// Organisieren gegen den Notstand!

Seit weniger als zwei Monaten ist Javier Milei Präsident Argentiniens, doch seine Regierungspraxis setzt die argentinische Demokratie bereits jetzt enorm unter Druck. Die autoritären Maßnahmen, die er in seinem Regierungsprogramm angekündigt hat, setzt er über den nationalen Notstand um. Sein marktradikales Umstrukturierungsprogramm hat bereits begonnen (mehr dazu bald online und im neuen Heft). Die vergrößerte Freiheit des Kapitals beschränkt zunehmend die Freiheit derer, die nicht über großes Kapital verfügen. Die argentinische Linke sieht sich vom Wahlergebnis schwer geschlagen, sie konnte keine glaubwürdigen Alternativen bieten. Einige linke Organisationen wie der trotzkistische FIT-U (Frente de Izquierda – Unidad) und große Gewerkschaften hatten bei der Stichwahl dazu aufgerufen, ungültig zu wählen. Nun sind sie mit einer Regierung konfrontiert, die die Errungenschaften jahrzehntelanger Kämpfe sozialer Bewegungen innerhalb kürzester Zeit zunichte machen könnte.

Mileis Vorgehen ist vergleichbar mit der Strategie Nayib Bukeles in El Salvador, der im März 2022 einen bis heute anhaltenden Ausnahmezustand erklärte. Beide Staatschefs nutzen ihre durch hohe Zustimmung bei den Wahlen legitimierte Macht, um die Institutionen auszuhöhlen und schrittweise die Rechtsstaatlichkeit aufzulösen. Am 4. Februar wird Bukele voraussichtlich wiedergewählt – obwohl die Verfassung eine zweite Amtszeit in Folge nicht vorsieht. Auch in El Salvador rufen nun einige kritische Stimmen aus der linken Opposition dazu auf, ungültig zu wählen, um so auf die Illegalität der Wiederwahl hinzuweisen. Dies könnte aber auch den Eindruck verstärken, dass die oppositionellen Kräfte keine Unterstützung genießen und Bukele in die Karten spielen.

Die Strategie Linker vor den Wahlen in Argentinien und El Salvador scheint nicht aufgegangen zu sein. In Deutschland hingegen, wo dieses Jahr Landtagswahlen stattfinden, gibt es noch nicht einmal eine erkennbare gemeinsame Strategie. Nach der Aufdeckung des Treffens in Potsdam, bei dem Faschist*innen Massenabschiebungen planten, sind Hunderttausende gegen Rechts auf die Straße gegangen – ein wichtiges Zeichen. Ob Abgrenzungsmaßnahmen wie Gegendemonstrationen jedoch einen signifikanten Einfluss darauf haben, wo andere ihr Kreuzchen setzen, ist zweifelhaft. Mehr als verzweifelte Forderungen, der faschistischen Katastrophe in den Landtagen über ein Parteiverbot zuvorzukommen, fällt vielen Linken in Deutschland aktuell nicht ein. Von den Regierungsparteien heben sie sich damit zudem kaum ab.

Dabei ist gerade die gescheiterte Sozialpolitik neoliberaler Parteien der Katalysator für autoritäre, ultraliberale oder faschistische Kräfte. Ihr Diskurs liegt dabei zudem oft weniger weit voneinander entfernt, als sie zugeben möchten. Wenn zum Beispiel Olaf Scholz jetzt öffentlichkeitswirksam verlauten lässt „Wir schützen alle – unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder wie unbequem jemand für Fanatiker mit Assimilationsfantasien ist“, hat er offenbar seine Forderung von Oktober, „in großem Stil abzuschieben“, schon wieder vergessen.

Das zeigt einmal mehr: Linke können sich Strategielosigkeit inbesondere in Zeiten von sozialen Krisen und Rechtsruck nicht leisten. Sie sind die einzige Kraft, die reale Alternativen anbieten könnte. In Deutschland ist von der Linken im Vergleich zu Argentinien jedoch noch zu wenig zu sehen. Was nachhaltige Organisierung der breiten Gesellschaft und die konsequente und öffentlichkeitswirksame Thematisierung der sozialen Frage in der Linken angeht, lässt sich von Argentinien viel lernen. Um Ideen zu entwickeln, wie das in Deutschland gelingen kann, kommt es jetzt auf uns alle an!


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Militärischer Pomp und Wirtschaftslobby

“Mörderin Dina” Protest gegen die peruanische Präsidentin Dina Boluarte, die in Berlin mit militärischen Ehren empfangen wurde (Foto: Fujimori Nunca Más – Berlin)

Dina Boluarte war am 12. und 13. Oktober in Deutschland, hauptsächlich um als Ehrengast am vom Wirtschaftsgremium Lateinamerika Verein e.V. (LAV) organisierten Lateinamerika-Tag teilzunehmen. Mit anderen Worten: Ein Teil der peruanischen Wirtschaft erwartete die Präsidentin einer Regierung, die Menschenrechte verletzt hat, als Ehrengast auf einer Veranstaltung in Deutschland, um für Investitionen in ihre Bereiche zu werben. Teil dieser Wirtschaftslobby waren peruanische Unternehmer*innen wie der Vorstandsvorsitzende von Minas Buenaventura, Roque Benavides, unter anderem bekannt für die Einschüchterungen gegen die Bäuerin Máxima Acuña, die sich gegen die Enteignung ihres Landes durch das Bergbauunternehmen Yanacocha in Cajamarca wehrte. Oder Ricardo Márquez von der Nationalen Industriegesellschaft und ehemaliger Vizepräsident des Diktators Alberto Fujimori. Weitere Teilnehmer*innen der Veranstaltung waren Ana Cecilia Gervasi, Außenministerin Perus (am 6.11.23 zurückgetreten, Anm. d. Red.), und andere peruanische Regierungsvertreter*innen, ebenso Norbert Onkelbach, CCO von Lima Airport Partners, dem Betreibers des Flughafens von Lima Jorge Chávez (dessen Anteile mehrheitlich bei der deutschen Fraport AG liegen), Vertreter*innen von Anwaltskanzleien, die mit deutschen Unternehmen in Peru zusammenarbeiten, wie „Beminzon & Benavides“, „Rodrigo, Elías & Medrano“, und andere.

Dieses Ereignis blieb in Peru sowohl in den großen Medien als auch in einem Großteil der nicht vom Marktmonopolisten El Comercio kontrollierten „unabhängigen Presse“ fast unbemerkt. Es scheint also kein Problem zu sein, wenn peruanische Wirtschaftsleute zusammen mit einer Präsidentin Investitionen mit dem Versprechen rechtlicher Stabilität und sozialen Friedens bewerben, nachdem weltweit quasi alle wichtigen staatlichen und nicht-staatlichen Menschenrechtsorganisationen die Geschehnisse in den südlichen Anden Perus als außergerichtliche Hinrichtungen angeprangert und ebenso das Vorgehen der peruanischen Regierung gegen die indigene Bevölkerung als rassistisch motiviert bezeichnet haben. Vielmehr bezog ein Großteil der peruanischen Presse sich darauf, dass Boluarte sich auch mit dem Stuttgarter Oberbürgermeister Frank Nopper getroffen hatte, dessen Position der von Boluarte untergeordnet ist und deshalb dem Anlass nicht angemessen gewesen sei. Wir vom Kollektiv Fujimori Nunca Más – Berlín möchten aber auf eine andere Tatsache hinweisen: Peruanische Geschäftsleute kommen nach Deutschland, um Investitionen einzuwerben und präsentieren eine Regierung, die Menschenrechte verletzt, als Garantin für „sozialen Frieden“ und „Stabilität“.

