KOLLEKTIVE VERSORGUNG

Miriam Miranda
ist Koordinatorin der Organización Fraternal Negra Hondureña (OFRANEH), die sich seit 30 Jahren für die Rechte der Garífuna in Honduras einsetzt. Gemeinsam mit ihrer Organisation engagiert sie sich gegen Landraub und Menschenrechtsverletzungen, von denen die afroindigenen Garífuna betroffen sind. Die meisten Garífuna leben in einer der 48 Gemeinden an der Karibikküste. Doch das Territorium der Garífuna ist stark umkämpft und wird sowohl durch Gruppen der organisierten Kriminalität bedroht als auch durch touristische Großprojekte, Bergbauvorhaben sowie die neoliberalen Pläne der Regierung, Sonderwirtschaftszonen einzurichten. Allein 2019 wurden 17 Garífuna in Honduras ermordet, darunter vor allem Menschenrechtsverteidiger*innen und Umweltaktivist*innen (siehe LN 548).

(Foto: Rel-UITA Regional Latinoamericana via Flickr, CC BY 2.0)


Warum haben die Garífuna-Gemeinden angesichts der Corona-Krise beschlossen, sich selbst zu organisieren?
Wir wussten mit Sicherheit, dass es viele Tote in den Garifuna-Gemeinden geben würde, wenn wir kein eigenes System zum Schutz der Gemeinden entwickeln. Honduras wird seit dem Putsch 2009 ausgeplündert. Es wurde nie in den Gesundheitsbereich investiert. Bei einem Skandal um das Sozialversicherungsinstitut, das IHSS, wurde öffentlich, dass dieses völlig ausgenommen wurde (Anm. d. Red.: Korruptionsskandal, bei dem 2015 öffentlich wurde, dass hochrangige Funktionäre der Wirtschaft und Politik über 300 Millionen US-Dollar veruntreut haben, u.a. wurde damit 2013 die Wahlkampagne der regierenden Nationalen Partei finanziert, siehe LN 493/494). Das hat zum Zusammenbruch des Gesundheitssystems im Land geführt. Es gab so schreckliche Fälle, bei denen die Gesundheitsstationen nicht einmal eine Spritze hatten. Nicht nur in den ländlichen Gebieten, sondern sogar in den großen Städten. Außerdem erleben wir in Honduras seit Jahren eine große Krise mit dem Dengue-Fieber, an dem viele Leute sterben. Die Regierung hat das vertuscht, aber die Situation mit dem Coronavirus kann sie nicht verstecken, weil die Erkrankungen an dem Virus so exponentiell wachsen.

Wie bewerten Sie den Umgang der honduranischen Regierung mit dem Coronavirus?
Der Staat hat vor einem Monat die Strategie der „intelligenten Öffnung“ beschlossen. Es ist eine Dummheit, dem Druck der Unternehmer nachzugeben, die fordern, die Wirtschaft zu öffnen, egal, ob sich dadurch Menschen infizieren. Ich denke, dass die Öffnung der Wirtschaft den Bedingungen im Land entsprechen muss, mit der Pandemie umzugehen. Und das Gesundheitssystem in Honduras ist eine Katastrophe. Das Coronavirus entblößt dieses desaströse Gesundheits­system. Den Ärzten bleibt nur noch die Möglichkeit zu sagen: „Bitte bleibt zu Hause und kommt nicht ins Krankhaus. Es gibt keinen Platz.“ In Honduras werden Tests nur in Tegucigalpa ausgewertet, das heißt, wenn jemand in der Mosquitia oder in Gracias a Dios lebt, kommt das Testergebnis erst an, wenn die Person schon gestorben ist. Besonders schlecht ist die Gesundheitsversorgung in vielen indigenen Gemeinden. Sehr viele Misquitos sind an Corona gestorben und den Staat interessiert das nicht. Es ist schrecklich. Regierungen wie die in Honduras provozieren einen Genozid an der armen Bevölkerung, weil sie wissen, dass sie unter den aktuellen sanitären Bedingungen die Wirtschaft nicht auf diese Weise öffnen dürfen. Die Zahl der Ansteckungen hat seit der Öffnung auf unglaubliche Weise zugenommen, zum Beispiel in der Hauptstadt. Diese Pandemie zeigt sehr deutlich die soziale Ungleichheit in Honduras. So wurde beispielsweise das Militärkrankenhaus geöffnet, um den Präsidenten und alle ihm nahestehenden Personen zu versorgen.

Welche Strategien verfolgen Sie in dieser Situation in den Gemeinden?
Seit dem 7. März haben wir begonnen, uns in den Gemeinden kollektiv zu organisieren, um Gesundheitszentren zu schaffen. Bisher haben wir 31 Zentren eingerichtet. Unser Ziel ist es, so viele Leben wie möglich zu retten. Dafür ist es notwendig, Gesundheit ganzheitlich zu denken, denn Gesundheit hat auch damit zu tun, wie wir uns ernähren und welche Luft wir atmen. Das sehen wir auch daran, dass mehr Menschen am Coronavirus sterben, die in Gebieten leben, in denen die Luft kontaminiert ist. Die Infektionsherde liegen momentan in den Industriezentren, wie San Pedro Sula. Die Pandemie hat eine Gesundheitskrise ausgelöst, aber diese ist eng verknüpft mit Umweltfragen und der Klimakrise. Die Pandemie lehrt uns, dass Gesundheit nicht einfach bedeutet, zum Arzt zu gehen und Tabletten zu nehmen. Deshalb kämpfen wir in den Garífuna-Gemeinden auch gegen den Bau von Wasserkraftwerken und die Ausbeutung natürlicher Ressourcen, weil auch das die Gesundheit gefährdet.

Uraltes Wissen Tees Zubereitung von Tee zur Stärkung des Immunsystems (Foto: OFRANEH)

Wie spiegelt sich der ganzheitliche Ansatz von Gesundheit in der Arbeit der Gesundheitszentren wider, die Sie in den Gemeinden aufgebaut haben?
Viele Menschen in den Gemeinden zählen zur Risikogruppe, weil sie Diabetes oder Bluthochdruck haben. Das brachte uns auf die Idee, dass es wichtig ist, das Immunsystem zu stärken, im Besonderen bei unseren Großmüttern und Großvätern. In den Gemeinden existiert ein uraltes Wissen darüber, welche Pflanzen medizinische Wirkungen haben und welche hilfreich für das Immunsystem sind, wie Eukalyptus- und Avocadoblätter, Zitronen, Knoblauch und Zitronengras. Die Corona-Krise sehen wir auch als Möglichkeit, dieses Wissen wieder mehr zu verbreiten. Ein Bestandteil der Kultur der Garífuna ist das Trinken von aus frischen Kräutern zubereitetem Tee. Daher ist eine der Aufgaben der Gesundheitszentren die Zubereitung von medizinischen Tees, die zur Stärkung des Immunsystems beitragen. Außerdem haben wir ein Handbuch über die Medizin unserer Vorfahren und Vorfahrinnen veröffentlicht, das auch in anderen Ländern Lateinamerikas von indigenen Gemeinden und anderen Menschen genutzt wird. Innerhalb der Gemeinden arbeiten wir als Kollektiv, um zu verhindern, dass sich das Virus ausbreitet, und um betroffene Personen zu unterstützen. Beispielsweise werden in den Gesundheitszentren Masken hergestellt und verteilt. Wir kümmern uns um Menschen, die Vorerkrankungen haben. Mittlerweile gibt es compañeras und compañeros, die fast schon die Arbeit von Ärztinnen und Ärzten übernehmen, indem sie Hausbesuche machen und Menschen, die Symptome von COVID-19 zeigen, beobachten und versorgen. Ebenso haben wir Suppenküchen eingerichtet und registrieren in den Gesundheitsstationen Fälle von häuslicher Gewalt, um Frauen, die davon betroffen sind, unterstützen zu können.

Wer ist an dieser kollektiven Arbeit beteiligt?
Das sind Menschen, die sich in den einzelnen Gemeinden organisiert haben. OFRANEH hat diesen Prozess angestoßen und Freiwillige haben sich angeschlossen. In einer Gemeinde sind es 20 oder 30 Personen, die sich in Arbeitsgruppen organisiert haben, in einer anderen 80. In jeder Gemeinde teilt die Arbeitsgruppe die anfallenden Aufgaben unter den Mitgliedern auf.

Diese Arbeit wird vor allem von Frauen geleistet. Ich würde sagen, 99 Prozent der selbstorganisierten Gesundheitszentren sind in den Händen von Frauen. Wir nennen die Frauen Kämpferinnen, denn es ist harte Arbeit, sieben Tage die Woche dafür zu sorgen, dass alles funktioniert, dass es Medizin und Essen gibt und nicht so viele Neuinfektionen.

Wir sind sehr zufrieden, dass die Garífuna-Gemeinschaft im Moment im Vergleich zu den umliegenden Regionen die geringste Anzahl an Infektionen aufweist. Die zwei Zonen, in denen sich Garífuna-Gemeinden befinden, die aktuell die höchsten Infektionsraten haben, sind Trujillo und Punta Gorda, aber die Mehrheit der an COVID-19 erkrankten Menschen sind keine Garífuna, sondern leben in der Nähe der Gemeinden. Aber das kann sich in den nächsten Monaten ändern, denn wir sind keine Insel, die von der Umwelt isoliert ist, sondern die Menschen verlassen die Gemeinden, um einkaufen zu gehen und ihre Produkte zu verkaufen.

Freiwillige in den Gesundheitszentren Vor allem Frauen engagieren sich (Foto: OFRANEH)

Wurden Vorkehrungen getroffen, um die Mobilität zwischen den Gemeinden einzuschränken?
Dafür zu sorgen, dass nicht alle möglichen Leute in die Gemeinden kommen, ist ein wichtiges Thema. Deshalb wurden an den Eingängen Kontrollpunkte eingerichtet. Dies hat zu Konflikten geführt, in einem Fall sogar zu einem Mord. Als ein compañero aus Río Tinto, Edwin Fernández, sich weigerte, die Schlüssel an Personen auszuhändigen, die nachts seine Gemeinde betreten wollten, töteten sie ihn. Die Region der Karibikküste, in der wir leben, wird von Gruppen der organisierten Kriminalität für den Drogenhandel genutzt. Sie sind es gewohnt, dass sie in den Gemeinden ein- und ausgehen können, wie sie möchten, auch nachts, wenn die Menschen schlafen. Das geht jetzt nicht mehr so einfach, denn die Eingänge werden Tag und Nacht kontrolliert. Es wäre die Aufgabe des Staates für unsere Sicherheit zu sorgen, aber in Honduras sind das organisierte Verbrechen und der Staat eng miteinander verwoben. Wir fordern von der Regierung, dass sie den Mord an Edwin Fernández aufklärt und diejenigen dafür bestraft, die in unsere Gemeinden kommen und unsere Leute umbringen.

Wie hat die Regierung darauf reagiert, dass sich die Garífuna-Gemeinden zur Eindämmung des Virus selbst organisiert haben?
Die Regierung respektiert unserer Autonomie und unsere Souveränität nicht. Sie missachtet die Menschenrechte derjenigen, die in ihren Gemeinden dafür arbeiten, dass sich das Virus nicht weiter ausbreitet. Zum Beispiel hat die Polizei versucht, die Menschen einer Gemeinde im Department Cortés daran zu hindern, dass sie ihre Gemeindegrenzen einzäunen. Wenn der Staat schon nicht hilft, muss er wenigstens unsere Arbeit respektieren, denn wir haben ein Recht darauf, für unsere eigene Gesundheit zu sorgen und auch darauf, dies auf eine Art und Weise zu tun, die unserer Kultur und Identität entspricht. Das ist ein Thema, für das wir immer kämpfen mussten. Die Arbeit, die wir geleistet haben, wird missachtet. Zum Beispiel wurde staatlicherseits zu Beginn der Pandemie gesagt, dass wir Masken tragen müssen, aber hier haben die Menschen keinen Zugang zu einer Maske. Also haben wir unser eigenes System zur Herstellung von Masken entwickelt. Anfangs haben sie gesagt, dass die selbst hergestellten Masken, nichts taugen.

Worin ist diese Missachtung Ihrer Meinung nach begründet?
Das hat mit vielen Dingen zu tun. Dahinter stecken wirtschaftliche Interessen, aber es hängt auch mit Rassismus zusammen, da es eine Missachtung dessen ist, was die Menschen selbstbestimmt tun. Wenn etwas nicht wissenschaftlich erwiesen ist, wird dem jeglicher Wert abgesprochen. Und es sind dieselben Unternehmen, die das entscheiden, die in der Krise durch die Produktion von unter anderem Masken eine Menge Geld verdienen. Sie haben auch gesagt, dass unsere medizinischen Tees nichts nutzen. Mittlerweile trinken alle Leute Tee, weil sie wissen, dass sie ihr Immunsystem stärken müssen und es keinen Sauerstoff zu kaufen gibt. Dies zeigt, dass das Wissen unserer Vorfahren und Vorfahrinnen sowohl eine Antwort auf die derzeitige Gesundheitskrise gibt als auch auf die Pandemien, die noch kommen werden. Diesem Wissen muss wieder mehr Wert zugesprochen werden. Wir dürfen nicht zulassen, dass einfach zur sogenannten Normalität zurückgekehrt wird, sondern wir sollten diese Pandemie nutzen, um dieses System in Frage zu stellen, in dem die Wirtschaft wichtiger ist als Menschenleben, nicht nur in Honduras, sondern auf der ganzen Welt.

DAS DOPPELTE ÜBEL

Marta Lucía Ramírez Die Kolumbianische Vizepräsidentin beim OAS Treffen (Foto:   Juan Manuel Herrera OAS via Flickr) CC BY NC-ND 2.0

Das Virus hält Kolumbien fest im Griff: Laut der nationalen Gesundheitsbehörde haben sich 182.140 Kolumbianer*innen mit dem neuartigen Coronavirus infiziert, 6.288 Menschen sind bislang daran gestorben (Stand: 18.07.2020). Die Tendenz steigt seit Mitte Juni um 4.000 bis 8.000 neu gemeldete Fälle täglich, just als die Regierung die landesweite Quarantäne mit einer Reihe von Ausnahmen lockerte. Angesichts dessen verlängerte die Regierung von Präsident Iván Duque die Isolationsmaßnahmen zum sechsten Mal bis zum 1. August. Menschen über 70 Jahre können nach wie vor bis zum 31. August ihr Haus nicht verlassen, bis dahin gilt der verhängte gesundheitliche Notstand.

Nach drei Monaten angeordneter Isolation wünschen sich viele Kolumbianer*innen in einer „neuen Normalität“ anzukommen, doch das Licht am Ende des Tunnels ist noch nicht in Sicht. Die ersten Lockerungen in Kolumbien betrafen vor allem die Baubranche und die Fertigungsindustrie. Dazu kamen Einkaufszentren, Museen, Bibliotheken und Restaurants, die nun Essen zum Mitnehmen verkaufen dürfen. Die Pandemie hat die horrenden strukturellen Ungleichheiten im Land offengelegt. So wie in anderen lateinamerikanischen Ländern ist die Quarantäne eine Sache von Privilegien.
Allein in der Hauptstadt sind 56.830 Menschen an Corona erkrankt. „Vor einem Monat zählte Bogotá 400 neue Fälle, heute gibt es im Durchschnitt 1.200 pro Tag. Wir führen massenweise Tests durch, doch die Geschwindigkeit der Infektion ist sehr besorgniserregend“, schrieb die Bürgermeisterin Claudia López am 6. Juli auf Twitter. Dazu kommt, dass die Intensivstationen zu 80 Prozent belegt sind. Auch wenn López während der Pandemie einen besseren Führungsstil als der Präsident Iván Duque zeigte, wurde die Bürgermeisterin für den Einsatz der Einheit zur Aufstandsbekämpfung der Polizei (ESMAD) bei Demonstrationen Mitte Juni kritisiert. Studierende und Jugendliche protestierten gegen die Polizeigewalt, vor allem bei Zwangsräumungen im Süden der Stadt mitten in der Pandemie durch die ESMAD.

Während sich Bogotá auf die Eröffnung der großen Einkaufszentren Anfang Juni vorbereitete, wurde in dem südöstlichen Bezirk Kennedy, der mit 1,2 Millionen Einwohner*innen der bevölkerungsreichste der Hauptstadt ist, eine strikte 14-tägige Ausgangssperre verhängt. 30 Prozent der gemeldeten COVID-19-Fälle wurden in Kennedy registriert. Eine von drei Personen, die an den Folgen des Virus in Bogotá starben, wohnte dort. Es trifft die Viertel, in denen Armut weitverbreitet ist und die Menschen bereits vor der Pandemie um ihre Lebensgrundlage täglich kämpften. Nun müssen sie eine Infektion mit COVID-19 riskieren, weil der Hunger die eigentliche Pandemie ist.

Bis zu 8.000 Neuinfizierungen täglich

So wie an der Atlantikküste, im Verwaltungsbezirk Atlántico, der bis dato 41.006 positive Fälle meldete und mit 1.640 Toten die höchste Zahl an Todesfällen im Land. Die Hauptstadt Baranquilla hat mit 21.134 Corona-Fällen die Höchstzahl an Infizierten in der Region. Besonders betroffen sind die südöstlichen Bezirke Barranquillas, wo sich die Menschen mit informeller Arbeit den Unterhalt verdienen. Mitte Juni wurde in Barranquilla ein erhöhter Alarmzustand ausgerufen und die betroffenen Gebiete mit Hilfe der wegen ihrer Brutalität gefürchteten Polizeieinheit ESMAD abgeriegelt. Dort, wo die Menschen ihre Häuser nicht mehr verlassen können, warten sie nun, dass die Regierung die 120.000 Lebensmittelrationen verteilt, die bereits am 17. Juni zugesagt wurden.

