Von der Psychosekte zum Folterlager

“Von der Banalität des Bösen” könnte man das neue Buch über die Colonia Dignidad in Chile auch nennen. Das wievielte Buch über diese verschrobene deutsche Sekte, die zur Helferin des chilenischen Geheimdiestes DINA und zur Folter- und Mordassistentin wurde, ist es eigentlich?
Seitdem die etwa 300 Köpfe zählende Sekte unter ihrem Führer Paul Schäfer 1961 Hals über Kopf von Deutschland nach Chile ausreiste, weil Schäfer von der Staatsanwaltschaft wegen sexuellen Miß­brauchs von Sektenkindern gesucht wur-de, stand die Gruppe in Chile mehrfach im Mittelpunkt von Skanda­len. Flucht, Prü-gel, Freiheitsberau­bung, psychische und physische Ab­hängigkeit der Sekten-mitglieder, Folter und Mord gemeinsam mit dem Pino­chet-Geheim­dienst DINA waren die Stichworte.
Allein in Chile sind min­destens zwei Ro-mane und vier Sach­bücher über die Psy-chosekte erschie­nen. Neben den Ver­öf-fentlichungen von Amnesty Internatio­nal 1977 und der Lateinamerika-Nachrichten 1980, 1988 und 1989 ist hier in Deut-schland vor allem das etwas zu schnell ge­schriebene und deshalb mit Detailfeh­lern behaftete Buch “Colonia Dignidad – ein deutsches Lager”, Reinbeck 1988, von Gero Gemballa zu nennen. Die Zahl der Fernsehberichte und längerer Zei­tungs-artikel geht in die Dutzende. Auch ein Spielfilm (“Die Kolonie” von Orlando Lübbert, BRD 1985) ist ent­standen.
F. Paul Heller geht die Sache jetzt auf 306 eng beschriebenen Seiten gründlich an, mit Personenregister und Chronik und vielleicht etwas zu gründ­lich. Er sucht Antworten auf die Frage: Wie kommt es, daß eine ursprünglich christlich orientierte Gruppe – der Großteil der Mitglieder stammt aus ei­nigen Baptisten-Gemeinden in Nord­deutschland – zur Terrortruppe nach innen und außen wird? Die Kapitel “Theologie des Terrors”, “Christentum und Folter” und “Gott und Teufel” machen Erklärungsversuche. “Arbeit ist Gottes­dienst” ist eines der wichtigsten “Glaubensbekenntnisse” von Paul Schäfer. Schweigen gegenüber anderen Sektenmit­gliedern und gegenüber Au­ßenstehenden bei gleichzeitiger voll­ständiger Offen­legung aller Gedanken und Gefühle ge­genüber dem Sekten­führer sind die Herrschafts-instrumente, mit denen die Gruppe auf Gedeih und Verderb zusam­mengeschweißt worden ist.
Es wird ein Psychogramm der Gruppe ge­zeichnet, und es werden auch Verbin­dungen zwischen der ver­steckten ideolo­gischen und theologi­schen Basis der Gruppe und einem “esoterischen Hitlerismus” einiger Freunde der Colonia Dignidad herge­stellt. Das ist schwer ver­daulich. Was den Wert des Buchs aus­macht, ist zum einen die Darstellung der Colonia Dignidad als Ort der Folter von politischen Gefangenen und als Ausbil­dungslager für den chilenischen Geheim­dienst. Zum anderen sind die zahlreichen bisher unveröffentlichten Dokumente spannend, weil sich die LeserInnen mit ihnen ein eigenes Bild vom Innenleben der Psychosekte und von der Terror-ideologie des Geheimdienstes machen kann.
Während des Putsches 1973 und in den Monaten danach sind in Chile einige tausend Gegner der Pinochet-Diktatur verhaf­tet worden und danach spurlos ver­schwunden. Der Autor präsentiert nun im Kapitel “Das Massaker” und “Das Arbeitslager” konkrete Zeugenaussagen über die Ermordung von etwa 100 so­genannten Verschwundenen in der Nähe der Colonia Dignidad an einem Berg mit dem Namen Monte Mara­villa. Monte Ma-ravilla war ein Ar­beitslager, das die Colonia Dignidad mit einem Teil der chilenischen Streit­kräfte (höchstwahr-scheinlich war dies die DINA) unterhielt. Nachden im Buch zusammengetragenen Aussagen bestand das Arbeitslager aus Fertig­baracken und Zelten. Dieses Lager, in dem bis zu 100 Gefangene unterge­bracht gewesen sein sollen, soll noch bis 1978, also 5 Jahre nach dem Mili­tärputsch bestanden haben. Die Arbeit, die auch nachts geleistet werden mußte, bestand in Steineschleppen und Graben. Soweit der Autor recherchie­ren konnte, sind alle, die dort gefangen gehalten wurden, bis heute “verschwunden”.
Zu den dort Ermor­deten zählt wahrscheinlich auch der 1974 verhaftete und verschwundene Chileno-Franzose Alfonso Chanfreau, dessen Schicksal ausführlich dargestellt wird. Erschreckend die Geschichte der ehemaligen Freundin Chanfreaus, die wie er zum linksre-volutionären MIR gehörte und nach Ver-haftung und Folter DINA-Agentin wurde. Jetzt führen die aus dem französischen Exil zurückgekehrten Eltern Chanfreaus einen Prozeß, um die Mörder ihres Sohnes dingfest zu machen. Einer der Folterer Chanfreaus, Osvaldo Romo, wurde in-zwischen von Brasilien ausge­liefert und sitzt nun in Chile in Un­tersuchungshaft. Das Buch bietet eine Fülle von Einzel-heiten, die es manchmal schwer machen, den Über­blick zu bewahren. Grausame Doku­mente sind abgedruckt, so z.B. die Empfehlungen eines Militärarztes 1973, wie mit den Anhängern der Unidad-Popular-Regierung umzugehen sei. Sie wurden in heilbare und unheilbare Ex­tremisten eingeteilt, die Unheilbaren soll-ten deportiert und schließlich “neutra-lisiert”, also ermordet werden. Betroffen macht auch die Lebens­beichte des DINA-Agenten Rene Mu­ñoz Alarcón, der kurz nach dem Mili­tärputsch im National-stadion alte Par­teifreunde der Sozia-listischen Partei identifizierte und der nach eigener Aussage in der Colonia Dignidad an Verhör- und Folterkursen teilnahm.
Grausig und dunkel sind auch die di­rekten Dokumente aus der Colonia Dignidad, die von einem krankhaften Verfolgungswahn zeugen. Häufig ver­fahren sie nach der Methode, die Beschuldigungen schlicht umzudrehen und die Verfolgten zu Verfolgern zu machen. Projektion nennen die Psy­chologen so etwas. Das “Protokoll der Außerordentlichen Generalversamm­lung” vom 26.10.1985 ist ein beredtes Dokument über die Denkweise der Sekte. Nach der Flucht dreier wichtiger Gruppenmitglieder, u.a. von Hugo Baar, der jahrelang der Leiter des zu­rückgebliebenen Außenpostens der Gruppe in Siegburg war, wurde dieses Protokoll verfaßt, um mit den Flüchti­gen abzurechnen. Baar wird als gel­tungssüchtiger hysterischer Psychopath bezeichnet. Psychoterror, Bespitzelung, Post- und Telefonkontrolle werden ihm vorgeworfen. Praktiken, die für Baars damaliges Verhalten treffend ge­wesen sein mögen, die aber wahr­scheinlich in noch größerem Ausmaß auch für die Colonia Dignidad in Chile zugetroffen haben.
Am Ende des Buchs stellt sich die Frage, was jetzt aus der Colonia Dignidad wird. Immer wieder in neue rechtliche Formen mu­tiert, existiert die Gruppe unter Sek­tenführer Paul Schäfer seit Mitte der 50er Jahre. Zwei große Skandale mit zwei parlamentarischen Untersuchun­gen (Chile 1967 und Deutschland 1988) hat die Gruppe unbeschadet überstanden. Als Helferin der Pino­chet-Diktatur jahrelang gut geschützt, dann aber auch in Chile in die öffent­liche Kritik geraten und im Februar 1991 formell aufgelöst, besteht die verschrobene Sekte weiter, weil sie ihr Eigentum rechtzeitig in neue Gesell­schaften von Sektenmitgliedern über­führt hat.
Wird es eines Tages eine Befreiung der von ihrer Führung un­terdrückten Sekten mitglieder geben? Wird eines Tages die ganze Wahrheit über die Kollaboration der Colonia Dignidad mit dem Geheimdienst ans Licht kommen? Werden die Mörder und Helfer gerichtlich zur Verantwor­tung gezogen werden können? Gewisse Chancen bestehen jetzt. Die chileni­sche Justiz hat inzwischen den frühe­ren Geheimdienstchef und Freund der Colonia Dignidad, Manuel Contreras, zu 7 Jahren Haft verurteilt. Dies geschah jedoch nicht für die Straftaten, die er zu­sammen mit der Colonia Di­gnidad began­gen hat, sondern wegen der Ermordung des ehemaligen Außenministers Or­lando Letelier, der 1976 einem Bom­benattentat in Washington zum Opfer fiel. Ob die gegen die Colonia Digni­dad angestrengten Prozesse jemals ein Ende finden werden, bleibt zweifelhaft. Der Autor jedenfalls wagt keine Pro­gnose.

