Alle zusammen gegen den Faschismus

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Illustration: Powerpaola

„Danke für so viel Schönheit im Kampf gegen die Grausamkeit.“ Hundertfach wurde dieser Satz geflüstert, als die Menschen nach einer spontanen, aber massiven Mobilisierung auf die Plaza del Congreso strömten.

Den Funken zum Entfachen des Widerstandes hatte die LGBT-Community selbst gezündet. Aus der Saat einer wenige Tage zuvor einberufenen antifaschistischen Versammlung, die im gesamten Land und weltweit Widerhall fand, erwuchs das farbenfrohe Spektakel. Noch lässt sich nicht sagen, ob dieser Tag einen Wendepunkt markiert, aber tausende vom Sommertag aufgeheizte Körper haben deutlich gemacht: Basta! Es reicht!

Angeführt von travestis, trans, schwulen, nicht binären und lesbischen Personen setzte sich der schillernde Demozug um vier Uhr nachmittags in Bewegung. Unter den Teilnehmenden ist Flor, 14 Jahre alt. „Ich war noch nie auf einer Demo, aber nach der Rede des Präsidenten habe ich mir gedacht: Es reicht! Und bin gekommen“, sagt sie mit Blick auf das breite Frontbanner der Demonstration. Es ist ein Banner, das von geballten Fäusten von ungefähr 50 trans und lesbischen Personen, deren Fingernägel rot und schwarz lackiert sind, gehalten wird. „Orgullo antifascista y antirracista“ prangt auf dem prächtigen Tuch, das am Tag zuvor bemalt worden ist. Es ist ein Beben verschiedener Bewegungen, die sich im Kampf vereinen, um, wie Flor zu sagen: „Es reicht!“


“Meine erste Demo”

„Es ist überlebenswichtig den Antifaschismus in der Gesellschaft zu verankern“, sagt Violeta Alegra, trans Aktivistin und DJ. „Wir haben auf die harte Tour gelernt, dass das, trotz der Fortschritte in Menschen- und Bürgerrechten, bisher nicht der Fall war. Dieser Faschismus ist nicht der von Mussolini, er hat sich durch Technologie und soziale Medien neu erfunden.“ Sie klettert auf den Truck, der direkt hinter dem Frontblock fährt. Über der Musik und dem Voguing, einem Tanz aus der Ballroom-Szene, ertönt der Spruch: „Einheit aller maricas, wem das nicht passt, ist ein Faschist!“

Ein rosa Plüschbanner ziert die Front des Wagens der Columna Mostri. Unter dem Motto: „Das Leben ist in Gefahr“ hatte sich dieser Block zur letztjährigen 8.-März-Demonstration formiert. Eine Woche vor der Demonstration hatte die Columna Mostri bereits hunderte Personen zu einer Versammlung im Park Lezama mobilisiert. „Wir sind antifaschistisch, wir sind alle degeneriert, wir sind antirassistisch, wir verteidigen das Leben gegen das faschistische Projekt“, singen sie. Dahinter reihen sich queere und feministische Organisationen, Gewerkschaften, Peronistinnen und Linke ein. Alle oppositionellen politischen Strömungen sind auf dieser Demonstration vertreten.


Ein Fest für alle – ohne Polizei

Unterstützung für die Demonstration kam aus ungeahnter Richtung: Das Erzbistum der Stadt Buenos Aires setzte sich dafür ein, dass die Kathedrale während der Demonstration nicht abgeriegelt wird. Der Richter Ramos Padilla erließ aus eigenem Antrieb präventiv einen habeas corpus, damit die Sicherheitskräfte weder Personen noch Fahrzeuge festsetzen konnten. Wo sozialer Protest sonst von den repressiven Sicherheitsprotokollen von Ministerin Patricia Bullrich in Tränengas erstickt wird, glichen die gesperrten Straßen rund um die Avenida de Mayo einem Fest, überschäumend vom LGTBIQNB+ Pride.

Die Sängerinnen Lali Epósito und Maria Becerra wurden auf einem Balkon begeistert begrüßt. Beide haben sich entschlossen gegen Milei ausgesprochen und wurden von ihm deshalb persönlich angegriffen. In Reaktion darauf veröffentlichte Lali das Lied „Fanático“. Auch die Madres de Plaza de Mayo wurden mit ohrenbetäubenden Rufen empfangen: „Madres de la Plaza, die Travestis umarmen euch.“

Die Hoffnung, dass sich der Demonstration ein breiter Sektor der Gesellschaft anschließen würde, wie zu der „Marcha Universitaria“ gegen die harten Kürzungen an Universitäten 2024 oder der Demonstration „2×1“ unter der Regierung von Mauricio Macri, hat sich erfüllt. „Es gibt Dinge, über die wird nicht verhandelt“, sagt eine Frau, einen Fotoapparat in der einen Hand, in der anderen einen Gehstock. Sie schwitzt in der Nachmittagshitze. „Ich bin in Rente, mein 13-jähriger Enkel ist schwul. Ich werde nicht zulassen, dass diese Regierung macht, was sie will.“

Der Antifaschismus auf der Straße

Als der Zug auf die Plaza de Mayo einbiegt, wartet eine Schlange von Journalistinnen auf den Moment für das perfekte Foto. Mit warmem Applaus heißen Kinder und Frauen Travestis willkommen. Diejenigen in der Gruppe, die über 40 sind, haben ihre durchschnittliche Lebenserwartung bereits überschritten. Wirft eher neue Fragen auf.

„Das Interessanteste an dieser Mobilisierung ist, dass der Fokus auf einer Debatte liegt, in der es um eine Politik der tiefgreifenden Humanisierung vielfältiger Existenzformen geht“, sagt Lucia Portos, Staatssekretärin des Ministeriums für Gender und Diversität der Provinz Buenos Aires. Für sie ist es ein Bekenntnis zur Solidarität und zu Netzwerken, die den Institutionalismus herausfordern. „Es geht um Community und die Entlarvung derjenigen, die die Grausamkeit als Werkzeug benutzen“, erklärt sie. „Ich denke, dass die heutige Demonstration einen Wendepunkt darstellt, der dazu führen sollte, dass wir die Logik der demokratischen Repräsentation hinterfragen. Die von den breiten Protestbewegungen gesetzten Prioritäten sollten übernommen werden, um eine Mehrheit zu bilden, die der Gewalt wirksam Einhalt gebieten kann.“ Ebenfalls im Block der Provinz Buenos Aires nahm der peronistische Gouverneur Axel Kicillof an der Demonstration teil.

„Ich bin total glücklich über diesen gemeinsamen politischen Akt voller Zärtlichkeit und Entschlossenheit“, sagt Marta Dillom, Aktivistin, Lesbe und Feministin, am Rande des Frontblocks: „Wir haben gesagt, nein, Milei, wir sind nicht bereit, deine Politik der Auslöschung zu tolerieren. Du kommst nicht durch mit deinem Faschismus!“

„Von unserem antirassistischen Blickpunkt aus möchten wir mit dieser Demonstration die Kürzungen im Bereich der öffentlichen Politik und Reparationsmaßnahmen gegenüber unseren Communities anprangern. Durch den strukturellen und institutionellen Rassismus in Argentinien sind diese historisch marginalisiert und besonders verletzlich“, sagt Alejandra Pretel, Mitglied von afroslgbtiq+ und Mitgründerin von Afrocolectiva, die als Gruppen ebenfalls Teil der antifaschistischen Versammlung sind. „Eine antifaschistische Haltung ist zwangsläufig antirassistisch. Der Kampf gegen den Faschismus lässt sich nicht trennen von rassistischen Annahmen von Überlegenheit und der Verfolgung von Körpern, die außerhalb der Grenzen der nationalen Identität verortet werden“, sagt sie im Gespräch mit página/12.

Manuel Sinde ist Mitbegründer von El Teje, einer Organisation, die trans und nicht binäre Kinder, Jugendliche, Erwachsene und ihre Familien begleitet. Sinde zufolge markiert die Demonstration ein Vorher und Nachher, ist zugleich Antwort und Begegnung. „Mit El Teje begleite ich seit mehr als zwei Jahren trans und nicht binäre Kinder und Jugendliche, die sehr verängstigt und traurig sind. Wir müssen nicht nur eine Antwort auf den Faschismus finden, sondern auch diese Identitäten begleiten. Damit sie wissen, dass wir da sind, um uns um sie zu kümmern und dass wir keinen einzigen Schritt zurückweichen.“

„Besonders gefährlich ist, dass sich die Botschaft des Präsidenten im Land und in der Welt verbreitet“, sagt Yokarta, Sexarbeiterin, die mit der Sexarbeiter*innengewerkschaft AMMAR (siehe LN 576) läuft. „Das befeuert die Gewalt und Polizeiwillkür in den Vierteln, in denen wir arbeiten“, erzählt sie. „Wenn der Präsident sagt, dass wir gefährlich sind, wird die Polizei das als Einladung zur Repression sehen. Sei es, weil ich Sexarbeiterin bin, Migrantin oder trans.“

Die Demonstration vereinte nicht nur einen breiten Querschnitt der Gesellschaft, sondern auch ihre Themen: von spezifischen Problemen der LGBT-Community, bis hin zu den Armutsrenten (siehe LN 608). „Es ist fundamental wichtig, gegen die Aushöhlung der Gesundheitspolitik zu kämpfen, um das Recht auf Abtreibung etwa, umfassende Gesundheitsversorgung für LGBT-Personen, Zugang zu HIV- und Hormontherapie“, sagt Cesar Bisutti, Anwalt, Anti-Gefängnis-Aktivist und Angestellter der Abteilung für Geschlechtergleichstellung des Gesundheitsminis­teriums der Provinz Buenos Aires. „Diese Demonstration war wirklich notwendig. Denn die Diskurse von Milei sind nicht nur Worte, sondern Nekropolitiken, die bestimmte Körper als unterwünscht markieren und auslöschen wollen und daraus auch noch ein Spektakel machen.“

„Dieser Tag war ein deutliches Warnsignal an die Regierung. Über diese entschlossene Opposition können wir uns freuen“ sagt die Sängerin Liliana Herrero, bevor sie den Plaza de Mayo erreicht.
Ein Tag der Schönheit wider der Grausamkeit – vom Flüstern zur Party, die geschminkte Haut in der Sonne und fern der Wolken aus Tränengas, die ein ums andere Mal soziale Proteste einhüllen. Ein Aufbäumen gegen die libertäre Ultrarechte in der Welt. Am Tag danach ist die Erleichterung ebenso spürbar wie das Feuer, das wieder entfacht ist.


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RÜCKKEHR NACH VORNE?