Die Situation in dem Verwaltungsbezirk erschwert sich von Tag zu Tag. Seit März ist dort Regenzeit und das Denguefieber war bereits vor COVID-19 in der Region ausgebrochen. Dazu ist es sehr wahrscheinlich, dass die Dunkelziffer von positiven Fällen und Todesfällen viel höher als die realen Zahlen liegt. Seit Anfang des Monats können in Atlántico wegen einer defekten Maschine nur 200 Tests pro Tag durchgeführt werden, bislang sind 67.600 Menschen getestet worden.

Doch statt direkte Hilfe für die ärmere Bevölkerung des Landes zu leisten, hat Präsident Iván Duque eine Reihe von Maßnahmen zugunsten von Großunternehmen und Banken zur Ankurbelung der Wirtschaft eingeführt. Die Hilfe für die Menschen in den ärmeren Bezirken von Bogotá, Barranquilla und Cali kamen vor allem von sozialen Organisationen oder privaten Spender*innen.

Der Hunger ist die eigentliche Pandemie

Präsident Duque führte am 19. Juni den Tag ohne Mehrwehrsteuer ein, um den Konsum anzukurbeln. „COVID-Friday“ wird der Tag in der Presse genannt, an dem Menschenmengen ohne Distanz und Mundschutz, die Supermärkte überfluteten, um hauptsächlich Fernseher und andere Elektrogeräte günstiger zu kaufen. Doch ob diese Maßnahme eine nachhaltige Wirkung auf die ohnehin paralysierte Wirtschaft haben wird, ist zweifelhaft. Auch für die Konsument*innen halten sich die Vorteile in Grenzen. Große Supermarktketten wie „Falabella“ und „Olímpica“ hatten in den Tagen vor dem COVID-Friday die Preise angehoben.
Dennoch kündigte das Staatsoberhaupt zwei weitere solcher mehrwehrsteuerfreien Tage im Juli an, allerdings unter strengeren Hygiene-Auflagen.
Die Wirtschaft des Landes war bereits vor der Pandemie durch den niedrigen Ölpreis – Kolumbiens Exportprodukt Nr. 1 – und der darauffolgenden Währungsentwertung in einer schwierigen Lage. Nun befindet sich Kolumbien in einer Rezession mit wachsender Arbeitslosigkeit. Diese stieg im Mai um 21,4 Prozent an und war somit doppelt so hoch wie im selben Monat des letzten Jahres. Deshalb fordern 48 Senator*innen und Mitglieder des Repräsentantenhauses, dass über ein temporäres bedingungsloses Grundeinkommen diskutiert wird. „Wir stehen vor einer sozialen Unruhe, weil die Menschen Hunger haben“, sagte Armando Benedetti, Senator der „Partei der Einheit“, Mitunterzeichner der Petition, bei einer Debatte über das Grundeinkommen in Semana TV.

Hilfe kommt vor allem von sozialen Organisationen oder privaten Spender*innen

„Der einzige Weg, um die steigende Infektionskurve zu bremsen, ist die Einkommenssicherung der Kolumbianer*innen, sodass sie die nötige Zeit in ihren Häusern bleiben können“ schrieben die Abgeordneten in einem Brief an den Präsidenten.

Es wird ein Grundeinkommen von 900.000 Pesos (ca. 220€) für drei Monate gefordert, das durch eine außerordentliche Steuer an Superreiche, den Stopp der beschlossenen Steuerreform und durch die Neustrukturierung der Auslandsverschuldung eingetrieben werden könnte. Doch auch wenn Finanzminister Alberto Carrasquilla versicherte, dass sich Kolumbien perspektivisch in diese Richtung bewege, könne ein Grundeinkommen nach Aussage des Ministers nicht die, in eine tiefe Rezension fallende Wirtschaft auffangen, da es sich um „eine strukturelle Änderung“ handele.

Indessen steigen die Infektionskurve sowie die Perspektivlosigkeit der Bevölkerung und die Gewalt in den abgelegenen Gebieten des Landes weiter an. In dieser multidimensionalen Krise hat Präsident Duque vehement seine Unfähigkeit gezeigt, das Land zu regieren. Fast täglich macht Duque 30- bis 60-minütige Videoansprachen und berichtet, wie er die Krise zu meistern versucht. Dabei wirkt er immer mehr wie die Karikatur eines Präsidenten, der eher beunruhigt als beruhigt.

Bereits vor der Pandemie hatte sich die Regierung von Präsident Iván Duque in eine Sackgasse manövriert. Seitdem überschlagen sich die Skandale. Kurz bevor die landesweiten Quarantäne­maßnahmen verhängt wurden, wurde ein Prozess gegen den kolumbianischen Präsidenten wegen Wahlbetrugs in der zuständigen parlamentarischen Kammer und im nationalen Wahlrat eröffnet. Anfang Mai enthüllte die Wochenzeitschrift Semana den größten militärisch-geheimdienstlichen Abhörskandal der jüngsten Geschichte des Landes. 130 Zivilist*innen, darunter Journalist*innen, Politiker*innen und Anwält*innen, wurden vom Nachrichtendienst des Militärs über Monate bespitzelt. Betroffen waren vor allem nationale und internationale Journalist*innen, die kritisch über den Konflikt berichten. Auch Anwält*innen von dem Anwaltskollektiv CAJAR, welche die Opfer von staatlichen Verbrechen verteidigen, waren Zielscheibe der Bespitzelungen.

In Juni enthüllte das Online-Portal La Nueva Prensa noch einen weiteren Skandal, der die Vizepräsidentin Marta Lucía Ramírez in Schwierigkeiten bringen dürfte. Marta Lucía Ramírez, eine der einflussreichsten kolumbianischen Politikerinnen des letzten Jahrzehnts, hatte im Jahr 1997 eine Kaution von 150.000 Dollar für ihren Bruder bezahlt, nachdem dieser in Miami wegen Heroinschmuggels festgenommen wurde. Nachdem Ramírez bisher stets behauptet hatte, keine Kaution bezahlt zu haben, nahm sie ihre Aussage in Folge der neuerlichen Enthüllungen zurück. Bereits im April war bekannt geworden, dass die Firma der Vizepräsidentin gemeinsam mit einer Firma des mutmaßlichen Drogenhändlers Guillermo Acevedo an einem Megabauprojekt im Norden Bogotás beteiligt war.

Ebenso unangenehm für Ramírez dürften die Anschuldigungen der Webserie „Matarife“ sein. Laut dem Matarife-Macher, dem Journalisten und Anwalt Daniel Mendoza Leal, verkehrte Marta Lucía Ramírez Ende der 1990er und Anfang der 2000er im elitären Club Nogal in Bogotá mit zentralen Figuren des Paramilitarismus.

Überhaupt hat die Youtube-Serie „Matarife“ für viel Wirbel in Kolumbien gesorgt. Seit dem 22. Mai erscheint jede Woche ein Kapitel, das die Verstrickungen des „Matarife“, des „Schlachters“ Álvaro Uribe mit Drogenmafia und Paramilitarismus aufdeckt. So berichtet Mendoza unter anderem über die Arbeit von Álvaro Uribe als Direktor der zivilen Luftfahrtbehörde 1980 bis 1982, in der er mehr als 200 Fluglizenzen für Flugzeuge und Landebahnen an Drogenhändler*innen vergab und so den internationalen Schmuggel des Medellín-Kartells ermöglichte. Es war ausgerechnet der Vater des heutigen Präsidenten und Uribes politischem Ziehsohn Iván Duque, der als damaliger Gouverneur von Antioquia auf die Fluglizenz-Vergabe an die Mafia aufmerksam wurde und dem Präsidenten Cesar Turbay über Uribes Machenschaften berichtete. Trotzdem behielt Uribe seinen Posten. 1984 machte es sich der Justizminister Rodrigo Lara zum Ziel, den Narcos die Fluglizenzen zu entziehen und deckte außerdem Tranquilandia auf, eine der großen Kokainfabriken Pablo Escobars. Bei der Razzia entdeckte die Polizei auf Tranquilandia auch einen Helikopter von Alberto Uribe Sierra, dem Vater von Álvaro Uribe. Zeitgleich machte die Zeitung El Espectador die Verbindungen der Uribes mit der Mafia bekannt – wenig später wurden sowohl Rodrigo Lara als auch Guillermo Cano, Herausgeber des Espectador, von Auftragskillern umgebracht. „Matarife“ berichtet auch von den Verbindungen Uribes zum Ochoa-Clan, den Geschäftspartnern Pablo Escobars, welche laut Aussagen eines Ex-Senators die Wahlkampagnen Uribes in den 1980ern finanzierten.

„Wir stehen vor einer sozialen Unruhe, weil die Menschen Hunger haben“

Das nächste Kapitel, so kündigt Mendoza an, wendet sich Uribes Rolle beim Aufbau des Paramilitarismus in den 90ern zu und seiner Verantwortung für diverse Massaker. Eine Million Aufrufe erreichen die einzelnen Kapitel der Webserie und tragen so die Vergangenheit des wohl nach wie vor mächtigsten Politikers des Landes ins allgemeine Bewusstsein. Einen Bezug zur Gegenwart zu ziehen ist dabei nicht schwer: Ob im Zuge des Ñeñepolítica-Skandals zum Stimmenkauf Uribes mit Hilfe paramilitärischer Strukturen (siehe LN 550), der Vorwürfe, Uribe habe dem mexikanischen Drogenboss El Chapo beim Kokainexport von Bogotás Flughafen El Dorado aus geholfen oder der jüngsten Berichte über die Waffengeschäfte des kolumbianischen Militärs mit Paramilitärs, bei denen unter anderem Pistolen der deutschen Carl Walther GmbH illegal weiterverkauft wurden. In einem Land, in dem weite Regierungskreise und das Militär in den illegalen Handel verstrickt sind, ist Aktivismus gegen diese Interessen lebensgefährlich. Laut der Stiftung IndePaz wurden allein in diesem Jahr 153 Aktivist*innen in Kolumbien ermordet. Dabei nutzen illegale bewaffnete Gruppen die häusliche Quarantäne, um ungestört zu morden. Während sich die Schutzmechanismen für gefährdete Personen als nutzlos erweisen, nimmt die Gewalt in den abgelegenen Gebieten des Landes rasant zu. Ein Trend, der schon vor der Pandemie zu verzeichnen war. Die steigende Kriminalität in den kolumbianischen Städten und die Gewalt auf dem Land sind Symptome eines Staates, der in kriminellen, sexistischen, klassistischen und rassistischen Strukturen verharrt. Trauriger jüngster Ausdruck davon ist die Massenvergewaltigung eines 12-jährigen indigenen Mädchens durch sechs Armeeangehörige im Verwaltungsbezirk Riseralda. Die Soldaten hatten die Angehörige der Embera zunächst entführt und dann vergewaltigt. Mittlerweile haben die Täter ihre Schuld zugegeben und wurden festgenommen. Die indigene Gemeinde der Embera fordert, dass sie sich neben der kolumbianischen Justiz auch vor der indigenen Justiz verantworten müssen. Gemeindesprecher wiesen auch darauf hin, dass es bereits in der Vergangenheit zu sexuellem Missbrauch gegen Angehörige der Gemeinde durch Armeesoldaten gekommen war, frühere Fälle aber keine öffentliche Beachtung oder Strafverfolgung fanden.

DAS VIRUS IST ZUR IDEOLOGISCHEN ANGELEGENHEIT GEWORDEN

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In dem Roman El señor Presidente (Der Herr Präsident) des Nobelpreisträgers Miguel Ángel Asturias geht es um Manuel Estrada Cabrera, unter dessen mehr als zwanzig Jahre währender Diktatur sich die offizielle Lüge jeden Tag anschickte, an die Stelle der Wirklichkeit zu treten.

Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts einer der vielen Vulkane Guatemalas ausbrach, befahl er von seinem sicheren Präsidentenpalast aus in den Straßen ein Dekret verlesen zu lassen, mit dem verkündet wurde, der angebliche Ausbruch sei eine Erfindung, entstanden aus einer politischen Verschwörung, mit der das Land destabilisiert, seine Wirtschaft geschädigt und der Fortschritt behindert werden solle. Doch der heiße Ascheregen, den der Vulkan ausstieß und der die Sonne verdunkelte, ließ den Beamten, der das Dekret verbreiten sollte, seine Arbeit nicht tun. Weil es so dunkel wurde, musste er eine Acetylenlampe zu Hilfe nehmen, dennoch sorgten die den Ausbruch begleitenden heftigen Erdstöße dafür, dass niemand dem Ausrufer Beachtung schenkte.

In Nicaragua gibt es den Verlautbarungen des Regimes zufolge keine Covid-19-Pandemie, weil die Landesgrenzen, so die Regierungspropaganda, von göttlicher Hand geschützt werden. Alles andere ist Produkt der Verschwörung kaputter, kranker Hirne, die nur verleumden und diffamieren wollen, und das Land destabilisieren, die Wirtschaft schädigen und den Fortschritt behindern.

Die offizielle Propaganda begann damit, zu sagen, das Corona-Virus sei eine Krankheit reicher Müßiggänger, die sicher nicht an die Türen armer Leute klopfen würde, weshalb es nichts als abartige imperialistische Propaganda sei, dass man zu Hause bleiben solle. Die weltweite Pandemie ist nichts weiter als eine göttliche Strafe für die kapitalistische Ausbeutung.

Verneinen, dass Corona in Nicaragua existiert, ist revolutionäre Pflicht

Wir erleben also so etwas wie einen Gesundheitsklassenkampf, durch den das Virus eine Sache der Ideologie geworden ist. Verneinen, dass es in Nicaragua existiert, ist revolutionäre Pflicht; seine Ausbreitung verhindern eine Intrige der Rechten. In den Gesundheitszentren ging man so weit, den Gebrauch von Atemschutzmasken und Handschuhen bei der Behandlung von Patient*innen zu verbieten, weil dies nur für unnötige Unruhe gesorgt hätte. Und das Personal wurde angewiesen, keine Informationen über die Krankheit zu verbreiten, um keine kollektive Hysterie zu verursachen. Um zu zeigen, dass wir im gesündesten Land der Welt leben und per Dekret verpflichtet sind, glücklich zu sein, hat sich die offizielle Propaganda eifrig bemüht, die Menschen dazu zu bringen, massenhaft an die Strände zu kommen, und die Häfen werden für Kreuzfahrtschiffe offen gehalten, die aber leider von sich aus schon nicht mehr kommen; man erfindet Gastronomiefestivals und lädt zu Stadt- und Dorffesten ein. Das ganze Land ist eine einzige ansteckende Virusbombe. Und nicht nur bleiben Schulen und Universitäten geöffnet, man ermuntert auch die Unvorsichtigen und Leichtgläubigen, in die Stadien zu gehen und organisiert Public Viewing von Boxkämpfen, die der Sender ESPN (Entertainment and Sports Programming Network) überträgt, als wären es armselige Zirkusvorstellungen, „atypische” Marotten der pittoresken Dritten Welt in Zeiten der Pandemie.

Es kann als subversiver Akt ausgelegt werden, über das Virus zu sprechen

Die Ergebnisse der wenigen Tests, die man macht, werden den Patient*innen nicht mitgeteilt, und die öffentlichen Kliniken und Hospitäler haben Anweisung, die entdeckten Fälle als „untypische Erkrankungen der Atemwege“ zu registrieren. Den offiziellen Statistiken kann deshalb keinerlei Glauben geschenkt werden. Doch während die Krankheit für nicht-existent erklärt wird, sind die Krankenhäuser überfüllt mit Patient*innen, für die, wenn sie sterben, keine Totenwache abgehalten werden kann, wie es in Nicaragua üblich ist, und die ohne Begleitung ihrer Familien und unter Polizeibewachung bestattet werden müssen. Und die Angst vor der Repression breitet sich aus, denn es kann als subversiver Akt ausgelegt werden, über das Virus zu sprechen. Die Trauernden ziehen es vor, zu schweigen.

Der Mechanismus der Wirklichkeitsfälschung ist der gleiche, der bei der Repression benutzt wurde, die vor zwei Jahren zu hunderten von Toten führte. Die durch Kugeln aus AK-Sturmgewehren oder gezielte Schüsse von Scharfschützen mit russischen Dragunov-Gewehren oder venezolanischen Catatumbos Ermordeten gab es gar nicht. Die Opfer, die auf den Listen der Menschenrechtsorganisationen standen, waren durch Bandenkriege, Drogenkriminalität oder Verkehrs- unfälle ums Leben gekommen. Zynismus in seiner ganzen Größe, genau wie jetzt auch wieder.

Aber die Phase der Ausbreitung des Virus ist nun eingetreten, und das Observatorio Ciudadano, eine Organisation der Zivilgesellschaft, die sich um das Sammeln von Informationen bemüht, meldet viel mehr Infektionsfälle im Land als die offiziell anerkannten. Heimliche, klandestine Infektionen. Kürzlich haben 645 Angehörige von Gesundheitsberufen, alles angesehene Spezialist*innen, die in Praxen, Krankenhäusern und Kliniken arbeiten, mit einem „Offenen Brief” Alarm geschlagen, den alle medizinischen Berufsverbände unterstützt haben. In dieser beispiellosen Erklärung fordern sie vom Regime die Einführung effektiver Maßnahmen, die der gesunde Menschen- verstand nahelegt, darunter eine der Wahrheit entsprechende Information über die Ausbreitung des Virus in der Bevölkerung, die Durchführung von Tests, die Einschränkung von Massenveranstaltungen, Social Distancing, Maßnahmen der Isolierung und Quarantäne, wo sie nötig sind, und den Schutz des medizinischen Personals in den öffentlichen Gesundheitseinrichtungen.

