// ENTEIGNEN INSPIRIERT

„Die Ergebnisse in Berlin, bei denen die Linke stark abgeschnitten hat, sind sogar in Kolumbien gute Nachrichten“, sagt Verónica Vélez, eine in Berlin lebende, kolumbianische Aktivistin gegenüber LN nach den Wahlen vom 26. September. Damit meint sie den Ausgang des Volksentscheids zur Enteignung großer Immobilienkonzerne. „Die sozialen und politischen Bewegungen gegen Zwangsräumungen in Bogotá sind während der Pandemie stärker geworden. Die Möglichkeiten, für die das Berliner Referendum steht, haben eine große Bedeutung für den Kampf gegen Ungleichheit und das Recht auf Dasein und Wohnung.“ Dass der mit 56 Prozent Zustimmung zur Enteignung an den Berliner Urnen klar ausgefallene aktivistische Erfolg internationale Strahlkraft entfaltet und auch in den von Mietenspekulation gebeutelten Großstädten Lateinamerikas inspiriert, ist ein doppelter Erfolg.

Doch was den Subkontinent betrifft, sind leider nicht alle Ergebnisse der Wahlen in Deutschland so positiv. Für die deutsche Lateinamerikapolitik_bedeuten sie zunächst einen Rückschlag: Mehrere Parlamentarier*innen, die zuvor für eine kritische Öffentlichkeit zur Menschenrechtslage in Kolumbien und Brasilien sorgten oder bei Vorfällen von Polizeigewalt und politischer Verfolgung Druck bei den entsprechenden Regierungen ausübten, werden im neuen Bundestag nicht mehr vertreten sein. Dazu gehört beispielsweise Heike Hänsel (Die Linke), die durch das Programm „Parlamentarier schützen Parlamentarier” kolumbianische Abgeordnete wie Iván Cepeda unterstützt hat. Oder Uwe Kekeritz (Bündnis 90 / Die Grünen), der in der Vergangenheit maßgeblich Kleine Anfragen zur Lateinamerikapolitik der Bundesregierung stellte. Ohne die langjährigen Expert*innen wird die Lateinamerikapolitik der Fraktionen – zumindest vorübergehend – geschwächt. Mit Spannung erwartet werden auch die neuen Personalien der achtköpfigen Gemeinsamen Kommission von Auswärtigem Amt und Bundestag zum Thema Colonia Dignidad, aus der vier Abgeordnete ausgeschieden sind.

Angesichts von Einbußen an Fachexpertise zur Lateinamerikapolitik werden der Aktivismus und die Solidarität von außerparlamentarischen Gruppierungen umso wichtiger. Die parlamentarische Beobachtung der Menschenrechtslage in den Ländern Lateinamerikas erfordert Druck von außerparlamentarischen Akteur*innen. Auch bei dem verabschiedeten, aber noch nicht in Kraft getretenen Lieferkettengesetz muss die Zivilgesellschaft den Regierenden klarmachen, dass es erweitert und vor allem umgesetzt werden muss.

Es ist zu hoffen, dass nach dem bevorstehenden Regierungswechsel in einigen deutschen Ministerien künftig Politiker*innen sitzen, die empfänglicher für aktivistischen Druck sind und diesen an Entscheidungsträger*innen in Lateinamerika weitergeben. Bei den bevorstehenden deutsch-brasilianischen Regierungskonsultationen Ende November sollte die mögliche Neubesetzung an der Spitze des Verkehrsministeriums deutlicher fordern als der bisherige Amtsinhaber von der CSU, dass die Eisenbahnlinie Ferrogrão, die indigene Territorien bedroht, nicht gebaut wird. Auch ein Austritt Brasiliens aus der ILO-Konvention 169, die die Konsultation von Indigenen bei Baumaßnahmen auf ihren Territorien zwingend vorschreibt, müsste sanktioniert werden. Gerade weil diese Konvention in Deutschland erst im Juni 2021 ratifiziert wurde – nach langjährigem Druck der Zivilgesellschaft.

Vom Aktivismus der Berliner*innen, die sich weiter für die Kampagne „Deutsche Wohnen & Co. Enteignen“ engagieren, und deren Anbindung an verschiedene gesellschaftliche Akteur*innen könnte sich die außerparlamentarische Lateinamerikapolitik in den kommenden Monaten inspirieren lassen. Werden die parlamentarischen Organisationen schwächer, müssen sich die sozialen Bewegungen mehr Gehör verschaffen.

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