“Glücklich wird der Tag sein, an dem keine fehlt” Feministische Demonstration in Montevideo am 25. November 2024 (Foto: Santiago Ares)

Es war der bisherige Höhepunkt: Die feministische Großdemonstration zum 8. März brachte 2016 über 300.000 Frauen auf die Straßen von Montevideo. Die Mobilisierung reichte bis in sonst verschlafene Orte im Landesinneren. Seitdem hat die feministische Bewegung zu ungekannter Stärke gefunden.  Eine der Gruppen, die zu Mobilisierungen am 8. März aufrufen, ist die Coordinadora de Feminismos (feministische Koordination). Sie geht zurück auf die Vernetzung feministischer Gruppen, eine davon war Las Decidoras (Die Entscheiderinnen). Las Decidoras wurde Ende der 1990er Jahre von Aktivistinnen aus verschiedenen linken Organisationen gegründet. Mitstreiterin María Delia Cúneo erinnert sich: „Wir haben uns zunächst viel mit Autonomie beschäftigt, denn die parteipolitischen Strukturen waren – auch wenn sie sich zur revolutionären Linken zählten – absolut patriarchal geprägt. Dort wurden Frauen ebenso unterdrückt wie in staatlichen Strukturen, Institutionen oder anderen Parteien.“

Ausgehend von der Lektüre feministischer Texte und den eigenen Erfahrungen als Frauen, hat die Gruppe mit Straßenperformances als „kollektive Anklage“ eine in Uruguay bis dato kaum genutzte Protestform etabliert. „Wir wollten auf Themen, die uns wichtig waren, im öffentlichen Raum aufmerksam machen und Zustände anprangern, aber mit unseren Körpern, nicht nur mit Worten.“

Zur breiteren Vernetzung mit feministischen Gruppen aber kam es erst anlässlich eines Treffens Ende 2015. „Dort kamen alle Feminismen zusammen: Akademikerinnen, aus NGOs, aus Institutionen, andere, die nirgendwo organisiert waren, und wir“, erzählt Cúneo. Auf diesem Treffen nahm, mit dem Aufruf zur Demonstration am 8. März 2016, die neue Stärke der feministischen Bewegung ihren Anfang. Feminizide wurden zu einem zentralen Thema der Koordination: „Jedes Mal, wenn eine Frau von einem Mann ermordet wurde, sind wir zu einer Alerta Feminista auf die Straße gegangen“, so Cúneo. Bis heute seien sie immer bereit, eine Alerta zu organisieren. Zur Demonstration zum 25. November vergangenen Jahres, anlässlich des Internationalen Tages zur Beseitigung von Gewalt an Frauen, rief die Coordinadora unter dem Motto „Von Abya Yala bis Palästina, feministischer Widerstand“ auf.

Zu neuen, progressiven Regierung äußert sich Cúneo zurückhaltend. „Wenn wir in fünf Jahren rechter Hetze etwas gelernt haben, dann, dass wir von der Politik konkrete Lösungen für konkrete Probleme fordern müssen. Beispielsweise treffen Gesetzesnovellen wie die Verschärfung des Strafmaßes für geringfügigen Drogenhandel Frauen im besonderen Ausmaß.“ Denn dies führe dazu, dass Frauen, die inhaftierten Angehörigen kleine Mengen von Drogen zukommen lassen, ihrerseits ins Gefängnis kommen. Das sei auch dramatisch für deren Kinder, die dann in die Obhut des INAU (Instituto del Niño y del Adolescente del Uruguay, Uruguayisches Kinder- und Jugendinstitut) oder irgendeines Angehörigen kämen.

„Auch wenn der Ausgangspunkt der Unterdrückung und der Gewalt im System selbst liegt, die Probleme der Frauen sind real“, macht Cúneo deutlich. Es brauche politische Maßnahmen, um die Konsequenzen dieser vom Staat selbst verursachten Probleme zu beheben, wiedergutzumachen oder zu lindern. „Dabei spreche ich von Frauen, die Opfer von Gewalt, sexueller Ausbeutung, und Missbrauch geworden sind, von Kindern und Jugendlichen, die vergewaltigt worden sind und in perversen Institutionen wie dem INAU untergebracht, wo sie wiederum Gewalt und Missbrauch erleiden. Ich spreche von der Notwendigkeit, Zentren zu schaffen, die Frauen mit Suchtproblematik helfen und solchen, die auf der Straße leben.“ All dies sei, so Cúneo, Ergebnis eines patriarchalen Systems, welches sich durch solche Maßnahmen nicht abschaffen lassen würde. „Aber es bleibt notwendig, im Konkreten Lösungen zu verlangen, und gleichzeitig an einem anderen Paradigma zu arbeiten, aus dem Feminismus heraus und aus uns selbst.“ 

“Keine der staatliche Maßnahmen können den Weg zur Emanzipation für die Frauen in Uruguay eröffnen”

Auch ohne größere Hoffnungen in die neue Regierung zu setzen, sieht Cúneo die Möglichkeit, wenigstens diese politischen Maßnahmen einzufordern. Wenn auch in dem Bewusstsein „dass keine dieser staatlichen Maßnahmen den Weg zur Emanzipation für die Frauen in Uruguay eröffnen kann.“ Diese könne nur durch „den eigenen Kampf“ erreicht werden.

Einen Schlussstrich unter das Thema der Verschwundenen und der Menschenrechtsverletzungen der bis dato letzten zivil-militärischen Diktatur ziehen: Das war Ziel der Kommission für den Frieden, die Präsident Jorge Batlle von der liberalen Partido Colorado (Bunte Partei) im Jahr 2000 einberief. In Reaktion darauf gründete eine Gruppe ehemaliger politischer Gefangener, Angehöriger und Aktivist*innen das Plenaria Memoria y Justicia (Plenum für Erinnerung und Gerechtigkeit). „Wir waren der Überzeugung, dass dieses Thema nicht abgeschlossen ist, es keinen Schlussstrich gibt“, sagt Nieves Cancela, die seitdem dort aktiv ist.

Das Plenum organisiert Escraches (Mobilisierungen vor den Häusern von Verbrechern der Militärdiktatur, Anm. d. Aut.) und versucht, die Erinnerung wachzuhalten: „Wir brauchen eine aktive Erinnerung, die wir für unsere aktuellen Kämpfe nutzen können, ohne die Forderung nach Gerechtigkeit aufzugeben.“ Ein Problem sei, dass die Repression in ein Gestern und Heute eingeteilt werde. Dabei handele es sich um die gleiche Straflosigkeit, die sich heutzutage nur in einer anderen Form als in der Diktatur ausdrückte. In den Gefängnissen foltere der Staat weiter und es gäbe weiterhin Personen, überwiegend junge Frauen, die verschwänden. Manche tauchten wieder auf, von anderen höre man nie wieder. „Das sind die Opfer von Menschenhandel und Sexkauf.“

Dass der Kampf um die Erinnerung von großer Aktualität bleibt, zeigen erschütternde Aussagen von Lucía Topolansky, Ex-Vizepräsidentin und Frau von Ex-Präsident José Pepe Mujica: Sie versicherte Ende 2024, dass sie Aktivisten kenne, die vor der Justiz gelogen hätten, damit Ex-Militärs in Prozessen um Menschenrechtsverbrechen verurteilt werden. Diese Aussage wurde von Mujica bestätigt. Auf Seiten von Menschenrechtsorganisationen stießen die Äußerungen auf großes Unverständnis und Ablehnung.

„Es gibt aberhunderte Aussagen von Genossen, die gefoltert worden sind, es gibt hunderte Verschwundene und Ermordete“ sagt Cancela, und dennoch werde Zweifel gesät. „Sowohl Topolansky als auch Mujica haben gesagt, dass sie keine alten Menschen im Gefängnis sehen wollen. Damit meinen sie Militärs und Zivilisten, die wegen Verbrechen in der Diktatur inhaftiert sind.“ Der Fall hat eine zwielichtige Vorgeschichte: Ex-General Guido Manini Ríos, Parteivorsitzender der rechtspopulistischen Partei Cabildo Abierto, hatte Pepe Mujica auf seinem berühmten Hof besucht. Dort schlug er Mujica vor, dass ältere, gefangene Ex-Militärs freigelassen werden. Einen Monat nach dem Besuch wurden dann die Äußerungen von Topolansky öffentlich bekannt.

Wenige Erwartungen an die neue Regierung

Nieves hat wenige Erwartungen an die neue Regierung, die am 1. März antritt. Auch in früheren Regierungsbeteiligungen der Frente Amplio hätte es Repression und keine Fortschritte auf der Suche nach Wahrheit, Erinnerung und Gerechtigkeit gegeben. Nieves kritisiert, dass es keine klare Äußerung zum Genozid in Gaza gegeben habe. „Es wird sicherlich Unterschiede geben zur Regierung Lacalle, aber ob das einen bedeutsamen Fortschritt beim Thema Menschenrechte bedeutet, bleibt abzuwarten“, schließt sie.

Seit einigen Jahren erhält das Thema der Erinnerung wieder mehr Aufmerksamkeit. Ein Beispiel ist der große Marsch der Stille, der von Müttern und Angehörigen von Verschwundenen Gefangenen veranstaltet wurde. Jedes Jahr am 20. Mai versammeln sich zu dieser Gelegenheit über 30.000 Personen in Montevideo, darunter immer mehr jüngere Menschen. Auch in Orten im Landesinneren gibt es ähnliche Gedenkveranstaltungen.

Auch die Umweltbewegung ist zuletzt stark gewachsen. Ihr Kampf dreht sich vor allem um Trinkwasser, die wichtigste natürliche Ressource Uruguays. Die ist bedroht: Nach einer langen Dürre im Jahr 2023 fielen die Trinkwasserreservoirs, die die Metropolregionen von Montevideo, Canelones und San José versorgen, fast vollständig trocken. Dort lebt mehr als die Hälfte der Einwohnenden des Landes. Die Regierung mischte daraufhin das Trinkwasser mit dem des Río de la Plata, obwohl das dort entnommene Wasser ungenießbar und für den menschlichen Verbrauch nicht geeignet ist. Wer es sich leisten konnte, stieg auf abgefülltes Wasser um. 

Auch eine der wichtigsten Wasserquellen des Landes, der Río Santa Lucía, ist bedroht durch das Agrobusiness und Agrargifte, die für Monokulturen, von beispielsweise gentechnisch verändertem Soja oder der Forstwirtschaft, genutzt werden. „Dadurch kommt es zu Verschmutzung mit Blaualgen, wie momentan an der Küste, aber auch in wichtigen Stauseen zur Trinkwasserbereitung“, sagt Marcos Umpiérrez, Dozent der Kunstfakultät und Mitglied der Asamblea por el Agua del Río Santa Lucía (Versammlung für das Wasser des Río Santa Lucía). Sie haben bereits verschiedene Demonstrationen zur Verteidigung das Wassers organisiert. Das regionale Modell eines Agrobusiness, welches auf großen Monokulturen von Soja und Forstwirtschaft basiert, setze auf die Ausbeutung von Gemeingütern wie Wasser und Territorien.  Dies führe weiterhin, so Umpiérrez, zu einer Verklappung giftiger Agrochemikalien in die Wasserläufe und ruhende Gewässer und in der Folge zur giftigen Blaualgenblüte.

Hinzu kommt der Trend zum grünen Wasserstoff, in Europa und vor allem in Deutschland. Um Wasserstoff zu erzeugen, werden die wasserführenden Schichten angezapft, um möglichst reines Wasser zu entnehmen. „Grün“ wird der Wasserstoff vor allem genannt, da zu seiner Produktion erneuerbare Energien vorgesehen sind. Deshalb ist auch die Errichtung großer Felder mit Solarzellen geplant. Der Wasserstoff soll schließlich Methanol erzeugen und als Treibstoff nach Europa exportiert werden. „Das Problem daran ist“, erklärt Umpiérrez, „dass sie Süßwasser aus unseren Territorien verwenden, weil es für sie viel günstiger ist. Wahrscheinlich wird ihnen für das Wasser nichts berechnet, wie etwa UPM, die für das Wasser zur Zellstoffproduktion nichts bezahlen müssen.“ Das finnische Zellstoffunternehmen, war für mehrere Leckagen von toxischen Produkten verantwortlich. So gelangten etwa tausend Kubikmeter Natriumhydroxid in einen Zufluss des Río Negro.

Auch das sogenannte Proyecto Neptuno (Neptun-Projekt) versetzt die Umweltbewegungen in Alarmbereitschaft. „Sie wollen bei Arazatí im Departamento San José Wasser aus dem Río de la Plata entnehmen, um es in die Metropolregion Montevideo zu leiten“ berichtet Umpiérrez. Er betont, dass der Río de la Plata nicht nur einer der verschmutztesten Flüsse der Welt ist, sondern dass das Projekt auch unglaublich teuer ist. „Es heißt, dass es 300 Millionen Dollar kostet, aber im Endeffekt wird die uruguayische Bevölkerung bis zu 900 Millionen Doller zahlen müssen.“ Er bezeichnet das Projekt zudem als verfassungswidrig: Es verstoße gegen Artikel 47 der Verfassung, der besagt, dass die Trinkwasserversorgung Angelegenheit des Staates und der Zivilgesellschaft ist.