Es ist schon ziemlich spät für das alles, sagen die mehr als fünfhundert Ärzt*innen, doch „zu Beginn der Kurve schwerer Fälle ist es immer noch möglich, Eindämmungsmaßnahmen umzusetzen, die die katastrophalen Auswirkungen auf die Sterblichkeitsrate und das Gesundheitssystem vermindern können.“

Und sie erinnern das Regime daran, dass „die Gesundheit nicht nur ein verfassungsmäßiges Recht ist, sondern ein Menschenrecht und eine nicht übertragbare Verantwortung des nicaraguanischen Staates.“

Es ist ein mutiges Dokument, denn viele der Unterzeichner*innen riskieren, aus ihrer Arbeit in den Hospitälern entlassen zu werden, weil sie das Bild des ewigen Glückszustands beschädigt haben, in dem die Nicaraguaner*innen angeblich leben, als Geiseln dieses unglaublichen, fatalen Trugbildes, in dem die offizielle Propaganda einem sagt, zu Hause zu bleiben sei nichts als eine schlechte bürgerliche Angewohnheit.

SOLIDARISCHE SUPPENKÜCHE GEGEN DIE CORONAKRISE

Olla común in La Pintana Caren Ponce kocht Linseneintopf für 60 Nachbar*innen (Foto: Sophia Boddenberg)

„Entweder tötet das Virus uns oder der Hunger“, sagt die 31-jährige Stephanie Hurtado. Sie ist Präsidentin einer Junta de Vecinos, eines Nachbarschaftsverbands in der Gemeinde La Pintana am südlichen Stadtrand Santiagos. „Viele Leute wurden entlassen oder können wegen der Quarantäne nicht arbeiten. Sie haben kein Einkommen und nichts zu Essen.“ Der wöchentliche Flohmarkt werde immer länger, weil die Leute ihr Hab und Gut verkaufen, um zu überleben. Viele verkaufen auch selbstgenähte Atemschutzmasken.

Hurtado hat ihre Arbeit nicht verloren. Sie arbeitet als Lehrerin und gibt Online-Kurse. Auch das sei nicht leicht, weil viele Kinder keinen Zugang zu Computern haben. „Die Hälfte meines Einkommens gebe ich für Lebensmittel für meine Nachbarn aus. Wir müssen uns gegenseitig helfen, weil der Staat uns im Stich lässt“, sagt sie.

Drei Mal in der Woche organisiert die Junta de Vecinos eine olla común, eine solidarische Suppenküche. 200 warme Mahlzeiten werden an die Nachbar*innen verteilt, die sonst Hunger leiden würden. Die ollas comunes haben eine lange Tradition in Chile. Ihren Ursprung haben sie in der Wirtschaftskrise 1929, als viele Bergbauarbeiter*innen ihre Arbeit verloren. Auch in den 1980er Jahren während der Pinochet-Diktatur kochten die Bewohner*innen der poblaciones für die Armen und Arbeiter*innen.

Auch Hurtado lebt in einer población, wie die dicht bewohnten Armen- und Arbeiter*innenviertel in Santiago genannt werden. „Auf 35 Quadratmetern leben zwischen sechs und 14 Personen. Für sie ist es unmöglich, die Quarantäne einzuhalten. Einer muss immer das Haus verlassen, um das täglich Brot zu verdienen – wenn er sich mit dem Virus ansteckt, steckt er alle mit an“, sagt sie.

Immer wieder hat es in den vergangenen Wochen Proteste in La Pintana und anderen Vierteln am Stadtrand von Santiago gegeben, wo die Menschen ums Überleben kämpfen. Der Protest auf der Straße sei die einzige Möglichkeit, sich politisch Gehör zu verschaffen. „Wir fordern schon seit langer Zeit mehr soziale Rechte. Die Coronavirus-Pandemie hat unsere Not nur noch verschärft und uns gezeigt, was soziale Ungleichheit bedeutet. In Chile ist die Gesundheitsversorgung für die, die es sich leisten können.“ Vor wenigen Tagen sei eine ältere Frau an Covid-19 gestorben und die Leiche sei immer noch nicht abgeholt worden. „Hier gibt es nicht genügend Krankenwagen. Deshalb muss ich die kritischen Patienten ins Krankenhaus fahren. Dort sagen sie ihnen dann manchmal, sie sollen zu Hause sterben, weil die Betten alle belegt sind“, sagt Hurtado.

Die täglichen Neuinfektionen liegen bei über 5.000, 90 Prozent davon in der Hauptstadt

Knapp 150.000 Fälle von mit dem Coronavirus Infizierten gibt es Mitte Juni in Chile, die Zahl der täglichen Neuinfektionen liegt bei über 5.000, 90 Prozent davon stammen aus der Hauptstadt. Die Gemeinden, in denen sich das Virus am schnellsten ausbreitet, sind die Armen- und Arbeiter*innenviertel am Stadtrand wie La Pintana, El Bosque, San Bernardo und Puente Alto. Die Zahl der Todesfälle liegt bei fast 2.500. Der Regierung wird jedoch vorgeworfen, falsche Zahlen zu veröffentlichen, unter anderem von der Journalistin Alejandra Matus, die durch ihre Recherchen viel höhere Todeszahlen feststellte.

Fabián Araneda arbeitet in der öffentlichen Gesundheitsversorgung La Pintanas und ist Gewerkschaftsführer. „Das öffentliche Gesundheitssystem befand sich schon vor dem Coronavirus in einer Krise, jetzt steht es kurz vor dem Zusammenbruch. Es wird von den Arbeitern und Arbeiterinnen aufrechterhalten, die unter extrem prekären Bedingungen arbeiten“, sagt er. Auch Araneda kritisiert die Statistiken des Gesundheitsministeriums: „Es gibt viele Todesfälle, die nicht als Covid-19-Tote registriert werden.“ Die Arbeitsbedingungen in der öffentlichen Gesundheitsversorgung sind prekär, es fehlt an medizinischen Mitteln und Personal. Eine Kollegin von Araneda ist an Covid-19 erkrankt, sie ist nicht die einzige. Ende Mai haben sich bereits 6.840 Mitarbeiter*innen der Krankenhäuser infiziert. „Für die Regierung ist die Wirtschaft wichtiger als die Gesundheit und die Leben der Menschen. Wir brauchen Maßnahmen, damit die Menschen in Würde die Quarantäne einhalten können“, sagt Araneda.

Die Regierung hat stattdessen ein Gesetzesdekret erlassen, das Unternehmen erlaubt, die Verträge der Angestellten zu suspendieren und ihnen keinen Lohn zu bezahlen. Die Arbeitslosigkeit liegt auf dem höchsten Wert der vergangenen zehn Jahre. Hinzu kommt, dass ein Drittel der berufstätigen Bevölkerung in Chile im informellen Sektor arbeitet, also gar keinen Vertrag hat. Viele haben deshalb jetzt keinerlei Einkommen.

Präsident Piñera hat zwar 2,5 Millionen Hilfspakete mit Lebensmitteln angekündigt. Die sollen aber nur 70 Prozent der ärmsten 40 Prozent der Bevölkerung erhalten und die Verteilung dauert über einen Monat. Für viele handelt es sich dabei um eine Inszenierung der Regierung, um ihr schlechtes Image in der Bevölkerung zu verbessern. „Der Präsident hat bei seinen Freunden eingekauft. Viel effektiver wäre es gewesen, den Menschen direkt Geld zu überweisen, damit sie in den Geschäften in ihren Vierteln einkaufen“, sagte zum Beispiel der Bürgermeister von Recoleta, Daniel Jadue. Zuletzt sorgte ein Dokument für Polemik, in dem die Stadtverwaltung der Gemeinde Ñuble dazu angewiesen wurde, die Verteilung der Lebensmittelpakete in Fotos und Videos festzuhalten und dabei die „Dankbarkeit der Empfänger“ und die „Wertschätzung des Präsidenten“ in den Vordergrund zu stellen.

In der Notlage sind die ollas comunes unerlässlich. Die Schwestern Constanza und Caren Ponce aus der Gemeinde El Bosque sammeln Spenden und kochen regelmäßig für ihre Nachbar*innen. Heute haben sie einen Linseneintopf für 60 Personen gekocht. „Die Hilfspakete, die sie im Fernsehen zeigen, sind hier nicht angekommen. Wir helfen uns unter Nachbarn“, sagt Constanza Ponce. Ihre Schwester fügt hinzu: „Das Volk hilft dem Volk.“ Normalerweise würden sie sich auf die Straße stellen, um das Essen zu verteilen. Aber wegen der Coronavirus-Pandemie füllen sie im Haus die Portionen in Behälter ab und bringen sie anschließend zu Obdachlosen oder Familien nach Hause. „Die Leute kommen das Essen nicht hier abholen, einerseits damit es keine Menschenansammlungen gibt und andererseits, damit die Polizisten uns nicht den Topf umtreten, wie es in anderen Vierteln passiert ist“, sagt Caren Ponce.

„Wir wiederholen eine Aktion, die Frauen seit vielen Jahren ausüben. Die olla común hat ihren Ursprung in der Armut, im Hunger. Es gibt sie seit vielen Jahren und bis heute, weil sich nichts verändert hat. Die ollas comunes sind von der población für die población. Wir sind keine Reichen, die Armen helfen“, sagt Constanza Ponce. Die meisten Spenden kommen von Nachbar*innen aus der Umgebung, Freunden und Familie. Viele seien bereit, zu helfen. Die Schwestern sammeln auch Kleidung, Schuhe, Bettwäsche und Decken, denn in Chile bricht gerade der Winter ein. „Es ist traurig, dass jetzt ans Licht kommt, dass wir in Armut leben, dass wir Hunger haben, dass uns kalt ist“, sagt Caren Ponce. „Die Regierung will das verstecken. Das war schon immer so in unserer Geschichte. Das macht uns wütend und motiviert uns zu diesen Aktionen, damit sich etwas ändert.“

BRASILIEN IM KATASTROPHENMODUS

„Ich kann mit dieser Regierung nicht atmen“ Protest gegen die Regierung in Brasília  (Foto: Roberto Oliveira)

„Wir befinden uns nicht mehr im Ausnahmezustand, sondern im Katastrophenfall“, erklärte der Bürgermeister von Manaus, Arthur Virgílio Neto, bereits Ende April unter Tränen. Seit in Brasilien am 19. Mai die erschreckende Marke von mehr als 1.000 Corona-Toten innerhalb von 24 Stunden überschritten wurde, jagt ein Höchstwert der täglichen Todesfälle den nächsten. Inzwischen hat sich das neuartige Virus SARS-CoV-2 in allen brasilianischen Bundesstaaten ausgebreitet. Brasilien weist aktuell weltweit die zweithöchsten Fallzahlen auf. Ende Mai lag die Auslastung der Intensivbetten in den meisten Bundesstaaten bei über 70 Prozent. Neben São Paulo und Rio de Janeiro sind besonders die Bundestaaten Ceará und Pernambuco im Nordosten betroffen sowie der flächengrößte Bundesstaat Amazonas. In dessen Hauptstadt Manaus stehen für die 2,1 Millionen Einwohner*innen 243 Intensivbetten in öffentlichen Krankenhäusern zur Verfügung. Zu Beginn der Pandemie waren es sogar nur 107. Im Inland des Bundesstaates ist die Versorgungslage noch kritischer.

Mit der Initiative „S.O.S Manaus – Hilfe für die Hüter des Regenwaldes“ versucht Bürgermeister Virgílio Neto, auch im Ausland für finanzielle und materielle Unterstützung zu werben. Seine Initiative richtete sich an 21 Staats- und Regierungschefs, darunter die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Prominente Unterstützung erhielt er von Greta Thunberg. In einem Video rief sie gemeinsam mit zwölf internationalen Fridays-for-Future-Aktivist*innen die internationale Gemeinschaft dazu auf, den Bundesstaat im Amazonas zu unterstützen und machte auf die globalen Folgen der hohen Todesrate, vor allem in der indigenen Bevölkerung, aufmerksam.

In der Pandemie ohne Gesundheitsminister

Während Bürgermeister*innen und Gouverneur*innen der Bundesstaaten sich lange Zeit Bolsonaros Aufruf widersetzten, zur Normalität zurückzukehren, beginnt langsam die Aufweichung der Maßnahmen. João Doria, Gouverneur von São Paulo, verfügte ab dem 1. Juni erste Lockerungen: Noch bevor der Höhepunkt der Krise erreicht ist, öffnen Einzelhandel, Büros und Einkaufszentren in Teilen des Bundesstaates. „Wir werden die Quarantäne beibehalten, aber mit einer gewissenhaften Wiederaufnahme einiger wirtschaftlicher Aktivitäten beginnen “, so der wirtschaftsnahe Gouverneur. Zum Zeitpunkt der Entscheidung lag die Auslastung der Intensivbetten im Bundestaat bei 75 Prozent, in der Hauptstadt São Paulo sogar bei 91 Prozent.

Mitten in der Pandemie bleibt das aktuell wichtigste Ministerium führungslos: Nach dem Rauswurf des Gesundheitsministers Luiz Henrique Mandetta Mitte April, trat sein Nachfolger Nelson Teich nach nur 29 Tagen im Amt ohne genaue Angabe von Gründen zurück. Sein ehemaliger Vize, General Eduardo Pazuello, ist seither offizieller Interims-Minister. Laut der Tageszeitung Estadão sollen 40 weitere Posten im Gesundheitsministerium mit Militärs besetzt werden.

Aus dem Präsidentenpalast heißt es zu Teichs Rücktritt, Minister und Präsident seien sich über den Einsatz des Medikaments Chloroquin bei der Behandlung gegen Covid-19 uneins gewesen. Wie der US-amerikanische Präsident Donald Trump wirbt auch Brasiliens Präsident Bolsonaro dafür, Corona-Virus Erkrankte mit dem Malaria-Medikament zu behandeln oder es sogar präventiv einzusetzen. Die Wirkung von Chloroquin und seinem Wirkstoff Hydroxychloroquin gegen eine Corona-Erkrankung ist wissenschaftlich nicht bewiesen. Er selbst besitze eine „kleine Schachtel“ des Medikaments für den Fall, dass seine 93-jährige Mutter sie brauche. In einem Interview erklärte er die Einnahme des Medikaments zur ideologischen Frage. „Wer rechts ist, nimmt cloroquina, wer links ist, nimmt tubaína“. Laut der Nachrichtenseite DCM spielt Bolsonaro damit nicht nur auf die gleichnamige Limonade an. Unter Militärs werde der Begriff auch für eine Foltertechnik durch Ertränken verwendet.

Bolsonaro beleidigte Gouverneure als „Stück Scheiße“

Der Präsident konzentriert sich unterdessen auf andere Themen. In der Auseinandersetzung mit dem ebenfalls zurück getretenen Justizminister Sérgio Moro gab der oberste Gerichtshof STF den zweistündigen Videomitschnitt einer Kabinettssitzung vom 22. April frei. Er sollte den Vorwurf Moros belegen, Bolsonaro habe versucht, einen Vertrauten zum Chef der Bundespolizei zu ernennen. Bolsonaro habe sich so erhofft, Informationen zu laufenden Ermittlungen gegen seine Söhne zu erhalten. Doch das Video gibt noch ganz andere Einblicke: Bolsonaro beleidigte Gouverneure als „Stück Scheiße“ und setzte seine Minister*innen unter Druck, seiner ideologischen Linie treu zu bleiben und seine Einmischungen zu dulden – oder ihr Amt niederzulegen. Ideologische Grabenkämpfe sind auch im Corona-Ausnahmezustand die oberste Priorität des Präsidenten.

Waffenbesitzer*innen in Brasilien können jetzt 6.000 Projektile pro Jahr kaufen

Diese Haltung Bolsonaros ist nicht nur beleidigend. Sie ist auch bedrohlich. „Schaut euch an, wie einfach es ist, eine Diktatur in Brasilien zu installieren. Darum will ich, dass das Volk sich bewaffnet“, so wendete sich Bolsonaro in der Sitzung an den Justiz- und den Verteidigungsminister. Einen Tag später veröffentlichte seine Regierung eine Verordnung, nach der es Waffenbesitzer*innen in Brasilien nun möglich ist, mehr als 6.000 Projektile pro Jahr zu kaufen, zwölfmal mehr als zuvor. Laut dem Institut Sou da Paz könnten sich die im Land registrierten Waffenbesitzer*innen nun innerhalb eines Jahres mit mehr Projektilen eindecken, als Brasilien Einwohner*innen zählt.

Nicht nur der Präsident artikuliert sein zweifelhaftes demokratisches Verständnis deutlicher denn je, auch seine Minister*innen: Umweltminister Ricardo Salles schlägt vor, die Krise zu nutzen, um unbemerkt von der Presse Änderungen an der Umweltgesetzgebung vorzunehmen. Und Bildungsminister Abraham Weintraub kommentierte, die „Verbrecher“ des Obersten Gerichtshofs sollten im Gefängnis sitzen. Der Bundes-*richter Alexandre de Moraes schloss Weintraub daraufhin in die seit 2019 laufenden Ermittlungen zur Verbreitung von Fake News durch Regierungsmitglieder und Angehörige des Bolsonaro-*Clans ein. Bei der Vernehmung schwieg Weintraub zu den Vorwürfen. Ob der Minister sich für die Äußerungen verantworten muss, entscheiden die Bundesrichter in der zweiten Juniwoche. Sein Kollege, der Justizminister André Mendonça, beantragte schon einmal vorsorglich seinen Frei-*spruch. Die Bundespolizei ermittelt auch in einem anderen Fall gegen Weintraub. Auf Twitter fiel er mit rassistischen Äußerungen gegen China auf und löste eine weitere diplomatische Krise mit Brasiliens wichtigstem Handelspartner aus.