Am darauffolgenden Tag, dem 13. Oktober, ging es für Dina Boluarte nach Berlin, wo sie im Schloss Bellevue vom deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier mit militärischen Ehren empfangen wurde. Es ist verständlich, dass Deutschland aus diplomatischen Gründen die Person empfangen muss, die das peruanische Präsident*innenamt innehat. Nichtsdestotrotz war es für unsere Gemeinschaft schmerzlich zu sehen, wie Dina Boluarte in Deutschland mit militärischen Ehren empfangen wurde, nachdem in Peru 49 Menschen durch Waffen der Polizei und der Armee getötet worden waren. Menschenrechtsverletzer*innen, die auf Menschen schießen, haben keine Ehre. Es wird kein roter Teppich für diejenigen ausgerollt, die auf wehrlose Jugendliche schießen. Es gibt keinen Beifall für diejenigen, die Bauern, Bäuerinnen und Indigene erschießen, welche ein Land fordern, das ihnen mehr Gerechtigkeit gibt. Es gibt keinen Grund, das Ansehen der Regierung Boluarte reinzuwaschen. Wir fordern Gerechtigkeit, und wir fordern sie jetzt. Deswegen waren wir als Bündnis PEX-Alemania (peruanxs en Alemania, Deutsch: Peruaner*innen in Deutschland) bei den verschiedenen Aktivitäten Dina Boluartes sowohl in Stuttgart als auch in Berlin anwesend. Die militärischen Ehren im Schloss Bellevue wurden vom legitimen Protest der peruanischen Community – zu der auch das Kollektiv Fujimori Nunca Más gehört – überschattet. Während der Zeremonie konnte sie unsere Stimme des Protestes hören, die ebenso die Stimme der großen Mehrheit des peruanischen Volkes ist: “¡Dina Asesina! ¡El pueblo te repudia!” (Deutsch: „Dina du Mörderin, das Volk lehnt dich ab!“, Anm. d. Red.).

Hierbei sei auch erwähnt, dass verschiedene Kollektive von Peruaner*innen in Deutschland und Europa ein Schreiben unterzeichnet haben, das von einem bekannten Vertreter unserer Gemeinschaft persönlich an Bundespräsident Steinmeier übergeben und auch in unseren sozialen Netzwerken veröffentlicht wurde. In dem Schreiben weisen wir auf die Ereignisse in unserem Land hin und teilen unsere Ablehnung des Deutschlandbesuchs von Boluarte mit. Eine der Schlussfolgerungen des Dokuments ist, dass wir, die peruanische Gemeinschaft, die hier in Deutschland studiert, arbeitet und die Gesetze und Institutionen des Landes respektiert, der Meinung sind, dass die Anwesenheit von Boluarte dem Ansehen Deutschlands bei der Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten in der Welt schadet.

Nach dem Wirtschaftslobby-Treffen und militärischem Pomp führte die Reise Boluarte in den Vatikan, wo sie vom Papst empfangen wurde, der nur wenige Minuten mit ihr verbrachte und sich, den vom Vatikan veröffentlichten Fotos und der Kürze des Treffens nach zu urteilen, sehr unwohl bei diesem fühlte. Im Allgemeinen wurden in Peru die verschiedenen Reisen von Dina Boluarte in die Vereinigten Staaten und nach Europa sowohl als frivol im Hinblick auf die Höhe der ausgegebenen Gelder als auch als inkonsequent bezeichnet. Sie konnte weder mit Bundeskanzler Olaf Scholz zusammentreffen, noch wurde sie von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni empfangen, als sie Italien besuchte. Nach unserer Einschätzung wurde sie bei ihrem Besuch in Deutschland jedoch ihrer Rolle als Garantin des „sozialen Friedens“ für Investor*innen gerecht. Auch wenn noch keine großen Projekte angekündigt wurden, wird die Zeit zeigen, ob die „Ehrengästin“ der Stuttgarter Veranstaltung, die nur von 13 Prozent der Peruaner*innen anerkannt wird und der in allen Sprachen und überall, wo sie auftaucht, „Mörderin“ entgegen geschrien wird, die deutschen Unternehmer*innen überzeugt hat.


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“ANMELDUNG PARA TODES!”

Für die deutschsprachige Version hier klicken

Para les habitantes de Berlín, el aumento y la especulación de los precios de la vivienda, la inflación y la gentrificación de ciertas partes de la ciudad han alcanzado en los últimos años dimensiones alarmantes. Las consecuencias, por supuesto, afectan de manera desmedida a las personas extranjeras. Les migrantes, y particularmente aquelles que venimos del sur global, nos encontramos en importantes desventajas para acceder a una vivienda: además de las limitaciones ligadas al idioma, del desconocimiento del sistema burocrático, de las condiciones laborales precarizadas y de las redes de apoyo reducidas, sistemáticamente sufrimos prácticas excluyentes y discriminatorias a la hora de encontrar dónde vivir.

Ciudad Migrante: una iniciativa desde abajo

Motivades por la inseguridad legal, laboral y consecuentemente emocional ligada a esta situación, algunes integrantes del Bloque Latinoamericano iniciaron en abril de 2022 una serie de reuniones sobre el derecho a la vivienda. En un primer momento, estos encuentros fueron talleres abiertos a los cuales se acercaron decenas de personas para compartir sus historias y discutir soluciones comunes. A partir de la sistematización de estas experiencias, vimos la necesidad de ir más allá de la escucha colectiva: ¿Cómo podemos generar acciones concretas que tengan un impacto positivo en el acceso a la vivienda para la comunidad migrante?

Es así como, a principios del 2023, surge Ciudad Migrante, un espacio abierto creado por migrantes latinoamericanes e hispanohablantes en Berlín. Es el resultado de un arduo proceso colectivo y de la convicción de que Berlín es una ciudad donde les migrantes podemos crear un sentido de pertenencia a través de la solidaridad y de la participación política. Nuestro trabajo se orienta por dos principios fundamentales: la lucha por el acceso igualitario a la vivienda y el derecho a la ciudad.

En primer lugar, reconocemos el acceso a la vivienda como una necesidad básica para una vida digna. Esta convicción guía nuestro compromiso por promover prácticas antidiscriminatorias e incluyentes, así como por proveer herramientas informativas a les migrantes en busca de vivienda. Así, en septiembre de este año lanzamos la Guía migrante de supervivencia urbana: Herramientas para enfrentar el mercado inmobiliario y la burocracia en Berlín. En este manual se ponen a disposición mecanismos a través de los cuales puede obtenerse un cuarto; se explican las características, los derechos y las obligaciones que revisten los diferentes tipos de contrato de alquiler; cuáles son las estafas habituales a las que hay que prestarles atención; qué recursos existen para lidiar con situaciones de violencia de género en el hogar y muchas otras informaciones indispensables que no siempre resultan evidentes al momento de llegar a una ciudad desconocida.

El derecho a la ciudad se refiere al derecho de les habitantes a construir, decidir y crear la ciudad, priorizando las necesidades de la comunidad por sobre aquellas de los intereses mercantilistas. Ambos principios definen a Ciudad Migrante como un grupo anticapitalista, concentrado en la acción política, con miras a facilitar el acceso a la vivienda y al desarrollo social de aquellas personas cuya situación inmediata les orilla a la despolitización. Más que ofrecer soluciones individuales, nuestro objetivo es generar un cambio estructural, visibilizando las realidades de las personas migrantes, interpelando a la comunidad alemana e incidiendo políticamente en las decisiones que afectan la vida de todas las personas en Berlín.