Zudem wird vor Buenos Aires ein Abwassersystem gebaut, welches die Abwässer der argentinischen Hauptstadtregion praktisch direkt in Richtung Arazatí leitet. „Das Wasser wird also von extrem schlechter Qualität sein. Außerdem lassen sich so nur 25 Prozent des Wassers gewinnen, das nötig ist, um die Metropolregion zu versorgen“, warnt Marcos. Die OSE (Obras Sanitarias del Estado, öffentliche Firma, die das Monopol der Trinkwassererzeugung hat, d. Red.) sei völlig unterfinanziert und verliere zudem über die Hälfte des von ihnen produzierten Trinkwassers. Und dennoch: „Die Entscheidung fällt zugunsten dieses Projekts, anstatt die strukturellen Probleme der Trinkwasserversorgung zu lösen. Dafür wären etwa 400 Millionen Dollar nötig.“

Angesichts des Regierungswechsels hofft Marcos, dass der Artikel 47 der Verfassung respektiert wird. Doch weder in den Jahren der Regierung der Frente Amplio noch unter der rechten Koalitionsregierung wurde anerkannt, dass Wasser ein fundamentales Menschenrecht ist und der Umgang mit diesen Gemeingütern in Abstimmung mit der Zivilgesellschaft reguliert werden soll. „Wir hoffen, dass die neue Regierung der Frente Amplio die Verfassung respektiert und den Kollektiven und der Wissenschaft zuhört. Sie sollen das Wasser verteidigen, aber wir wissen, dass dies nicht geschehen wird.“ Danach sieht es jedoch nicht aus: Bei Redaktionsschluss wurde bekannt, dass die noch bis 1. März amtierende Regierung von Luis Lacalle Pou den Vertag zum Bau des Proyecto Neptuno unterschreiben hat.


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Jeden Mittwoch am Kongress

Fotos: Alix Arnold

Im ersten Jahr der Regierung Milei haben Rentner*innen in Argentinien laut dem Internationalen Währungsfonds (IWF) mehr als ein Drittel ihrer Kaufkraft verloren. Gegen eine vom Parlament beschlossene Rentenreform, die einen Inflationsausgleich vorsah, legte Milei im August sein Veto ein. Dies war der Anlass für mehrere Demonstrationen von Rentner*innen, die von Polizei und Gendarmerie mit brutaler Gewalt angegriffen wurden.

Der nächste Schlag folgte Anfang Dezember. Die Gratismedikamente, die bisher allen Rentner*innen mit geringem Einkommen zustanden, bekommen nun nur noch diejenigen, deren Einkommen unterhalb der Mindestrente liegt. Sie müssen dafür komplizierte Anträge stellen, die für viele kaum zu bewältigen sind. Die Mindestrente beträgt knapp 300.000 Pesos, etwa 300 Euro, bei einem ähnlichen Preisniveau wie in Deutschland. Die Rentner*innen, die sich jeden Mittwoch am Kongress versammeln, mobilisierten deshalb am 4. Dezember zunächst zum PAMI, der Sozialbehörde, die für die medizinische Versorgung der Rentner*innen zuständig ist. Bei der Kundgebung, die von schwarz gekleideten Robocops auf dem Bürgersteig zusammengedrängt wurde, berichteten Betroffene über die grausamen Auswirkungen der neuen Regel: Sie müssen auf dringend benötigte Medikamente verzichten. Aufgrund dieser Dramatik kam es am nächsten Tag in Córdoba zu einer Verzweiflungstat. Ein Rentner überschüttete sich im PAMI-Büro mit Benzin und versuchte, sich anzuzünden.

In Buenos Aires machten sich die Rentner*innen nach der Kundgebung auf den Weg zum Kongress. Sie kamen durch, trotz vielfacher Behinderung durch die Robocops. Die Sympathie der Bevölkerung ist eindeutig auf ihrer Seite. Anfeuernde Rufe, solidarisches Hupen, Applaus von Angestellten der Cafés und Geschäfte, vorbeifahrende Müllarbeiter grüßten mit erhobener Faust. Die Rentner*innen antworteten mit der guten alten Parole von der Einheit der Arbeiter*innen.

“Die Rentner*innen zu beklauen, ist ein gesellschaftliches Verbrechen” Protest in Buenos Aires vs Robocop-Polizisten (Foto: Alix Arnold)

Bei den Mittwochsaktionen kommen verschiedene Gruppierungen zusammen, die über Parteien, Gewerkschaften oder Stadtteile organisiert sind. Eine der Aktivisten sind die Jubilados/as Insurgentes. Sie betonen ihre Unabhängigkeit von Parteien und Gewerkschaften. „Aufständisch ist ein Synonym für revolutionär“, sagt Ruben Cocurullo, der seit den Anfängen 2017 dabei ist. Eine Handvoll Rentner*innen machte damals die eigene Situation zum politischen Thema. Mit Flugblättern gingen sie jeden Montag zum PAMI, um dort mit den Rentner*innen zu reden. Da sich der landesweite Runde Tisch der Rentner*innen schon seit Jahrzehnten mittwochs am Kongress traf, gingen sie ebenfalls dort hin. Als ihre Gruppe auf 15 Personen angewachsen war, gaben sie sich den Namen Jubilados/as Insurgentes, „aufständische Rentner*innen“.

Die Pandemie war ein Rückschlag für die Organisierung, aber in der Gruppe gab es Leute mit Computerkenntnissen, und so begannen sie sich virtuell per Meet zu treffen. „Wir alle mussten Dinge lernen, von denen wir nichts wussten“, erzählt Ruben. „Aber wir sind auch bald wieder auf die Straße gegangen und zum Kongress.“ Dort schlug eines Tages jemand vor, eine Runde um den Kongress zu drehen, so wie die Madres, die Mütter der Verschwundenen, jede Woche die Pyramide auf der Plaza de Mayo umrunden. Ruben erinnert sich: „Manche fanden das verrückt, denn wir waren nur wenige, 20 oder 25. Aber wir hatten schon unsere selbstgemalte Fahne mit dem Namen und Schilder mit Forderungen. Wir haben es versucht, und es lief gut. Beim nächsten Mal sind wir nach der Runde auf der Straße geblieben und haben sie an der Ampel mit unseren Bannern blockiert. Bei jeder dieser Aktivitäten haben sich uns ein oder zwei Leute angeschlossen.“

Mit der Regierungsübernahme von Milei im Dezember 2023 verschärfte sich die Situation. Demonstrationen wurden zur Straftat erklärt, falls sie den Verkehr beeinträchtigen. Ab Anfang 2024 gab es heftige Auseinandersetzungen um das „Omnibus-Gesetz“, ein Gesetzespaket, mit dem sich Milei weitere Vollmachten sichern wollte (siehe LN 597). Die Jubilados/as Insurgenteswaren mit ihrem Banner für die Journalist*innen ein interessantes Motiv. Ruben berichtet von einer Demo im Februar: „Alle wollten uns fotografieren, da waren mindestens 50 Journalist*innen, die waren mehr als wir. Das wurde live im Fernsehen übertragen. Also sagte die Regierung der Polizei, sie solle die Presse vertreiben. Die sollte nicht mehr filmen, wie sie uns mit ihren Schilden gestoßen und mit Knüppeln geschlagen haben. Ich habe Tränengas abbekommen, eine compañera mit Asthma musste medizinisch versorgt werden. Mit diesen Bildern sind wir berühmt geworden! Darum geht es uns ja nicht, aber danach bekamen wir viele Mails, Leute wollten bei uns mitmachen. Unserem Facebookaccount folgten Mitte Februar schon 400 Leute, doppelt so viele wie Anfang Januar. Wenn sie uns einfach hätten demonstrieren lassen, wäre das nicht passiert.“

“Mit diesem Bildern sind wir berühmt geworden!”

Raúl Roverano kommt zu unserem Gespräch dazu. Er hat eine compañera begleitet, die aus Caleta Olivia im Süden stammt und wegen der Behandlung eines Krebsleidens in Buenos Aires ist. Raúl berichtet von ihrem Kampf gegen die Bürokratie des PAMI, um die Genehmigung der Operation und der Medikamente für die Chemotherapie durchzusetzen. Erst nachdem sie bis zum Chef der Behörde durchgedrungen waren, bekamen sie das Rezept. Raúl kritisiert die teils absurden Verfahren und das ganze System: „Die Rentenbehörden PAMI und ANSES müssten von den Rentner*innen und Arbeiter*innen verwaltet werden, nicht vom Staat, der das Geld für andere Dinge rauszieht.“ Die Medikamente seien schließlich nicht gratis, sondern von ihren Beiträgen bezahlt. Sie fordern, dass das PAMI die Bilanzen offenlegt. Die im Netz zugänglichen Daten seien nicht aktuell.

Auch Raúl gehört zu den ersten Mitgliedern der „Aufständischen“. Er fragt sich, warum sie mittwochs nur etwa 200 sind: „Bei all der Wut sollten wir dort mit Tausenden stehen!“ Aber er hat Verständnis für die Rentner*innen, denen es gesundheitlich und finanziell schlechter geht, und die es nicht auf die Straße schaffen. Raúl und Ruben arbeiten beide als Rentner noch weiter. Raúl war Ingenieur in der Atomindustrie. Ruben hat sich als Metallfacharbeiter nach zehn Fabrikjahren selbständig gemacht, er bekommt nur die Mindestrente. Er hat noch genügend Aufträge, um mit seiner Frau über die Runden zu kommen, aber sie müssen sich sehr einschränken. Kleidung kaufen oder die Kinder zu sich zum Essen einladen ist nicht mehr drin. Eine gemeinsame Forderung der Rentenproteste ist die Erhöhung der Mindestrente auf den Wert des Warenkorbes für einen älteren Erwachsenen. Das wäre fast eine Million Pesos, das Dreifache der jetzigen Mindestrente.

Das Demonstrieren ist schwierig geworden unter Milei. Viele haben im letzten Jahr Verletzungen davongetragen, und auch die vielen willkürlichen Festnahmen sollen einschüchtern. Im Juni 2024 wurden nach einer Demonstration gegen das „Omnibus-Gesetz“ 33 Menschen mit dem absurden Vorwurf des Terrorismus inhaftiert. Danach fanden deutlich weniger Demonstrationen statt.

Die Rentner*innen versuchen jeden Mittwoch, ein Stück Straße zurückzuerobern. Nach der Runde um den Kongress bleiben sie noch eine Zeitlang auf der Kreuzung, bewegen sich langsam von einer roten Ampel zur anderen, und blockieren damit wenigstens ein bisschen den Verkehr. Am 20. Dezember, dem Jahrestag des Aufstands von 2001, mit dem Argentinien damals ein Hoffnungsort der Linken wurde (siehe LN 335), gibt es eine Kundgebung auf der Plaza de Mayo. Das kleine Grüppchen der Aufständischen trifft sich auf der Avenida de Mayo und schafft es, fast einen Kilometer lang auf der Straße zu demonstrieren, bevor sie kurz vor dem Platz brutal auf den Bürgersteig abgedrängt werden.

Nur ein kleiner Landgewinn, aber er macht anderen Mut.