Friedrich Paul Heller, Von der Psy­chosekte zum Folterlager, ISBN 3-926369-99-X, DM 29.80 Schmetterling Verlag, Stuttgart 1993

Exil zwischen Solidarität und Bevormundung

Der Militärputsch am 11. September 1973 ist nicht nur ein für die chilenische Geschichte einschneidendes Ereignis, sondern er markiert auch den Beginn für die größte Flucht und Migrationsbewegung in Lateinamerika seit den Unabhängigkeitsbestrebungen Anfang des 19. Jahrhunderts. Schätzungen der chilenischen Menschenrechtsorganisation CODEPU (Comite de Defensa de los Derechos del Pueblo) zufolge haben in den Jahren nach dem Militärputsch insgesamt 1,6 Millionen ChilenInnen ihre Heimat verlassen, außerdem mehr als 700.000 ArgentinierInnen nach dem Staatsstreich im Jahr 1976. Schließlich folgten die Fluchtbewegungen aus Uruguay und Peru mit jeweils rund 500.000 Menschen.
Das politische Exil hat in den siebziger und achtziger Jahren die lateinamerikanischen Migrationsbewegungen bestimmt. Heute hat die Emigration dagegen ihre eindeutig politische Konnotation verloren. An die Stelle der offenen Gewaltanwendung gegenüber politisch Andersdenkenden ist die Gewalt der neoliberalen Wirtschaftspolitik getreten. Die Menschen fliehen nicht mehr primär vor dem Militärterror und den Todesschwadronen, sondern vor der wirtschaftlichen Verelendung, von der heute bis zu 40 Prozent der Bevölkerung betroffen sind.
In diesem Sinne ist eine klare Trennung in politische Flüchtlinge und die vielfach diskriminierten Armutsflüchtlinge gar nicht möglich und erweist sich als ethnozentrisches und interessengeleitetes Konstrukt.

Deutsch-chilenische Migration

Mit dem Putsch 1973 wurde Deutschland zum Einwanderungsland für exilierte ChilenInnen. Man sollte aber nicht vergessen, daß schon seit der Unabhängigkeit Chiles 1818 immer wieder große Migrationsbewegungen stattgefunden haben, allerdings in umgekehrter Richtung, von Deutschland nach Chile. Zunächst kamen durch die Anwerbung des chilenischen Staates und deutscher Handelsunternehmen zahlreiche deutsche Siedlerfamilien, die das Handwerk in den großen Städten modernisierten und vor allem die IndianerInnengebiete südlich des Flusses BioBio für die Landwirtschaft nutzbar machen sollten.
Seit der chilenischen Staatsgründung hat es fünf große Einwanderungswellen aus Deutschland gegeben: Die erste große Fluchtbewegung erfolgte nach der Revolution von 1848, die zweite nach der Verkündung der Sozialistengesetze unter Bismarck 1878; sie hielt bis Ende der 80er Jahre an. In diesem Jahrhundert löste die Wirtschaftskrise in den 20er Jahren erneut eine große Auswanderungsbewegung aus. Mit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland und nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer weiteren starken Migration nach Chile. Während das Land zunächst flüchtende NazigegnerInnen und jüdische EmigrantInnen aufnahm, tauchte hier nach dem Krieg eine große Zahl von
SS-Angehörigen und Nazigrößen unter, deren Verbindungen zu den Reichsdeutschen im Süden Chiles seit jeher sehr gut waren.

Exil in der Bundesrepublik

Mit dem Putsch vor zwanzig Jahren wurde nun also das Einwanderungsland Chile über Nacht zum Auswanderungsland. Was hätte sich da mehr angeboten, als Zuflucht in den Herkunftsländern der Vorfahren zu suchen? Doch diese schlossen nach einem ersten Ansturm von Flüchtlingen ihre Botschaften in Santiago (mit Ausnahme Spaniens, das die Einreise ohne Reisepaß und Visa ermöglichte), obwohl die Medien voll von grauenhaften Berichten über Menschenrechtsverletzungen in Chile waren und internationale Kommissionen zu folgenden Untersuchungsergebnissen kamen: “Die Praktiken der Folter und Hinrichtungen werden derart systematisch angewandt, daß sie an Völkermord grenzen, wie er von den Vereinten Nationen definiert wurde”.
Zwar beschloß das bundesdeutsche Kabinett noch im Oktober, daß den ChilenInnen unbürokratisch geholfen werden sollte, doch schließlich wurde nur die Aufnahme eines Kontingentes von 2.000 ChilenInnen zugesagt. Im Rahmen dieser Quotenregelung durften in die Bundesrepublik aber ausschließlich inhaftierte ChilenInnen einreisen, deren Prozesse bereits abgeschlossen waren und deren Haftstrafen in Landesverweise zwecks Ausreise umgewandelt werden konnten. Aber gerade die Gefangenen ohne rechtskräftiges Urteil waren der Folter und der Gefahr des ‘Verschwindens’ besonders ausgesetzt. Diesen Menschen hätte also besonders geholfen werden müssen.
In der Folge kam es zu erbitterten Kontroversen zwischen Bundesregierung und einzelnen Bundesländern, als diese ihre Zusage zur Aufnahme der Verfolgten mit den unterschiedlichsten Bedingungen verknüpften. Während das Saarland und Bayern die Aufnahme kategorisch verweigerten, stellte BadenWürttemberg folgende Forderungen: “Die Bundesregierung muß unbedingt sicherstellen, daß von der Aufnahme Angehörige extremistischer und anarchistischer Gruppen und darüberhinaus solche Personen ausgeschlossen sind, deren Ziel die Beseitigung des demokratischen Verfassungsstaates ist”.
Angesichts dieser Logik, mit der die ChilenInnen als ‘Sicherheitsrisiko’ stigmatisiert wurden, war es dann nur konsequent, daß ein Vertreter des Verfassungsschutzes aus Köln die Sonderkommission der Bundesregierung im November nach Santiago begleitete, um bei der Befragung der Verfolgten anwesend zu sein, was schon damals eine eklatante Verletzung beziehungsweise Nichtbeachtung des Artikels 16 des Grundgesetzes war. Trotz scharfer Proteste von SPD, Diakonischem Werk, Amnesty International und Chile-Komitees kam es zu den Verhören der chilenischen Flüchtlinge in Santiago, und erst nach der Zustimmung des Verfassungsschutzes wurde den ersten 23 ChilenInnen Mitte Dezember 1973 die Ausreise erlaubt.
Angesichts der breiten Debatten über das ‘Sicherheitsrisiko’ und die Übernahme der Kosten für die Aufnahme der chilenischen Flüchtlinge zeigte sich, daß je reicher ein Land ist, desto perfekter auch sein Machtapparat zur Ausgrenzung der Fremden funktioniert.

Koordinierung der Chilesolidarität

Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Ineffizienz staatlicher Strukturen kam es bereits Ende 1973 zu einer Koordinierung der ChileKomitees mit Amnesty International, an der sich bereits im Mai 1974 auch die Stiftung Mitbestimmung der Gewerkschaften (heute HansBöcklerStiftung) beteiligte, um den Flüchtlingen über die Vergabe von Stipendien oder Arbeitsverträgen die Einreise nach Deutschland zu ermöglichen. Viele Gemeinden der Evangelischen Kirche halfen mit Notunterkünften aus, zur Überbrückung wurden Sach und Geldspenden mobilisiert, und die chilenischen Flüchtlinge wurden persönlich betreut und bei ihren Wegen zu den Ämtern begleitet.
Innerhalb weniger Monate wurde so eine effiziente Struktur für verfolgte ChilenInnen errichtet, die nicht unter die Regelungen des staatlichen Kontingentes fielen. In Einzelfällen wandte sich sogar die deutsche Botschaft mit der Bitte um Hilfe an die ChileKoordination. Neben der breit gefächerten praktischen “Integrationsarbeit” leisteten die Komitees vorrangig eine offensive Öffentlichkeitsarbeit, die die Lage in Chile sowie das Verhalten der Behörden in der Bundesrepublik thematisierte. Ohne diesen Druck, der gemeinsam von Gewerkschaften, Diakonischem Werk, Amnesty International und ChileKomitees ausgeübt wurde, und der eine positive Resonanz in den öffentlichen Medien fand, wäre es sicherlich nicht zur Aufnahme der circa 4.000 Exil-ChilenInnen gekommen, die in den folgenden Jahren Schutz in der Bundesrepublik fanden. Denn nach wie vor mahlten die Mühlen der staatlichen Aufnahmeverfahren – inzwischen in der Kompetenz des Innenministeriums- äußerst langsam.
“Während es in England oder den Niederlanden etwa sechs bis zwölf Wochen dauerte, und manche skandinavischen Staaten in dringenden Fällen innerhalb von Stunden Einreisevisa erteilten, benötigten die deutschen Behörden wegen der eingehenden Sicherheitsprüfungen häufig ein dreiviertel oder gar ein volles Jahr”.
Als Beispiel für den Erfolg der internationalen Öffentlichkeitsarbeit sei an den Fall der Gefangenen Gladys Diaz erinnert, die mehrfach gefoltert und vergewaltigt wurde und tagelang spurlos aus den Gefängnissen verschwand, sowie an die Prozesse der Holzarbeiter von Panguipulli, die für einen nicht nachgewiesenen Überfall auf eine Polizeistation Höchststrafen zu erwarten hatten. In beiden Fällen konnte die Ausreise erwirkt werden.
Im Zentrum der Aktivitäten der privaten bzw. nicht-staatlich organisierten Solidaritätsaktionen stand die Basisarbeit in Komitees und Nicht-Regierungs-Organisationen in den vielfältigsten Formen und auf verschiedensten Ebenen, weniger die Lobby-Arbeit.
Getragen von der Überzeugung einer notwendigen Solidarität mit Verfolgten und dem klaren Feindbild einer Militärdiktatur ist es nach und nach zu einer Übernahme staatlicher Aufgaben durch die Solidaritätsbewegung gekommen, die sich heute unter anderem in dem Nichtvorhandensein offizieller Daten oder einer analytischen, inhaltlich bewertenden Stellungnahme zum chilenischen Exil ausdrückt. Selbst nach ausgiebigen Recherchen war es nicht möglich, offizielle Daten über die chilenischen Flüchtlinge in Deutschland zu erhalten. Zwar gibt es eine allgemeine Bevölkerungsstatistik, die unter anderem auch die Zahl der chilenischen Bürger in Deutschland aufweist. Diese enthält jedoch weder Hinweise auf die Verhältnisse während der Ein und Ausreise, noch gibt sie Aufschluß über die Einreisegründe.
Hochrechnungen chilenischer und internationaler Menschenrechtsorganisationen ergeben aber eine relativ gleiche Zahl, nämlich ca. 1600 anerkannte politische Flüchtlinge bei einer Gesamtzahl von 6000 chilenischen Staatsbürgern in der Bundesrepublik. Diese Zahl von rund 6000 Flüchtlingen ist weitgehend konstant geblieben, weil die seit 1984 verstärkt einsetzende Rückkehr von Exil-ChilenInnen durch den Zuzug von Familienangehörigen, Studenten oder Arbeitssuchenden ausgeglichen wurde.