El círculo vicioso de la Anmeldung

El problema del acceso a la vivienda no sólo plantea obstáculos materiales, financieros y psicológicos para les migrantes, sino que pone de relieve una serie de mecanismos burocráticos que dificultan el acceso a servicios esenciales. Entre estos, hay uno particularmente escabroso para la vida migrante: la anmeldung (registro). Fue a través del diálogo y de la reflexión con varios instrumentos de la cartografía crítica que este trámite burocrático surgió como un tema central en nuestro quehacer político. Este mecanismo de registro oficial ocupa un lugar fundamental en la legalización y establecimiento de la vida privada en Alemania. En teoría, la anmeldung se perfila como una herramienta progresiva para el control del censo poblacional, la comunicación con las autoridades y el acceso a servicios educativos, sociales y de salud. Sin embargo, en el contexto de la crisis habitacional mencionada, la deseada y muy rara vez obtenida anmeldung representa un dispositivo de exclusión fundamental de las vidas migrantes en Berlín: sin Anmeldung no hay acceso a la salud, al trabajo legal o a los servicios financieros, pues es requerida para obtener un seguro médico, solicitar el Steuernummer, abrir una cuenta de banco, firmar un contrato de trabajo, entre muchos otros servicios y derechos urbanos importante.

Campaña “Anmeldung für Alle”: la apuesta política de Ciudad Migrante

La capacidad de interpelar al Estado y a los partidos es un aspecto fundamental de la praxis política de Ciudad Migrante. Por ese motivo, nuestra reiterada presencia en las calles está siempre acompañada de consignas políticas claras a través de las cuales demandamos frente a las instituciones correspondientes soluciones concretas a los distintos aspectos de la precarización de la vida migrante. Con el propósito de luchar contra las trabas burocráticas que obstaculizan el acceso a la vivienda, Ciudad Migrante lanzará antes de fin de año una campaña denominada “Anmeldung für alle!”. Algunas de las soluciones que imaginamos son la creación de una dirección postal universal que brinde la posibilidad de registrarse en la ciudad independientemente del lugar en que se habita, la supresión de la autorización del proveedor de la vivienda (Wohnugnsgeberbestätigung), la decriminalización del falso empadronamiento (Scheinanmeldungen), entre otras. Para lograr estos objetivos, que pueden implicar la eventual modificación de la actual Meldegesetz (Ley de Registro), el trabajo conjunto con otras organizaciones del movimiento de inquilinos (Mieterbewegung) en Berlín y la izquierda parlamentaria es fundamental. Por eso motivo, todas las personas individuales e iniciativas políticas están invitadas a sumarse a la lucha en contra de burocratización y mercantilización de la vivienda. ¡Por el derecho a una ciudad migrante!


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SCHOLZ IM ADLERHORST

Es wirkte wie ein Klimatreffen. Am 30. Januar 2023 traf sich Bundeskanzler Olaf Scholz mit chilenischen Unternehmer*innen, darunter die deutsch-chilenische Handelskammer und die chilenische Industriekammer, kurz SOFOFA. In einer langen Rede beschwor der Kanzler gemeinsame demokratische Werte, zirkuläre Wirtschaft, Umweltschutz, den gemeinsamen Kampf gegen den Klimawandel und internationale Solidarität. Nachdem er zuvor von chilenischen Studierenden sprach, die während der Militärdiktatur in Deutschland studieren konnten, meinte er: „Heute teilen wir unsere demokratischen Werte und die Überzeugung, dass individuelle Freiheit und soziale Sicherheit Hand in Hand gehen. […] Und noch etwas teilen wir: Wie viele Gesellschaften sind wir mit dem Ziel verbunden, unsere Wirtschaft neu auszurichten, aus fossilen Brennstoffen auszusteigen und klimaneutral zu produzieren.“

„Von einem SPD-Mitglied hätten wir mehr erwartet“

Zuvor hatte Scholz bereits angekündigt, den Aufbau einer Gedenkstätte in der ehemaligen Colonia Dignidad zu unterstützen. Es wirkt wie ein Tapetenwechsel: Wo einst knallharte wirtschaftliche Interessen galten, sind es heute Menschenrechte und Umweltschutz. Doch der Schein trügt. Hinter der Tapete versteckt sich weiterhin das Fundament einer interessengeleiteten Außenpolitik, in deren Zentrum die Familien geflohener Nazis stehen. So war der Besuch von Scholz der große Auftritt für Christoph Schiess − ein Unternehmer, der wenig in die chilenische Öffentlichkeit tritt. Er empfing den Bundeskanzler auf dem neuen, firmeneigenen Gelände in Vitacura. Der Komplex der Firma Tánica, einst Transoceánica, ist der sichtbarste Teil des Imperiums von Schiess, das vor allem im Immobiliensektor tätig ist. Regelmäßig taucht das Unternehmen in Konflikten auf, bei denen sich Anwohner*innen gegen Neubauten durch die Tánica wehren.

Das erklärte Ziel der deutschen Regierung war es, die wirtschaftlichen Beziehungen zu stärken. Derzeit will man vor allem Kupfer und Lithium aus Chile importieren, in Zukunft soll Chile „grüne“ Energie in Form von Ammoniak und Wasserstoff nach Deutschland liefern. Chile selbst sieht sich nach eigenem Bekunden als den zukünftig weltweit größten Wasserstoffexporteur, der aufgrund seiner vorteilhaften Lage – viel Sonne und direkt am Meer – den weltweit günstigsten Wasserstoff produzieren kann. Scholz seinerseits bekundete mehrmals, dass die wirtschaftlichen Beziehungen sich ändern müssten: Die Herkunftsländer der Rohstoffe müssten vom erwirtschafteten Reichtum profitieren. Hier witterten die Unternehmer*innen beim Treffen in der Tánica gute Geschäfte. Unter der Moderation von Cristoph Schiess’ Ehefrau, Jeanette von Wolffersdorff, sprach man gemeinsam über eine grüne Zukunft, in der zirkuläre Wirtschaft auf der Tagesordnung stehe. Doch wer steht hinter dem grünen Stelldichein der deutsch-chilenischen Wirtschaft? Es sind zum Teil kleine Unternehmer*innen, die sich im Bereich der Energie- und Minenwirtschaft betätigten. Doch präsidiert werden ihre Organisationen von alten deutschen Familien und deren Freund*innen. Es sind zum großen Teil die Nachfahren von Deutschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg vor der Justiz der Alliierten flohen, beginnend bei Christoph Schiess. Relativ wenig bekannt ist über den Vater von Christoph und Gründer der Transoceánica: Wilhelm Schiess. Nach eigenen Angaben kam er im Jahr 1948 mit 23 Jahren nach Valparaíso, nachdem er es geschafft hatte, aus der Gefangenschaft der Roten Armee zu fliehen. Neben Schiess steht die Familie von Appen, die derzeit mit dem 55-jährigen Richard von Appen die chilenische Industriekammer präsidiert. Der Vater von Richard, Julio Alberto von Appen, kam als Spion für das NS-Regime erstmals im Jahr 1937 nach Chile. Nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte er sich in Santiago. Zudem war auch Victor Ide in Vertretung der deutsch-chilenischen Handelskammer anwesend. Ide gilt als enger Bekannter des Unternehmers Horst Paulmann. Paulmann kam als Kind nach Chile, nachdem sein Vater, der unter dem NS-Regime Richter war, nach Lateinamerika geflüchtet war. All diese Nazis gründeten in den 50er Jahren ihre Unternehmen, die vor allem während der Militärdiktatur stark wuchsen, – auch dank der guten Kontakte zum Militär.