Ruben erzählt, dass sein Vater in den 1930er-Jahren aus Italien nach Argentinien kam, auf der Flucht vor dem Faschismus. Dass sie nun in Argentinien wieder gegen den Faschismus kämpfen müssen, macht ihn traurig und wütend. Aber die Rentner*innen von heute haben in jungen Jahren starke Klassenkämpfe und die Diktatur von 1976 bis 1983 erlebt. Von daher ist Ruben optimistisch: „Wir haben schon anderes gesehen. Wir lassen uns auch von dieser Diktatur nicht einschüchtern.“


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„Del Monte verletzt die Rechte der Bribri“

Vor der Botschaft von Costa Rica In Berlin protestiert CODIAW gegen Ananasplantagen (Foto: Paul Scheytt)

In kurzen Worten – wer sind die Bribri?

Lesner: Die Bribri sind die ursprünglichen Bewohner*innen des heutigen Costa Rica. Unsere Kosmogonie (Theorie zur Entstehung der Welt, Anm. d. Red.) sagt uns, dass unser Ursprung in der Hauptgebirgskette liegt, die heute Cordillera de Talamanca genannt wird. Es gibt heute vier Bribri-Territorien: Kekoldi, Alta Talamanca Bribri, Cabagra und Salitre. Das sind hispanifizierte Namen, in Bribri haben sie ihre eigenen Bezeichnungen. Wir sind ein matrilineares Volk. Das heißt, wir sind in Clans organisiert, die von Bribri-Müttern abstammen. Das ist die jahrtausendealte Art, wie wir uns organisieren. Ich habe zu ganz Costa Rica keine genauen Daten, aber ich weiß, dass wir ungefähr 1.800 Bribri im Territorium von Salitre sind, woher ich komme. Unsere Gemeinden, vor allem die im Süden, verteidigen seit vielen Jahren das Land und alle anderen Menschenrechte.

Bringt die Matrilinearität der Bribi auch heute noch eine besondere Rolle und Bedeutung der Frauen in den Gemeinden mit sich?

Natürlich! Die Erklärung liegt schon in der jahrtausendealten Kultur unserer Vorfahren, in unserer Schöpfungsgeschichte. Zum Beispiel das Mädchen Iríria, so nennen wir die Erde. Sie ist ein weibliches Lebewesen. Es gibt viele verschiedene solcher Wesen.
In unserer kulturellen Tradition hat die Frau wichtige Aufgaben, genauso wie der Mann. Ihre Aufgaben sind lebenswichtig, die meisten Zeremonien können ohne Frauen nicht durchgeführt werden. Auch im Prozess der Rückgewinnung unserer Territorien (siehe Infokasten) hatten die Bribri-Mütter eine Führungsrolle. Unser Land gehört, wenn man das so ausdrücken will, in erster Linie den Bribri-Müttern, also den Frauen. All das rührt von unserer Schöpfungsgeschichte her. Denn als der Schöpfer uns auf diese Welt brachte, hat er das in der Form getan, dass die Clanzugehörigkeit ausschließlich über die Mütter vererbt wird. Und heute versuchen wir unsere Kultur zu erhalten, unsere Existenz als Bribri zu bewahren. Zum Beispiel, indem wir Paare nur unter Bribri bilden.

Jetzt besuchen Sie das Gebiet der Kolonisator*innen, den europäischen Kontinent. Was ist das Ziel dieser Reise?

Vor allem geht es darum, dass wir schon seit langem mit einem Hindernis zu kämpfen haben, das darin besteht, dass Costa Rica international als „Grünes“ Land bekannt ist: als Land, das die Menschenrechte achtet, das unter dem Slogan pura vida („Pures Leben“) berühmt wurde und in dem alles auf dem Glück seiner Einwohner*innen basiert. Wir erleben als Indigene Gemeinschaften die Realität und wissen, dass dieses Image total falsch ist. Es hat uns daran gehindert, unsere Kämpfe, die Verteidigung der Erde, die Verteidigung unserer Rechte, bekannt zu machen. Deswegen ist das Hauptziel dieser Reise, unsere Kämpfe sichtbarer zu machen. Dann gibt es in jedem Land noch spezielle Themen. Im Fall von Deutschland ist das die Problematik, dass unsere Gemeinschaft von einem transnationalen Unternehmen, Del Monte, betroffen ist. Und Del Monte hat wiederum einen Bezug zur deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit. Deswegen hoffen wir, hier Druck aufbauen zu können, um die Invasion von Del Monte in unsere Territorien zu stoppen.

Costa Rica ist mit über zwei Millionen Tonnen jährlich der weltgrößte Exporteur von Ananas. Nahe an Salitre gibt es eine Kleinstadt, Buenos Aires. Auf Satellitenbildern im Internet ist gut zu sehen, dass sich von dort aus enorme Ananasplantagen in Richtung Salitre ausdehnen. Wie wirkt sich dieser massive Anbau auf die Bribri aus?

Die Situation mit Del Monte hat mehrere Auswirkungen auf unser Territorium. Ich denke, die wichtigste ist die Invasion in unser Territorium, die schon seit einigen Jahren andauert. Daraus entstehen weitere Probleme. 2014 haben wir zum Beispiel einen Teil unseres Territoriums, etwa 40 Prozent der geraubten Fläche, zurückerobert. Viele compañeros, die daran beteiligt waren, wurden wegen Landbesetzung angeklagt. Nach einem langen Verfahren stellte das Strafgericht fest, dass kein Delikt vorlag. Wir finden es unlogisch, dass wir Bribri strafrechtlich verfolgt werden, weil wir unser Land verteidigen und das Territorium in Besitz genommen haben, das uns seit jeher gehört.

Aber leider geht die Invasion weiter. Auf einem Teil unseres Territoriums wurden neben einem Wald Ananasplantagen angelegt. Und gleich danach beginnt die Savanne. Das ist eine sehr heikle Sache für uns, denn dort liegen unsere heiligen Stätten und die müssen unbedingt frei bleiben. Für uns ist das ein schwerer Eingriff. Es ist bekannt, dass wir den Wald viele, viele Jahre lang geschützt haben, denn wir Indigenen Völker schützen die Natur, die Erde, unsere Mitwelt. Umso beklagenswerter ist es, dass dort nun ein transnationales Unternehmen, übrigens auch gegen jegliche nationale und internationale Gesetzgebung, die Umwelt verseucht. Das deutlichste Beispiel für diese Verschmutzung sehen wir dort an einem kleinen Fluss. Dieser Bach ist so extrem verseucht, dass wir denken, der Schaden ist nicht mehr zu beheben.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass viele Leute für Del Monte arbeiten müssen, weil es in unserem Territorium kaum andere Möglichkeiten für sie gibt. Sie werden ausgebeutet und bekommen Hungerlöhne. Nach Jahren der Schufterei werden die Arbeiter dann einfach entlassen, etliche mit Gesundheitsproblemen. Seit einigen Jahren beobachten wir das. Allem Anschein nach greift der übermäßige Einsatz von Agrochemikalien und Pestiziden die Gesundheit der Arbeiter an. In meiner Gemeinde gibt es mehrere Betroffene.

Wie schafft es das Unternehmen, auf den Bribri-Territorien Ananasplantagen anzulegen? Geht das über Dritte, benutzen sie Strohmänner?

Nein. Es ist so, dass jeder bei uns Del Monte kennt. Und den Leuten bleibt einfach nichts anderes übrig, dort die Arbeit anzunehmen, die es eben gibt. Und dann wird es schwierig. Sie haben keine andere Option und heuern dort an. Das nutzen dann Personen, die zum Unternehmen gehören, aus und sagen den Arbeitern, dass wir Rebellen seien, dass wir Landraub begehen und dass wir das nicht tun dürfen, weil doch Del Monte Arbeitsplätze schafft. Allerdings wissen wir, was für Arbeitsplätze das sind und kennen die Ausbeutung.

Und wie kommt Del Monte an das Land? Besetzen sie es einfach oder haben sie Papiere?

Das ist unterschiedlich. Meiner Auffassung nach hat Del Monte über die Jahre viel Land einfach besetzt, ohne jegliche Dokumente. Später haben sie dann Papiere vorgelegt, die beweisen sollen, dass diese Ländereien außerhalb des Bribri-Territoriums liegen würden. Das ist aber gesetzeswidrig und basiert nur darauf, dass die Regierung absichtlich bestimmte Landstücke außerhalb unseres Territoriums gelassen hat. Das rückgängig zu machen, gehört zu unseren Forderungen an den Staat Costa Rica. Papiere hin oder her, es ist doch bekannt, dass diese Ländereien schon immer zu unserem Territorium gehört haben. Sie lagen in unserem Territorium. Ich muss nicht einmal weit zurückgehen, um festzustellen, dass Buenos Aires in der Vergangenheit ein Ort der Zusammenkunft der in der Umgebung wohnenden Völker war. Aus unserer Sicht ist es total falsch, dass der Staat dieses Gebiet in einem absurden Verwaltungsakt aus unserem Territorium ausgegliedert hat. Und Del Monte nutzt das nun aus und sagt „Das gehört uns.“

Die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) hat die vergangenen drei Jahre über das Projekt JUNTOS („Gemeinsam“) mit Fresh Del Monte Produce betrieben. Das Unternehmen wurde dafür mit dem Seal Business Sustainability Award für besonders nachhaltiges Wirtschaften ausgezeichnet. In eigenen Veröffentlichungen heißt es, dass Del Monte in Costa Rica die Biodiversität erhalte, dass Naturreservate erhalten würden, Wassereinzugsgebiete geschützt und rund um Bananen- und Ananasplantagen Bildungsprojekte für Gemeinden ins Leben gerufen würden. Was sagen Sie dazu?

Wir gehen von der Realität bei uns vor Ort aus. Im Kanton Buenos Aires, der zur Provinz Puntarenas gehört, sehen wir Hektar um Hektar Ananaspflanzungen, aber keine größeren Wald- oder Urwaldgebiete. Aufforstungen auch nicht. Keine Flächen, auf denen, sagen wir auf zehn Hektar, früher Ananaspflanzungen waren und nun ein neuer Wald wachsen könnte. Das wäre ideal. Aber das ist jahrelang nicht passiert und passiert immer noch nicht. Die Zahlen, die Del Monte angibt, müssen genau untersucht werden. Ich denke, sie könnten manipuliert sein.

Ananas oder anderes in Wassereinzugsgebieten zu pflanzen, ist übrigens gesetzlich verboten. Wir haben den Bach in unserem Territorium inspiziert, den ich zuvor erwähnt habe – die Ananaspflanzungen sind dort nicht weiter als zehn Meter entfernt. Wo bleibt da die Nachhaltigkeit? Wenn man an den Ananasplantagen entlanggeht, ist es dort unerträglich heiß. Außerdem wird auf den Plantagen viel verbrannt, was eine große Umweltverschmutzung verursacht. Ich denke, man muss sich mit der Realität auseinandersetzen und ein bisschen mehr forschen. Genau das haben wir vor.

Del Monte hat sogar in unserer Gemeinde Schilder mit seinem Schriftzug aufgestellt. Welche Beweise braucht es noch, um zu verstehen, dass sie unser Gemeindeland stehlen wollen? Sie verletzen die grundlegenden Menschenrechte der Bribri in Salitre. Wenn es stimmt, was ich sage oder es wenigstens Anlass zu Zweifeln gibt, dann sollte doch keine internationale Institution oder Körperschaft oder irgendwer sonst so ein Unternehmen prämieren.


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El Salvador kehrt zum Goldschürfen zurück

Widerstand gegen Bergbau Trotz der Einschüchterungspolitik geht die Zivilgesellschaft aud die Straße (Foto: Kellys Portillo / Alharaca)

Alles wirkt wie ein Praxisbeispiel aus einem Handbuch für autoritäre Regierungspolitik. Schritt eins: Vor zwei Jahren hat die vom autoritären Präsidenten Nayib Bukele kontrollierte Staatsanwaltschaft begonnen, Bergbaugegner*innen zu kriminalisieren. Sie wirft – ohne Beweise – fünf Aktivisten der Asociación de Desarrollo Económico Social de Santa Marta (ADES) vor, während des Bürgerkriegs in den 1980ern eine Frau ermordet zu haben. Nachdem ein Gericht einen Freispruch aufgehoben hat, müssen sie sich demnächst wieder vor Gericht verteidigen.