Ende des Exils

Mit dem Plebiszit im Jahr 1988, mit dem die chilenische Bevölkerung die Beendigung der Militärregierung und die Rückkehr zu demokratischen Politikformen einleitete, war die politische Begründung des chilenischen Exils nicht mehr gegeben. Die Verteidigung der Menschenrechte muß heute nur noch in Einzelfällen vor Gerichten eingeklagt werden und nur in einigen wenigen Fällen muß die Rückkehr von Flüchtlingen, deren Militärgerichtsprozesse in Chile noch anhängig sind, weiterhin erkämpft werden. Somit kann man sagen, daß das chilenische Exil mit der Regierungsübernahme durch Präsident Aylwin im März 1990 beendet wurde. Heute gilt es, in Chile selbst die psychischen Wunden und die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Diktatur zu heilen, beziehungsweise deren menschenrechtsverletzenden Charakter anzuklagen und ihre Ursachen zu beseitigen.

Die Integration

“Das Exil wurde uns mit Gewalt aufgezwungen. Wir wurden gezwungen, unser Land zu verlassen. Es war eine nicht gewollte Erfahrung, eine ungerechte und unendliche Strafe, ohne irgendwelche rechtfertigenden Gründe. Das Exil gehört zu den gravierenden Verletzungen der Menschenrechte des Pinochetregimes”.
In dieser kurzen Aussage wird bereits der zentrale Unterschied benannt, der das Exil von jeder anderen Form der Migration unterscheidet und der das Leben der Menschen als Exilierte grundlegend charakterisiert. Es ist der Gewaltcharakter, der zur Folge hat, daß Menschen aus ihren politischen, beruflichen und familiären Zusammenhängen gerissen werden und sich gegen ihren Willen und ohne ihr Zutun, oftmals völlig unvorbereitet, in einer völlig fremden Gesellschaft wiederfinden, zu der sie keine Beziehungen haben, deren Menschen in anderen Sozialisationsmustern handeln, von denen sie sich tendenziell ausgeschlossen fühlen; die eine ihnen fremde Sprache spricht und dadurch die Herstellung von normalen Alltagsbeziehungen ungemein erschwert.
Obwohl diese Charakteristika des Exils zunächst alle gleichermaßen betrafen, gab es im Umgang mit den Problemen große Unterschiede, z.B. zwischen jüngeren und älteren Flüchtlingen: Es war erstaunlich, mit welchem Pragmatismus sich erstere in die Universitäten einschrieben, sich um Umschulungen beziehungsweise Lehrberufe bemühten und in kürzester Zeit über das notwendige Beziehungsnetz verfügten, um die Sprache zu lernen und an Gelder heranzukommen.
Frauen haben vielfach, nachdem sie sich in den ersten Jahren total auf den Zusammenhalt der Familien konzentrierten, eigenständige Entwicklungen genommen, sich stark mit den deutschen Sozialisationsmustern auseinandergesetzt und an selbständigen Beziehungen zu deutschen Freundinnen gearbeitet. Viele haben sogar Ausbildungsgänge erfolgreich abgeschlossen, während Männer sich oft, nach den ersten bestätigenden Erfahrungen als Vertreter revolutionärer Bewegungen, in ihrer traditionellen Rolle in Familie und Gesellschaft zu behaupten suchten.
Zudem hat es deutliche Unterschiede im Aufeinanderzugehen zwischen den deutschen, mehrheitlich mittelständisch geprägten Mitgliedern der Solidaritätsbewegung sowie den exilierten ChilenInnen akademisch-mittelständischer oder proletarischer Provenienz gegeben. Besonders im ersten Jahr, als hauptsächlich StudentInnen und AkademikerInnen ankamen, gab es ein unausgesprochenes Einverständnis, sich gegenseitig als gleich anzuerkennen und über die “gemeinsame Sache” zu kommunizieren. In den Folgejahren, als nach und nach immer mehr GewerkschaftsführerInnen und ArbeiterInnen flüchteten, funktionierte dies nicht mehr so bruchlos. Man achtete viel stärker auf Distanz, was für viele chilenische Familien einem zweiten Exil gleichkam, d.h. sie wurden hierdurch tendenziell auf ihre eigenen Familien oder ihre chilenischen Vertretungsorganisationen zurückgeworfen.
Quer durch alle Schichten und Untergruppen des chilenischen Exils läßt sich sagen, daß ein Hauptproblem für viele in den ersten Jahren war, überhaupt zu akzeptieren, daß das Exil möglicherweise von längerer Dauer sein würde. Denn dieses anzuerkennen bedeutet nicht nur, seinem Leben eine andere berufliche und politische Perspektive zu geben, sondern vor allen Dingen zu akzeptieren, daß es “das Modell Chile der Unidad Popular” nicht mehr geben würde. Zur Verhinderung dieses Eingeständnisses wurden alle Energien für die Kontaktpflege mit dem Widerstand in Chile mobilisiert, der Aufbau von Exilvertretungen der Parteien in der Bundesrepublik wurde vorangetrieben, und die deutschen Solidaritätsorganisationen wurden in deren Aktivitäten einbezogen. Vielfach wurden die alten parteipolitischen Rivalitäten im Exil – ohne die Sachzwänge des chilenischen Alltags – erbitterter als im Herkunftsland selbst ausgetragen.
Auch viele Deutsche aus der Solidaritätsbewegung haben sich in diese Auseinandersetzungen – oder waren es Fluchtbewegungen vor der Realität? – einspannen lassen. Es galt die Vision einer utopischen Wirklichkeit in Chile. Aber vielleicht waren dies notwendige Prozesse, um den brutalen Bruch, das Hinausgeschleudertsein aus seinem eigenen Leben, zu verkraften.