Immer mehr Brasilianer*innen gehen auf die Straße

Auch wenn das Video der Kabinettsitzung Brasilien und der ganzen Welt einen tiefen Einblick in Bolsonaros Horrorkabinett (LN 536) gibt – aus der Sicht von Expert*innen wird es Bolsonaros Popularität wenig beeinflussen. Sein desaströses Krisenmanagement hat die Zustimmung der Bevölkerung gegenüber ihrem Präsidenten nur marginal verändert. Der Anteil der treuen Bolsonaro-*Anhänger*innen liegt, je nach Umfrage, weiterhin zwischen 28 und 33 Prozent.

Dennoch mobilisiert sich langsam aber sicher ein Teil der Zivilgesellschaft gegen den Rechtsextremen. Immer mehr Brasilianer*innen gehen „Für die Demokratie“ und gegen den Faschismus auf die Straße. Bereits Ende Mai schlossen sich in São Paulo eigentlich rivalisierende Fußballfans der vier größten Vereine zusammen und führten die Demonstrationen an. In Brasília trennten bei den Protesten am 7. Juni 300 Einsatzkräfte der Nationalen Einheit für öffentliche Sicherheit (FNSP) die antifaschistischen Demonstrierenden von Bolsonaro-Sympathisant*innen. Zuletzt weiteten sich die Proteste auf 20 Bundeshauptstädte aus. Befeuert werden sie durch die weltweiten „Black Lives Matter“-Demonstrationen. In Brasilien starben 2019 sechsmal mehr Menschen durch Polizeigewalt als in den USA. 75 Prozent der Ermordeten waren Schwarz.

In Brasilien starben 2019 sechsmal mehr Menschen durch Polizeigewalt als in den USA

Präsident Bolsonaro diskreditierte die antifaschistischen Demonstrierenden als „Terroristen“, eine Anspielung auf Donald Trumps jüngsten Vorschlag, die Antifa als Terrororganisation einzustufen. In der Tageszeitung Estadão äußert sich auch Vizepräsident Hamilton Mourão zu den Demonstrationen. Die Proteste könnten vielen Zwecken dienen, „aber niemals der Verteidigung der Demokratie“, so der ehemalige General.

Mit Präsident und Vizepräsident beanspruchen in Brasilien aktuell diejenigen die Definitionshoheit der Demokratie, denen sie am wenigsten zuzutrauen ist. Das brasilianische Zentrum für die Analyse von Freiheit und Autoritarismus (LAUT) stellt für die Monate April und Mai fast täglich Handlungen der Exekutive fest, die ein Risiko für die Freiheit und Demokratie in Brasilien darstellen. Bolsonaros Annahme, sich ohne Kontrolle in alle Sphären des Staates einmischen zu können, widerspricht dem Prinzip der Gewaltenteilung.

41 Anträge zur Amtsenthebung des Präsidenten sind beim Präsidenten des Abgeordnetenhauses, Rodrigo Maia, bis Ende Mai eingegangen. Ein Großteil der Anträge bezieht sich auf Bolsonaros Verletzungen der Prinzipien des Rechtsstaats. Darunter ist auch ein gemeinsames Gesuch von vier Parteien der linken Opposition, unter anderem der Arbeiterpartei PT, aber auch von einem großen Bündnis von Organisationen der Zivilgesellschaft. Die Chancen für den Erfolg eines Verfahrens stehen jedoch schlecht. Risikoanalysten der Eurasiagroup beziffern die Wahrscheinlichkeit, dass ein Impeachment Bolsonaros Mandat vorzeitig beendet, mit 25 Prozent. Wenn die Stimmung der Brasilianer*innen nicht umschlägt, werden die für die Amtsenthebung notwendigen zwei Drittel des Abgeordnetenhauses nicht zu mobilisieren sein. So ist ein Impeachmentprozess gegen Bolsonaro auch für die Opposition nicht ohne Risiko, denn „ein überstimmtes Amtsenthebungsverfahren würde den Präsidenten stärken“, stellt der Politikwissenschaftler José Murilo de Carvalho fest.

// WIRRGLAUBEN

„Cloroquina, Cloroquina, ich weiß, dass du mich heilst, im Namen von Jesus!“ Dieses Liedchen wird zurzeit häufig auf Demonstrationen gesungen, die den brasilianischen Präsidenten Jair Messias Bolsonaro unterstützen und sich gegen die von Gouverneur*innen und Bürgermeister*innen verhängten Ausgangsbeschränkungen richten. Die Demonstrant*innen spielen dabei auf das Malariamedikament Hydroxychloroquin an, das möglicherweise eine therapeutische Wirkung gegen das SARS-CoV-2-Virus hat. Doch während an dem Medikament, das für seine heftigen Nebenwirkungen bekannt ist, noch geforscht wird, preist es der brasilianische Präsident als Wundermittel an (siehe S. 20). Damit ist er nicht der einzige, der kluge Ratschläge zur Heilung von Covid-19 parat hat: Héctor Aníbal Giménez zum Beispiel, Gründer der Kirche Cumbre Mundial de los Milagros und populärer evangelikaler Prediger in Argentinien, empfiehlt die Salbung mit Desinfektionsmitteln und Pflanzenölen, andere raten zu verschiedensten Teeaufgüssen und – natürlich – zum Gebet zur Stärkung der Abwehrkräfte.

Im evangelikalen Milieu ist die Skepsis an den Wissenschaften ebenso weit verbreitet wie Verschwörungstheorien, bis hin zum Glauben an die flache Erde. Das bestätigt auch eine gemeinsame Recherche von OjoPúblico, Agencia Pública und PopLab unter dem Namen „Poderes no santos“ (Unheilige Mächte) von Anfang Juni, die Reden und Aktionen von evangelikalen Organisationen und Personen untersucht hat. Ihre Nachforschungen zeigen, dass die Krise für fundamentalistische Evangelikale eine willkommene Gelegenheit bietet, die gesellschaftliche Ohnmacht und Unsicherheit für ihre Agenda zu instrumentalisieren.

Zu Beginn der Einschränkungen des öffentlichen Lebens missachteten evangelikale Gemeinden die entsprechenden Regelungen in mehreren lateinamerikanischen Ländern, darunter Chile, Peru und Kolumbien. Neben dem Seelenheil ihrer Anhänger*innen dürften sich einige Glaubensgemeinschaften auch wegen handfester ökonomischer Interessen dazu durchgerungen haben. Wenn sich Evangelikale ebenso wie Neoliberale in Zeiten der Pandemie auf die Freiheit berufen, dann bedeutet dies bei beiden die Freiheit, Superspreader-Ereignisse zu organisieren, sei es die Arbeit an Nähmaschinen in engen und stickigen Räumen oder eben Gottesdienste. Das Ausbleiben der Kollekten macht jedenfalls erfinderisch: Miguel Arrázola, ein rechter kolumbianischer Prediger, forderte die Mitglieder seiner Gemeinde auf, ihren Zehnten weiterhin zu entrichten, um vor dem Virus geschützt zu sein. In Peru können Gemeindemitglieder derweil für bescheidene Summen von umgerechnet bis zu 30 Euro Gottesdiensten per Zoom beiwohnen.

Gepredigt wird: Corona sei entweder eine Laborerfindung, um die Menschheit mit bei Impfungen implantierten Mikrochips gefügig zu machen, eine Strategie Satans höchstpersönlich – oder eben Gottes Strafe für vermeintliche Sünden der Menschheit wie die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und die Öffnung der Ehe für alle. Das kommt bei den Evangelikalen nicht von ungefähr: Seit Jahren polarisieren diese Themen weit über religiöse Kreise hinaus.

Das evangelikale Christentum hat in den vergangenen Jahren in Lateinamerika an gesellschaftlicher Bedeutung und politischem Einfluss gewonnen. Knapp ein Fünftel der Bevölkerung der gesamten Region bekennt sich mittlerweile zu einer der verschiedenen evangelikalen Strömungen. Dabei lassen sich nicht alle Prediger*innen und Gemeinden in gleichem Maße als religiös-konservative Hardliner beschreiben, nur sind es eben solche, die ihre Ideologie gerade jetzt wieder am lautesten verkünden – und gehört werden. Die Igreja Universal do Reino de Deus des brasilianischen Unternehmers Edir Macedo, der das Coronavirus als eine Strategie Satans bezeichnet, zählt mehrere tausend Kirchen im Land und hat nach eigenen Angaben über acht Millionen Gläubige. Wie auch andere evangelikale Prediger*innen unterstützte Macedo Brasiliens Präsidenten Jair Bolsonaro im Wahlkampf und hat mit der republikanischen Partei einen eigenen politischen Arm mit 30 Abgeordneten, die im Parlament mit Bolsonaro an einem Strang ziehen. Wie dramatisch es sich auswirken kann, auf Evangelikale zu hören und mit ihnen Politik zu machen, offenbart sich dieser Tage: 40.000 Menschen sind in Brasilien bis Mitte Juni an den Folgen von Coronavirus-Infektionen gestorben, inzwischen stirbt fast jede Minute ein*e Brasilianer*in an Covid-19. Angesprochen auf die hohen Todeszahlen durch Corona im April, sagte Bolsonaro: „Sou Messias, mas não faço milagres“ (Ich heiße Messias, aber ich kann keine Wunder bewirken). Auch das „Cloroquina“-Singen und die Gebete der Evangelikalen werden dieses Wunder für die brasilianische Bevölkerung nicht herbeiführen.

AUF SICH ALLEIN GESTELLT

Peky Rubín de Celis ist seit den 1990er-Jahren in der bolivianischen Provinz Tarija feministisch aktiv. Derzeit arbeitet sie als Direktorin von Equipo de Comunicación Alternativa con Mujeres (ECAM) in der gleichnamigen Provinzhauptstadt.  ECAM unterstützt Frauen in der Wahrnehmung ihrer Rechte, leistet politische Bildungs- und Aufklärungsarbeit und kämpft für die rechtliche und ökonomische Unabhängigkeit der Frauen.
(Foto: privat)


In Bolivien gibt es eine ziemlich strikte Ausgangssperre. Wie wirkt sie sich aus?

Wir haben derzeit nur einen Tag pro Woche, um rauszugehen, je nach Passnummer. Viele Bolivianer, darunter 70 Prozent der Frauen, haben keine feste Arbeit und arbeiten im informellen Sektor. Daher gibt es für viele aktuell keine Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen oder sich mit Nahrung zu versorgen.

Können Sie weiterhin in der Frauenrechtsorganisation ECAM aktiv sein?

Leider mussten wir aufgrund der aktuellen Situation unser Büro schließen. Jetzt stimmen wir uns mit der Stadtverwaltung ab, damit sie die Lebensmittelpakete an die bedürftigsten Familien verteilen kann.  Wir sammeln auch Hygieneartikel, Mundschutze, Handschuhe, Desinfektions- und Lebensmittel, insbesondere Milch für die Kinder. Durch unsere Arbeit wissen wir von den besonderen Notlagen.

Die Übergangsregierung unter Jeanine Añez hat Soforthilfen für Familien versprochen. Helfen diese Zuschüsse nicht?

Der bono familia ist ein einmaliger Zuschuss von 500 Bolivianos (ca. 65 Euro, Anm. d. Red.) pro Familie mit Schulkindern. Das löst keine Probleme. Außerdem müssen diese Zuschüsse und die staatlichen Renten in den Banken abgeholt werden. Das bedeutet, dass alte Menschen teils ab den frühen Morgenstunden anstehen müssen, um Geld für das Nötigste zu erhalten, wo man doch eigentlich zuhause bleiben sollte.

Dazu kommt die Kriminalisierung der Armen. Das Militär und die Polizei stehen bewaffnet auf den Straßen, als wäre Revolution. Wir befinden uns aber in einem sanitären Ausnahmezustand. Jeder, der trotz Ausgangssperre arbeitet oder dessen Passnummer ihn nicht zum Hinausgehen berechtigt, wird angehalten und muss eine Strafe von 1.000 Bolivianos bezahlen. Wer nicht zahlt, muss für acht Stunden ins Gefängnis.

Auch sind bei einer Demonstration gegen den Ausnahmezustand im östlichen Departement Beni mehrere Menschen festgenommen und wegen Aufruhrs angeklagt worden. Sie wurden auf dem Luftweg nach La Paz gebracht und befinden sich jetzt in Untersuchungshaft. Anstatt die Armut einer großen Mehrheit der Bevölkerung zu bekämpfen, kriminalisiert man sie und sperrt sie weg.

Abgesehen von den finanziellen Problemen, wie hat sich die Situation von Frauen und Kindern verändert?

Wir haben hier dieselbe Situation wie überall in Lateinamerika, wo es eine Quarantäne gibt. Die Realität, die nicht ignoriert werden kann, ist, dass Gewalt gegen Frauen im häuslichen Bereich stattfindet. Die Frauen sind jetzt 24 Stunden täglich mit ihren Männern eingesperrt und haben im schlimmsten Fall kaum zu essen. Diese angespannte Situation wird oft gewalttätig. Die Beschwerden wegen häuslicher Gewalt sind zwar zurückgegangen. Aber nicht, weil die tatsächliche Gewalt abnimmt, sondern weil es wenig Zugang zu Hilfsangeboten gibt. Hier in Tarija gibt es derzeit viele Frauen, die mich anrufen und um Rat für die Situation zuhause bitten und mir von den tätlichen Übergriffen ihrer Ehemänner berichten. Auch beklagen sie, dass die öffentlichen Hilfstelefone nicht besetzt sind.

Wieso funktionieren die öffentlichen Stellen nicht?

Sie haben viel Personal abgebaut. Auch kommt aktuell längst nicht jeder zur Arbeit. Für die wenigen Frauen, die Zugang zu einem Telefon haben und die sich trauen dort anzurufen, ist das sehr schlimm.

Seit Beginn der Quarantäne haben wir vier registrierte Fälle von Frauenmord in Bolivien. Im Jahr 2020 waren es bisher 30. Bolivien steht bei den Feminiziden in Südamerika damit an erster Stelle. Alle drei Tage wird eine Frau ermordet und alle vier Stunden wird in Bolivien eine Frau oder ein Mädchen vergewaltigt. Der Machismo ist auch bei den Behörden so ausgeprägt, dass die Betroffenen nicht selten von Richtern erneut zu Opfern gemacht werden. Das heißt, ihnen wird nicht geglaubt, oder sie werden für die ihnen widerfahrene Gewalt verantwortlich gemacht. Wir haben zwar eine polizeiliche Spezialeinheit zur Bekämpfung solcher Gewalt, die ist allerdings chronisch unterfinanziert. Die Leute dort sind kaum ausgebildet und es gibt keine Ausrüstung, oft nicht einmal zum Fotokopieren von Dokumenten.

Wie steht es um die Kapazitäten in den Krankenhäusern für schwangere Frauen oder für Abtreibungen?

In den Krankenhäusern werden nur noch Notfälle behandelt. Es gibt zudem viele Menschen, die durch den Mangel von Transportmitteln nicht dorthin gelangen können. Abtreibungen durchzuführen war zudem unter normalen Bedingungen schon sehr schwierig und ist nur in Ausnahmefällen, wie nach einer Vergewaltigung, erlaubt.

Was halten Sie von der Verschiebung der Wahl?

Die Verschiebung der Wahlen ist zweifellos richtig. Wir brauchen allerdings so bald wie möglich eine demokratische Regierung, die vom Volk gewählt wird. Auch sind wir sehr besorgt, welche Prioritäten die Übergangsregierung setzt. Präsidentin Añez hat zwar den Kampf gegen Feminizide ausgerufen, aber den evangelikalen Fundamentalisten Víctor Hugo als Bildungsminister eingesetzt. Während der Quarantäne wurden zudem internationale Flüge für reiche Bolivianer aus dem Ausland ermöglicht. Währenddessen wurden 800 bolivianische Saisonarbeiter und deren Familien im chilenischen Colchane nicht über die Grenze zurück ins Land gelassen und als Agenten der Bewegung zum Sozialismus (MAS) (siehe LN 547-550) bezeichnet. Auch hat die Übergangsregierung die Gehälter der Polizei erhöhen lassen und viel Geld in das Militär investiert.

Was müsste stattdessen getan werden?

P: Statt Polizei und Militär aufzurüsten, müssten medizinisch-soziale Brigaden aufgestellt werden. Wir brauchen Ärzte, die in die abgelegenen Gebiete gehen, um die Menschen zu untersuchen. Die Bedürftigen brauchen Medikamente. Daneben bestehen die Probleme des Dengue-Fiebers, der Gewalt und der Unterernährung weiter. Worte und Taten stimmen bei dieser Regierung nicht überein. Selbst die Ärzteschaft, die den Putsch unterstützt hat, kritisiert das und hat sogar mit Streiks gedroht.

 

„DER KÖRPER DER GESELLSCHAFT IST ANFÄLLIGER GEWORDEN“

Guillermo Martínez Pinillo bei der Arbeit (Foto: Instituto Natura)


Im Jahr 1991 war Chimbote eine der ersten Städte, die den Ausbruch der Choleraepidemie erlebte. Seither hat Ihre NGO Präventionsarbeit im Bereich der Gesundheitserziehung geleistet. Was ist heute, wo sich das Coronavirus verbreitet, anders?