Auch heute unterstützen die Unternehmer*innen stramm rechte Positionen. Cristoph Schiess sponsorte während der Wahlperiode die rechtsextreme Constanza Hube vom neoliberalen Thinktank Libertad y Desarrollo (Freiheit und Entwicklung). Paulmann war ein guter Bekannter des verstorbenen Paul Schäfer, des Gründungsvaters der berüchtigten Colonia Dignidad, sagt Winfried Hempel, der in der Colonia Dignidad aufgewachsen ist und derzeit als Anwalt die Opfer der Colonia vertritt. Für ihn ist das Händeschütteln des Kanzlers mit Nazifamilien „ein Affront“, wie er gegenüber LN sagte. Denn obwohl der Besuch von Bundeskanzler Scholz im Museum für Erinnerung und Menschenrechte in Santiago de Chile begann und Menschenrechtsthemen offiziell im Mittelpunkt seiner Reise standen, gab es laut Hempel wenig Konkretes: „Von einem SPD-Mitglied hätten wir mehr erwartet.“ Es fanden weder Treffen mit Opferorganisationen der Colonia Dignidad statt noch waren die entsprechenden staatlichen Stellen zum Staatstreffen eingeladen. Während sich die chilenischen Finanz- und Energieminister mit ihren deutschen Partner*innen trafen, fehlten der Justizminister und die Staatssekretärin für Menschenrechte gänzlich – eine Prioritätensetzung, die für Hempel ein Sinnbild der deutschen Politik ist: „Nach außen gibt sich der deutsche Staat als Paradebeispiel für Menschenrechte, doch in der Realität haben wirtschaftliche Interessen weitaus mehr Priorität.“ Der Anwalt erinnert daran, dass es lange brauchte, bis sich deutsche Staatsvertreter*innen für die Unterstützung der Colonia Dignidad entschuldigten. Es gibt Berichte, wonach das Auswärtige Amt aktiv versuche, Staatsbesuche vor Ort zu verhindern. So etwa als Bodo Ramelow im Oktober 2022, als Präsident des deutschen Bundesrates, einen Besuch in der Colonia Dignidad vornahm. Ramelow hatte anschließend das Verhalten des Auswärtigen Amtes heftig kritisiert, da ihm Informationen vorenthalten worden seien und sich Vertreter*innen des Amtes abschätzig ihm und den Opfervertreter*innen gegenüber verhalten hätten.

Nazis gründeten in den 1950ern Unternehmen, die vor allem während der Militärdiktatur stark wuchsen

Die nun angekündigte Gedenkstätte sei keineswegs neu, meint Hempel, „das Konzept steht seit mehr als acht Jahren.“ Es sei gut, dass nun auch von oberster staatlicher Stelle das Projekt unterstützt werde, doch „wenn Kanzler Scholz das Projekt würde vorantreiben wollen, hätte er während seines Besuchs den ersten Stein legen können.“ So blieb es nur eine weitere Ankündigung. Andere Projekte laufen deutlich schneller: Bei dem Besuch wurden zwei Wirtschaftsverträge unterzeichnet: einer mit dem chilenischen Bergbauministerium über eine deutsch-chilenische Partnerschaft für Bergbau, Rohstoffe und Kreislaufwirtschaft, ein zweiter zur Kooperation der Hamburger Kupferraffinerie Aurubis mit der chilenischen staatlichen Kupfermine Codelco. Außerdem haben Porsche und Siemens bereits in die Testproduktion von synthetischen E-Fuel-Kraftstoffen in Chile investiert.


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Isoliert im Plattenbau

© María Grazia Goya

Nein, glamourös wirkt das alles wirklich nicht. Eine schmucklose Wohnung in einer anonymen Plattenbausiedlung am Rande der Großstadt, Jobs auf dem Bau oder als Call-Center-Agent, dazu draußen Berge von Schnee. Ob es das war, was sich die kubanischen Arbeitsmigranten, die der Dokumentarfilm Llamadas desde Moscú (Anrufe aus Moskau) zeigt, von ihrem Leben in Russland erhofft haben? Inwiefern es eine Verbesserung zu ihrer vorherigen Existenz in Kuba darstellt? Wir werden es wahrscheinlich nie erfahren. Denn das Geschehen im Film fokussiert sich fast ausschließlich auf Telefongespräche, die sie nach Hause oder ganz selten auch mal mit dem Vermieter in Moskau führen. Und die meist nicht besonders aussagekräftig sind.

Das ist schade, denn die Ausgangssituation der vier Männer, die der Film begleitet, hätte Material für wesentlich mehr hergegeben. Alle vier sind homosexuell und aus Kuba nach Russland geflüchtet – in ein Land, in dem  jegliche positive Äußerung oder Darstellung zum Thema Homosexualität unter Strafe steht. Doch ihre Meinung zu den Widersprüchen und Gemeinsamkeiten in den so unterschiedlichen Gesellschaften wird von Regisseur Luis Alejandro Yero nicht erfragt. Wie fühlt es sich an, Migrant in Russland zu sein? Aus dem Sozialismus in eine immer repressiver werdende Autokratie zu kommen? Queer zu sein in einem Land, das queere Lebensweisen marginalisiert und diskriminiert? Gibt es überhaupt etwas, das sie heute noch mit diesem Russland verbindet außer der Visafreiheit, einem Relikt aus der gemeinsamen kommunistischen Vergangenheit?

Zu all dem hätten Eldis, Juan Carlos, Deryl und Dariel vermutlich viel zu erzählen gehabt. Zumal Llamadas desde Moscú im Februar 2022, nur wenige Tage vor Ausbruch des Ukraine-Kriegs, gedreht wurde und die Anspannung spürbar ist (das Filmteam konnte sich mit einem der letzten Flüge vor der Ausreisesperre zurück nach Kuba retten). Stattdessen liegen sie meist apathisch auf Betten in einem möblierten Apartment herum, sehen oder filmen selbst TikTok-Videos und geben in ihren Telefonaten mehr oder weniger Relevantes über ihre neue Lebensrealität preis. Dazu sieht man spärliche Außenaufnahmen von der trostlosen, verschneiten Trabantenstadt um sie herum. Das Ganze unterstreicht den Eindruck, der von Beginn an gewollt ist: Kulturelle, menschliche und auch politische Vereinzelung in einer Umgebung, die fremder nicht sein könnte. Dadurch, dass Yero den Hintergrund seiner vier Protagonisten aber überhaupt nicht beleuchtet, gelingt es ihm auch nie, wirkliche Empathie mit ihnen zu erzeugen. So bleibt Llamadas desde Moscú am Ende nicht mehr als ein interessantes Projekt, das trotz der geglückten Darstellung von Isolation zu oft vergisst, sich um die Menschen dahinter zu kümmern.

LN-Bewertung: 2/5 Lamas


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// GANZ EHRLICH

„Ich sage mal ganz ehrlich, diese schwarz gekleideten Inszenierungen bei verschiedenen Veranstaltungen von immer den gleichen Leuten erinnern mich an eine Zeit, die lange zurückliegt und Gott sei Dank,” erklärte Olaf Scholz von der Bühne des Kirchtages Ende Mai, nachdem zwei Umweltaktivist*innen es gewagt hatten, seine Rede zum Ausstieg aus der Kohleverstromung zu stören.