Schritt zwei: Am 10. Dezember 2024 postet der Präsident massiv auf X und wirbt dafür, das Land wieder für den Goldbergbau zu öffnen. Er veröffentlicht Karten, die zeigen, wie durch vermeintlich göttliche Fügung sich eine vulkanische Ader mit hohem Goldgehalt ausgerechnet durch das schmale mittelamerikanische Land zieht. Er argumentiert dann auch mit Gottes Willen: „Gott hat uns einen Schatz unter unsere Füße gelegt.“ Es sei absurd, dass El Salvador als einziges Land weltweit Bergbau verbiete.

Wenige Wochen darauf folgt Schritt drei: Am 23. Dezember, als sich die Bevölkerung bereits den Weihnachtsvorbereitungen widmet, verabschiedet das Parlament ein neues Gesetz, das Bergbau in dem ökologisch fragilen Land wieder zulässt. Es ist offensichtlich, dass hier die Unterdrückung der Zivilgesellschaft, eine strategische Nutzung der Sozialen Medien und intransparente Parlamentsarbeit ineinandergreifen.

El  Salvadors Umweltbewegung war stolz auf das gesetzliche Bergbauverbot, das 2017 verabschiedet wurde. In den Jahren zuvor waren drei Bergbaugegner*innen ermordet worden. Ein australischer Bergbaukonzern hatte El Salvador auf Schadensersatz von über 300 Millionen US-Dollar verklagt, weil die damals linke Regierung dem Unternehmen nach einer Erkundungsphase keine Abbaulizenz erteilte. Eine breite Umweltbewegung, der Nationale Tisch gegen den Bergbau, antwortete mit Protestaktionen. Die Organisation CRIPDES  führte lokale Volksbefragungen über Bergbau durch und verschaffte sich so nationale und internationale Aufmerksamkeit. Die Mehrheit der Bevölkerung schätzte laut Umfragen die ökologischen Risiken des hochgiftigen Goldbergbaus für die Gewässer als zu hoch ein. Im März 2017 stimmte die linke Regierungspartei FMLN gemeinsam mit der rechtskonservativen Partei ARENA für das Bergbauverbot.

Seitdem hat sich vieles verändert. 2019 kam Präsident Bukele als Antipolitiker an die Macht. Seine Partei Nuevas Ideas hat das politische System umgekrempelt und kontrolliert das Parlament. Mit dem Versprechen, die Bandenkriminalität zu bekämpfen, hat Bukele einen dauerhaften Ausnahmezustand verhängt und um die 80.000 Menschen ins Gefängnis gesteckt. Jetzt nimmt er sich die Wirtschaft vor. Bukeles Versuch, den Bitcoin als offizielles Zahlungsmittel einzuführen, war ein Desaster. Die Staatsverschuldung ist hoch, das Wirtschaftswachstum niedrig.

Jetzt soll also der Goldbergbau zurückkehren. Der Rekordpreis für eine Unze Gold (1.800 US-Dollar) scheint ihm Recht zu geben. Messianisch verspricht er, dass er die Wirtschaft von heute auf morgen ändern könne. Das Kalkül des enorm populären Präsidenten ist, dass die Bevölkerung ihm die neu gewonnen Sicherheit vor Bandenkriminalität so sehr dankt, dass sie die ökologischen Folgen von Gold-Megaminen in Kauf nimmt. Eine Umfrage der Zentralamerikanischen Universität vom Dezember 2024 zeigt jedoch, dass fast 60 Prozent der Bevölkerung nach wie vor gegen Bergbau ist.

Einschüchterungs-
politik geht nicht auf

Laut Bukele könnten in El Salvador 50 Millionen Unzen Gold abgebaut werden. Belege gibt er dafür nicht. In Zukunft sollen dem Gesetzestext zufolge entweder der Staat oder Gesellschaften, an denen der Staat als Aktionär beteiligt ist, die Bergbauaktivitäten durchführen. Da die Staatsbeteiligung auch gering sein kann, werden transnationale Konzerne eine wichtige Rolle spielen.

Im Gesetzestext heißt es, es sei unbedingt nötig, dass der Staat die Reichtümer auf seinem Territorium auf rationale Weise nutze und damit die Lebensqualität der Bevölkerung verbessere und die Natur respektiere. Die betroffenen Gemeinden in El Salvador wissen jedoch aus eigener Erfahrung und dem Austausch mit Organisationen aus den Nachbarländern, dass die Funktionsweise des Extraktivismus, also die Ausbeutung der Natur zu Exportzwecken, in den seltensten Fällen dem Gemeinwohl zugutekommt und schon gar nicht die Natur schützt.

„Viele Menschen stellen sich vor, dass es hier große Goldadern wie in den Western-Filmen gibt. Aber in Wirklichkeit ist das Gold nur in winzigen Partikel vorhanden und man muss große Mengen an Wasser und Chemikalien wie Zyanid benutzen, um es zu extrahieren“, erklärt Pedro Cabezas, Koordinator von der Mittelamerikanische Allianz gegen den Bergbau. Auch Antonio Pacheco, einer der fünf kriminalisierten Aktivisten, fürchtet gravierende Umweltauswirkungen für den ohnehin schon stark kontaminierten Lempa-Fluss.

Die Einschüchterungstaktik der Regierung gegen die Zivilgesellschaft geht bisher nicht auf. Bereits am 10. Dezember 2024 demonstrierten über 300 Vertreter*innen zivilgesellschaftlicher und kirchlicher Organisationen vor dem Parlamentsgebäude gegen das „Attentat gegen das Leben, die Gesundheit und die Biodiversität“. Sie zeigen auf mutige Weise, dass die Umweltbewegung bereit ist, ihre Erfolge zu verteidigen. Es ist ein lokaler Kampf gegen die globale Tendenz, mit autoritär-populistischen Mitteln Wirtschaftswachstum auf Kosten der Natur zu erzielen.


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Wie viel Tote willst du noch, Dina?

(Alle Fotos: Vale Soldevilla Montoya)

Die Forderung nach Achtung der Demokratie reichte aus, um die Menschen ab dem 19. Juli auf die Straße zu bringen. Der Ruf nach einem Rücktritt von Dina Boluarte vereinte verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Forderungen, die sich zum Teil sogar gegenseitig widersprechen. Die Menschen wollen die Schließung des Kongresses, fordern eine Verfassungsgebende Versammlung, vorgezogene Wahlen und politische Reformen. Zwar fehlte den Demonstrant*innen ein gemeinsamer politischer Horizont, trotzdem gingen sie gemeinsam auf die Straße, um anzuklagen. Der Zerfall der Demokratie, die Repression, die Gewalt und die fehlende Anerkennung trieben eine Gruppe zum Protest, die bei den ersten beiden großen Mobilisierungen nicht in Erscheinung getreten war: die Mitte und die liberale Rechte.

“Du sollst nicht tötet. Beendet die Verfolgung. Neuwahlen im Jahr 2023. Wir sind Quechua, wir sind Aymara. Durch uns fließt das gleiche lut. Nein zur Straflosigkeit. Gerechtigkeit.”

Die aktuellen Proteste begannen im Dezember 2022, und sind als Teil einer Regierungskrise zu verstehen, die das Land seit 2016 erfasst hat. Nach dem vom damaligen Präsidenten Pedro Castillo angekündigten Selbstputsch vom 7. Dezember 2022 und der anschließenden Amtsenthebung übernahm Dina Boluarte, die Vizepräsidentin, das Regierungsgeschäft. Die ersten Demonstrationen fanden im Süden des Landes statt, in dem eine Mehrheit der Unterstützer*innen Castillos leben und seine Wiedereinsetzung forderten. Es ist nicht schwer, ihre Empörung zu verstehen: Castillo wurde des Wahlbetrugs beschuldigt, seine Gegner weigerten sich, ihre Niederlage zu akzeptieren.

22. Juli 2023. Demonstrant*innen halten ein Schild mit der Aufschrift “Juliaca leistet Widerstand, Helden des 9. Januar” in Erinnerung an die 18 Ermordeten

Bevor Castillo sein Amt antrat, lancierte die unterlegene Partei Fuerza Popular unter der Führung von Keiko Fujimori eine regelrechte Terrorkampagne gegen den designierten Präsidenten. Dieser Kampagne schlossen sich auch die Partei des konservativen Bürgermeisters von Lima, Rafael Lopez Aliaga, die Renovación Popular, an, ebenso Massenmedien, so in der Fernsehsendung Cuarto Poder. Obwohl die Kampagne die offizielle Verkündung des Wahlsiegers um mehrere Wochen verzögerte, wurde Castillo schließlich zum Präsidenten erklärt. Sobald er an der Regierung war, taten die Opposition und die Mainstream-Medien ihr Bestes, um ihn zu diskreditieren, oft in rassistischen und klassistischen Tönen. Doch auch Castillos Regierung war nicht fehlerfrei. Seine Zeit war geprägt von Widersprüchen und einer teils illegitimen Regierungsführung.

22. Juli 2023: “Kein Queer mit Dina, der Mörderin” Der Begriff Marika ist hier eine Selbstbezeichnung, die sich queere Menschen als widerständige Praxis angeeignet haben

Im Laufe der Tage zeigte Dina Boluarte ihr wahres Gesicht: Sie ging ein Bündnis mit der rechten Opposition ein und unterdrückte brutal diejenigen, die sie an die Regierungsmacht gebracht hatten. Am 9. Januar 2023 fand in Puno das Massaker von Juliaca statt, bei dem 18 Angehörige der Aymara-Bevölkerung bei Protesten ermordet wurden. Die jetzige dritte Mobilisierung nach Lima wurde als ein Schrei der Reaktion und der Überdrüssigkeit empfunden. Dina soll gehen, der Kongress soll gehen und „sie alle sollen gehen“, wie es bei den Protesten während der letzten drei oder vier Regierungen des Landes gefordert wurde.

Die Delegation von Juliaca leistet Widerstand und gedenkt der Toten

Zu den protestierenden Gruppen gehörten Delegationen aus mehreren Provinzen des Landes, insbesondere aus dem Süden. Auch die feministische Bewegung, die LGBTIQGemeinschaft und Künstler*innen-Gruppen schlossen sich dem Widerstand an.

Mobilisierung von Aymara-Frauen

Das Mitte-rechts-Lager, vertreten durch die Morado-Partei, war stark vertreten. Die progressive Linksmitte forderte vorgezogene Neuwahlen, die traditionellere und konservativere Linke verlangte die Freilassung von Castillo, und die gemäßigte Linke betonte in Koalition mit Arbeiter*innen und indigenen Gruppen die Forderung nach einer Verfassungsgebenden Versammlung.

“Du kannst den Regen kaufen, du kannst die Sonne kaufen, aber mein Leben kannst du nicht kaufen” Mit Fotografien der mehr als 60 Menschen, die seit Dezember 2022 bei Protesten umgekommen sind, behangene Statue

Über all diese Forderungen wurde rege diskutiert, der gemeinsame Nenner war derweil klar: Die Regierung Boluarte solle zurücktreten und sich der Justiz stellen.

“In Demokratien werden Protestierende nicht getötet”

Die Proteste werden von einem aus Puno stammenden Protestlied begleitet. Dessen Text wird teilweise auf Aymara gesungen:

Esta democracia ya no es democracia
esta democracia ya no es democracia
Dina asesina el pueblo te repudia
Dina asesina el pueblo te repudia

¿Cuántos muertos quieres,
para que renuncies?
¿Cuántos muertos quieres,
para que renuncies?