1991 waren die Bedingungen andere als heute – sozial und politisch. Chimbote war eine viel besser organisierte Stadt, die Parteien und politischen Strömungen waren in den barrios präsent. Die Stadt befand sich im Wachstum, marginalisierte städtische Räume entstanden. Die Besiedlung verlief ungeplant, Bauern kauften Brachflächen oder Grundstücke und nutzten sie als Wohnraum. In diesem Prozess wurden Nachbarschaftsverbände organisiert, die um ihre städtischen Rechte kämpfen mussten, etwa um Nutzungsänderungen oder um die Einrichtung der Grundversorgung. Sie mussten die Besiedlung bestmöglich organisieren. Damals waren diese Verbände vorhanden und wurden von der Bevölkerung organisiert und gestärkt, heute existieren sie schlichtweg nicht mehr. Die Ansiedlungen, die pueblos jóvenes Chimbotes, haben es im Laufe der Zeit geschafft: Sie haben ihr Trinkwasser, die meisten verfügen über eine Kanalisation, sie sind prekär, aber sie existieren.

Heute haben wir die Räume und Bedingungen für die Organisation verloren. Es gibt weder eine dauerhafte Organisation in den Vierteln, noch gibt es Vertretungen, die durch den Willen der Bevölkerung der Gemeinden legitimiert sind. Das hat auch damit zu tun, dass der Staat diese Prozesse nicht gestärkt hat. Heute gibt es zwar ein Büro und eine Abteilung für Bürgerbeteiligung und die Gemeindeverwaltungen. Aber diese Räume für die Beteiligung der Gemeinde sind nicht genutzt worden.

Damals wurde die Ausbreitung der Cholera durch die massive Verschmutzung der peruanischen Küste begünstigt. Sehen Sie heute einen Zusammenhang zwischen den Umweltzerstörungen und der Ausbreitung von Covid-19?

Damals gab es in Chimbote günstige Voraussetzungen für eine Epidemie: die hohe Umweltverschmutzung, der Mangel an Grundversorgung, die Prekarität der Arbeit, das Fehlen von Gesundheits- und Bildungseinrichtungen und von staatlichen Dienstleistungen. Es ist eine Tatsache, dass das Immunsystem der Bevölkerung anfälliger ist, wenn der Körper gegen den Smog ankämpfen muss, gegen die Probleme im Zusammenhang mit Erkrankungen der Atemwege. Und ja, ich denke, dass aufgrund der Sorge um die Umwelt, also der Tatsache, dass wir nicht über eine gesunde Umwelt verfügten, der Körper nicht angemessen gegen die Cholera ankämpfen konnte. Das gilt auch für andere Krankheiten: Wenn ein Körper anfällig ist, ist es wahrscheinlicher, dass er sich infiziert und die Krankheit sich im Körper entwickelt.

Wenn wir von Körper sprechen, meinen wir den Körper einer Person, aber auch den Körper der Gesellschaft. Wenn der gesellschaftliche Körper in gleicher Weise anfällig ist, wird er auch leichter betroffen sein. In diesem Moment ist der Körper von Chimbotes Gesellschaft verwundbarer. Es stimmt, dass früher ein Großteil der Grundversorgung nicht existierte. Nun wurde dieser Mangel weitgehend aufgehoben. Doch damals gab es einen organsierteren, kompakteren, kohärenteren gesellschaftlichen Körper, der heute völlig zerstört daliegt. Wir müssen uns fragen, ob dieser ganze Prozess der Zerlegung der gesellschaftlichen Organisierung – ein Phänomen, das sich aus oder zusammen mit der Fujimori-Diktatur entwickelte – heute nicht auch eine Rolle spielt.

Seit die Regierung am 15. März den nationalen Notstand ausgerufen hat, ruht auch die Fischerei- und Stahlindustrie. Nun befürworten einige Institutionen die Wiederaufnahme der Fischereitätigkeit…

Ja, vor allem die Unternehmensgruppen tun sich schwer mit dem, was sie als „Verlust” bezeichnen. Es ist normal, einen Unternehmer sagen zu hören, dass er „Geld verliert”, wenn nicht gearbeitet wird. Das ist nicht gerade schlüssig, es ist doch eher so, dass sie keinen Profit verdienen.

In Peru wurden einige Tätigkeiten als essenziell eingestuft, nämlich diejenigen, die mit Transport, Nahrung, Gesundheit und deren Versorgung zu tun haben. Diese essenziellen Wirtschaftszweige, und auch einige andere, darunter die Textilindustrie wegen des Bedarfs an Sicherheitskleidung, laufen und produzieren weiter. Die handwerkliche Fischerei arbeitet weiter, denn es handelt sich um eine Versorgungstätigkeit. Bei anderen Wirtschaftszweigen ist dies nicht der Fall. Dennoch hat die Regierung im Bergbau einige Lockerungen erlassen und die Arbeit in den Bergbaugebieten zugelassen. Wir wissen mittlerweile, dass mindestens 70 bis 80 Bergarbeiter im Land infiziert sind.

Trotzdem besteht in der CONFIEP, dem größten Unternehmensverband des Landes, weiterhin ein Interesse daran, dass andere Wirtschaftstätigkeiten wieder anlaufen – eine davon ist die Fischerei (Stand  28. April 2020, Anm. der Redaktion).* Vor diesem Hintergrund hat sich die Nationale Fischereigesellschaft (SNP), die Teil der CONFIEP ist, dahingehend geäußert, dass es notwendig ist, auch die Aktivitäten der industriellen Fischerei wiederaufzunehmen.

Wie stehen Sie zu diesem Vorschlag?

Diese nicht essenziellen Tätigkeiten können erst wiederaufgenommen werden, wenn Protokolle für die Aufhebung der Quarantäne vorliegen. Auch dann dürfen sie ihre Tätigkeiten nur unter strengen und rigorosen Protokollen der Gesundheitskontrolle aufnehmen. Es muss gezielt getestet werden, die Unschädlichkeit der Lebensmittel muss gesichert werden. Es braucht außerdem zeitversetzte und variable Zeitpläne, um Menschenanhäufungen innerhalb und außerhalb der Fischereianlagen und während des Transportes zur Industrieanlage zu vermeiden. Das bedeutet, dass die Schiffe ebenso wie sämtliche Einrichtungen ordnungsgemäß desinfiziert werden müssen.

Vor Beginn der Pandemie war das Institut Teil eines Netzwerks gegen den Extraktivismus von Erdöl im Norden Perus. Wie wirkt sich der Ausnahmezustand auf Ihren überregionalen Aktivismus aus?

Das Jahr 2018 war der Beginn unseres verstärkten Aktivismus gegen die Erdöl-Aggression. Wir arbeiten an dem Thema bereits seit 2010/11, als das Interesse an der Ausbeutung der Ölvorkommen in den Küsten- und Meeresgebieten wieder zunahm. Seit 2018 sind wir kontinuierlich aktiv und widmen uns der Arbeit mit viel mehr Nachdruck und im Austausch mit den Küstengemeinden und den sie vertretenden Organisationen. Diejenigen aus der nördlichen Makro-Region, mit denen wir einige Treffen hatten, haben sich zu einem Zusammenschluss entwickelt, der über das Thema Öl hinausgeht. Es geht darum, Kritik und Lösungsvorschläge für das Problem des Extraktivismus in seiner Gesamtheit zu entwickeln. Das konnte nun nicht stattfinden.

Wieso kam der Prozess ins Stocken?

Der Organisationsprozess kam ab März aufgrund der Einschränkung der Bewegungsfreiheit zum Erliegen. Unsere Treffen müssen persönlich stattfinden, weil dort eine Vielzahl an Menschen in Anwesenheit diskutieren und debattieren müssen. Außerdem kommen die Vortragenden aus fünf verschiedenen Regionen des Landes: aus Tumbes, Piura, Lambayeque, La Libertad und Ancash. Es ist also, trotz der Vertrautheit der Beteiligten mit den digitalen Medien, nicht möglich, eine solche Debatte zu führen, die einige Besonderheiten aufweist. Obwohl das letztendliche Ziel mehr oder weniger klar ist – nämlich, dass es ein Moratorium gibt, dass es keine weiteren Lizenzen gibt – so gibt es doch ungeklärte Aspekte wie etwa die Frage nach den politischen Strategien. Konzepte für die Form des Zusammenschlusses müssen beispielsweise über Steuerungsinstrumente, wie vorherige Konsultationen, verfügen.

Die Strategie besteht darin zu erreichen, dass die Gemeinden als solche anerkannt und damit von der Konvention Nr. 169 der Internationalen Arbeitsorganisation zum Schutz der Rechte der indigenen Völker erfasst werden. Damit der Staat sie als solche anerkennt, müssen mehrere Ministerien durchlaufen werden, nicht nur das Ministerium für Energie und Bergbau, sondern auch das Ministerium für Kultur, für Bildung und das der gesellschaftlichen Inklusion. Es muss also vieles diskutiert werden, es ist ein langer Prozess und wir wollen einen kleinen Beitrag leisten.

*Basierend auf dem Ministerialerlass vom 7. Mai wurde der industrielle Fischfang von Sardellen ab dem 13. Mai zugelassen. Die industrielle Fischerei zählt damit zu einer der Sektoren der ersten Phase der Reaktivierung der Wirtschaft. Von Arbeitnehmer*innenverbänden wird bezweifelt, ob die sektoralen Gesundheitsprotokolle, insbesondere die darin vorgesehenen Abstandsregeln, in der Praxis einhaltbar sind.

KUBAS DROSTEN HEISST DURÁN

Öffentliches Leben lahmgelegt Die meisten Menschen folgen den Vorgaben der Behörden (Fotos: Andreas Knobloch)

Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie zerren nicht nur in Deutschland zunehmend an den Nerven. In Kubas zentraler Provinz Sancti Spíritus entfleuchten vor Kurzem sechs Personen aus einem Isolationszentrum für mutmaßliche Coronavirus-Fälle. Ein Arzt und eine Krankenschwester, die routinemäßig überprüften, ob einer der aufgenommenen Patienten Atemwegs-Symptome aufwies, stellten fest, dass sechs Betten leer waren. Nachdem sie andere Zimmer und Korridore der Einrichtung durchsucht hatten, benachrichtigten sie die Behörden, die sofort eingesetzt wurden, um die Flüchtigen zu fassen. In weniger als 24 Stunden wurden die Patienten in ihren Häusern gefunden und in das Isolationszentrum zurückgebracht. Die mutmaßlichen Verstöße gegen die Quarantäne sollen strafrechtlich verfolgt werden.

Als Hauptproblem gelten die langen Schlangen vor den Geschäften

Quarantäne-Verstöße sind die Ausnahme auf Kuba. Im Großen und Ganzen folgt die kubanische Bevölkerung den Vorgaben der Behörden. Das öffentliche Leben wurde seit den ersten bekannten Fällen Mitte März weitgehend lahmgelegt. Der Öffentliche Nahverkehr ist landesweit eingestellt; selbst private Taxis dürfen derzeit nicht fahren. Zudem schloss Kuba Anfang April seinen Luftraum. Es besteht keine obligatorische Ausgangssperre, die Menschen sind aber angehalten, zu Hause zu bleiben und Abstand zu halten. Als Hauptproblem bei der Ausbreitung des Virus gelten weiterhin die langen Schlangen vor den Geschäften. Darauf reagierte die Regierung in Havanna mit neuen Maßnahmen: Größere Einkaufszentren wurden geschlossen; Einzelhandelsgeschäfte verkaufen nur noch Lebensmittel und Hygieneprodukte, Restaurants dürfen nur noch Essen zum Mitnehmen oder per Lieferung nach Hause anbieten.

Eduardo Fabra aus dem Zentrum von Havanna hält das Vorgehen der Behörden bisher für richtig. Der 58-jährige Schreiner bietet in seiner Haustür selbst gedrechselte Lampen und Tischchen an. „Aber wer kauft denn jetzt noch Tische?“, fragt er resigniert. „Wir versuchen, irgendwie über die Runden zu kommen. In Kuba ist ständig Krise; wir überstehen auch die.“ Fabra, der sonst auch gern mal auf die Regierung schimpft, lobt den Präsidenten Miguel Díaz-Canel und dessen transparenten Regierungsstil: „Das ist anders als früher. Plötzlich sieht man die Minister im Fernsehen und jede Maßnahme wird erklärt. Man merkt, da weht ein anderer Wind.“

Tatsächlich geben diverse Minister oder auch der Präsident selbst dem Fernsehpublikum fast im Tagesrhythmus Auskunft über Entscheidungen der Regierung angesichts der Coronakrise. Zudem präsentiert jeden Morgen Chef-Virologe Dr. Francisco Durán García, der Christian Drosten Kubas, die neuesten Fallzahlen. Zuletzt stieg die Zahl der Covid-19-Erkrankten auf der Insel nur noch sehr moderat. Verglichen mit Deutschland sind die Fallzahlen gering. Bis zum 18. Mai wurden auf der Insel insgesamt 1.881 Personen positiv auf das neuartige Coronavirus getestet, 79 starben bisher an den Folgen des Virus, 1.505 gelten als genesen. Der Höhepunkt der Infektionen wurde Anfang Mai erreicht. Seitdem gehen die aktiven Fallzahlen zurück, bei im Schnitt zehn Neuansteckungen pro Tag.

„In Kuba ist ständig Krise – wir überstehen auch die“

Fabras Tochter arbeitet im Krankenhaus Calixto García in Havanna. Dort gebe es zum Teil Probleme mit Schutzkleidung, erzählt sie. Dies deckt sich mit Medienberichten. „Das größte epidemiologische Risiko besteht im Krankenhaus Calixto García“, schrieb das staatliche Online-Portal Cubadebate. Bis zum 24. April hatten sich 102 Mediziner*innen und Pflegepersonal mit dem Coronavirus angesteckt. „Wenn meine Tochter nach Hause kommt, zieht sie sich noch auf der Türschwelle aus, packt die Sachen in eine Plastiktüte und läuft direkt durch ins Bad“, erzählt Fabra. Von seiner Tochter weiß er, dass die Regierung frühzeitig ganze Krankenhäuser geräumt und für Covid-19-Patienten vorbereitet hat, um im Fall der Fälle über ausreichend Bettenkapazitäten zu verfügen. Darüber hinaus wurden Tausende Medizinstudenten aktiviert, die von Haustür zu Haustür gehen und dabei helfen, mögliche Infizierte zu finden. Vor allem allein lebende ältere Menschen werden regelmäßig aufgesucht. Auch bei Fabra komme praktisch jeden Tag jemand vorbei, erzählt er. „Meine Tochter hat mir gesagt, die Regierung ist gut vorbereitet und weiß, was sie tut.“

Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch der Kuba-Experte Bert Hoffmann vom GIGA (German Institute of Global and Area Studies). „Kubas Gesundheitssystem hat so viel Erfahrung mit Seuchen wie kein anderes in Lateinamerika.“ Er verweist auf den Einsatz kubanischer Ärzte in Westafrika während der Ebola-Krise. „Kubas Gesundheitssystem hat verschiedene Schwächen im Alltag. Das ist gar nicht mehr zu idealisieren und längst nicht mehr so gut, wie es mal war. Aber es ist flächendeckend sehr gut in der Versorgung.“ Aufgrund seiner politischen Struktur könne Kuba Einschränkungen des öffentlichen Lebens sehr viel direkter durchsetzen als das zum Beispiel in Deutschland gehe. „Kubas Gesundheitssystem ist sicherlich mit am besten in ganz Lateinamerika vorbereitet auf so eine Epidemie, wie wir sie jetzt erleben.“

Auch in der Krise bleibt Kuba seinen solidarischen Prinzipien treu. Während in Europa die Grenzen wieder dicht gemacht werden und jedes Land schaut, wie es selbst am besten durch die Coronakrise kommt, hat die Karibikinsel bereits mehr als 2.000 Ärzt*innen und medizinisches Personal in 22 Länder weltweit geschickt, um im Kampf gegen die Lungenkrankheit Covid-19 zu helfen. Mit Italien und Andorra helfen kubanische Ärzt*innen auch in zwei europäischen Staaten.

Kuba hat eine lange Tradition medizinischer und humanitärer Hilfe. Fidel Castro nannte die Ärzt*innen, die der Karibikstaat in alle Welt schickt, einmal die „Armee der weißen Kittel“. Seit 1963 waren Hunderttausende kubanische Mediziner*innen in 164 Ländern im Einsatz. Zurzeit leisten rund 30.000 Fachkräfte in 67 Ländern Hilfe. Darüber hinaus hat Kuba mehr als 35.000 Medizinstudent*innen aus 138 Ländern auf der Insel ein kostenloses Studium ermöglicht. Nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti 2010 oder während der Ebola-Krise 2014 in Westafrika waren kubanische Mediziner*innen mit als erste vor Ort. Sie sammelten so Erfahrungen, die auch in der aktuellen Krise helfen können.

Für Kubas Wirtschaft ist die Coronakrise dagegen fatal. „Der Tourismus wird in diesem Jahr komplett zusammenbrechen“, prognostiziert Hoffmann. „Er ist einer der ganz wenigen Wachstumsbereiche der kubanischen Wirtschaft. Dadurch wird es einen massiven Einbruch geben. Das wird das Land, das ohnehin in einer ganz tiefen Wirtschaftskrise steckt, sehr, sehr hart treffen.“ Der Großteil des kubanischen Privatsektors hängt direkt oder indirekt vom Tourismus ab. Taxibetriebe, Zimmervermietungen, Führungen, Restaurants – allen bricht das Geschäft weg.