Nicht erst damit wird klar, wie leer und heuchlerisch seine Versprechungen und Inszenierung als „Klimakanzler” waren und sind, das zeigt die miserable Klimabilanz der Regierung. Nun aber diskreditiert derselbe Kanzler auch die Klimakrise als Ideologie und diejenigen, die sich für Klimagerechtigkeit einsetzen, als von Eigeninteressen geleitete Extremist*innen. Nicht verwunderlich daher, dass auch in Deutschland die Repression gegen Klimaaktivist*innen und deren Kriminalisierung steigt, das haben zuletzt die Verhaftungen im Zusammenhang mit der Räumung des Dannenröder Forsts und die Millionenklagen von RWE gegen Anti-Kohle-Aktivist*innen gezeigt.

In Lateinamerika sieht die Repression gegen Umweltaktivist*innen noch viel düsterer aus. Dort ist Umweltschutz buchstäblich lebensgefährlich und endet für viel zu viele Aktivist*innen tödlich. Fast drei Viertel der Morde an Umweltaktivist*innen weltweit finden in Lateinamerika statt, die meisten in Kolumbien, darauf folgen – mit großem Abstand – Mexiko, Brasilien und Honduras. Die NGO Global Witness berichtet von 227 ermordeten Umweltaktivist*innen im Jahr 2020, 65 davon allein in Kolumbien. Die meisten der ermordeten Aktivist*innen hatten sich gegen Abholzung durch Forstunternehmen zur Wehr gesetzt, ein Drittel der Opfer waren Indigene. Die Zahl derer, die aufgrund ihres Engagements schikaniert, bedroht, verhaftet oder entlassen wurden, ist weitaus höher. Und nicht nur das Leben der Umweltaktivist*innen steht auf dem Spiel, sondern das ganzer Communities und Ökosysteme. Internationale Unternehmen, auch aus Deutschland, zerstören aus Profitgier in Lateinamerika komplette Regionen – mit fatalen Folgen für das Klima. Sie betreiben Tagebaue, holzen Wälder ab, vertreiben Menschen oder beuten sie als billige Arbeitskräfte aus, verseuchen Grundwasser, tragen zur Versandung, Verwüstung, fehlenden CO2-Speichern und Dezimierung der Artenvielfalt bei.

Gleichzeitig werden diejenigen, die sich vor Ort gegen diese Zerstörung wehren, als „Feind*innen der Entwicklung” dargestellt, wie es der honduranische Umweltaktivist Joaquín A. Mejía ausdrückt, und damit als störende Elemente eines „Fortschritts”, der auf extraktivistischen und neokolonialen Strukturen beruht. Von dieser Art des Fortschritts, der von vielen lateinamerikanischen Regierungen propagiert wird, profitieren neben den internationalen Konzernen auch die Politiker*innen des Globalen Nordens, die die schmutzige Ressourcenausbeutung für die Energiewende in weit entfernte Regionen auslagern können. Auf diese Weise müssen sie sich mit Lösungen für die Klimakrise, die eine Abkehr vom ewigen Wirtschaftswachstums erfordern würde, gar nicht erst beschäftigen. Doch gerade indigene Umweltaktivist*innen sind es, die bereits jetzt vorleben, dass es auch anders geht.

Nicht nur deswegen ist der notwendige und legitime Protest von Umwelt- und Klimaaktivist*innen weltweit gegen die Zerstörung unserer aller Lebensgrundlagen ebenso unbeliebt bei Politik und Wirtschaft wie die Fakten über die Klimakrise selbst. Die peinliche Diskreditierung und Einschüchterung der Aktivist*innen im Falle von Scholz soll dazu dienen, von deren Botschaft abzulenken, die klar macht, dass mit den bisher geplanten Maßnahmen der Bundesregierung die selbst gesteckten Klimaziele nicht erreicht werden. Ganz ehrlich, so lässt sich die Klimakatastrophe nicht aufhalten.


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FÜR DAS WASSER, FÜR DAS LEBEN

Die Karawane für das Wasser verbindet lokale Widerstände und Initiativen (Foto: Jana Bauch)

Mit der „Karawane für das Wasser und das Leben“ protestierten die mitreisenden Aktivist*innen gegen die Verschmutzung und Privatisierung des Wassers sowie gegen Extraktivismus. Damit stellten sie sich zugleich deutlich gegen die Idee des Fortschritts durch Wirtschaftswachstum, die die mexikanische Regierung aktuell durch große Infrastrukturprojekte propagiert. Dazu wurden Orte besucht, an denen verschiedene Gruppen und Gemeinden für den Schutz des Wassers und indigene Rechte kämpfen. Ziel war nicht nur, auf kollektiv organisierten Widerstand aufmerksam zu machen, sondern auch, die betroffenen Kollektive zu vernetzen.

Eine Reise des Zuhörens und des Austausches

Marina vom Bündnis der Pueblos Unidos de Choluteca fasst das so zusammen: „Die Karawane ist wie eine Reise des Zuhörens und des Austauschs, bei der wir verschiedene Ecken Mexikos besuchen, um zu sehen, wie sich an Orten des Todes Gemeinschaften organisieren, die für das Leben kämpfen und Autonomie aufbauen.“

Die Karawane startete an einem besonderen Ort: der ehemals besetzten Wasserfabrik Altepelmecalli im zentralmexikanischen Bundesstaat Puebla. Auf dem Gelände der Fabrik hatte Bonafont, eine Tochterfirma des französischen Lebensmittelkonzerns Danone, fast 30 Jahre lang große Mengen an Wasser abgepumpt – pro Tag etwa so viel, wie 50.000 Menschen in einem Jahr zum Leben brauchen. Am letztjährigen Weltwassertag, dem 22. März 2021, wurde die Fabrik von den indigenen Nahua besetzt, um dort ein Gemeindezentrum aufzubauen. Damit konnte die massive Wasserentnahme von über einer Million Litern täglich gestoppt werden, sodass sich die Brunnen der Gemeinde wieder mit Wasser füllten. Obwohl die Besetzung im Februar 2022 geräumt wurde und die Fabrik nun von Sicherheitskräften bewacht wird, stehen die Maschinen dort weiterhin still.

Die Wahl des Startpunktes war symbolisch – aus geographischer, aber auch aus zeitlicher Sicht: Am Weltwassertag 2022, also ein Jahr nach der erfolgreichen Besetzung, begann die Reise zu über dreißig verschiedenen Zielen, die sich teils ähnlichen, teils verschiedenen Kämpfen widmen: eine Mülldeponie, die das Trinkwasser vergiftet, eine geplante Goldmine der Aldama Group sowie Orte des Widerstands gegen die staatlichen Infrastruktur-Projekte Projecto Integral de Morelos (PIM) und Corredor Transístmico. Mit ersterem soll Zentralmexiko durch ein Wärmekraftwerk und eine Gas-Pipeline mit Energie versorgt werden. Seit Baubeginn im Jahr 2012 prangern lokale Gemeinden immer wieder die Wasserverschmutzung durch Abwasser des Kraftwerks an; Wissenschaftler*innen warnen vor den Risiken, die der Betrieb der Pipeline in der Nähe zum Vulkan Popocatépetl mit sich bringe. Im Jahr 2019 wurde mit Samir Flores ein prominenter Gegner des PIM getötet; seitdem wurden weitere Aktivist*innen ermordet. Auch der Corredor Transístmico, der die Landenge von Tehuantepec im Süden Mexikos mit einem Schnellzug und einer Freihandelszone als Alternative zum Panamakanal etablieren soll, steht stark in der Kritik.