Dina runa sipiq manan munaykichu
Dina hiwayiri janiwa khitis munktamti

Sueldos millonarios para los corruptos
Balas y misiles para nuestro pueblo
Sueldos millonarios para los corruptos
Balas y misiles para nuestro pueblo


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ZU WENIG ERNST GENOMMEN

 

© Watchmen Productions, MPM Film

„Ein Risiko gibt‘s immer“, sagt Nardjes Asli. Dann zuckt die junge Algerierin mit den Schultern und
macht sich trotz möglicher Repressionen bereit zur Demo. Sie ist die Protagonistin und Namensgeberin
des Dokumentarfilms Nardjes A. des Brasilianers Karim Aïnouz. Aïnouz, der selbst Wurzeln in dem
nordafrikanischen Land hat, hielt sich im Februar 2019 eigentlich wegen eines anderen Filmprojekts in
Algerien auf, wurde dann aber von den Massendemonstrationen gegen die Regierung überrascht und
beschloss, sie mit der Kamera seines Handys zu dokumentieren. Herausgekommen ist ein Film, der die
Wucht und Energie der Proteste zwar in beeindruckender Weise einfängt – vor allem angesichts der
begrenzten technischen Möglichkeiten -, bei ihrer Einordnung jedoch leider nur an der Oberfläche kratzt.
Anfang des Jahres 2019 herrschte in Algerien jeden Freitag Ausnahmezustand auf den Straßen. Der
korrupte Präsident des Landes, Abd al-Aziz Bouteflika, hatte im Februar verlauten lassen, für eine fünfte
Amtszeit zu kandidieren – und das, obwohl der 82-jährige nach drei Schlaganfällen kaum noch sprechen
kann und jahrelang nicht in der Öffentlichkeit zu sehen war. Die brodelnde Unzufriedenheit vor allem der
jüngeren Generation Algeriens brachte das Fass schließlich zum Überlaufen. Hunderttausende gingen
zwischen Januar und März 2019 auf die Straßen. Schließlich gab das Regime nach, sah von einer erneuten
Kandidatur Bouteflikas ab und die Wahlen wurden verschoben.
Im Film bleibt Aïnouz mit seiner Handy-Kamera immer sehr nah an seiner Protagonistin. Er begleitet sie
einen ganzen Tag lang vor, während und nach einer Freitagsdemonstration. Dabei liegt der Schwerpunkt
auf ihren Aktivitäten in dem riesigen Protestzug: Nardjes pfeift, singt, lacht und tanzt dort, was das Zeug
hält, getrieben von schier unermüdlicher Energie und guter Laune. Dabei trifft sie manchmal auf
Freund*innen und Bekannte, meist jedoch interagiert sie mit wildfremden Menschen. Nach der Demo
trifft sie sich mit Freund*innen in einem Café und geht abends in einem Club tanzen.
Beim Zusehen ist Nardjes Asli ihren Spaß an dem “feiernden, tanzenden Protest” anzimerken, der als
“Revolution des Lächelns” bekannt wurde. In Off-Kommentaren erklärt sie, wie stolz sie auf die Jugend
ist, wie sehr sie Algerien liebt und an ihre Generation glaubt. Asli kann man ihre jugendliche
Begeisterung kaum zum Vorwurf machen. Leider nimmt der Film sie aber irgendwann nicht mehr ernst.
Ihr Enthusiasmus, der zu Beginn sehr sympathisch wirkt, verliert durch häufige Wiederholung ählicher
oder sogar wortgleicher Parolen schnell an Wirkungskraft und wirkt klischeehaft. Aïnouz verpasst es
zudem, durch den Verzicht auf Reflexion oder Rückfragen Nardjes’ Persönlichkeit Tiefe zu verleihen.
Mit fortlaufender Dauer verliert die Dokumentation so die Richtung. Der durchaus interessante politische
Background der Protagonistin (Eltern und Großeltern waren in der kommunistischen Partei und zum Teil
schwerster Verfolgung ausgesetzt) ist nach kurzer Erklärung zu Beginn kaum noch Thema. Nardjes Aslis
Lebenssituation, ihre politischen Vorstellungen, ihre persönlichen Ambitionen – über all das darf sie im
Film nicht mehr erzählen. Dabei hätte es viele interessante Fragen gegeben: Etwa zu ihrer Begeisterung
für den algerischen Nationalismus, der ja schon nach dem gewonnenen Unabhängigkeitskrieg gegen die
französische Kolonialmacht nicht zu einer gerechten Gesellschaft geführt hat. Ainouz hätte sie auch nach
der Gefahr einer Unterwanderung der Proteste durch radikale Islamist*innen fragen können, die ihren
liberalen Lebensstil als offene und selbstbewusste Frau bedrohen könnten.
Die mangelnde Kontextualisierung macht das filmische Profil der jungen Aktivistin und
Theaterschauspielerin immer unschärfer, je länger die Dokumentation dauert. Am Schluss erscheint
Nardjes Asli fast nur noch wie eine unkritische Party- und Jubeldemonstrantin – was ihr sehr
wahrscheinlich nicht gerecht wird. Noch schlimmer wird es gegen Ende des Films: Wenn die Kamera
minutenlang Bilder der tanzenden Nardjes im Club zeigt und dabei zumeist auf Nahaufnahmen ihres
Gesichts fokussiert, fragt man sich, was Karim Aïnouz eigentlich damit bezwecken will. Wie ein
politisches Subjekt wirkt Asli da jedenfalls nicht mehr, vielmehr macht sich der ungute Verdacht breit,
dass dem Publikum hier ein “hübsches Gesicht” der Revolution präsentiert werden soll. Dazu passt, dass
auch die Einordnung in den politischen Kontext im Film nicht durch seine Protagonistin erfolgt – das
macht Aïnouz durch längere Texteinblendungen zu Beginn und Ende des Films selbst.
Nardjes A. verpasst die Chance, neben der Dokumentation der Proteste in Algerien auch ein differenzierteres Porträt einer interessanten Frau zu zeichnen, die nicht nur für eine neue Regierung,
sondern auch für ihte eigene Zukunft kämpft. So bleibt vor allem Demo-Folklore und am Ende sogar ein
Entlangschrammen an filmischem Voyeurismus hängen. Schade.


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„DIE SICHERHEITSBEHÖRDEN SIND TEIL DES PROBLEMS“

“Genozid-Staat” Marcha Nacional Contra el Gatillo – Demonstrationen gegen tödliche Polizeigewalt im Mai 2019 in Buenos Aires

Was glauben Sie, was mit Santiago passiert ist?
Ich weiß es nicht, es gibt tausende Möglichkeiten. Aber alle denkbaren Hypothesen weisen auf den Staat als Verantwortlichen hin. Fakt ist: Fast 130 Gendarmen sind damals ohne richterlichen Beschluss in ein Gebiet eingedrungen, um acht bis zehn Demonstranten zu verfolgen. Einer von ihnen war Santiago. Die Gendarmen haben mit Gummigeschossen und Schrotkugeln geschossen; daraufhin blieb Santiago für 77 Tage verschwunden. Am 78. Tag wurde er gefunden – am Flussufer, das bereits dreimal durchsucht wurde. Zwei dieser drei Durchsuchungen fanden an genau derselben Stelle statt, an der dann die Leiche von Santiago aufgetaucht ist – mit Charakteristiken, die nicht üblich sind für einen Körper, der so lange im Wasser war. Laut Autopsie wies die Leiche Zeichen einer Konservierung auf, die üblicherweise zwischen -20 und -80 Grad entstehen. Das heißt, der Körper wurde künstlich gelagert.

Was ist der aktuelle Stand in dem Fall?
Im November 2018 hat der Richter Lleral den Fall in erster Instanz eingestellt, weil es keine Beweise dafür gäbe, dass der Staat für Santiagos Tod verantwortlich sei. Der Richter hat nicht mal rekonstruiert, was damals passiert ist. Wir sind dann in Berufung gegangen und diese Berufung wurde Ende Januar zugelassen. Seitdem warten wir auf einen Beschluss, ob der Fall weiter verfolgt wird oder nicht. Eigentlich dauert so etwas nur 15 Tage.

Ist der Fall Santiago Maldonado noch ein Thema in der argentinischen Öffentlichkeit?
Ja. Zwar nicht mehr so intensiv wie damals, als nach Santiago gesucht wurde, aber wenn etwas passiert, wird darüber berichtet, und wir versuchen auch dafür zu sorgen, dass das Thema in der Öffentlichkeit bleibt. Der Fall wird auch immer dann wieder lebendig, wenn über die Politik der harten Hand berichtet wird oder jemandem einfach so in den Rücken geschossen wird. Da war der Mord an Rafael Nahuel (der 22-jährige Mapuche wurde am 25. November 2017, am Tag der Trauerfeier für Santiago Maldonado, während einer Besetzung in der Nähe von Bariloche von Sicherheitskräften der Spezialeinheit „Albatros“ der argentinischen Marine von hinten erschossen, Anm. d. Red.) und viele weitere. Der jüngste Fall sind vier Jugendliche, die in San Miguel del Monte durch die Polizei ums Leben gekommen sind.

Hat es einen Anstieg der tödlichen Polizeigewalt in Argentinien gegeben?
Ja, in den letzten dreieinhalb Jahren, seit die Regierung von Mauricio Macri an der Macht ist, hat es bereits über 1.300 Tote durch Polizeigewalt gegeben. Seit 1989 waren es insgesamt 6.000. Auch unter anderen Regierungen gab es Fälle von Verschwindenlassen oder gatillo fácil (missbräuchlicher Einsatz von Schusswaffen durch Sicherheitskräfte, der von der Polizei meist als Unfall oder legitime Verteidigung dargestellt wird, Anm. d. Red.), aber den höchsten Anstieg gab es unter dieser Regierung. Der Unterschied ist, dass die beteiligten Sicherheitskräfte vorher nicht unterstützt wurden; sie wurden aus dem Dienst entfernt und es wurde ermittelt.

Sergio Maldonado Bruder von Santiago Maldonado / Foto: Lidia Barán/Anred.org

Und heute?
Fünf oder sechs der Gendarmen, die am Verschwindenlassen von Santiago beteiligt waren, wurden befördert und der Polizist Luis Chocobar, der Rafael Nahuel erschossen hat, wurde kurz danach ausgezeichnet. Seitdem bezeichnet man das als die Chocobar-Doktrin: Du knallst einen ab und bekommst dafür einen Preis im Regierungspalast. Diese Regierung hat uns eine Politik der harten Hand gebracht, mit einer Narrenfreiheit für die Täter.

Welche Rolle spielt dabei das Sicherheitsministerium?
Die Täter kommen aus verschiedenen Einheiten der Sicherheitskräfte, aber sie alle unterstehen dem Ministerium von Patricia Bullrich. Im Fall von Santiago hat sie den beteiligten Sicherheitskräften den Rücken gestärkt, anstatt sie freizustellen, um zu ermitteln und rauszufinden, was passiert ist. Das war ganz klar eine politische Entscheidung. Es war wie eine Blaupause, denn danach wurde es immer repressiver. Wenn man jetzt auf eine Demo geht, zeigen die Sicherheitskräfte: Wir können machen, was wir wollen. Im Dezember 2017 haben sie mitten in Buenos Aires Pfefferspray gegen Rentner eingesetzt, die gegen die Rentenreform protestiert hatten; sie haben Demonstranten mit Motorrädern überfahren, haben Leute verprügelt und alles wurde gefilmt – wenn so etwas mitten in Buenos Aires passiert, was können sie da erst in Patagonien machen, mitten auf der Ruta 40, wo keine Kameras sind, kein Signal, mitten im Nichts… Stell dir vor, was da mit Santiago passiert sein mag.