Auch deutsche Reiseveranstalter auf Kuba bedroht die Corona-Krise in ihrer Existenz. „Die Situation trifft uns sehr hart“, sagt der Geschäftsführer eines deutschen Reiseveranstalters, der seit 1992 auf Kuba aktiv ist und anonym bleiben möchte. „Wir sind jetzt im Krisenmodus, das heißt, unsere Mitarbeiter hier in Kuba verdienen nichts mehr, weil kein Geld mehr da ist.“ Er geht davon aus, dass es in den kommenden sechs Monaten keine Buchungen geben werde. Allein die Stornierungskosten machten aber mehrere zehntausend Euro aus. Der kubanische Staat habe bisher unbürokratisch geholfen, sagt der Unternehmer. Löhne, Mieten, und Steuern würden für ein halbes Jahr ausgesetzt. „Das gibt uns den Hauch einer Chance zu überleben. Mehr oder weniger sind wir zahlungsunfähig. Wir versuchen zu retten, was zu retten ist.“ Die Devise der Stunde laute: „Irgendwie durchkommen.“ Das gilt wohl für das gesamte Land.

„WIR WERDEN HIERBLEIBEN UND KÄMPFEN“

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Narlis Guzmán Angulo

ist indigene Menschenrechts- und Umweltaktivistin aus La Sierra, das zur Gemeinde Chiriguaná im Departamento Cesar in Nordkolumbien gehört. In der Initiative „mujeres guerreras“ (Kämpferische Frauen) kämpft sie gegen die lokalen Steinkohletagebaue und Monokulturen

(Foto: privat)


Wann haben die Menschen in La Sierra die ersten Auswirkungen der Corona-Pandemie gespürt und welche waren es?
Am Anfang haben die Leute in meinem Gebiet dem Coronavirus nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt, weil sie dachten, es wäre nicht so bedrohlich. Aber als es auch in Kolumbien immer mehr Infizierte gab und über die Medien verbreitet wurde, wie gefährlich die Krankheit ist, fing auch mein kleines Dorf an, sich verrückt zu machen. Hier gibt es zwar keinen Coronafall, im gesamten Departamento Cesar sind es 35 Infizierte (Stand Mitte April, Anm. d. Red.). Das heißt aber nicht, dass wir nicht vom Coronavirus betroffen sind. Die Zufahrtswege zum Dorf sind gesperrt. Wir sind arbeitslos. Besonders die Leute, die von Tag zu Tag leben, haben kein Essen für ihre Kinder. Zusätzlich zur Pandemie haben wir nur Wasser, das sich nicht als Trinkwasser eignet und das Bindehautentzündungen und Hautentzündungen hervorruft. Wir sind Bauern und Bäuerinnen. Ein starker Wind hat jedoch unsere Ernte zerstört. Deswegen haben wir auch mit Nahrungsmittelmangel zu kämpfen.

Welchen Zusammenhang gibt es zwischen dem Bergbau und den Problemen, denen Sie sich ausgesetzt sehen?
Wir haben überhaupt keinen Nutzen davon, in einer Bergbauregion zu leben. Die Profite werden nicht verteilt. In unserem Landkreis leben wir in absoluter Armut. Es gibt nicht mal eine grundständige ärztliche Versorgung durch Gesundheitsstationen, kein Trinkwasser, kein Gas, wir leben im totalen Elend. Und solange wir nicht arbeiten können, wird das so bleiben. Die Bergbaufirmen haben sich nie für unsere Probleme interessiert, nicht mal jetzt, in diesen schwierigen Zeiten.

Wird in den Minen denn weitergearbeitet?
Die Arbeit in den Minen geht weiter, wenn auch nicht im gleichen Maße. Die Gemeinden, die noch näher an den Minen dran sind, haben versucht, die Busse aufzuhalten, die in die Minen fahren. Das hat zu vielen, auch handgreiflichen Konflikten geführt.

Die Minen im Departamento Cesar gehören Großkonzernen wie Drummond und Glencore. Wie reagieren die Bergbaufirmen auf die Probleme Ihrer Gemeinde?
Es hat die Firmen nie interessiert, die Probleme der Gemeinden anzugehen. Sie sagen, dass das neue Gesetz des Präsidenten ihnen erlaubt, weiter zu arbeiten. Das tun sie, aber ohne sich um die diversen Probleme zu kümmern, die die Gemeinde hat. Nicht einmal um die Probleme der Arbeiter*innen kümmern sie sich.

Wie sieht es mit der medizinischen Versorgung vor Ort aus?
Die medizinische Versorgung ist sehr schlecht. Wir hatten mal ein Krankenhaus, das durch die unverantwortliche Politik des Staates geschlossen wurde. Als wir dagegen Widerstand leisteten, hat die Bereitschaftspolizei einen community leader von uns bei einer Demonstration erschossen. Heute wird davon gesprochen, das Krankenhaus wieder aufzubauen, aber das ist noch nicht vollständig geschehen. Laut Auskunft des Bürgermeisters gibt es 20 Betten und eine Intensivstation. Aber das Krankenhaus ist nicht so gut ausgestattet wie vorher und es gibt nicht genügend medizinisches Fachpersonal. Um unsere Gesundheit ist es sehr schlecht bestellt. Wenn wir eine fachärztliche Behandlung brauchen, müssen wir in eine der großen Städte fahren, was schwierig ist und mindestens drei Stunden dauert.

Wie denken Sie, wird die Situation nun weitergehen?
Die Pandemie ist auf ihrem Höhepunkt. Um nicht zu verhungern, müssen die Menschen arbeiten und ihr Leben gefährden, damit ihre Familien nicht sterben. Aber viele Menschen werden sterben, denn schon heute haben viele kein Essen mehr für ihre Kinder. Da wir hier in La Sierra in einer Bergbauregion leben, dachten wir, dass wir zumindest ausreichende Hilfen erhalten würden, um diese Pandemie zu überstehen, aber wir erhalten lediglich 60.000 Pesos (ca. 14 Euro). Wie soll ich damit meine 11 Personen starke Familie ernähren? Die Situation ist sehr kompliziert.

Die latino-deutsche Organisation Red de Iniciativas Comunitarias (RICO e.V.) möchte in den vom Bergbau betroffenen Regionen langfristige Strukturen für die Post-Steinkohlezeit aufbauen. Ihre Gemeinde ist eine von denen, die RICO e.V. in der Coronakrise mit einer Spendenkampagne unterstützt. Um was für ein Projekt handelt es sich?
Wir haben nicht nur mit der Pandemie zu kämpfen, sondern wir haben auch Probleme mit der Wasserversorgung. Daher kam die Idee mit den Wasserfiltern: Durch die Spendenkampagne von RICO e.V. werden 200 manuelle Wasserfilter für unseren Ort finanziert. Diese Filter werden nicht für alle reichen, aber so können zumindest die schwächsten Mitglieder unserer Gemeinschaft die Situation überstehen.

Wie stellen Sie sich die Zukunft Ihres Dorfes ohne den Bergbau vor? Ist das überhaupt denkbar?
Ich und meine „mujeres guerreras“ würden uns wünschen, dass eine Zukunft ohne den Bergbau möglich ist. Wir würden gerne so leben, wie unsere Vorfahren, die ihre eigenen Nahrungsmittel anbauen und essen konnten – ohne dass wir davon krank werden oder wir oder unsere Umwelt sterben. Wir haben alle Gründe der Welt, uns zu wünschen, dass der Bergbau aufhört. La Sierra ist ein sehr kleines Dorf, aber es gibt sieben Fälle von genetischer Missbildung bei Kindern, die wir den Folgen des Bergbaus zuschreiben. Der Bergbau hat uns eine Vielzahl von Problemen beschert: Kinderprostitution, Drogenabhängigkeit, Arbeitslosigkeit, politische Korruption, Umweltverschmutzung, die Zerstörung des sozialen Gefüges, Vertriebene, Vermisste, Tote. Einen ruhigen Ort zurückzugewinnen, wie den friedlichen Ort, den wir hatten, wäre ein großes Privileg. Wir wissen, dass das schwierig ist, doch wir werden hierbleiben und weiter vor Ort dafür kämpfen.

“SIEMPRE VAMOS A ESTAR AQUÍ RESISTIENDO EN EL TERRITORIO”

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Narlis Guzmán Angulo

es activista ambiental y de derechos humanos del corregimiento La Sierra del municipio de Chriguaná en el departamento Cesar, Colombia. Es parte del colectivo “mujeres guerreras” que lucha contra las minerías de carbón a cielo abierto y contra el monocultivo de los terratenientes. (Foto: privat)


¿Cuándo empezaron a sentir los primeros efectos de la pandemia en su región, y cuáles fueron?
Al comienzo, la gente en mi territorio no le prestaba mucha atención. No lo tomaba en serio porque pensaban que era algún cuento, que no era tan complicado. Pero a medida que a Colombia le empezaron a llegar tantos casos de Coronavirus y que se empezó a difundir por todos los medios lo peligroso que es esa enfermedad, todo el mundo incluso mi pequeño pueblo empezó a emperiscarse. Se cerraron las vías de acceso al pueblo. Es una enfermedad que nos tiene muy preocupados. No tenemos ningún caso de coronavirus aquí y Cesar tiene 35 casos [dato de mediados de abril 2020, nota de la redacción]. Eso no quiere decir que no nos esté afectando la Pandemia. Un problema muy grande es que estamos desempleados. Hay gente que no tiene nada de dar de comer a sus hijos. A la pandemia también tenemos que sumarle que tenemos agua que no es apta para el consumo, que nos esta generando conjuntivitis y también infecciones en la piel. Por lo general, nosotros somos campesinos. Una fuerte brisa vino y nos destruyó nuestras parcelas y productos como plátanos o mafufo. Todo eso nos ha generado mucha carencia.

¿Qué relación tiene la minería con los problemas que están enfrentando ustedes en la crisis del Coronavirus?
Como pueblo del corredor minero no hemos tenido ninguna clase de beneficios. Sus regalías no son repartidas. Nosotros vivimos en una miseria absoluta. No hay ni siquiera un puesto de salud, no hay agua potable, no tenemos gas natural. Mientras que no tengamos fuente de empleo, la misera va a seguir estando. Las minerías nunca han estado al tanto de nuestras problemáticas, ni siquiera en estos momentos difíciles.

¿La gente en las minas sigue trabajando?
Los trabajadores en las minas están laburando, no de la misma manera, pero algunos siguen. Algunas comunidades más cercanas a las minas han intentado parar la entrada y la salida de los buses. Eso generó mucho conflicto en el territorio. No se paró el tránsito, pero se disminuyó.

Las minas en el departamento Cesar pertenecen a grandes empresas como Drummond o Glencore. ¿Cómo reaccionan las empresas mineras a esa crisis? ¿Qué dicen al respecto de los problemas de su pueblo?
A las empresas nunca les ha interesado enfrentar las problemáticas de las comunidades.  Dicen que el Estado, según la nueva ley, les permite laburar. Siguen laburando sin importarles las diferentes problemáticas que hay en la comunidad, ni siquiera las que se han generado en los empleados, ni en las de la población.

¿Cómo es la atención médica? ¿Hay personal médico suficiente?
La atención medica es muy mala. De La Sierra tenemos que ir a Chiriguaná para ser atendidos. Teníamos un hospital de tercer nivel, pero debido a la politiquería perdimos nuestro hospital. En la lucha, en nuestra defensa para proteger el hospital el ESMAD [Escuadrón Móvil Antidisturbios, nota de la redacción] fue asesinado un líder de nuestra comunidad. Hoy se dice que se está recuperando el hospital, pero todavía no, según el alcalde tiene acondicionadas 20 camas y un sitio para UCI [unidad de cuidados intensivos, nota de la redacción]. Pero en realidad, no tenemos esa cantidad de especialistas y médicos profesionales y tampoco tenemos el hospital tan bien dotado como antes. Nuestra salud es pésima. Si necesitamos ver a un especialista nos toca ir a cualquiera de las ciudades, lo que es muy complicado y nos cuesta tres horas o más.

¿Cómo imagina que va a seguir esta situación?
La cuarentena se extendió hasta el 12 de mayo. La pandemia está en su peor crisis. No se están dando a las comunidades las ayudas. Por lo menos nosotros que vivimos en un corredor minero pensamos que íbamos a tener la ayuda suficiente para subsistir esta pandemia, pero no, resulta que la ayuda alimentaria no cubre ni siquiera 60 mil pesos. En mi caso somos once personas, ¿qué podemos hacer con una ayuda de 60 mil pesos? Es muy difícil. La gente por no morirse de hambre va a querer trabajar, exponiendo su vida para no dejar morir a su familia. En nuestro territorio va a sifgnificar muchas muertes, incluso sólo por la miseria. Ya hoy, las familias no tienen nada de comer para sus hijos. Es muy complicada la situación.

La organización latino-alemana Red de Iniciativas Comunitarias (RICO e.V.) quiere establecer estructuras a largo plazo para el tiempo pos-carbón en las regiones colombianas que se ven afectadas por la minería. Su comuna es una de las que RICO e.V. ayuda con una campaña de recolección de fondos. ¿De qué tipo de proyecto se trata?
No solamente tenemos la problemática de la pandemia, sino también la del agua que nos genera infecciones y conjuntivitis. De ahí nace el proyecto de unos filtros manuales. A través del proyecto de RICO están recogiendo unos fondos para donarnos 200 filtros manuales para nuestra población. Sabemos que 200 filtros no alcanzan para todos pero por lo menos podemos solventar la situación de las personas más vulnerables.

¿Cómo imagina el futuro de su pueblo sin minería? ¿Sería posible?
A mí y a mis “mujeres guerreras” nos gustaría que fuera posible. Por naturaleza y por convicción somos completamente campesinos. Nos gustaría comernos nuestros productos sanos sin contaminación. Tenemos todos los motivos del mundo para que se cierre la minería. La Sierra es un pueblo muy pequeño, sin embargo, hemos tenido siete casos de malformaciones genéticas. Eso lo atribuimos a la minería. A nosotros nos gustaría vivir como vivían nuestros ancestros, cultivando sus productos y consumiendo lo que producen, que no nos genere ninguna enfermedad ni se mate a nadie, ni mucho menos mate a nuestro ambiente, lo que hoy vemos por causa de la minería. La minería que nos ha generado una cantidad de problemas: la prostitución infantil, la drogadicción, el desempleo, la corrupción política, el encarecimiento de la canasta familiar, las fuentes hídricas secas, las contaminación ambiental, desplazados, desaparecidos, muertos. Recuperar un espacio tranquilo, de paz, como el que teníamos sería un gran privilegio. Sabemos que está difícil, pero de igual manera nosotros siempre vamos a estar aquí resistiendo en el territorio. No se lo vamos a dejar muy fácil.

 

ROTE TÜCHER ALS ZEICHEN DES PROTESTS


Desinfektionsmittel hilft nicht gegen den Hunger Viele Menschen haben durch die Krise ihre Arbeit verloren (Foto: Liberman Arango)

Seit dem ersten bestätigten Coronafall am 6. März – inmitten der Debatte um den Wahlbetrug des Präsidenten Ivan Duques (siehe LN 550) – ist die Zahl der Infizierten in Kolumbien auf 14.939 (Stand 17.05.20) gestiegen – nach offiziellen Angaben sind 562 Menschen an Corona gestorben. Die Dunkelziffer der nicht erfassten Infektionen ist ungewiss, denn wie auch in anderen Ländern sind in Kolumbien die Testkapazitäten begrenzt.

Dabei handelte sich die Regierung vor allem in der Anfangszeit die Kritik ein, den Virus zu unterschätzen. So zögerten Präsident Duque und sein Gesundheitsminister Fernando Ruiz beispielsweise damit, die internationalen Flughäfen zu schließen.

Angesichts der Untätigkeit der Regierung gingen die Bürgermeister*innen landesweit in vielen Gemeinden mit eigenen Schutzmaßnahmen voran. Doch Präsident Duque zwang per Dekret die Lokalverwaltungen sogar zur Rücknahme der eingeleiteten Corona-Maßnahmen. Erst unter dem Druck der Öffentlichkeit machte die Regierung eine 180-Grad-Wende und verhängte ab dem 20. März für alle über 70-Jährigen eine Ausgangssperre, die vier Tage später auf die gesamte Bevölkerung ausgeweitet wurde. Seit dem 11. Mai gibt es einige Lockerungen der bis zum 25. Mai vorgesehenen allgemeinen Ausganssperre. Diese gilt nun nicht mehr für jene Landkreise, die keine neuen Fälle aufweisen. Dort kann das öffentliche Leben weitestgehend zur Normalität zurückkehren. Restaurants bleiben jedoch geschlossen und Veranstaltungen mit großen Gruppen sind auch dort weiterhin verboten.

Nachdem über viele Wochen von der strengen Ausgangssperre lediglich Menschen in systemrelevanten Berufen ausgenommen waren und alle anderen nur zum Einkaufen im nächstgelegenen Supermarkt oder zum Spaziergang mit dem Hund in der Nähe des eigenen Hauses auf die Straße durften, sind die Regeln nun auch in den noch betroffenen Landkreisen etwas gelockert. So dürfen alle Menschen über 6 Jahren jetzt dreimal die Woche für eine halbe Stunde draußen Sport machen und auch einige Wirtschaftszweige, vor allem Teile der Industrie und das Handwerk, aber auch Buchläden, dürfen wieder öffnen.

Duque will Reaktivierung der Wirtschaft auf Kosten der Gesundheit

Zuvor legten einige große Städte, in denen die Ansteckungsgefahr wegen der dichten Besiedlung besonders hoch ist, zeitweise sogar fest, dass jede*r das Haus nur noch an zwei bestimmten Wochentagen verlassen darf. In Bogotá führte Bürgermeisterin Claudia Lopez ein genderbasiertes System ein, bei dem Frauen und Männer an jeweils unterschiedlichen Tagen das Verlassen des Hauses erlaubt ist, was auf große Kritik aus der queeren und trans Community stieß.