Die Karawane setzte sich aus bis zu 50 Menschen aus verschiedenen politischen Kollektiven zusammen. Mit einem eigens organisierten Bus besuchten die Teilnehmenden widerständige Projekte und wurden dort zumeist von mehreren hundert Menschen in Empfang genommen. Gemeinsam wurden Demonstrationen organisiert, Kundgebungen abgehalten und Orte der Zerstörung besucht, aber auch direkte Aktionen, wie etwa Straßenblockaden, durchgeführt. Dabei kam es wiederholt zu Repressionen durch die Polizei und die Nationalgarde, etwa durch Beschlagnahmung von Material. Die Karawane war auf ihrem Weg außerdem mehrfach gewalttätigen Einschüchterungsversuchen von organisierten Drogenkartellen ausgesetzt.

Gemeinsam an Orten der Zerstörung kämpfen

Auch neun Klimagerechtigkeitsaktivist*innen aus Lützerath waren bei der Karawane mit dabei. Das Dorf im Rheinland wird als eines der letzten von den Kohlebaggern des Konzerns RWE bedroht. Auf Einladung aus Mexiko sind die Aktivist*innen im März nach Lateinamerika gereist, um die Karawane zu unterstützen. „Diese Menschen stehen an den Frontlines der Klimakrise und in direkter Konfrontation mit zerstörerischen Großkonzernen. Wir wollen uns mit ihnen austauschen, vernetzen und somit von Menschen lernen, die schon seit 500 Jahren im Widerstand gegen koloniale, patriarchale und kapitalistische Ausbeutung sind“, erklärt Ronni Zepplin aus Lützerath. Die Vernetzung zum Bündnis der Pueblos Unidos, die die Aktivist*innen schon vorher aufgebaut hatten, hat sich während der Karawane intensiviert. Das Ziel, ihre Kämpfe zu verknüpfen und sichtbar zu machen, wurde sogleich in die Praxis umgesetzt: Rund um Ostern organisierten die Pueblos Unidos internationale Aktionstage, an denen digitale Podiumsgespräche, eine virtuelle Demo mit 14 verschiedenen Gruppen und eine Aktion vor der deutschen Botschaft in Mexiko stattfanden. „Wir wollen die Kämpfe in Mexiko mit Öffentlichkeit unterstützen, aber auch die europäischen Konzerne angreifen, die in Mexiko wirtschaften, insbesondere das grüne und soziale Image, mit dem zum Beispiel Danone versucht, seine Produkte zu verkaufen“, so Zepplin.

Auch nach der Karawane soll die gegenseitige Unterstützung weitergehen. Zepplin kommentiert: „Die Kontakte, die wir hier geknüpft haben, wollen wir nutzen, um uns gegenseitig nicht mehr alleine zu lassen. Wenn sie eine von uns angreifen, greifen sie uns alle an.“


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// IM SCHWARZWALD LIEBER NICHT

Habeck will beim Klimaschutz auf die Tube drücken. Damit Deutschland seine Klimaziele bis 2030 erreicht, müsse das Land die Anstrengungen „in allen Bereichen“ verdreifachen. Das klingt ambitioniert, im Klartext heißt das aber vor allem: mehr Windkraft für mehr Teslas. 15 Millionen zusätzliche E-Autos sollen bis 2030 auf der Straße sein, dreißigmal mehr als bisher. Kein Wunder, dass das Ministerium für Wirtschaft und Klimaschutz von einem Anstieg des Strombedarfs um fast 30 Prozent ausgeht. Die Autoindustrie freut’s und die Grünen in Berlin-Mitte finden Habecks Pläne auch supi: Bald können die Kinder klimaneutral im Elektro-SUV von der Schule abgeholt werden. Also schnell noch ein paar Windräder bauen.

Lateinamerika spielt in diesen Debatten bisher keine Rolle. Dabei ist die Region für Habeck und Lindner von zentraler Bedeutung: Ohne das Lithium aus Bolivien, Chile und Argentinien lassen sich ihre Pläne wohl kaum realisieren. Die Gewinnung des begehrten Leichtmetalls für die E-Auto-Batterien zerstört im sogenannten Lithium-Dreieck schon jetzt die Umwelt und vernichtet die Lebensgrundlage der lokalen Bevölkerung. „Sie sagen, Elektroautos seien die Lösung, die Rettung der Welt. Aber das sind sie nicht. Die Rettung ist das Gewissen jener Menschen, die dieses Gebiet so zu respektieren wissen, wie wir es tun. Wenn wir alle den nötigen Respekt für die Erde hätten, bräuchten wir nicht zu sagen, dass Elektroautos den Planeten retten werden“, sagte Jorge Álvarez Sandon aus der Gemeinde Coyo in der Atacama-Wüste bereits 2020 im Interview mit der Deutschen Welle. Davon will man hierzulande jedoch nichts hören. Bei aller Euphorie ums „Anpacken“ und den klimapolitischen „Aufbruch“ kommen die möglichen Folgen deutscher Klimapolitik bisher deutlich zu kurz – jedenfalls dann, wenn sie nicht direkt vor der eigenen Tür stattfinden. Das an den Schwarzwald angrenzende Rheintal, in dem das größte Lithium-Vorkommen Europas vermutet wird, bleibt vermutlich unangetastet.

Immerhin: Im Koalitionsvertrag der Ampel findet sich das Bekenntnis zur multilateralen Zusammenarbeit mit den lateinamerikanischen Staaten, „unter anderem bei der Bewahrung der Biodiversität, der Bekämpfung der Klimakrise und nachhaltigen Wirtschaftsbeziehungen.“ Was das genau bedeutet, ist jedoch noch unklar. Heißt es, dass die Regierung das Lieferkettengesetz um Sorgfaltspflichten im Umweltbereich nachschärfen wird, damit die aufgrund des Lithiumabbaus gefährdete Wasserversorgung im Lithium-Dreieck gesichert wird? Bedeutet es, dass deutsche Unternehmen wie BASF und Bayer in Zukunft keine Pestizide mehr nach Lateinamerika exportieren können, die in der EU aufgrund ihrer umwelt- und gesundheitsschädlichen Wirkung längst verboten sind?

Die Klima- und Umweltpolitik der Ampelregierung wird auch nach ihren globalen Auswirkungen bewertet werden müssen. Ausschlaggebend für den Schutz von Klima und Biodiversität sind nicht (nur) die Anzahl der E-Autos auf deutschen Straßen oder das Einhalten nationaler Klimaziele. Will die neue Regierung wirklich etwas zum internationalen Klimaschutz beitragen, muss sie mögliche Zielkonflikte auch außerhalb der nationalen Grenzen berücksichtigen. Zur ganzen Wahrheit gehört auch, die Grenzen des grünen Wachstums anzuerkennen. Einen grünen Rohstoffkolonialismus, der die Kosten für Umwelt- und Klimaschutz lediglich auslagert und die eigentlichen Ziele damit ad absurdum führt, darf es nicht geben – nicht in Lateinamerika, und auch sonst nirgends.