Wie wollen Sie erreichen, dass der Fall doch noch aufgeklärt wird?
Wir fordern eine unabhängige Expertengruppe, die in dem Fall ermittelt. Der argentinische Staat ist nicht in der Lage, in seinen eigenen Strukturen zu ermitteln, es sind alles Kollegen, sie werden niemals gegen sich selbst ermitteln. Wie im Fall von Rafael Nahuel decken sich auch im Fall von Santiago die verschiedenen Sicherheitsbehörden gegenseitig. Sie alle sind Teil des Staates und sie alle sind Teil des Problems. Das einzige, was sie machen, ist, die Familien auszuspionieren.

Von den anderen 1.299 Fällen der letzten Jahre hört man eher wenig. Was macht den Fall von Santiago so bedeutsam?
Das Leben von Santiago ist nicht mehr oder weniger wert, als die Leben der anderen jungen Leute, die durch den gatillo fácil in einem Dorf oder einem Viertel ermordet wurden. Was in diesem Kontext so wichtig ist, ist, dass er verschwunden war. Der Verschwundene hat in Argentinien eine besondere Bedeutung – es ist das erste Mal seit der Rückkehr zur Demokratie, dass eine staatliche Polizeieinheit so agiert und von der Regierung unterstützt wird.

Ist der Gesellschaft bewusst, dass es eine Politik der harten Hand gibt, in der Sicherheitskräfte töten können, ohne sich dafür verantworten zu müssen?
Nein, das sehe ich nicht so. Manchmal lese ich einen Kommentar und denke: Wie kann der sich über einen Mord freuen? Letztens fiel ein Satz, den ich oft gehört habe, als ich kleiner war: Hier muss mal ein Fidel Castro kommen oder ein Pinochet und dann ist Schluss mit der ganzen Kriminalität! Mal abgesehen vom Unterschied zwischen Castro und Pinochet denke ich, die Leute hier verstehen manchmal überhaupt nichts. Es gab schon immer einen Teil der Gesellschaft, der rechts steht, vielleicht 20 bis 25 Prozent, und ich sehe die Gefahr, dass sich die armen und unterprivilegierten Schichten nach rechts wenden. Das macht mir Sorgen.

In der Zivilgesellschaft gab es aber massive Reaktionen auf das Verschwinden und den Tod von Santiago…
Ja, im Fall von Santiago waren erstmals alle verschiedenen Organisationen vereint. Auf der ersten Demo ein paar Tage nach seinem Verschwinden waren 100.000 Menschen. Vier Wochen später kamen 200.000 Menschen und zwei Monaten danach waren 300.000 Menschen auf der Plaza de Mayo. Und dazu noch Menschen in 200 Städten im ganzen Land, in manchen Kleinstädten kam die Hälfte der Bevölkerung zusammen.

Im Oktober wird in Argentinien gewählt. Eine Abkehr von der Politik der harten Hand ist trotzdem nicht in Sicht?
Vielleicht könnte man mit einer anderen Regierung versuchen, den Sicherheitskräften ihre Macht zu nehmen. Das geht nicht von heute auf morgen; die Sicherheitskräfte, die jetzt aktiv sind, waren zum Teil schon in der Diktatur dabei. Es ist eine Frage der Erziehung, wie ob man die Hundeleine etwas länger lässt oder ob man sie besser kontrolliert. Die Politik der harten Hand und des gatillo fácil ist sozusagen Teil der Staatsräson.
Um diesen Kulturkampf zu gewinnen, muss man versuchen, einen Teil der Gesellschaft zu bilden, etwas beizubringen. Aber negativ gesehen denke ich: Man kann wählen, wer in der Regierung sitzt, aber nicht diejenigen, die in den Behörden sitzen. Die juristische Macht, die Macht der Medien und der Hedgefonds kann man nicht mit einem Regierungswechsel ändern.

 


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SICHTBAR, ENGAGIERT UND HARTNÄCKIG

Wettbewerb Miss America Continental in Tegucigalpa, Honduras // Fotos: Markus Dorfmüller

Die Regenbogenfahne ist natürlich dabei, wenn es am 17. Mai wieder auf die Straße geht. Sie hängt im Aufenthaltsraum von Arcoíris (Regenbogen) an der Wand. Im Zentrum von Tegucigalpa, nur ein paar Steinwürfe vom Busbahnhof, hat die 2003 gegründete LGBTI*-Organisation ihr Büro, zu dem auch Aufenthaltsräume gehören. Hier trifft sich die queere Szene der honduranischen Hauptstadt, organisiert Kampagnen, tritt für die eigenen Rechte ein und feiert hin und wieder auch Partys. „Bei unserem ersten Marsch gegen die Homophobie und für die Rechte unserer queeren Community waren wir gerade zwanzig, im letzten Mai immerhin rund tausend Personen“, erinnert sich Donny Reyes.
Der stämmige Mann Ende 40 ist Gründungsmitglied und Koordinator von Arcoíris, einer Organisation, die sich für die Menschenrechte der queeren Gemeinde engagiert. Um die ist es mies bestellt, denn Honduras gehört weltweit zu den gefährlichsten Ländern für LBGTI*-Aktivist*innen. 38 Morde wurden von den LGBTI*-Organisationen des Landes im Laufe des letzten Jahres registriert – ein Mord weniger als 2017. Alle anderen Angriffe summieren sich zu Hunderten. „Am sichtbarsten und am verwundbarsten sind trans Frauen“, so Donny Reyes. Die organisieren sich bei Arcoíris als Muñecas de Arcoíris, auf deutsch übersetzt Regenbogenpüppchen. Ein sarkastischer Titel, den die Frauen bewusst gewählt haben. Jeden Dienstag treffen sie sich im Büro in der dritten Avenida des Concepción, einem Handwerkerviertel am Rande des Zentralmarkts von Tegucigalpa. „Nur ein paar Blocks entfernt, rund um den Parque El Obelisco, befindet sich der trans Strich von Tegucigalpa“, so Donny Reyes. Viele der trans Frauen, die dort ihren Lebensunterhalt verdienen, haben keine Ahnung von ihren Rechten und das versuchen Reyes und seine Kolleg*innen zu ändern – mit Workshops, aufklärender Informationsarbeit und Beratung in den Räumen der Nichtregierungs­organisation.

Mit einem Musterprozess soll die Straflosigkeit beendet werden


Die beiden trans Frauen Bessy Ferrera und Paola Flores leiten und koordinieren die Arbeit der Muñecas de Arcoíris und haben selbst einschlägige Erfahrungen mit Diskriminierungen gemacht. Bessy Ferrera fährt sich mit dem Daumen über die Kehle. Dann deutet sie auf die wulstige rund fünfzehn Zentimeter lange Narbe unterhalb ihres Schlüsselbeins. „Ein Freier wollte nach dem Sex nicht zahlen und hat mir von hinten versucht die Kehle durchzuschneiden“, sagt die Frau von Mitte dreißig. „Nur weil er das Messer zu tief angesetzt hat, sitze ich noch hier“, sagt sie mit einem bitteren, rauen Lachen. Fast verblutet ist sie damals, konnte sich aus dem Hinterhof gerade so auf die Straße schleppen, wo jemand einen Krankenwagen rief. Die mit groben Stichen genähte Narbe erinnert sie bei jedem Blick in den Spiegel an den Angriff vor ein paar Jahren. In einem der Hinterhöfe rund um den „Parque El Obelisco“ im Zentrum von Tegucigalpa fand er statt, nur ein paar Steinwürfe von den Markthallen entfernt. Handwerksbetriebe und mobile Verkaufsstände dominieren das Ambiente tagsüber, nachts dreht sich alles um Sex. Trans- und Homosexuelle gehen mitten in der honduranischen Hauptstadt der Sexarbeit nach. Bessy Ferrera ist eine von ihnen. „In Honduras hat man als trans Frau keine Chance auf einen regulären Job. Was bleibt ist für viele von uns nur die Prostitution“, meint sie und streicht sich eine rotblondgefärbte Strähne aus der Stirn. Abfinden will sich Bessy Ferrera mit der alltäglichen Diskriminierung und Verfolgung aber nicht und deshalb engagiert sie sich bei Arcoíris.

Bessy Ferrera…

und Paola Flores leiten die Arbeit von Muñecas de Arcoíris

„Ein großes Problem ist, dass kaum jemand von uns genau weiß, was für Rechte wir eigentlich haben. Worüber frau nichts weiß, kann sie auch nicht verteidigen“, erklärt Bessy Ferrera mit einem koketten Grinsen. Daran will sie etwas ändern und ist deshalb bei Arcoíris eingestiegen . Erst als Freiwillige, mittlerweile als Stellvertreterin von Paola Flores. Die schmale trans Frau ist das Gesicht der Muñecas de Arcoíris. Vor ein paar Jahren hat sie angefangen rund um den „Parque El Obelisco“ trans Frauen anzusprechen, sie über ihre Rechte im Umgang mit Freiern, aber auch der Polizei aufzuklären. Die eigenen Rechte sind zentrales Thema bei den wöchentlichen Treffen, aber auch die Probleme, denen sich Trans- Bi-, Homosexuelle und die restliche Queer-Szene in Honduras gegenübersieht.

„Wir werden ausgegrenzt, diskriminiert, gedemütigt, vergewaltigt und ermordet“, zählt Paola mit leiser Stimme auf. „Honduras ist eine christlich verbrämte Macho-Gesellschaft in der Rechte der Anderen nicht geachtet werden“, schildert sie das Grundproblem. Hinzu kommt ein nicht funktionierendes Justizsystem. Straftaten gegen LGBTI*-Personen werden nicht geahndet, das monierte auch die Menschenrechtskommission der OAS (Organisation für Amerikanischer Staaten) bei ihrer letzten Visite im August 2018. Laut der Kommission habe es in den letzten fünf Jahren 177 Morde gegeben, von denen kaum einer aufgeklärt worden sei.
Das hat viele Gründe. Einer ist aber laut Paola Flores, dass bei den Verbrechen aus Hass nicht richtig ermittelt werde. „Das beginnt bei der Spurensicherung und endet im Gerichtssaal – wenn es denn überhaupt so weit kommt“, klagt Flores. Wie ein Musterprozess laufen sollte, worauf bei der Spurensicherung, bei der Gerichtsmedizin, aber auch bei der Zeug*innen­vernehmung und im Gerichtssaal geachtet werden muss, wollen die Muñecas anhand eines realen Falles aufzeigen. „Eines Kapitaldeliktes wie Vergewaltigung oder Mord“, so Flores, die derzeit mit Jurist*innen, Ermittler*innen und Gerichts­mediziner*innen im Gespräch ist, um das beispielgebende Tribunal vorzubereiten. Demnächst soll es in Tegucigalpa stattfinden, gefilmt und ins Netz gestellt werden, um so etwas wie einen Leitfaden für den Umgang mit Verbrechen gegen LGBTI*-Personen zu liefern. „Das ist überfällig und positiv ist, dass wir die Zusage über die Finanzierung aus einem EU-Justizfonds haben“, erklärt Flores. Weniger positiv ist allerdings, dass das Geld immer noch nicht eingegangen ist und die Vorbereitungen zum symbolischen Gerichtsprozess deshalb auf Sparflamme laufen. Nichts Neues für die Aktivist*innen von Arcoíris, die nur punktuell Spenden aus dem Ausland erhalten und bei ihren Bemühungen Vorurteile aufzubrechen oft auf sich allein gestellt sind. Journalist*innen, die Fotos rund um den „Parque El Obelisco“ machen, und sich nicht nur privat, sondern auch öffentlich über sie lustig machen, sind, so Bessy Ferrera, alles andere als selten. Oft werden Homo- genauso wie Bi- und Transsexuelle von ihren Familien verstoßen, ergänzt Paola Flores und reibt sich die narbige Wange. Sie hat seit ein paar Jahren die Unterstützung ihrer Familie, während ihre Kollegin Bessy Ferrera Waise ist und nach ihrem Outing von den Pflegeltern vor die Tür gesetzt wurde. So landete sie in der Prostitution und für sie ist Arcoíris so etwas wie ein zweites Zuhause.