Verlust von politischer Identität

Die chilenische Migration wurde fast ausschließlich politisch begründet, das heißt die Ankommenden hatten in Chile viele Jahre ihres Lebens in kollektiven Prozessen nicht nur für einen abstrakten “Neuen Menschen” gekämpft, sondern hatten ihr individuelles Leben stark an gesellschaftliche Veränderungsprozesse geknüpft. Ihr Alltag war – neben dem Beruf und den traditionellen vielfältigen familiären Aktivitäten – geprägt von einer aktiven Suche nach alternativen gesellschaftlichen und politischen Modellen. Diese wurden in den Gewerkschaften, Stadtteilorganisationen, MütterOrganisationen, Jugendverbänden und Parteien gelebt, und zwar desto leidenschaftlicher, je stärker die Außenbedrohung durch die Rechten wurde. Hierdurch ging tendenziell der Blick für die Außenwelt immer mehr verloren, und der Bruch des Exils war um so brutaler.
Über Nacht befand man sich in der reichen deutschen Gesellschaft, die mit dem Kapitalismus identifiziert wurde und die Wurzeln des Nationalsozialismus noch immer in sich zu tragen schien. Beeinflußt von vielen USMedien, die in Chile stark das Bild von Deutschland geprägt hatten und von dem elitären, geschlossenen Charakter der deutschen Kolonie (Colonia Dignidad), gab es zunächst ein großes Mißtrauen gegenüber dieser deutschen Gesellschaft. Eine kritische Auseinandersetzung schien zudem nicht opportun, weil die ganze Kraft für die Arbeit dem Widerstand in Chile gewidmet werden sollte.
Schwierigkeiten entstanden auch aus den gegenseitigen Projektionen. Erst heute können uns Vertreter des Exils offen sagen, daß sie schon lange nicht mehr an den Widerstand in Chile geglaubt hatten, aber weil die Deutschen es so haben wollten, sie entsprechende Informationen auf großen Veranstaltungen weitergaben. Jeder hatte seine Funktion in dem Bild, das sich die 68er Generation von einer besseren Gesellschaft gemacht hatte. Die ExilchilenInnen waren greifbare Beweise dafür, daß es MärtyrerInnen und Henker gibt und daß es nur eine Frage von konsequenter Haltung und Informationsmacht ist, diese Bilder in ihrer Ungebrochenheit zu reproduzieren und zu verbreiten.
Damals hat niemand richtig durchschaut, daß der Preis hierfür der Verlust von politischer Identität, Authentizität und Entwicklungsfähigkeit sein würde. So kam es im Laufe der Zeit zu immer ritualisierteren Beziehungen, statischen Bündnissen der verschiedenen Gruppierungen mit “ihrer” Exilgruppe, zu Solidaritätsfesten mit der immer gleichen Musik von “vorher”, den chilenischen Teigtaschen “empanadas” und politischen Diskursen, die durch leere Worthülsen bestimmt waren. Wir haben uns gegenseitig gebraucht, und -oftmals unbewußt- unter dem Deckmantel der Solidarität persönliche Sehnsüchte ausgelebt. In der Idealisierung unserer Zusammengehörigkeit wurden Differenzen überspielt. Zur wirklichen Begegnung kam es auf beiden Seiten oft nicht. Trotz alledem: Diese Zusammentreffen wurden auch gebraucht! Sie waren ein Trost gegen die Individualisierungstendenzen in der deutschen Gesellschaft, die kaum eine familiäre oder politische Kultur des Zusammenseins kennt. Es hat unvergeßliche und intensive gemeinsame Erfahrungen gegeben, Freuden und Ängste, Siege und Niederlagen, Kampf mit Behörden und interkulturellen Austausch, worin alle Beteiligten eng miteinander verbunden waren.
Erst mit der Erfahrung der Notwendigkeit, einen gemeinsamen Weg des Umgangs miteinander zu finden, konnte die Grundlage der Toleranz gegenüber der anderen Kultur, politischen Haltung oder dem jeweiligen Ethnozentrismus entstehen, zum Beispiel bezüglich der Unterschiedlichkeit der Frauensolidarität dem Machismo gegenüber. In der gegenseitigen Annahme von unterschiedlichen Wertvorstellungen, der Suche nach einer gemeinsamen Ethik haben wir uns Maximen eigenen Verhaltens erarbeitet, die oftmals noch heute Orientierungshilfen darstellen, sowohl für uns hier in der interkulturellen Arbeit gegen Ausgrenzung und Rassimus als auch für manche ChilenInnen, die nach ihrer Rückkehr mit den hier erfahrenen Organisations- und Solidaritätspraktiken ihr neues Arbeits- und Lebensfeld gestalten. Diese Toleranz zuzulassen und anzuerkennen, sowie das, was einmal als total “chilenisch” oder “deutsch” empfunden und eingeordnet wurde, auf dem Hintergrund gemeinsamer Lebensgeschichte politisch neu zu bewerten, ist sicherlich eine der wichtigsten Lehren des chilenischen Exils beziehungsweise der Solidaritätsarbeit.

Sprachverlust bewirkt kulturelle Stagnation

Die große Mehrzahl der chilenischen Flüchtlinge hatte keine Deutschkenntnisse und höchstens relativ schlechte Kenntnisse anderer Fremdsprachen. Diese “Sprachlosigkeit” hatte eine totale Orientierungslosigkeit in den neuen Verhältnissen zur Folge. Es ist nicht nur das Sozialverhalten in der fremden Gesellschaft, es sind auch die sprachlichen Grenzen, die eine nur funktionale, oberflächliche Beziehung zur Umwelt ermöglichen. So verarmt schließlich das Leben selber und ist nur noch ausgerichtet auf gewohnheitsmäßiges und materielles Bewältigen von Anforderungen.
Die Deutschkurse, die nun in kürzester Zeit von den verschiedenen Sozialdiensten angeboten wurden, sollten nicht nur der Sprachvermittlung dienen, sondern auch auf die jeweilige soziale Situation der Lernenden eingehen. So gab es Gesprächskreise zu Fragen des deutschen Sozialhilferechts, zu spezifischen Frauenthemen, zu Themen der 68er Studentenbewegung etc. Die Resonanz dieser Kursangebote war jedoch relativ schwach, weil die Mehrheit der ChilenInnen mehr über ihre baldige Rückkehr und über Chile nachdenken wollte, als sich mit den Problemen des Hierseins auseinanderzusetzen.
Argumente wie: Deutsch brauche man sowieso nicht mehr nach der Rückkehr nach Chile, oder daß die Kinder in der Familie nur Spanisch lernen sollten, um die chilenische Identität nicht zu verlieren, haben sich zehn bis fünfzehn Jahre lang gehalten. Erst angesichts der baldigen Rückkehr wurde der hieraus resultierende Verlust sozialer Kompetenz deutlich. Die Sehnsucht nach einer Welt, die einerseits vergangen und mit vielen leidvollen Nachrichten verbunden ist, und deren Entwicklung einem andererseits in den vielen Jahren der Abwesenheit fremd geworden ist, hat die vitale, alltägliche Auseinandersetzung mit der deutschen Kultur und Gesellschaft verstellt. Viele ExilchilenInnen waren so, ohne sich dessen bewußt zu sein, zu AnalphabetInnen beider Kulturen geworden.

Die Rückkehr beginnt im Exil

Diese Erkenntnis war es, die das chilenische Exil bereits 1983, zehn Jahre nach seinem Beginn, zu einer breiten, in vielen Städten der Bundesrepublik organisierten RückkehrerInnenarbeit motivierte, die auf der rechtlichen, beruflichen, ökonomischen, sozialen, politischen und psychologischen Ebene gleichzeitig laufen sollte. “Wir verstehen diese Rückkehr der ChilenInnen im Kontext des Kampfes für die Menschenrechte und die Wiederherstellung der Demokratie in unserem Land. Wir sehen sie jedoch auch als persönliche Entscheidung eines jeden Einzelnen oder der jeweiligen Familie”.
Zahlreiche Veranstaltungen wurden seit 1983 zur Vorbereitung der Rückkehr durchgeführt, so Veranstaltungen über spezielle rechtliche Probleme; Informationsveranstaltungen zur aktuellen Situation in Chile und Erfahrungen von Rückkehrern in ihrem Integrationsprozeß; Informationsveranstaltungen über Eingliederungsprobleme in das Erziehungssystem und die Anerkennung von akademischen Titeln und Ausbildungs und Studiengängen.
Kontakte mit Instituten in Chile und anderen Ländern wurden aufgenommen, um die Finanzierung der Rückkehr und der ersten Zeit im Heimatland zu gewährleisten. Aber der wohl wichtigste Inhalt der RückkehrerInnenarbeit war die Begegnung mit anderen Exilierten, die kritische Auseinandersetzung mit sich selber, den eigenen Veränderungsprozessen und der Wiederbegegnung mit Chile über die Erfahrungsberichte der Besuchsreisenden in die Heimat.