Hauptstadtbürgermeisterin Lopez und Präsident Duque sind gegenüberstehende Protagonist*innen der Krise. Während Lopez öffentlich immer wieder die Aufrechterhaltung der Maßnahmen forderte, will Duque möglichst schnell den Weg für eine Reaktivierung der Wirtschaft einschlagen – laut seiner Kritiker*innen auf Kosten des Gesundheitsschutzes.

Das kolumbianische Gesundheitssystem ist eine öffentlich-private Mischform. Zwar garantiert die öffentliche Minimalversicherung laut Regierungsangaben 95% der Kolumbianer*innen Zugang zur ärztlichen Grundversorgung (laut BBC sind es nur 76%); für jegliche weitere Leistungen, die oft noch im Bereich des medizinisch Notwendigen liegen, sind jedoch private Zusatzversicherungen notwendig, die sich nur ein kleiner Teil der Bevölkerung leisten kann.

Auch die Anzahl der Intensivbetten mit 5349 bei knapp 50 Millionen Einwohner*innen (zum Vergleich: Deutschland verfügt über 31.500 Intensivbetten) ließ zunächst befürchten, dass das kolumbianische Gesundheitssystem schnell an seine Belastungsgrenze kommen würde, zumal sich die Intensivbetten im Wesentlichen auf einige wenige Regionen konzentrieren. In 4 Departamentos gibt es kein einziges. Arbeitende im Gesundheitswesen beklagen zudem den Mangel an Schutzmaterial, wie Handschuhen oder Masken, um sich während der Epidemie schützen und eine weitere Ausbreitung verhindern zu können.

Kurz vor der Ausgangssperre in Medellín Mittlerweile haben sich viele Kollektive zum Verteilen von Lebensmittelspenden gegründet (Foto: Liberman Arango)

Die landesweite Ausgangssperre brachte viele Kolumbianer*innen in existenzielle Probleme. Ein großer Teil der Menschen lebt vom informellen Sektor. Ob Straßenverkäufer*innen, Tagelöhner*innen, Selbstständige, Inhabende von kleinen Läden oder Sexarbeiter*innen sowie jene, die ihre Arbeit im Zuge der Krise verloren, brach die ökonomische Grundlage schlagartig weg. Haushalte, die sich nicht mehr selbst versorgen können, begannen damit, rote Tücher an ihre Fenster zu hängen, um so nach Hilfe in der Krise zu rufen. „Ich war traurig, als ich von der Arbeit kam, weil sie mir nur die Hälfte meines Lohnes gezahlt haben und nun muss ich entscheiden, ob ich die Miete oder das Essen für meine Familie bezahle“, erzählt Jorge, der als Kurier nach wie vor arbeiten muss, um Medikamente und Lebensmittel auszuliefern, ohne dabei von seiner Firma Masken oder Desinfektionsmittel zu erhalten. Auf einer seiner Lieferfahrten stieß Jorge auf eine Demonstration von Menschen mit roten Halstüchern, die herausschrien, dass sie Hunger haben. „An diesem Tag konnte ich nicht schlafen.“

Der Hunger ist in Kolumbien ein alter Virus. Die roten Tücher entwickelten sich neben dem Hilferuf auch zum Protestsymbol. Immer wieder kam es zu Straßenblockaden, die gewaltsam von der Polizei aufgelöst wurden. Besonders in den peripheren Regionen und jenen Vierteln der Städte, in denen es nicht einmal eine öffentliche Wasserversorgung gibt, spitzt sich die Situation mit jedem weiteren Tag der Quarantäne zu. Die staatlichen Hilfen sind ungenügend. Zwar gab es neben Aushilfskrediten für Unternehmen auch ein Verbot von Zwangsräumungen für die Zeit der Ausgangssperre, Essenslieferungen und zeitlich begrenzte Mehrwertsteuersenkungen für einkommensschwache Familien sowie regional auch Einmalzahlungen; doch die Umsetzung der Maßnahmen ist viel zu langsam. Sie wird unter anderem dadurch erschwert, dass viele Bedürftige in den staatlichen Systemen nicht erfasst sind.

Gefängnisaufstände werden brutal niedergeschlagen

Dazu droht Kolumbien durch den fallenden Ölpreis sowie eine abstürzende Währung eine Verschärfung der wirtschaftlichen Probleme. Durch seine extraktivistische Exportorientierung ist das Land außerdem in hohem Maße vom schwächelnden Weltmarkt abhängig.

Auch weitere gravierende Probleme bleiben in der Krise bestehen: So ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen Funktionäre in 8 Departamentos wegen der Veruntreuung der Corona-Hilfsgelder. Derweil investierte das Innenministerium mitten in der Krise in den Kauf von 5 gepanzerten Fahrzeugen für die Aufstandsbekämpfungseinheit ESMAD im Wert von 1,86 Millionen Euro. Ein Versuch, das sowieso schon ramponierte Image der für ihre Brutalität berüchtigten Einheit etwas aufzupolieren, war, die ESMAD-Einheiten in voller Ausrüstung Lebensmittelspenden verteilen zu lassen. Überhaupt scheint die Regierung auf Militarisierung zu setzen. Neben der Unterdrückung von Protesten wurde der „Krieg gegen den Virus“ ausgerufen, den paramilitärische Gruppen in vielen Teilen des Landes nun umsetzen, indem sie mit Androhung von Waffengewalt für die Einhaltung der Ausgangssperre sorgen.

In den überbelegten und unterversorgten Gefängnissen wiederum breitete sich wenige Tage nach Beginn der Ausgangssperre Panik aus. Im Hauptstadtgefängnis La Modelo reagierten die Sicherheitsbeamten mit einem Massaker auf einen Aufstand und brachten 23 Gefangene um, 83 wurden verletzt. Auch in weiteren Gefängnissen kam es zu Rebellionen, die allesamt niedergeschlagen wurden.

Die sozialen Bewegungen versuchen derweil autonom der Krise durch Solidarität etwas entgegen zu setzen. Mit Beginn der Ausgangssperre gründeten sich spontan viele Kollektive zum Sammeln und Verteilen von Lebensmittelspenden. Es entstanden freie Radioprogramme, die den Ausnahmezustand kritisieren, sowie ein breites selbstorganisiertes Bildungsangebot. So wurde die Forderung nach einem Bedingungslosen Grundeinkommen ebenso laut wie Kritik an der Verletzung des Arbeitsschutzes, dem unzureichenden Gesundheitssystem oder den Zuständen in den Gefängnissen. Es waren vor allem unabhängige Journalisten, die vom Hunger, dem Protest und der staatlichen Unterdrückung berichteten.

Als in Medellín aus dem Helikopter ein Konzert zur Unterhaltung der Menschen angekündigt wurde, waren die Proteste mit der Forderung nach echter Hilfe anstatt eines sündhaft teuren Konzerts so laut, dass das Konzert abgesagt wurde. Neue Formen des Protests brachte auch der erste Mai mit sich. Gewerkschaften riefen zur Kampagne „Demonstrieren wir im Netz“ (marchemos en la red) auf. Die Mitorganisatorin der Kampagne Araceli Cañaveral erklärt mit Blick auf den Anstieg der Ermordungen von sozialen Aktivist*innen im Monat der Quarantäne: „Hier kam alles zum Stillstand außer dem Paramilitarismus“. Die illegalen bewaffneten Gruppen bewegten sich sogar noch ungestörter in ihren Territorien. Im Cauca, Nariño, Antioquia und Norte de Santander wurden im Monat April 15 soziale Aktivist*innen sowie Ex-FARC-Kämpfende ermordet.

DROHENDER GENOZID IN AMAZONIEN

Schon vor Corona machte Davi Kopenawa auf den Genozid der Yanomami aufmerksam (Foto: Alain GiA via flickr.com, CC BY-NC-ND 2.0)

Die Corona-Pandemie bedroht weltweit die Gesundheit und das Leben Hunderttausender, wenn nicht von Millionen von Menschen. Da es sich bei dem SARS-CoV-2 um ein neuartiges Virus handelt, ist die Weltbevölkerung nicht immunologisch auf die Krankheit vorbereitet. Für die globalisierte Welt ist dies eine neue Gefahr, es lebt fast niemand mehr, die oder der sich an die letzte große Pandemie, die Spanische Grippe von 1918 bis 1920, bewusst erinnert.

Weder Herdenschutz noch immunologisches Gedächtnis

Im amazonischen Tiefland ist dies anders. Viele indigene Gemeinschaften erinnern sich noch gut an regionale Grippe- oder Masernepidemien. So sind zum Beispiel die Yanomami im äußersten Norden Brasiliens erst in den 1960er Jahren in Kontakt mit der brasilianischen Gesellschaft getreten. Carlo Zaquini, ein italienischer katholischer Missionar, der seitdem mit den Yanomami arbeitet, erinnerte sich gegenüber dem britischen Guardian an die Epidemien: „Es war wie ein Bulldozer in der Glasfabrik. Alles ging zu Bruch.“ An einem Masernausbruch in den 1960er Jahren sind nach Schätzungen etwa neun Prozent der gesamten Yanomami-Bevölkerung verstorben, in manchen Dörfern starben 50 Prozent der Bevölkerung. Unter den Yanomami ist Anfang April mit dem 15-jährigen Alvanei Xirixana auch der erste Todesfall durch die Lungenkrankheit Covid-19 im Amazonasgebiet registriert worden. Am 14. Mai meldete das Sondersekretariat für Indigene Gesundheit (SESAI) für den brasilianischen Teil des Amazonasgebiets „301 indigene Fälle in ländlichen Gebieten“ und 19 Todesfälle.

Während der Eroberung des amerikanischen Kontinents durch europäische Kolonisatoren rafften Masern-, Grippe- und Pocken-Epidemien einen großen Teil der indigenen Bevölkerung dahin. Aber es gab auch Erreger, die von Amerika nach Europa kamen und dort großen Schaden anrichteten. Der bekannteste Fall ist wohl die Syphilis, die sich im frühen 16. Jahrhundert in ganz Europa ausbreitete.

Nicht nur alte und kranke Menschen zählen zur Covid-19 Risikogruppe

Die jetzige Pandemie, so befürchten viele, könnte für Indigene im amazonischen Tiefland ähnlich katastrophale Folgen wie die Infektionen während der Kolonisation haben. Wie in einem Artikel im US-amerikanischen Wissenschaftsmagazin Science erläutert, sollten Indigene deshalb grundsätzlich, neben Älteren und Menschen mit Vorerkrankungen, zu den Risikogruppen gezählt werden. Dies hat verschiedene Gründe. Einerseits ist die Gesundheitssituation der indigenen Bevölkerung Südamerikas meist sehr schlecht. Krankheiten wie Dengue, Gelbfieber, Tuberkulose, Malaria und HIV sind weit verbreitet. Aufgrund der Armut und der damit verbundenen Ernährungssituation sind nach Schätzungen der UN etwa die Hälfte aller über 35-jährigen Indigenen an Diabetes Typ 2 erkrankt. Ein großer Teil der Indigenen ist also gesundheitlich vorbelastet und wäre schon aus diesem Grund bei einer Infizierung mit dem neuartigen Corona-Virus besonders gefährdet.

Zum anderen ist die Gesundheitsversorgung für Indigene in entlegenen Regionen unzureichend. In vielen Gebieten Amazoniens haben die Menschen kaum Zugang zu Krankenhäusern. Insbesondere in Brasilien hat sich die Gesundheitsversorgung durch die Politik des rechtsradikalen Präsidenten Jair Bolsonaro drastisch verschlechtert. Aus ideologischen Gründen verwies der Präsident im Jahr 2019 rund 8.000 kubanische Mediziner*innen des Landes. Diese hatten in einem Programm der Arbeiterpartei PT in besonders entlegenen und armen Regionen des Landes gearbeitet. Vor allem Indigene hatten von dieser Gesundheitsdienstleistung profitiert, die nun, wo sie am dringendsten benötigt wird, nicht mehr besteht.

Die Regierung Bolsonaro hat die mögliche Gesundheitsgefährdung der Indigenen noch auf andere Weise massiv verstärkt. In einem viel kritisierten Schritt wurde Anfang des Jahres Ricardo Lopes Dias zum Abteilungsleiter der Indigenenbehörde FUNAI berufen, die für in Isolation lebende Indigene zuständig ist. Der neue Chef war früher Missionar der New Tribes Mission. Die 1942 gegründete evangelikale Organisation versucht Indigene – auch solche in freiwilliger Isolation Lebende – zu kontaktieren und zu missionieren. In den 1980er Jahren war sie zum Beispiel im paraguayischen Chaco aktiv und hat mit Gewalt Indigene der Ayoreo Totobiegosode in Lager verschleppt, zu Arbeit gezwungen und evangelisiert. Es gab mehrere Tote aufgrund von eingeschleppten Krankheiten.

Während der Abwesenheit des Staates helfen die Indigenen sich selbst

Die Nachfolgeorganisation der New Tribes Mission, Ethnos 360 – die auch in Deutschland aktiv ist, missionierte zuletzt im Vale do Javari. In dem noch verhältnismäßig ungestörten Regenwaldgebiet in der Grenzregion zwischen Peru und Brasilien leben die meisten unkontaktierten Gruppen. Bislang hatte die FUNAI die Missionar*innen dort immer wieder ausgewiesen, damit sie dort keine Krankheiten verbreiten. Viele befürchten, Ricardo Lopes Dias könnte als neuer Zuständiger für isolierte Indigene bei der FUNAI seinen ehemaligen Missionarskolleg*innen freien Zugang in das entlegene Tal gewähren – und damit praktisch einen Genozid auslösen. Indigene Gemeinden, die bereits Kontakt zur brasilianischen Gesellschaft haben, aber sich als Beschützer der isolierten Indigenen begreifen, zogen vor Gericht. Angesichts der Gefahr durch Covid-19 verwiesen Gerichte Ethnos 360 aus dem Schutzgebiet. Ob die fanatischen Missionar*innen sich an die weltlichen Gesetze gebunden fühlen, ist jedoch fraglich.

Doch nicht nur Brasilien, auch andere südamerikanische Staaten lassen die Indigenen Amazoniens weitgehend im Stich. „Die Situation ist wirklich sehr schwierig. Das Militär versagt bei den Kontrollen der Boote und Transporter. Auch die schleppend anlaufende Belieferung der Gemeinden mit Nahrungsmitteln und medizinischen Materialien geht ohne Schutzvorkehrungen vonstatten“, sagt Lizardo Cauper, Präsident der Indigenen Vereinigung zur Entwicklung im peruanischen Regenwald (AIDESEP) in einer gemeinsamen Pressemitteilung des Dachverband Indigener des Amazonasbeckens (COICA), des Klima-Bündnisses und des Instituts für Ökologie und Aktions-Ethnologie. Der indigene Verband COICA hat deshalb 14 Forderungen an die Regierungen der Region geschickt, in denen unter anderem eine verbesserte Versorgung mit Gesundheitsdienstleistungen und Lebensmitteln für die indigene Bevölkerung in dieser Notsituation verlangt wird. Zudem müssten die Regierungen das weitere Eindringen von Bergbau-, Erdöl- und anderen nicht-indigenen Arbeiter*innen in die Schutzgebiete stoppen, um die Ausbreitung der Epidemie zu unterbinden.

Viele Gemeinden helfen sich in dieser Situation vor allem selbst. In Ecuador warnen stärker in die Nationalstaaten integrierte Indigene die isolierteren Gemeinschaften vor der Pandemie, über Crowdfunding werden Hilfsleistungen finanziert. Im Gebiet des Tapajós, im brasilianischen Teil des Amazonasbeckens, hat die Frauenorganisation der Munduruku die Informationen zum neuen Corona-Virus selbst übersetzt und über Radio und WhatsApp in den Dörfern verbreitet – eigentlich eine Aufgabe der Indigenenbehörde FUNAI. Die Munduruku haben sich – wie viele andere indigene Gruppen auch – eine Selbstisolation verordnet, um der Epidemie zu entgehen. Eines der größten Treffen indigener Gruppen Brasiliens, das Acampamento Terra Livre („Freies Land-Camp“, Anm. d. Red.), fand zwischen dem 27. und 29. April nur online statt. In dem Abschlussdokument der Veranstaltung werden Krankheiten als „die wichtigste biologische Waffe“ zur Vernichtung der indigenen Bevölkerung Brasiliens genannt und die aktuelle Regierungspolitik Jair Bolsonaros als „institutionalisierter Genozid“ bezeichnet. In 21 Punkten fordern die beiden Dachverbände Artikulation Indigener Völker Brasiliens (APIB) und Indigene Nationale Mobilisierung (MNI) darin unter anderem einen Ausbau der für die Bewältigung der Pandemie notwendigen Infrastruktur, einen verbesserten Zugang zu Schutzmaterial für alle Menschen in indigenen Gemeinschaften und die Rücknahme jüngster Erlasse der Regierung Bolsonaro, die die Invasion indigener Gebiete entkriminalisieren.

Regenwaldschutz bedeutete auch Pandemieschutz

Die Folgen der katastrophalen Amazonaspolitik der Regierung Bolsonaros werden durch die Pandemie noch verstärkt. Bergbau, land- und holzwirtschaftliche Nutzung, der Bau von Wasserkraftwerken – all dies will Bolsonaro in den Regenwaldgebieten Amazoniens erleichtern, um Wirtschaftswachstum und „Entwicklung“ zu bringen, die jedoch wenig Vorteile für die lokale Bevölkerung bietet. In verschiedenen Gesetzesinitiativen hat er die Schutzbestimmungen für indigene Schutzgebiete geschwächt oder aufgehoben. Holzhändler*innen und Garimpeiros – also Menschen, die mit einfachen Methoden Edelmetalle schürfen und fördern – strömen seitdem in die indigenen Gebiete, wo es immer häufiger zu Konflikten kommt. Dabei berufen sich die illegalen Eindringlinge darauf, dass Präsident Bolsonaro auf ihrer Seite stehe.