Eine der schönsten Drag-Queens des Landes auf dem Laufsteg

Vor allem ihrer Mutter hat es hingegen Paola Flores zu verdanken, dass der Kontakt zur eigenen Familie nicht abriss, obwohl mehrere Familienangehörige evangelikalen Kirchen sowie der katholischen Kirche angehören. Die verteidigen die Heterosexualität als das Non plus Ultra und machen gemeinsam mobil gegen alle Anläufe die gleichgeschlechtliche Ehe in Honduras auf den Weg zu bringen. Folge dieser rigiden Positionierung sind tiefe Gräben, die sich durch viele Familien ziehen. So auch bei den Flores, wo die sexuelle Orientierung des jüngsten Kindes von den Älteren mit Unverständnis und Ablehnung quittiert wurde. „Nur meine Mutter hielt zu mir. Doch das änderte sich mit dem Überfall“. Der ereignete sich im Juni 2009 und Paola Flores hat ihn nur knapp überlebt. „Drei Männer haben mich in meiner eigenen Wohnung, dort wo ich mich sicher fühlte, überfallen. Mich zusammengeschlagen und mit Benzin übergossen und angezündet“, erinnert sich Flores und deutet auf die Transplantate die rechts und links vom Kinn zu sehen sind. Sie hat um ihr Leben gekämpft, sich gewehrt, geschrien und überlebt. Zwei Monate im Koma, neun Monate im Krankenhaus und schließlich ein Jahr im Exil in Mexiko. „Was mir passiert ist, kann auch allen anderen passieren. Dagegen kämpfe ich und deshalb bin ich zurückgekommen“, sagt sie mit fester Stimme und zupft das Halstuch zurück, welches die Narben am Hals verbirgt. Die drei Männer gingen genauso wie der Freier, der Bessy Ferrera umbringen wollte, bisher straffrei aus. Ein häufiges Geschehen in Honduras, wo deutlich über 90 Prozent der Gewaltdelikte gegen LGBTI* nicht geahndet werden. Die Fotos von ermordeten Arcoíris-Aktivist*nnen, die im Treppenhaus neben denjenigen hängen, die sich engagieren, zeugen davon.

Plakat gegen die Diskriminierung von Lesben in Tagucigalpa/Honduras // Foto: Knut Henkel

Die Straflosigkeit soll beendet und der Musterprozess der Muñecas de Arcoíris soll dazu beitragen. „Wir wollen einen Leitfaden publizieren, den Prozess mit der Kamera dokumentieren und zumindest Teile davon auf YouTube oder Facebook posten. Die Justiz darf nicht mehr weggucken“, fordern die beiden Frauen mit ernster Mine.
Dafür engagiert sich auch Donny Reyes, der im Rat der Menschenrechtsorganisationen mitarbeitet, den Kontakt zu Botschaften und Nichtregierungsorganisationen hält und die Events der LGBTI*-Szene vorbereitet. Nicht nur den für den 17. Mai anstehenden bunten Marsch durch die Hauptstadt von Honduras, sondern auch die Parties wie den alljährlich im Februar stattfinden Wettbewerb zur „Königin meiner Heimat“ (La Reina de mis Tierras). Dort laufen dann die schönsten Drag-Queens aus dem Land über den Laufsteg und werden prämiert. „Das ist Party und Polit-Event in einem, denn die Drag-Queens sind auch Botschafter*innen der Szene, engagieren sich für die Menschenrechte und haben eine Aufgabe.“
Doch nun steht als nächstes erst einmal die 17. Mai-Parade im Kalender. Ziel ist es mehr als die 1000 Menschen vom letzten Jahr auf die Straße zu bringen – in einem Ambiente, das alles andere als einfach ist.

 


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LEICHTES RUCKELN STATT BEBEN

Es war eine Frage der Ehre, mindestens. Eine Massendemonstration sollte es werden, ein eindeutiges Zeichen der Mexikaner*innen gegen den respektlosen Umgang von US-Präsident Donald Trump mit ihrem Land und ihren Landsleuten. Ganz Mexiko auf der Straße gegen dessen Plan einer Grenzmauer, gegen Abschiebungen aus den USA, gegen die pauschale Beschimpfung als „Vergewaltiger und Kriminelle“. Der Initiative #VibraMéxico („Mexiko erbebt“) gelang es schnell, Unterstützung zu finden. Knapp 90 Organisationen aller Couleur, darunter Oxfam und Amnesty International sowie die größten Universitäten des Landes, auch die Autonome Nationale Universität (UNAM), traten dem Bündnis bei.

Protest gegen Trump “ohne Demagogie und Hurrapatriotismus”.

Die Ausrichtung schien massentauglich, pathetisch- patriotische Allgemeinplätze statt politischer Positionierung waren angesagt. „Aus Respekt und Liebe zu Mexiko“ sei die Initiative geboren, „unparteiisch, friedlich und respektvoll“ solle der Marsch am 12. Februar „die Rechte aller verteidigen, eine gute Regierung einfordern und den Stolz feiern, mexikanisch zu sein“, so der Aufruf. Wer konnte da noch ruhigen Gewissens zu Hause bleiben?

„Wir!“, hatten schon etliche studentische Gruppen der UNAM im Vorfeld angekündigt. Sie kritisierten zunächst die Entscheidung des Rektors der UNAM, Enrique Graue, die Aktion im Namen der Universität ohne vorherige Befragung ihrer Mitglieder zu unterstützen. In einem offenen Brief gingen die Studierenden dann auch auf den Protestmarsch direkt ein, den sie als Unterstützung der Regierung unter dem Deckmantel der „nationalen Einheit“ bewerteten. Protest gegen Trump müsse „ohne Demagogie und Hurrapatriotismus“ einhergehen. Auch andere regierungskritische Organisationen und Intellektuelle lehnten eine Beteiligung an dem Protestbündnis ab. Sie kritisierten die Beteiligung von regierungsnahen Organisationen und Politiker*innen. Diese hätten ein Interesse daran, den Unmut über Trump in eine Rückendeckung für die unpopuläre mexikanische Regierung der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) umzumünzen. Diese hat nach der drastischen Erhöhung der Benzinpreise (siehe LN 512) eine Zustimmungsrate von nur noch zwölf Prozent. So äußerte sich der katholische Priester Alejandro Solalinde, Menschenrechtsverteidiger insbesondere für Migrant*innen, besorgt über die unkritische Unterstützung von #VibraMéxico. „Ich bedauere es sehr, dass Personen mit so viel moralischer Anerkennung und Autorität in einem von Televisa, der PRI und der PAN organisierten Marsch mitmachen“, so Solalinde (PAN war Regierungspartei von 2000-2012, Anm. d. Red.).

Pathetisch-patriotische Allgemeinplätze statt politischer Positionierung

Tatsächlich zählen vor allem rechte und regierungsnahe Medien, Wirtschaftsverbände und Organisationen zu den Initiator*innen von #VibraMéxico. Dazu zählt neben dem TV-Giganten Televisa auch die Organisation Mexicanos Primero. Diese steht federführend hinter derneoliberalen Bildungsreform, gegen die sich die Gewerkschaft der Lehrer*innen (CNTE) weiter vehement wehrt (siehe LN 509). Andrés Manuel López Obrador, Chef der Linkspartei MORENA und erneut Präsidentschaftskandidat für 2018, sonst nicht um ein Wort zur Verteidigung mexikanischer Souveränität gegenüber den USA verlegen, vermied es geflissentlich, auch nur ein Wort über #VibraMéxico zu verlieren.

Das Beben blieb am Tag der Wahrheit aus. Nach Angaben der Initiative folgten 40.000 Menschen in 21 Städten dem Aufruf, davon 20.000 in Mexiko-Stadt – eher bescheiden angesichts der Vielzahl an potenten Unterstützungsorganisationen und ihres Anspruchs, das ganze Land auf die Straße zu holen. Gerade für die Verhältnisse der demonstrationserprobten Hauptstadt war es alles andere als die erhoffte Massendemonstration. Zum Vergleich: Die LGBTIQ*-Parade im letzten Jahr hatte das Zehnfache an Menschen auf die Straßen von Mexiko-Stadt gelockt. Und es kamen auch deutlich weniger Teilnehmer*innen als bei den Januar-Protesten gegen die Regierung von Präsident Enrique Peña Nieto anlässlich des Anstiegs der Benzinpreise, dem gasolinazo. Allein in Guadalajara, der zweitgrößten Stadt Mexikos, waren am 22. Januar 40.000 Menschen auf die Straße gegangen.

Das Beben blieb am Tag der Wahrheit aus.

Und während die Gasolinazo-Demonstrationen tatsächlich sozial sehr heterogen zusammengesetzt waren, war am 12. Februar vor allem die obere Mittelschicht präsent, um gegen Trump zu protestieren. Was auf Plakaten und Schildern zu sehen war, entsprach weitestgehend den Wünschen der Organisator*innen: Gegen Trump – gern als Hitler oder Anti-Christ dargestellt –, die Mauer und Abschiebungen sowie Einforderung von Respekt; beliebteste Accessoires waren bei weitem die mexikanische Fahne und Luftballons in den Nationalfarben. Reden gab es keine, die häufig intonierte Nationalhymne musste ausreichen. Bestimmte bei den vorherigen Protesten die regierungsfeindliche Parole „Peña raus!“ den Ton, dominierten nun patriotische „¡Mé-xi-co, Mé-xi-co!“-Sprechchöre – auch, um aufkommende Anti-Peña-Rufe zu übertönen. Dennoch nutzten einige Menschen die Gelegenheit, ihren Unmut gegenüber der eigenen Regierung auf Plakaten auszudrücken: „Das größte Problem Mexikos ist die Korruption“ oder „Ob mit oder ohne Mauer – zu Hause werden wir ausgeraubt“ lauteten einige Slogans. Keinen Erfolg hatten aber jene, die in größerem Stil protestieren wollten. Eine Gruppe mit Musikwagen und Plakaten gegen den mexikanischen Präsidenten wurde sofort von der Polizei eingeschlossen. Die dahinter folgende Gruppe von Akademiker*innen der UNAM musste dadurch eine ungewollte Pause einlegen. Ein paar der wenigen anwesenden Studierenden nahmen dies zum Anlass, ihren Rektor Graue direkt zu fragen: „Wo war die Universitätsbürokratie, als wir wegen Ayotzinapa (Bezug auf die verschwundenen 43 Studenten, siehe LN 507/508, Anm. d. Red.) auf die Straße gegangen sind?“ Als Graue dann auch noch ein Foto mit den Initiator*innen der Demonstration machte, fragte ein Journalist der Tageszeitung La Jornada: „Wann werden Sie ein Foto mit den Eltern von Ayotzinapa machen?“ Graue musste auch in den folgenden Tagen noch einige Kritik für die institutionelle Unterstützung seiner Universität an #VibraMéxico einstecken.

Die Initiator*innen hinter #VibraMéxico haben ihr Mobilisierungspotential trotz der weit verbreiteten Wut gegen Trump überschätzt. Es macht jedoch Hoffnung, wenn sich diese Wut angesichts der tiefen Krise des Landes nicht massenhaft gegen einen äußeren „gemeinsamen“ Feind kanalisiert – zumindest noch nicht. Erste Boykottaufrufe gegen US-Produkte hatten wenig Erfolg. Im Gegenteil, viele progressive Stimmen wenden sich dezidiert gegen die Burgfrieden- Absichten der regierungsnahen oder staatsaffirmativen Organisationen. Denn Anlass für Massenproteste gegen die Verhältnisse im eigenen Land gibt es zuhauf.


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