Exil zwischen Solidarität und Bevormundung

Diese letzte Phase, die schon vom Abschiednehmen und der kritischen Auseinandersetzung mit der neuen neoliberalen Wirtschaftspolitik der AylwinRegierung gekennzeichnet war, hat darüber hinaus ein ganz neues Licht auf die Beziehung zwischen ChilenInnen und Deutschen geworfen. Weder das HelferInnensyndrom noch die eigene Profilierung mit Hilfe der chilenischen RevolutionärInnen standen mehr zwischen uns, so daß unsere Begegnung auch unter der Perspektive der Beziehungen der Deutschen zu den Fremden thematisiert werden konnte. Schwierigkeiten in der Verständigung, in der Zusammenarbeit, in den Beziehungen, die immer auch Ausdruck von gesellschaftlicher Akzeptanz, Einfühlung und politischer Kultur sind, wurden nunmehr unter dem Blickwinkel des deutschen Dominanzverhaltens und Ethnozentrismus gesehen.
Als VertreterInnen der deutschen Chile-Solidarität mußten wir uns mit dem eigenem Größenwahn und einem idealisierten Selbstbild konfrontieren, das auf der Überhöhung der chilenischen RevolutionärInnen beziehungsweise edlen MärtyrerInnen im Widerstand beruhte. Mit der Idealisierung eines Chilebildes löschten wir jedoch gleichzeitig jene Widersprüchlichkeit des Entwicklungsprozesses aus, mit der wir schon in unserer eigenen Gesellschaft nicht zurecht gekommen waren. Nicht die Probleme mit einem reformistischen Entwicklungsweg, nicht die Ambivalenz der Moderne, die alles Fremde degradiert und tendenziell ausmerzt, waren Inhalte unserer Zusammenarbeit, sondern der strahlende Morgen der Revolution. Es war das Fehlen einer politischen Alternative in Deutschland beziehungsweise die bescheidene Auseinandersetzung mit den realen Möglichkeiten politischer Arbeit in Deutschland, die aus dem chilenischen Exil unsere Projektionsfläche machte. Hier haben wir uns getroffen, ChilenInnen und Deutsche, um die Geschichte für einige Jahre anzuhalten.
Die Bilder, die wir uns voneinander machten, waren jedoch nur von kurzer Dauer. Die Solidarität mit Portugal, Argentinien, Uruguay sowie seit Mitte der siebziger Jahre mit Nicaragua und später El Salvador hielt immer neu in Atem, ließ unseren Blick in die Ferne schweifen und die Probleme des chilenischen Exils zum Alltag werden, bis “plötzlich” Themen wie Rassismus und vielfältige Diskriminierungen in diesen Alltag Einzug hielten.
Wir hatten uns in unserer Solidarität menschlich gleichberechtigt gefühlt, aber dies war offensichtlich einseitig gewesen. Nicht nur Behörden hatten gegängelt, sondern chilenische Identität war mit “wohlgemeintem” Integrationsdruck ausgelöscht worden. Je angepaßter die ChilenInnen lebten, desto “erfolgreicher” waren sie. Wer von uns hätte dies vor Hoyerswerda und Rostock so selbstkritisch gesehen? Wer hätte gespürt, daß wir noch immer eine Gesellschaft von ClaqueurInnen sind?
“Es bleibt ein Stachel für die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft, daß diese politischen Flüchtlinge, die nach der Verfassung bei uns Asyl genießen, sich nicht heimisch fühlen, sich nicht angenommen fühlen konnten in einer Gesellschaft, die gleichzeitig eine Entsorgung der deutschen Geschichte von ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit versucht, alten Antisemitismus hochkommen ließ, Fremdenfeindlichkeit mit Parolen wie ‘Asylantenschwemme’ schürte und unter diesem publizistischen und politischen Druck zuließ, daß die Asylgesetze bei uns dramatisch verschärft wurden”.
Anstatt aus unserer Geschichte und aus dem vielfältigen Mißbrauch der Asylgesetzgebung während der Chile-Solidarität zu lernen, vermeiden wir die Auseinandersetzung damit, indem wir sie zu einem “Sicherheitsproblem unserer Gesellschaft” (so Innenminister Seiters in der Asyldebatte im Deutschen Bundestag am 25. Mai 1993) umdefinieren. Das Grundrecht auf Asyl, das von den Gründern der Bundesrepublik angesichts der Erfahrung mit dem Antisemitismus in unser Grundgesetz aufgenommen wurde, ist in den Asyldiskussionen der letzten Jahre zu einer Inszenierung deutscher Dominanzkultur verkommen. Die Festung Europa, das heißt das Schengener Abkommen und die Änderung von Artikel 16 des Grundgesetzes, richten Mauern auf, anstatt den Blick frei zu machen auf Prozesse, wie sie angesichts der chilenischen Erfahrung deutlich wurden.

Der obige Artikel erscheint in seiner vollständigen, 26 seitigen Fassung, mit ausführlichem statistischen Material und über die Arbeitsmigration in Chile in einem Reader: Ethnische Minderheiten in Deutschland – ein Handbuch. (Hg.) Berliner Institut für Vergleichende Sozialforschung, Oktober 1993, DM 42,-

Wo sie sind, bleibt ungeklärt

Das Konzept dieser transición hatte die chilenische katholische Kirche noch zu den schlimmsten Zeiten der Repression entworfen. Sie war die einzige Institution, die sich frei äußern konnte, und sie nutzte dieses Privileg, indem sie auf die Menschenrechtsverletzungen hinwies und zugleich einen einvernehmlichen Weg zurück zum Rechtsstaat vorschlug. Als Tausende von DemonstrantInnen während der monatlichen Protesttage ab 1982 “Brot, Arbeit und Gerechtigkeit” forderten, verbreitete die in ihrer Mehrheit christdemokratisch orientierte Kirche “Dialog” und “Versöhnung”. Die Diktatur hatte sich auf einen “repressiven Konsens” in der Bevölkerung stützen können, der aus einem Sich-Fügen in die herrschenden Verhältnisse und der Teilhabe am Konsumangebot der neoliberalen Wirtschaftspolitik bestand. Dieser repressive Konsens wurde durch das Kräftespiel innerhalb der Streitkräfte und Verhandlungen mit zivilen politischen Gruppierungen in einen politischen Konsens der Mehrheit der Bevölkerung transformiert. Auch der ausländische Druck und zwischen Regierung und Kirche ausgehandelte Ereignisse wie der Papstbesuch 1987 spielten dabei eine wichtige Rolle.
Unter Beibehaltung der Wirtschaftspolitik der Militärs sollte deren Macht eingeschränkt und zugleich institutionell abgesichert werden. Die Militärs sollten neun Senatoren des zu wählenden Kongresses benennen können und Pinochet bis 1997 Oberbefehlshaber der Streitkräfte, deren Haushaltsmittel nicht gekürzt werden durften, bleiben. Den Obersten Gerichtshof brachte der General durch Personalentscheidungen auf seinen Kurs.

Viele Opfer, aber keine Täter

So sorgsam die transición angebahnt war, blieb doch eine alte Wunde. Mord und Folter waren nicht konsensfähig. Deshalb machten sich die Protagonisten des Dialogs daran, die Fakten umzudeuten. Die Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur wurden zu Verbrechen ohne Urheber, sie erschienen als Ereignisse ohne kausalen Zusammenhang, als das, was Pinochets Geheimdienst DINA mit dem Wort “das Verschwinden” politischer Gefangener hatte suggerieren wollen. Diese Neutralisierung auch noch des härtesten Bruches der geltenden Gesetze und Moralvorstellungen gelang nicht zuletzt deshalb, weil die Mehrheit der ChilenInnen die Fakten nie hatte wahrhaben wollen und viele der Opfer einfach alles vergessen wollten, was sie durchlitten hatten. Eine pauschale Selbstamnestie der Militärs für alle Menschenrechtsverletzungen vor 1978 fügte dem Konstrukt der Taten ohne Täter den juristischen Unterbau hinzu. Damit waren die Menschenrechte verhandlungsfähig und wurden zum ideologischen Schmiermittel der transición.

Eine Menschenrechtskommission ohne Vollmachten…

Kurz nach seiner Amtsübernahme im März 1990 kündigte Aylwin die Bildung einer “Nationalen Kommission für Wahrheit und Versöhnung” an, die die Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur aufarbeiten sollte. Das Wort “Gerechtigkeit” war entgegen dem ursprünglichen Vorschlag nicht in den Titel der Kommission aufgenommen worden. Die Kommission hatte keine juristischen Vollmachten. Im März 1991 stellte Aylwin den Bericht der Kommission (nach dem Vorsitzenden auch als Rettig-Bericht bekannt) der Öffentlichkeit vor. Insgesamt 2.115 Menschen seien während der Dikatur “Opfer von Menschenrechtsverletzungen” geworden, so Aylwin bei seiner Fernsehansprache. Gemeint sind die als “Menschenrechtsverletzungen mit tödlichem Ausgang” beschönigten Morde, soweit die Kommission sie aus der Vielzahl der ihr vorgetragenen Fälle ausgewählt und als bewiesen angesehen hatte. Die mehr als 100.000 Fälle von Folter hatte die Kommission gar nicht erst untersucht. Mit Tränen in den Augen schloß Aylwin damals seine Fernsehansprache: “Laßt uns mit Verständnis und Großherzigkeit das Notwendige tun, damit die Wunden der Vergangenheit geheilt werden und für Chile eine Zukunft in Gerechtigkeit, Fortschritt und Frieden aufgebaut werde.” Mit Sätzen wie diesem kam Aylwin gut an, außer bei den unverbesserlichen PinochetistInnen und bei denjenigen Opfern der Diktatur, die erst einmal die Namen der Täter wissen wollten, bevor sie ihnen überhaupt würden verzeihen können.

… erstellt einen Bericht, ohne die Verantwortlichen zu nennen

Der Bericht war zumindest die erste offizielle Anerkennung seitens einer chilenischen Institution, daß die Pinochetdiktatur gemordet und gefoltert hatte. Aber so gut die Kommission gearbeitet hatte, so kompromißlerisch war das Ergebnis formuliert. Die RedakteurInnen des Berichtes fochten um Worte. Wie etwa sollte der Putsch vom 11. September 1973 genannt werden? Vorgeschlagen wurden “pronunciamento” (das beschönigende Wort der Militärs, dt.”Auflehnung”), “Staatsstreich” und “Regierungssturz”, und schließlich einigte man sich auf das scheinbar unverfängliche “11.September”. Der Bericht enthält keine Namen der Schuldigen, obwohl die Kommission viele davon kannte, er klärt das Schicksal der mehr als tausend in ihm dokumentierten Fälle “verschwundener” politischer Gefangener nicht auf und er nennt die Opfer des Staatsterrors im selben Atemzug mit den paar Dutzend Opfern unter den Sicherheitskräften. Der Regierungskoalition aus ChristdemokratInnen und SozialistInnen kam diese Art der Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen gelegen. Der als “nationaler Konsens” bezeichnete wachsweiche Kompromiß der Regierung war einmal mehr legitimiert. Einer Seite war Genugtuung widerfahren, indem die Fakten benannt worden waren, zugleich aber war der Konflikt mit den Streitkräften vermieden worden. Der Bericht enthüllte die Wahrheit, damit sie vergessen werde.