In den ersten drei Monaten dieses Jahres sind nach Angaben der brasilianischen Raumfahrtbehörde INPE um 51 Prozent mehr Waldflächen zerstört worden, als im ersten Trimester der Vorjahre. Aus Angst vor der Epidemie arbeiten auch staatliche Behörden, die die illegalen Rodungen unterbinden sollen, weniger intensiv – was die Arbeit von Kriminellen, die den Wald zerstören, enorm erleichtert. Dabei ist der Schutz indigener Gebiete die beste Garantie für den Erhalt des amazonischen Regenwaldes mit seiner wichtigen Rolle für das Weltklima, wie zahlreiche Studien belegen.

Hinzu kommt: Die Zerstörung von Regenwäldern bringt uns in Kontakt mit neuen Krankheitserregern. Das Corona-Virus ist höchstwahrscheinlich von Fledermäusen auf den Menschen übertragen worden. Einer Studie von 2008 zufolge sind 60 Prozent der neuen Krankheiten zwischen 1960 und 2004 von Tieren auf Menschen übertragen worden, zum Beispiel die Nipah-Krankheit in Südostasien und Ebola in Westafrika. Durch die Verkleinerung ihrer natürlichen Habitate geraten Wildtieren häufiger in Kontakt zu Menschen und übertragen so leichter Krankheitserreger – über Nutztiere, Moskitos oder direkt – auf den Menschen. Die nächste Pandemie könnte aus Amazonien kommen – als Folge der Zerstörung des Regenwaldes.

DAS VIRUS HAT ALLE PROBLEME VERSCHÄRFT

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Yuliana Ortiz Ruano, 27, lebt und arbeitet in Guayaquil. Sie ist Poetin, forscht und studiert im Bereich Kunst und Literatur und ist aktiv in verschiedenen afrofeministischen Organisationen. Sie gibt die Literaturzeitschrift Cráneo de Pangea heraus.
Foto: Ricardo Bohórquez Gilbert

Es gingen Bilder aus Guayaquil um die Welt, in denen die Leichen in den Straßen lagen. Wie kam es zu dieser Situation?
Es kamen sehr viele Dinge zusammen. Menschen hatten Angst, in die überfüllten Krankenhäuser zu gehen. Der Notruf funktionierte nicht, Bestattungsunternehmen kamen nicht, um Verstorbene abzuholen. Das war ein sehr fahrlässiger Umgang mit der Situation. Alles ist in den ersten Tagen kollabiert, es gab Familien, die Leichen zuhause hatten, die nicht abgeholt wurden, bis zu zwölf Tage dauerte dies. Es gab Menschen, die die Leichen heraus auf die Straße gelegt haben, weil sie Angst hatten, sich zu infizieren. Es wurde nicht rechtzeitig reagiert.

Das mit den Toten in den Straßen ist beschämend und schrecklich schmerzhaft. In Ecuador gibt es einen starken Bezug zum Tod, den damit verbundenen Ritualen des Abschieds. Durch unsere Schwarzen Vorfahren oder die indigene Kultur. Dass man sich nicht von seinen Familienangehörigen verabschieden kann und keine angemessene Beerdigung machen kann, ist ein schwerer Schlag für uns in Ecuador.

Warum ist das gerade in Guayaquil passiert?
Guayaquil ist eine sehr verarmte Stadt, es gibt sehr viele Menschen, die im Servicebereich und bei externen Dienstleister*innen arbeiten. Es gibt sehr viel, was auch normalerweise nicht innerhalb der Regeln abläuft. Der Philosoph Paul B. Preciado hat in einem Artikel geschrieben, dass das Virus all die Problematiken, die es schon vorher in einer Stadt gab, nochmal exponentiell ansteigen lässt. Guayaquil hatte schon viele Probleme. Es ist eine segregierte Stadt, die Armut ist überall sichtbar, es ist die Stadt, wo der Gegensatz von Zentrum und Peripherie am offensichtlichsten wird. Es gibt sehr viele wohnungslose Menschen in Guayaquil, sie schlafen im Zentrum auf der Straße, Menschen, die aus Venezuela gekommen sind, aber auch aus Guayaquil selbst, Sexarbeiter*innen oder Jugendliche, die Drogen konsumieren. Das Gesundheitssystem war schon vorher kollabiert. Das Virus hat all die Probleme verschärft, die schon vorher da waren.

Inwiefern zeigt sich die Problematik von Zentrum-Peripherie in Guayaquil besonders deutlich?
In Guayaquil kommen die meisten Migrant*innen vom Land in die Stadt. Aus der umliegenden Provinz Guayas, aber auch aus anderen Teilen Ecuadors. Aus den ärmeren Stadtteilen kommen viele, um in den Häusern der Wohnbezirke zu arbeiten, als Hausangestellte, Putzkräfte, Gärtner*innen, Chauffeure. Vor allem Frauen, Schwarze Frauen, Indigene, Cholas, angestellt von der weißen Bevölkerung. Bestimmte koloniale Relikte erhalten sich immer noch.

Es gibt massenweise Menschen, die im Service arbeiten oder als Straßenhändler*innen, die zu Fuß verkaufen. Sie haben keine Lebensversicherung und auch keine sonstigen Versicherungen. Sie leben von Tag zu Tag. Sie sind diejenigen, die am stärksten durch das Coronavirus betroffen sind. Es gibt Viertel, in denen es kein Wasser gibt, keine Kanalisation, keine asphaltierten Straßen und andere, die sogar Golfplätze haben. All dies kommt in der gleichen Stadt zusammen. Abgrundtiefe wirtschaftliche Unterschiede.

Wie schaffen es die Personen, die täglich ums Überleben kämpfen, nun mit der Krise umzugehen?
Dass fast 70 Prozent der Todesfälle in Ecuador in der Region Guayaquil vorkommen, liegt auch daran, wie die Stadt aufgebaut ist. Fast die ganze Arbeit befindet sich im Zentrum, alle müssen immer weite Wege zurücklegen, um zur Arbeit zu kommen. Der Nahverkehr ist total überfüllt, eine Virenschleuder. Jetzt gibt es eine strenge Quarantäne, aber viele Personen müssen trotzdem weiter verkaufen, weil sie sich ernähren müssen. Es ist verständlich, dass die Abstandsregelung manchmal nicht eingehalten wird. Für die informell arbeitenden Menschen gibt es keine Rettungspakete, die für entgangene Einnahmen aufkommen. Es gibt keine Unterstützung für die laufenden Kosten, die wir auch jetzt tragen müssen.

Das Krisenmanagement der Regierung wurde stark kritisiert. Warum?
Die Art und Weise, wie die Regierung die Epidemie managt, ist sehr unverantwortlich. Präsident Lenín Moreno hat den Ausnahmezustand über Twitter verkünden lassen. Und währenddessen gibt es Gerüchte, dass er auf Galapagos ist. Die Regierungspolitik ist höchst wirkungslos. Sie hat versagt, weil es keine Rettungspakete für Menschen gibt, die von Tag zu Tag überleben. Das, was die Regierung verbreitet, ist Angst und Repression.

Inwiefern?
Es herrscht Angst, seitdem über die „Patientin Nummer Null“ (eine Mitte Februar aus Spanien eingereiste Frau, die im März an Covid-19 verstarb, Anm.d.Red.) informiert wurde. Das war ein sehr schlechtes Informationsmanagement und alles, was die Regierung über ihre Medien kommuniziert hat, war ineffektiv. Die Leute sind massenweise in Läden gegangen, um Sachen zu kaufen. Mit den Preisen für Medizin und Masken wurde spekuliert, es gab unzählige Regelverstöße und die Regierung hat nicht reagiert.

Die Bürgermeisterin aus Guayaquil Cintia Viteri hat die Leute sich selbst überlassen. Es gab sogenannte Lebensmittelkörbe, in denen K-Chitos (eine Art Flips aus Mais Anm.d. Red.) waren – das sind Snacks. Dass die Stadt Snacks spendet, ist eine Beleidigung für die arme Bevölkerung.

Die Menschen, die nicht die Möglichkeit haben, zuhause zu bleiben, müssen unterstützt werden. Lebensmittelhilfen sollten mit den indigenen und kleinbäuerlichen Organisationen abgesprochen und der Anbau unterstützt werden. Die Menschen zu retten, ist überlebenswichtig. Geld muss in das Gesundheitssystem fließen. Damit alle ein Beatmungsgerät und Sauerstoff bekommen, die es brauchen.

Ecuador hatte doch den Ruf, soziale Fortschritte bei der Armutsbekämpfung in der Ära von Rafael Correa erreicht zu haben (Präsidentschaft 2007-2017). Geht mit der Coronakrise ein neuer Absturz einher?
Ecuador ist ein Land, das sich in der Phase des Correismo (Präsidentschaft von Rafael Correa, Anm.d.Red.) wirtschaftlich etwas erholt hatte. Bei all dem, was man gegen Correa sagen kann, gab es doch eine Veränderung in den Programmen der Politik. Alles, was bisher unter dem neuen Präsidenten Lenín Moreno geschieht, sind Rückschritte. Es haben wieder die Unternehmen und Banken Priorität. Über die Hälfte der Budgets für öffentliche Gesundheit und Bildung wurde gekürzt, Arbeit ausgelagert, es gab massenweise Entlassungen im öffentlichen Sektor. Vor diesem Panorama kommt Covid-19 und macht alles kaputt.

Gibt es angesichts der Untätigkeit der Regierung andere solidarische Initiativen, mit denen sich die Leute untereinander unterstützen?
Ja, zum Beispiel haben die Bewegungen der Kleinbauer*innen es möglich gemacht, dass man nun Obst auf der Straße kaufen kann, was vorher kaum möglich war. Sie kämpfen damit gegen die Spekulation mit Lebensmittelpreisen. Aber alle Hilfsprogramme kommen aus sozialen Organisationen. Es ist immer diese Art souveräner Politik, die uns letztendlich schützt.

EL VIRUS HA DISPARADO TODOS LOS PROBLEMAS

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Yuliana Ortiz Ruano, 27 años, es oriunda de Limones (Esmeraldas) y vive en Guayaquil. Escribe poesía y ensayos, se dedica a la investigación y estudia una licenciatura en artes y literatura. Yuliana colabora con varios grupos afrofeministas con luchas de mujeres que trabajan políticas de liberación. Es editora de la revista de poesía Cráneo de Pangea.


Foto: Ricardo Bohórquez Gilbert

Imágenes de Guayaquil en las que se vieron cadáveres en las calles dieron la vuelta al mundo. ¿Cómo se llegó a esa situación?
Tal vez la forma en que se visibilizó toda esta problemática fue la peor. Es escalofriante, pero sí es cierto. Las funerarias, el 911, los números de ayuda no funcionaban para que retiren los cuerpos de las familias en las casas. Era muy negligente, todo colapsó y hubo un montón de irregularidades, hubo personas que tenían cadáveres en su casa y no venían a retirarlos en los primeros días. Hubo gente que tuvo familiares hasta 12 días en su casa. Hubo gente que sacó cadáveres a las calles, porque tenía miedo. Nadie respondía a tiempo.

Lo de los muertos en las calles es una vergüenza y un dolor terrible. En Ecuador tenemos un vínculo fuerte con el tema de la cultura mortuoria, del despedir, por nuestros ancestros negros o la cultura indígena. Lo que está pasando ahora de no poder despedirte de tu familia, de no poder hacer un entierro acorde golpea muchísimo a las poblaciones del Ecuador.

¿Por qué pasó justo en Guayaquil?
Guayaquil es una ciudad bastante empobrecida, trabaja con terciarizaciones laborales, hay un montón de irregularidades en general. En un artículo, el filósofo Paul B. Preciado decía que el virus hace que todas las problemáticas que ya existían en una ciudad se acrecienten de una manera exponencial. Guayaquil tenía unas problemáticas de segregación, de empobrecimiento diariamente visibles. También es una de las ciudades donde más se puede ver el contraste entre centro y periferia. Hay muchísimas personas en situación de calle. En el centro se ve gente durmiendo en la calle, gente migrante de Venezuela, pero también de Guayaquil, trabajadoras sexuales y adolescentes consumiendo sustancias. El sistema de salud ya estaba colapsado. El virus ha disparado todos los problemas que ya existían.

¿En qué aspecto se muestra de manera particular el contraste entre centro y periferia en Guayaquil?
Guayaquil es una de las ciudades donde llega la mayoría de las personas migrantes del campo a la ciudad. De distintas zonas del campo de la provincia Guayas, y de otras partes del Ecuador. Todos los días se movilizan un montón de personas a los barrios residenciales y ciudades cerradas, a trabajar en casas, en jardinería, como choferes, limpiando y en el sector doméstico. Sobre todo, mujeres, mujeres negras, indígenas, cholas. Se siguen replicando ciertos vestigios coloniales, gente blanca mestiza empleando trabajadoras domésticas.

Un montón de gente tiene trabajo en servicio o trabaja como vendedores ambulantes en la calle, vendiendo a pie. No tienen un seguro de vida, no tienen un seguro de nada. Viven del día a día, son ellos los que han sido más golpeados por el Covid-19. Existen personas que viven en barrios que no tienen agua ni baño con tubería, ni calles asfaltadas, ningún tipo de servicio básico para la vida. Y hay otros lugares que tienen hasta campo de golf. Todo confluye en la misma ciudad. Son unas brechas económicas abismales.

¿De qué manera pueden manejar la crisis aquellas personas que luchan diariamente por su vida?
Que el 70 por ciento de los fallecidos por COVID-19 en el Ecuador sean de Guayaquil también es por las características mismas con las que se consolida la ciudad. Casi todo el trabajo está en el centro, siempre las personas tienen que movilizarse un montón, el transporte público tiene unas problemáticas fuertes de hacinamiento. Todo eso hace que se genere este vehículo viral. Trabajando en el comercio, implica movilizarse, moverse y abrir las tiendas.

Ahora seguimos en cuarentena, pero hay muchas personas que abren, tienen que vender, porque tienen que alimentarse. Es entendible que a veces no se respete la política de distanciamiento. No hay ninguna política  para salvaguardar la economía de las personas que trabajan de esta manera y no hay ningún tipo de ayuda para los gastos que ahora tenemos que cubrir de la misma manera.

El manejo de la crisis por parte del gobierno ha sido muy criticado. ¿Por qué?
La forma en que el gobierno ha manejado la pandemia ha sido bastante irresponsable, hay una falta de liderazgo y de políticas frente a ésta. Cynthia Viteri, la alcaldesa de Guayaquil, ha dejado la gente a mansalva, el 911 no funciona. Es una cadena de cosas terribles, que con el virus se ha acrecentado.

El presidente Lenin Moreno ha pronunciado el estado de emergencia a través de su Twitter. Se rumora que está en Galápagos – mientras se decretó el estado de emergencia, la cuarentena, el presidente se va a Galápagos. Hay una incoherencia que no sorprende. Las políticas del gobierno son sumamente inoperantes. Ha fracasado porque no hay políticas de salvaguarda, lo que hace es propagar el miedo y la represión.

¿En qué aspecto?
Ya hay un miedo desde la manera que se informó sobre la paciente cero (una mujer que a mediados de febrero llega de España y en marzo muere a raíz del Covid-19, nota de la redacción). Todas las formas La gente se acumuló en lugares a comprar cosas, mascarillas, medicinas, se especuló con los precios de éstas, y empezaron a pasar un sin número de irregularidades y el gobierno no hizo nada para enfrentar esto.

Las ayudas siempre son inoperantes, la alcaldía de Guayaquil donó un montón de ‘canastas’, y dentro de estas canastas había cachitos – snacks. Que el municipio done snacks es un insulto a la gente empobrecida.

Hay que salvaguardar primero a las personas que no tienen posibilidad de quedarse en la casa, generar un tipo de ayuda de alimentos que se negocie con los campesinos, los movimientos indígenas que cultivan, una política de expansión de alimentos. Salvaguardar las personas es vital. Por lo menos que se asegure la alimentación. Invirtiendo el dinero en la salud, que no se especule con los precios de oxígeno para la gente enferma. Los espacios de lo público y privado al servicio de la gente.

Ecuador tenía fama de haber alcanzado un progreso social en el combate de la pobreza durante le gestión de Rafael Correa (Presidencia 2007-2017). ¿Viene un nuevo desplome junto a la crisis del coronavirus?
Ecuador es un país que había levantado la economía un poco en el Correismo. Con todo lo que se puede decir en contra de Correa, sí, se vieron cambios en las políticas públicas. Lo que pasó con el nuevo presidente Lenin Moreno fue un retroceso total. Se dio prioridad a las empresas y a los bancos: antecedentes de caída económica. Se cortó más de la mitad del presupuesto para la salud y la educación pública, se generó más trabajo tercerizado, hubo despidos masivos de trabajadores públicos y frente a este panorama viene el Covid-19 a arruinarlo todo.

Frente a la inacción del gobierno, ¿hay otras iniciativas solidarias con las que las personas se apoyen mutuamente
Se pueden vender frutas en la calle gracias a los movimientos campesinos que están tratando de luchar contra la especulación de alimentos, pero todas las políticas de ayuda vienen de la organización social. Son las políticas soberanas, que son siempre las que nos salvaguardan.

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