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IM „PARADIES DER AGRARGIFTE“

(Foto: Christian Russau)

Larissa Bombardi ist Professorin der Geografie an der Universität von São Paulo. Eigentlich. Eigentlich würde sie, wie seit ihrer Berufung an die international renommierte Universität im Jahr 2007, weiter vor Ort lehren, forschen und ihre Untersuchungen veröffentlichen. So wie sie es 2019 mit ihrer Studie zur Geografie des Pestizid-Einsatzes in Brasilien und dessen Verbindungen zur EU getan hatte. Bombardi ermittelt, in welchen Gemeinden Brasiliens wie viele Pestizide eingesetzt werden. Sie sammelt Daten über Pestizidvergiftungen und darüber, wie hoch die Krankheitsraten zum Beispiel bei Krebserkrankungen in den Gemeinden sind. „Als Geografin lege ich die Daten in Form von Karten übereinander“, erklärte die Wissenschaftlerin bereits 2019 bei ihrem Besuch in Berlin gegenüber LN. Bombardis Karten haben es in sich. Denn sie zeigen deutlich: Wo viele Pestizide versprüht werden, steigen auch die Krankheitsfälle.

Die Wissenschaftlerin stellte diese Informationen im Jahr 2019 auch in Europa vor. Nachdem darüber in den Medien berichtet wurde, erhielt sie erste anonyme Telefonanrufe, indirekte Drohungen. Ihre Kompetenz wurde öffentlich in Abrede gestellt, sie wurde beschimpft und diffamiert. Und die Drohungen nahmen zu. Bis im August 2020 bei ihr eingebrochen wurde. Gestohlen wurden ein Fernseher und ein Laptop. „Ich kann nicht mit absoluter Sicherheit sagen, dass dies ein weiterer Einschüchterungsversuch war, ob dies mit meinen Forschungen über Agrargifte zu tun hatte“, sagt Bombardi. Aber ihre Entscheidung stand am nächsten Tag fest. Zur Sicherheit ihrer Kinder und ihrer selbst ging sie ins Exil, nach Brüssel. Dort lebt sie jetzt von einem kleinen Stipendium. Doch die Rückkehr nach Brasilien ist für sie keine Option. „Lieber eine lebendige Mutter in Belgien als eine tote in Brasilien“, sagte sie im Oktober 2021 in einem Interview mit Zeit Online.

Während Kritiker*innen und Wissenschaftler*innen wie Bombardi eingeschüchtert und bedroht werden oder ins Ausland gehen, verfestigt die Bolsonaro-Regierung Brasiliens Führungsrolle beim Pestizidverbrauch: Neuesten Erhebungen des Professors Marcos Pedlowski von der staatlichen Universität in Campos dos Goytacazes im Bundesstaat Rio de Janeiro wurden in den 36 Monaten der Bolsonaro-Regierung bis Ende 2021 insgesamt 1.558 neue Agrargifte zugelassen. Zum Vergleich: In den Regierungsjahren der Arbeiterpartei PT (2003-2016) lag der jährliche Durchschnitt für Neuzulassungen bei 140 Pestiziden, die Temer-Regierung steigerte diese Zahl 2017 und 2018 auf 341 pro Jahr. Bolsonaro hob das Dreijahresmittel auf 519 Zulassungen. Und das brasilianische Agrobusiness sprüht, was das Zeug hält. Es sind dabei meist die ins Ausland exportierten Cash Crops wie Soja, Mais, Baumwolle, Kaffee und Zitrusfrüchte, die am meisten Agrarchemikalien ausgesetzt werden.

Krebsraten liegen in Agrar-Gemeinden neun Mal höher

Seit in Brasilien im Jahr 2010 erstmals mehr als eine Million Tonnen der agrotóxicos in der Landwirtschaft versprüht wurden, trägt es den unrühmlichen Titel des größten Agrargiftver- brauchers weltweit. Mit Tereza Cristina Corrêa da Costa Dias ist eine erklärte Lobbyistin in Sachen Agrarchemikalien Bolsonaros Landwirtschaftsministerin. Selbst die liberale Tageszeitung Folha de São Paulo bezeichnete die Ministerin als „Muse des Giftes“. All dies hat Folgen. „Seit Anfang der 2000er Jahre wird viel genmodifiziertes Saatgut verkauft, das nicht stirbt, wenn man beispielsweise großflächig mit Glyphosat spritzt. Die industrielle Landwirtschaft in Brasilien ist total abhängig von Agrargiften“, konstatiert der Aktivist Alan Tygel von der brasilianischen Kampagne gegen Agrargifte.

Eine Studie der Bundesuniversität von Mato Grosso stellte bei einer Untersuchung fest, dass es in 13 Gemeinden mit 644.746 Einwohner*innen (laut des letzten Zensus von 2015), in denen zwischen 1992 und 2014 Soja, Mais und Baumwolle angebaut wurde, 1.442 Fälle von Magen-, Speiseröhren- und Bauchspeicheldrüsenkrebs gab. In den 13 Vergleichsgemeinden mit 219.801 Einwohner*innen , wo eine vorwiegend touristische Nutzung stattfand, lag die Zahl der Krebsfälle bei 53. Daraus errechnet sich in agrarwirtschaftlich genutzten Gemeinden, wo intensiv Pestizide eingesetzt werden, statistisch eine neun Mal höhere Krebsrate.


Seit Bolsonaros Amtsantritt wurden 1558 Agrargifte zugelassen

Hinzu kommt: In Brasilien werden jedes Jahr Tausende von Menschen durch Pestizide vergiftet. Ihre Zahl steigt Jahr für Jahr an: 2007 lag sie bei 2.726 Fällen, 2017 schon bei 7.200, ein Anstieg um mehr als 160 Prozent. Die für die Datensammlung der Vergiftungsfälle zuständige nationale Behörde für Gesundheitsüberwachung (ANVISA) musste auf Geheiß der Bolsonaro-Regierung die Erhebungsmethode ändern. Bei einer Anhörung im brasilianischen Senat vergangenen September warf die Wissenschaftlerin Silvia do Amaral Rigon der Regierung daher vor, dass neuere Statistiken nicht mehr die Realität abbilden.

Auch nicht-landwirtschaftlich genutzte Regionen sind von den Herbiziden, Insektiziden und Fungiziden betroffen. Dies betrifft zum einen die Fälle, in denen verspritzte Agrarchemikalien als Rückstände auf den konsumierten Nahrungsmitteln verbleiben. Laut den jüngsten vorliegenden Zahlen der ANVISA (2017/18) wurden bei Stichprobenüberprüfungen 14 gängiger landwirtschaftlicher Produkte (darunter Ananas, Knoblauch, Reis, Süßkartoffeln und Karotten) in 23 Prozent der Fälle die zulässigen Grenzwerte überschritten.
Ein weiterer äußerst kritischer Bereich ist das Trinkwasser. Das Gesundheitsministerium prüft bislang auf 27 Stoffe, die teils schwere Gesundheitsgefährdungen bei Kontakt bewirken können. Laut ANVISA gelten 16 dieser Substanzen als „extrem toxisch“ oder „hoch toxisch“, 11 werden in Zusammenhang mit chronischen Krankheiten wie Krebs, Missbildungen oder reproduktiven Störungen gebracht. Was die brasilianische Öffentlichkeit im April 2019 vor allem schockte: Im Jahr 2014 wurden in 75 Prozent der Tests Rückstände von Agrarchemikalien im Trinkwasser gefunden, 2017 waren es 92 Prozent der Tests. Bolsonaro erließ im Mai 2021 ein Dekret, das die zu untersuchenden Stoffe im Trinkwasser auf insgesamt 40 erhöhte, aber die großzügigen Grenzwerte nicht antastete.