Erst Gerichtsprozesse nennen endlich Namen

Das Kalkül ging allerdings nur teilweise auf. Es gab längst inoffizielle Informationen über die Menschenrechtsverletzungen und ihre Urheber. Die Presse lieferte die vom Kommissionsbericht vorenthaltene Wahrheit scheibchenweise nach. Die Sozialistin Luz Arce, die unter der Folter zerbrochen war und lange als Agentin von DINA und CNI gearbeitet hatte, hatte viele Stunden lang vor der Kommission ausgesagt. Ihre Aussage erschien in der Presse. Obwohl die veröffentlichte Version des Kommissionsberichts keine Namen von Schuldigen nannte, gingen die Kommissionsakten unzensiert an die jeweils zuständigen Gerichte und trugen dazu bei, daß 30 Menschenrechtsprozesse, die die Diktatur nicht endgültig eingestellt hatte, wiedereröffnet wurden. Hinzu kommen 170 weitere Prozesse, die ebenfalls nicht endgültig eingestellt worden waren und in denen neu verhandelt werden kann, wenn neue Beweismittel auftauchen.
Die chilenische Justiz ist dem Pinochetregime bis auf die Knochen hörig gewesen und hat sich seitdem nicht geändert. Aber sie konnte die in den Akten protokollierten Ungeheuerlichkeiten nicht gänzlich ignorieren. Das große Offenlegen war verhindert worden. Aber die Menschenrechtsprozesse, die nach der Diktatur neu verhandelt wurden (siehe die Aufzählung in LN 226), fügten der halben Wahrheit des Kommissionsberichts immer neue Beweisstücke hinzu. Für die Angehörigen der “Verschwundenen” waren diese Prozesse ein Wechselbad von Hoffnung und Enttäuschung. Zum ersten Mal wurden in verbindlichen Zusammenhängen Namen genannt. Täter wurden greifbar. Der berüchtigste Folterer der DINA, Osvaldo Romo, wurde 1992 in Brasilien, wo die DINA ihn versteckt hatte, verhaftet. Macia Alejandra Merino, die unter der Folter zerbrochen war und jahrelang mit DINA und der Nachfolgeorganisation CNI gearbeitet hatte, legte Anfang 1993 ihre Lebensbeichte ab.

Die Entlarvung der Folterer

Hatte der Rettig-Bericht einen für fast alle Parteien und die Militärs akzeptablen Kompromiß gefunden, so prallten jetzt die Kräfte des Pinochetismus und das uneingelöste Wahrheitsversprechen der Demokratie aufeinander. Schauplatz waren diesmal nicht Fernsehstudios und Pressekonferenzen, vielmehr standen sich nun als Zeugen geladene ehemalige politische Gefangene und ihre Folterer vor Gericht gegenüber. Die ehemaligen DINA-Agenten, mittlerweile in den Rang von Generalmajoren aufgerückt, machten sich mit Leibwachen und Militärrechtsanwälten in irgendeinem Büro des Gerichts breit, als seien sie in einer Kaserne. Es gab teilweise 15-stündige Verhandlungen. Zeugen und Beschuldigte, das Gerichtspersonal und die stets präsente Schar von JournalistInnen richteten sich in den Korridoren häuslich ein.
Während der Pinochetdiktatur war die Justiz heruntergewirtschaftet worden und stellte nun die schäbige Bühne für Prozesse von historischer Dimension dar. Es fehlte an allem: Zum Kopieren mußten Originalakten zu irgendeinem nahegelegenen Copy Shop gebracht werden. Wichtige Protokolle wurden von studentischen Hilfskräften aufgenommen. Die Dürftigkeit der Utensilien schmälerte jedoch nicht die Bedeutung des Verhandelten. Worüber hier verhandelt wurde, war real, nicht symbolisch, nicht medial geglättet und durch nichts zu beschönigen. Den Überlebenden ging es um die Genugtuung, die Täter vor Gericht zu sehen, ob als Zeugen oder als Angeklagte, wog weniger stark. Den Angehörigen der “Verschwundenen” ging es um die Wahrheit. Eine gerechte Strafe für hundertfache Folter und hundertfachen Mord gibt es im Rechtsstaat ohnehin nicht. Aber solange Gericht gehalten wurde und schlechtbezahlte GerichtsreporterInnen Tag und Nacht in den Fluren hockten und nach jedem Detail schnappten, solange wurde das Leiden der Opfer nicht verschwiegen. Den Folterern zerbrach ihre Lebenslüge, derzufolge nach einer Zeit des Ausnahmezustandes Normalität eingekehrt sei. Ihre Bilder waren in der Zeitung zu sehen, und sie wurden vor der Öffentlichkeit als Folterer entlarvt, eine Situation, die sie bis dahin sorgsam vermieden hatten.

Gegen die Hauptverantwortlichen wird zuletzt verhandelt

In der chilenischen Öffentlichkeit wirkten die Menschenrechtsprozesse dem schalen Gefühl entgegen, der Rettig-Bericht sei das letzte Wort zum pinochetistischen Staatsterror gewesen. Die meisten Prozesse fanden allerdings nur im engen Kreis des interessierten Publikums Widerhall. Der Prozeß um den in der Colonia Dignidad “verschwundenen” Alfonso Chanfreau aber eskalierte bis zu einem Spruch des Obersten Gerichtshofs und der darauf folgenden Absetzung eines obersten Richters und fand Eingang in die besten Sendezeiten des Fernsehens.
Es liegt in der Logik gerichtlicher Prozeduren, daß die großen Brocken zuletzt abgehandelt werden. Gegen die Chefs der DINA wird erst jetzt verhandelt. Aufhänger ist der Prozeß wegen der Ermordung des früheren chilenischen Außenministers Orlando Letelier im Washingtoner Exil 1976. Auch diesem Prozeß kommt ein politisches Gewicht zu, das über den verhandelten Tatbestand hinausgeht. Die Vorermittlungen waren so komplex, daß von DINA-Chef Manuel Contreras abwärts ein repräsentativer, bisher von Vorladungen verschonter Täterkreis auf der Anklagebank oder im Zeugenstand steht.
Das Säbelrasseln in Santiago am 28. Mai 1993 (siehe den Artikel von Jaime Gré in diesem Heft) war die symbolische Erinnerung daran, was die Militärs in Chile ausrichten können. Der oberste Herreskommandierende nach Pinochet, Santiago Sinclair, verlas das Programm zum wohlinszenierten Truppenaufmarsch in Kampfanzügen mitten in Santiago. Die Machtdemonstration richtete sich gegen die weitere Untersuchung von Scheckbetrügereien durch Pinochets Sohn, gegen das Recht der Zivilregierung, Offiziere in den Ruhestand zu versetzen, gegen die mögliche Freilassung der sechs Pinochetattentäter von 1988 und gegen die aktuellen Menschenrechtsprozesse, in denen sich Militärs verantworten müssen.

Die Angehörigen der Verschwundenen kämpfen weiter für die Wahrheit

Die “verschwundenen” politischen Gefangenen Chiles wurden, wie man heute weiß, ermordet. Wie, wann und durch wen sie ermordet wurden, ist nur in wenigen Fällen geklärt. Solange das so ist, ist die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen in Chile nicht abgeschlossen. Im Alltagsbewußtsein wird dieser Prozeß gerne als abgeschlossen betrachtet. Das Schicksal der “Verschwundenen” bricht mit diesem Verständnis. Deshalb verstummt das “Wo sind sie” der Angehörigen nicht und löst immer neue Prozesse und Proteste aus. Selbst wenn die Angehörigen vergessen wollten, könnten sie es nicht, denn Vergessen setzt Trauer voraus, und um zu trauern bedarf es der Gewißheit des Todes. Die Opfer des staatlichen Terrors in Lateinamerika widersprechen aufgrund der Unaufgeklärtheit ihres Schicksals allen Appellen zur Versöhnung. Sie weisen kompromißlos auf die Halbwahrheiten staatlicher Kommissionsberichte hin und erweisen eingestellte Prozesse als faule Kompromisse mit den Tätern, die oftmals heute noch in einflußreichen Positionen sitzen.

Colonia Dignidad vor dem Aus?

Auseinandersetzungen vor Gericht

Bereits im Februar 1991 hatte Präsident Patricio Aylwin ein Dekret erlassen, nach dem der “Sociedad Benefactora Colonia Dignidad” der Status als eigenständige Gesellschaft und damit als “Staat im Staate” entzogen werden sollte. Dieser von der Presse international gefeierte Schritt der chilenischen Regierung erwies sich allerdings recht schnell als “Schuß in den Ofen”, denn die Dignidad-Anwälte gingen wie erwartet in Berufung, indem sie das Dekret des Präsidenten als nicht “verfassungsgemäß und willkürlich” bezeichneten. Der Fall wurde dem Corte Suprema (dem Obersten Gerichtshof Chiles, ein Tribunal aus neun Pinochet-treuen Richtern) übergeben, und die chilenische Öffentlichkeit hörte eineinhalb Jahre nichts mehr von dem Fall, bis im September der Corte Suprema dem Einspruch der Colonia stattgab und Aylwins Initiative als nicht verfassungskonform bewertete. Über die darauf folgende Berufungsklage der chilenischen Regierung entschied jetzt das Berufungsgericht. In dem Urteil werden die Anschuldigungen der Colonia-Anwälte und damit auch das Urteil des Corte Suprema zurückgewiesen. In der Begründung heißt es, die Entscheidung Aylwins sei als fester Bestandteil des chilenischen Bürgerlichen Gesetzbuches bezüglich der Befugnisse des Präsidenten durchaus verfassungskonform. Gegen die angebliche Willkürlichkeit wendeten die Richter ein, daß die Maßnahme ein Ergebnis umfangreicher Untersuchungen gewesen seien. Außerdem hätten sowohl der chilenische “Rat zum Schutze des Staates” als auch die staatliche Finanzbehörde dazu geraten. Zudem habe es während der Zeit der Militärdiktatur über 100 solcher Fälle gegeben, in denen die Berufungsklage der Gesellschafts-Eigner jedesmal abgelehnt wurde. Warum also bei der Colonia jetzt anders verfahren?

