den Vorwürfen der chilenischen Mutter wird es keinen Zweifel geben. Ehemalige Sektenmitglieder bestätigen, daß sich Schäfer auch in Chile an Jungen vergangen hat. Zwei “Springer”, wie sie in der Sektensprache genannt wurden, mußten ihn ständig begleiten.
Noch immer leben in der Colonia Dignidad, nahe der Provinzstadt Parral in Südchile, 250 deutsche Staatsangehörige und 50 Chilenen. Ende 1995 waren schon einmal Haftbefehle gegen zwei führende Mitglieder der Sekte, Herman Schmidt und Kurt Schnellenkamp, wegen Steuerhinterziehung in Millionenhöhe ergangen.

Die Colonia Dignidad als Folterlager der DINA

Diese Haftbefehle waren offensichtlich die Folge des Abschlußberichtes des “Untersuchungsausschusses zur Auflösung der Rechtspersönlichkeit der Colonia Dignidad” des chilenischen Abgeordnetenhauses vom 15. November 1995. Die Verhafteten kamen gegen Zahlung einer Kaution frei. Die Kommission unter Leitung des sozialistischen Abgeordneten Jaime Naranjo hatte zahlreiche Verstöße gegen chilenische Gesetze festgestellt, auch wegen nicht gezahlter Steuern. Zur Unterdrückung der Rechte der Gruppenmitglieder hatte die Kommission festgestellt: “Es scheint weiterhin starke Einschränkungen der individuellen Bewegungsfreiheit der Einwohner der früheren Kolonie und im Briefgeheimnis zu bestehen.
Zu der Tatsache, daß die Colonia Dignidad nach dem Pinochet-Putsch im Jahre 1973 als Folterlager der DINA diente, sagte der Kommissionsbericht nichts. Darum bemüht sich eine Gruppe von etwa 80 ChilenInnen, die damals von der Geheimpolizei verhaftet, in die Colonia Dignidad verschleppt und dort gefoltert worden waren.
Derweil lebt die Colonia Dignidad weiter. Zwar hatten die Berufungen gegen die Auflösung der “Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad” durch das Justizministerium vom 31.1.1991 keinen Erfolg, die Sekte hatte jedoch schon vorher sämtliche Vermögensgegenstände und Grundstücke auf andere Gesellschaften, die im Eigentum von Sektenmitgliedern standen, übertragen, so daß das Auflösungsdekret praktisch ins Leere lief.
(Die LN haben über die Colonia Dignidad seit Jahren immer wieder berichtet, zuletzt in den LN 227, im Dezember 1989 gab es ein Sonderheft und im Januar 1988, Nr. 166, ein Schwerpunktheft zur Colonia Dignidad)

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