Suche nach Beweismaterial

Der “Fall Dignidad” hat aber im Augenblick noch eine ganz andere Brisanz. Im Zusammenhang mit Nachforschungen über 21 Personen, die während der Militärregierung in Parral (ein Ort nahe der Colonia Dignidad) zwischen 1973 und 1974 verschwunden sind, stieß der Richter des 7. Kriminalgerichtes, Lientur Escobar, auf eindeutige Hinweise für eine Zusammenarbeit zwischen der DINA (chilenischer Geheimdienst während der Diktatur) und der Colonia Dignidad. Vermutungen hatte es darüber schon seit langem gegeben, unter anderem durch Zeugenaussagen von Gefolterten, die überzeugt waren, in der Colonia gefoltert worden zu sein. Bisher gab es aber kein Beweismaterial, das für eine Anklage gereicht hätte. Escobar fand im Februar heraus, daß das Haus des ehemaligen DINA-Chefs in Parral, Fernando Gómez Segovia, der Colonia gehörte. Dafür gibt es Verkaufsbelege. Zudem sagte ein Verwandter Segovias aus, zwischen der Familie des DINA-Chefs und den Obersten der Colonia hätten freundschaftliche Kontakte bestanden. Anfang März ordnete Escobar eine umfangreiche Untersuchung sowohl des Colonia-Geländes als auch sämtliche Akten der Gesellschafter an. Zudem beantragte er zu überprüfen, ob die Colonia zwischen 1973 und 1975 einen Antrag auf Anlage eines Friedhofes gestellt hatte. Zusätzlich wollte Escobar Daten über sämtliche Deutsche haben, die sich nach 1960 in Chile angesiedelt haben und die Akten der Miltärschule in Linares (in der Nähe der Colonia) untersuchen, in der unter anderem DINA-MitarbeiterInnen ausgebildet wurden.

Eine neue Qualität ?

Der erste Schritt gegen den Richter erfolgte bereits Ende Februar. Das Berufungsgericht (das gleiche Berufungsgericht, das jetzt den Colonia-Einspruch abgewiesen hat) entschied, den Fall dem zivilen 7. Kriminalgericht zu entziehen und ihn dem 3. Militärgericht in Concepción zu übergeben. Damit war für eventuell verwickelte Militärs und Verantwortliche die Gefahr gebannt – bei einer Untersuchung des Falles durch die Militärs laufen sie kaum Gefahr einer Bestrafung, zumal für den fraglichen Zeitraum das Gesetz der Generalamnestie für Menschenrechtsverletzungen (bis 1978) gilt.
Am 10. März kam für Escobar das “Aus”: Der “Corte Suprema” enthob ihn seines Amtes mit der Begründung, der Richter habe im Fall Parral nicht objektiv genug und damit nicht im Sinne eines Richters gearbeitet. Die Absetzung Escobars hat in Chile eine Welle des Protestes von verschiedenen Menschenrechtsorganisationen ausgelöst.
Dennoch hat der Richter einen Prozeß in Gang gesetzt, den auch der “Corte Suprema” nicht so schnell wird stoppen können. Denn die Anordnungen, die er noch vor seiner Amtsenthebung getroffen hat, müssen ausgeführt werden. Und das ist eine spezielle Untersuchung der Colonia Dignidad, mit Schwerpunkt bei den Finanzgeschäften der Gesellschaft.
Derartige Untersuchungen hat es allerdings schon Dutzende gegeben, und bisher ist dabei nicht viel herausgekommen. Bisher konnte sich die Colonia aber auch immer auf ihren Rechtsstatus als Gesellschaft berufen, und der wird ihr jetzt entzogen.

Im folgendem dokumentieren wir ein Interview mit Julia Urquita, der Rechtsanwältin von CODEPU (chilenische Menschenrechtsorganisation) zum Fall “Parral”:

LN: Gibt es Hoffnung, im Fall “Parral” noch etwas zu ändern?
Julia Urquita: Wir haben eine Berufungsklage eingelegt, um den Fall zumindest in der Schwebe zu lassen. Das bedeutet in der Praxis, daß gegen die fünf Hauptangeklagten – unter ihnen ist auch der EX-DINA-Chef Segovia – weiterhin ermittelt wird, und daß die beiden von ihnen, die in Haft sind, zunächst nicht freikommen. Außerdem kann der Fall solange nicht an die Militärjustiz übergeben werden, bis der “Corte Suprema” darüber entschieden hat. Wenn Du mich also fragst, ob es Hoffnung gibt … es gibt immer Hoffnung, solange noch nichts entschieden ist. Wenn wir uns aber die juristische Praxis des Corte Suprema anschauen, sage ich Dir, daß unsere Hoffnung nicht groß ist, denn gerade vor einigen Tagen wurden zwei sehr ähnliche Fälle der Militärjustiz übergeben.

LN: Hat Escobar auch die Möglichkeit, Berufung einzulegen?
Julia Urquita: Escobar hat bereits beantragt, seine Qualifikation noch einmal zu überprüfen.

LN: Kann er dabei politische Gründe angeben?
Julia Urquita: Offiziell nicht, aber er hat in seiner Verteidigungsschrift einige Punkte angeführt, die klar auf eine politische Entscheidung hindeuten. So fragt er zum Beispiel, wie es möglich sei, daß er noch letztes Jahr, bevor ihm der “Fall Parral” übertragen wurde, als “gut” qualifiziert wurde, jetzt aber durchgefallen ist.

LN: Welches ist die Position von CODEPU zu den Vorgängen?
Julia Urquita: Wir haben uns öffentlich mit Escobar solidarisiert und verlangt, daß ihm seine frühere Verantwortung im “Fall Parral” wieder übertragen wird. Wir glauben, daß es sich hier um politische Verfolgung handelt, weil es anderen Richtern in ähnlichen Fällen genauso ergangen ist.

LN: Ist dieses “Übergeben an die Militärjustiz” eine normale Praxis?
Julia Urquita: Bisher leider ja. Und bisher ist es uns nicht gelungen, den “Corte Suprema” zu entmachten.

LN. Gab es bisher Anstrengungen von Seiten der Regierung, in diesen Fällen zu intervenieren?
Julia Urquita: Bisher leider nicht. Die Regierung hat sich bisher bei keinem der Fälle von Menschenrechtsverletzungen eingemischt, bis auf den “Fall Letelier”*, aber der ist auch sehr speziell.

LN: Haben sie denn die Möglichkeit, sich einzumischen?
Julia Urquita: Haben sie. Es gibt keine gesetzliche Regelung, die dem entgegensteht.

LN: Was passiert jetzt im Fall “Colonia Dignidad”?
Julia Urquita: Die Anwälte haben wieder Berufung eingelegt, aber die Chancen sind gering, daß dem Einspruch stattgegeben wird. Bei Entzug des Rechtsstatuses wird der Besitz der Colonia an eine andere Gesellschaft zur Verwaltung übergeben, vor zwei Jahren war die Rede von einer kirchlichen Organisation.

* Der Fall Letelier: Letelier war Minister unter Allende; er wurde im September 1976 im Exil Opfer eines Bombenattentates der DINA in Washington D.C. Vergeblich drängte die US-Regierung das Pinochet-Regime, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Erst unter Aylwin wird jetzt dem EX-DINA-Chef Contreras der Prozeß gemacht

Das Ende der Colonia Dignidad?

Die letzten Schachzüge

Am 22. September 1989 – wenige Tage vor dem verfassungsändernden Plebiszit vom 5. Oktober – haben die Führer der Kolonie, Probleme mit der zu erwartenden demokratischen Regierung voraussehend, das gesamte Grundeigentum der Kolonie, etwas mehr als 13.000 Hektar, an 30 Mitglieder der Gruppe verkauft. Diese blieben gerade drei Monate und 19 Tage Landeigentümer/innen. Am 10. Januar 1990 übertrugen sie ihre Ländereien an eine extra zu diesem Zweck gegründete Gesellschaft. In den folgenden Monaten wurden vier weitere Gesellschaften gegründet, die letzte am 1. Februar 1991, dem Tag des Regierungserlasses, der die Rechtsperson der Colonia aufhebt. Zwischen dem 30. Januar 1990 und dem 15. Januar 1991 wurden dem Abratec praktisch alle beweglichen Güter der Colonia übereignet, unter anderem 42 Lastwagen, landwirtschaftliche Maschinen, ein Schotterwerk, das Restaurant und die gesamte medizinische Einrichtung des Krankenhauses. Die chilenische Abratec wird von den Mitgliedern der Dignidad-Führungsclique Gert Seewald (Vorsitzender), Hans Jürgen Blank (Geschäftsführer) und Siegfried Hoffman (Direktor) geleitet. Die Muttergesellschaft gleichen Namens hat ihren Sitz in Beldien.
Im Laufe der Untersuchungen über die Colonia wurde schon Ende 1989 deutlich, daß sie ihren Statuten nicht gerecht wird. Daraufhin hat sie im Januar 1990 eine Veränderung ihrer Statuten beantragt. Das infolgedessen vom Gobernador (Regierungspräsidenten) der Provinz Linares, Manuel Francisco Mesa, erstellte Gutachten über die Kolonie fiel vernichtend aus. Darauf reagierte die Kolonie mit Verleumdungsklagen, der Zürücknahme ihres Antrags auf Änderung der Statuten und seit dem 30. Januar mit einem Hungerstreik von 200 Mitgliedern.

Die Entscheidung der Regierung

In einem Interview mit “24 Stunden”, dem Nachrichtenmagazin von Televisión Nacional, am Abend des 31. Januars, kündigte der Regierungssprecher Enrique Correa eine Regierungsentscheidung an, die ausschließt, daß es weiterhin in Chile einen Staat im Staate gibt. Am 1. Februar verlas der Innen-Staatssekretär Belisario Velasco in Anwesenheit des Innen- und des Justizministers eine Erklärung, die besagt, daß die juristische Person der Colonia Dignidad aufgehoben ist und ihre Besitztümer an die Methodistische Korporation übergehen. Velasco erläuterte, daß die Entscheidung auf einer Untersuchung beruht, die bereits im März 1988 unter der Militärregierung begonnen hatte, als der damalige Außenminister das Innenministerium um Informationen über die Unregelmäßigkeiten in der Kolonie bat. Die Untersuchung ergab mehrere Anormalitäten in der Befolgung der Statuten sowie verschiedene andere Gesetzeswidrigkeiten im Bereich von Erziehung, Steuer, Wehrpflicht und Gesundheit.
Nach den wiederholten Anklagen wegen Verletzungen der Menschenrechte durch den Geheimdienst DINA im Inneren der Kolonie befragt, äußerte der Innenminister Enrique Krauss: “Nachdem die juristische Person aufgehoben wurde, kann man nun nachweisen, ob tatsächlich andere Arten von Gesetzeswidrigkeiten vorliegen.”

Rechtsnachfolger – Methodistische Corporation

“Die “Corporación Metodista” ist der Dachverband der Methodistischen Kirchen in Chile. Sie besteht seit 85 Jahren und arbeitet unter anderem in den Bereichen Gesundheit, Arbeit, Erziehung und Bauernfortbildung. Sie ist Eigentümerin des “Radio Umbral”, das bekannt ist für seine Beteiligung am Kampf für die Menschenrechte und deshalb als kommunistisch apostrophiert wird. Wichtige Arbeit für die Menschenrechte haben die Methodisten auch mit der Fundación de Ayuda Social de las Iglesias Cristianas – FASIC (Stiftung für soziale Hilfe der Kirchen) geleistet. Während der Militärregierung hat FASIC sich auf die Verteidigung politisch Verfolgter konzentriert. Seit März waren ihre Schwerpunkte die Begleitung von Angehörigen Verschwundener bei der Identifikation von Leichenfunden, die Zuarbeit für die Kommission “Wahrheit und Versöhnung”, die Hilfe für die Vereinigung der Angehörigen von Opfern der Repression und die Arbeit für eine Gesetzgebung, die die Befreiung der politischen Gefangenen ermöglicht.
Der Vorsitzende des Direktoriums der Corporación, Presbyter Juan Osorio, äußerte sich zu den Menschenrechtsverletzungen in der Colonia Dignidad deutlicher als der Innenminister: “Nun erwartet die Kirche den Bericht der Rettig-Komission (Wahrheit und Versöhnung), in dem Folterungen und Angriffe auf die menschliche Würde ausführlich vermerkt sein werden.”
Nachdem der größte Teil der Ländereien und auch die Schule und das Krankenhaus der Colonia in den letzten Monaten an private Gesellschaften verkauft worden sind ist zu befürchten, daß es nicht viel ist, was die methodistische Corporación in ihre gemeinnützige Arbeit eingliedern kann.

Reaktionen der Kolonie…

Neben dem bereits erwähnten Hungerstreik und der Verleumdungsklage gegen den Gouverneur Mesa hat der Rechtsanwalt der Colonia, Fidel Reyes, alle möglichen Rechtsmittel angekündigt. Reyes behauptet eine “internationale Verschwörung von hohen Regierungsfunktionären Chiles und Deutschlands gegen Dignidad” sei im Gange. Als Beweis präsentiert er beglaubigte Fotokopien eines Fernschreibens der deutschen Botschaft in Chile an das deutsche Außenministerium, in dem die Möglichkeiten der Auslieferung Schäfers diskutiert werden (s.Kasten)
Reyes erklärte, daß das Verfahren am Bonner Gericht auf eine Anzeige des früheren Kolonie-Mitglieds Hugo Baar beruht, “der hier als Drogenabhängiger und Alkoholiker aufgenommen, behandelt und geheilt worden ist, aber es scheint, daß jemand ihm die 30 Judas-Silberlinge angeboten hat, und jetzt verbreitet er die Verleumdung, daß er hier keine Freiheit hatte”. Wegen des Telex der deutschen Botschaft hat Reyes ein vorsorgliches Schutzgesuch für Schäfer beim Obersten Gerichtshof eingereicht.
Die chilenische Kriminalpolizei teilte mit, daß sie die Vorladung an Schäfer nicht zustellen konnte, weil die Kolonie behauptet, daß dieser nicht anwesend sei, was mangels Haft- oder Durchsuchungsbefehl nicht nachprüfbar ist.

…und der Politik

Wie zu erwarten, verurteilt die politische Rechte die Regierungsentscheidung. “Ich fürchte, in diesem Moment verlieren wir nicht die ‘Kolonie Würde’, sondern unsere Würde als Land”, äußert der ‘unabhängige’ Vizepräsident des Senats Beltrán Urenda, sich auf den Druck der Bonner Regierung beziehend. Der Abgeordnete der rechten UDI Víctor Pérez behauptete, die Colonia Dignidad habe ihre Ziele treu erfüllt. Der Abgeordnete der ebenfalls rechten RN, Angel Fantuzzi, meinte, es sei “nicht das erste Mal, daß eine christdemokratische Regierung böswillig mit dieser Organisation umgeht”.
Die sozialistischen Abgeordneten der Region, in der sich die Colonia Dignidad befindet, Jaime Naranjo und Sergio Aguilo, die die Aufhebung der Rechtspersönlichkeit der Kolonie im vergangenen November gefordert hatten, zeigten sich befriedigt über die Entscheidung und erwarten, daß sich nun “die Türen öffnen”, um “alle der deutschen Kolonie vorgeworfenen Unregelmäßigkeiten zu untersuchen”. Sie sind mit der Übergabe der Besitztümer der Colonia an die Methodistische Korporation einverstanden. Die kommunistische Partei erklärte ihre Hoffnung, daß dieser Schritt “erlaubt, voranzukommen mit der Aufklärung der Rolle, die diese Nazi-Enklave während der Diktatur Pinochets spielte”.
Quellen: El Mercurio, La Epoca, La Nación

Kasten:
Telex im Wortlaut (Rückübersetzung)

“Aus Santiago de Chile. N 630 vom 23-11-90, 16.30 Ortszeit. Nach Bonn, Aus¬wärtige Angelegenheiten. Telex (verschlüsselt) an 330. Erhalten: 23-11-90, 16.25 Ortszeit. Verfaßt von Botschaftsrat Nr. 1, Dr.Kliesow. Code pol 543.00. Betr.: Colonia Dignidad.
Hier: Unterredung mit Staatssekretär B. Velasco am 22-11-90 betreffend Nr. 260 vom 14-11-90, 330-504.00 Chl. Im Rahmen der vollständigen Aufklärung des Komplexes Colonia Dignidad, über die getrennt berichtet wird, teilte der Staatssekretär des Inneren Velasco die Entscheidung der chilenischen Regie¬rung mit, Schäfer und 5 oder 6 Mitglieder der Führungsclique der C.D. (Colonia Dignidad) auszuweisen. Er (Velasco) fragte, ob Schäfer dann in Deutschland verhaftet werde. Ich (Pabsch) verwies auf den Prozeß vor dem Bonner Gericht und die großen Beweisprobleme, die einen Haftbefehl schwie¬rig oder unmöglich erscheinen lassen. Daraufhin erbat Velasco wenigstens eine Vorladung für Schäfer vor das Bonner Gericht über Interpol. Wenn auch der ausschlaggebende Punkt für die Ausweisung und Auslieferung Schäfers und anderer – sagt Velasco – die Störung der diplomatischen Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland sei, müsse man doch die öffentliche Mei¬nung aufklären und überzeugen, daß Schäfer auch schwebende Prozesse bei der deutschen Justiz hat.
Es wird um umgehende Information gebeten, ob der Bonner Staatsanwalt oder das Bonner Gericht bereit sind, eine entsprechende Vorladung über In¬terpol an Interpol-Chile auszustellen.
Unterschrift Pabsch (Botschafter).”

Newsletter abonnieren