Das Gift deutscher Konzerne bleibt in Brasilien

„Eure Firmen aus Deutschland exportieren Pestizide und Deutschland importiert billige Agrarrohstoffe. Das Gift bleibt in Brasilien zurück“, sagt Larissa Bombardi Ende 2020 bei einem Gespräch mit LN in Berlin. Und sie erinnert daran, dass die Grenzwerte in Brasilien deutlich höher seien als in der EU. Bei Glyphosat ist der brasilianische Toleranzwert 1.000-mal höher als der in der EU gültige Wert. Dies trifft letztlich auch die Konsument*innen in Europa: Im Mai vergangenen Jahres hatte Greenpeace Früchte aus Brasilien auf Rückstände von Agrargiften getestet. Das Ergebnis: „Die Laboruntersuchungen der 70 Früchte belegen Rückstände von insgesamt 35 verschiedenen Pestizidwirkstoffen. Insgesamt viermal wurden die gesetzlichen Höchstmengen überschritten. Die analysierten Proben bestehen sowohl aus Schale als auch aus Fruchtfleisch.“

Zu den größten Verkäufern von Pestiziden in Brasilien zählen zwei Firmen aus Deutschland: Bayer und BASF. Diese verkaufen in Brasilien auch Pestizide mit Wirkstoffen, die in der EU verboten sind. Die Zahl der von Bayer in Brasilien vertriebenen, aber laut der Pestizid-Datenbank der EU in Europa nicht zugelassenen Wirkstoffe, hat von 8 im Jahr 2016 auf 12 im Jahr 2019 zugenommen, bei BASF ist eine Zunahme von 9 (2016) auf 13 (2019) festzustellen.

Und die europäische Politik? Die setzt weiter auf, beispielsweise, das EU-Mercosur-Freihandelsabkommen. Greenpeace warnt: „Wird das geplante EU-Mercosur-Abkommen abgeschlossen, sinken die Zölle auf Pestizide. Dies dürfte deren Absatz und den giftigen Handel noch steigern.“ Larissa Bombardi empört dieses Vorgehen: „Es kann nicht sein, dass bestimmte Stoffe in der EU verboten sind, aber Bayer und BASF sie an Brasilien verkaufen.“ Dass solchen Exporten ein Ende gemacht wird, will sie auch auf der nächsten Hauptversammlung der Bayer AG Ende April fordern.


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LAUFEN GELASSEN

„Hier sind sie – Schluss mit dem Schweigepakt“ Angehörige von Verschwundenen fordern Aufklärung (Foto: Jorge Soto)

Bis 2004 lebte Reinhard Döring in der Colonia Dignidad. Dann verließ er die deutsche Sektensiedlung in Chile, in der Freiheitsberaubung, sexualisierte Gewalt und Zwangsarbeit zum Alltag gehörten, und die eng mit der Diktatur Augusto Pinochets kooperierte. Seit 2004 lebt der heute 75-Jährige weitgehend unbehelligt im nordrhein-westfälischen Gronau.

Seit 2005 ermittelt die chilenische Justiz wegen der Beteiligung an der Entführung und dem Verschwindenlassen der 1976 verschleppten politischen Gefangenen Juan Maino, Elizabeth Rekas und Antonio Elizondo gegen Döring und erließ einen internationalen Haftbefehl. Er soll als Kontaktperson der Colonia Dignidad zum chilenischen Geheimdienst DINA fungiert haben. Dieser hatte nach dem Putsch von 1973 ein Lager auf dem Gelände der deutschen Sektensiedlung eingerichtet, in dem Hunderte Oppositionelle gefoltert und Dutzende ermordet wurden. Diese wurden in Massengräbern auf dem Gelände der Colonia Dignidad verscharrt, ihre Leichen später wieder ausgegraben und verbrannt. Das belegen Aussagen von Angehörigen der deutschen Siedlung.

Döring selbst hatte bei einer Vernehmung in Deutschland 2009 gestanden, Gefangene bewacht zu haben. Außerdem soll er nach Aussagen, die ein anderer ehemaliger Angehöriger der Colonia Dignidad bei polizeilichen Vernehmungen 2005 in Chile gemacht hatte, als Fahrer auch Gefangene an einen abgelegenen Ort auf dem Siedlungsgelände zur Exekution transportiert haben. In einer früheren Vernehmung hatte Döring bestätigt, Waffen und Motoren – mutmaßlich von Autos von politischen Gefangenen – auf dem Gelände der Colonia Dignidad versteckt zu haben .

Wegen seiner deutschen Staatsangehörigkeit liefert Deutschland Döring nicht nach Chile aus. Ein 2016 eröffnetes eigenständiges Verfahren stellte die Staatsanwaltschaft Münster 2019 wieder ein. Es läge kein hinreichender Tatverdacht vor, hieß es damals (siehe LN 536). Andreas Schüller vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) kritisiert, wichtige Zeugen, die das ECCHR benannt habe, seien nicht vernommen worden. Es habe keinen ausreichenden Willen zur Aufklärung gegeben.

Bei einer Urlaubsreise in die Toskana wurde Döring am 22. September 2021 in der Kleinstadt Forte dei Marmi aufgrund eines Interpol-Haftersuchens festgenommen. Seitdem saß er dort in Haft. Einem Auslieferungsabkommen zwischen Chile und Italien entsprechend überstellte der Oberste Gerichtshof Chiles am 12. November fristgerecht einen Auslieferungsantrag für Reinhard Döring, der am 18. November in Italien ankam und am 19. bereits dem italienischen Justizministerium vorlag.

Doch ebenfalls am 18. November befand ein Berufungsgericht in Florenz, Dörings Gesundheitszustand sei „mit der Haft unvereinbar“. Deshalb solle seine Haft durch „weniger schwere Maßnahmen“ ersetzt werden. Kurzum: Döring wurde unter der Auflage, sich täglich einmal bei der Polizei in Lucca in der Toskana zu melden, aus dem Gefängnis entlassen.

Dieser Beschluss wurde bemerkenswerterweise vier Tage vor Ablauf der Frist zur Einreichung eines Auslieferungsantrags gefällt, und zwar unter Verweis darauf, dass die Voraussetzungen für die Haft sowieso am 22. November auslaufen würden. „Nach Informationen aus dem Justizministerium liegen keine Hinweise darauf vor, dass die chilenischen Justizorgane einen Auslieferungsantrag gestellt oder die entsprechenden Dokumente übergeben haben“, heißt es im Beschluss des Berufungsgerichts.

Ein „unentschuldbarer Fehler“

Am 22. November forderte das italienische Justizministerium unter Verweis auf Fluchtgefahr Dörings, diesen sofort wieder festzusetzen und der Generalstaatsanwalt legte Beschwerde gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts in Florenz ein. Nach Informationen aus dem Justizministerium wies das Berufungsgericht diese Beschwerde jedoch zurück. Laut Angaben der italienischen Polizei meldete Döring sich nach seiner Entlassung täglich auf dem Revier in Lucca und reiste am 22. November ab. Inzwischen ist er wieder zu Hause in Gronau.

Die Frist zur Einreichung eines Auslieferungsantrags nicht einzuhalten, sei ein „unentschuldbarer Fehler“, sagt die Rechtsanwältin Mariela Santana. Sie vertritt die Schwestern des in Chile 1976 Verschwundenen Juan Maino, Margarita und Mariana Maino.

Santana kritisiert auch fehlendes Engagement der chilenischen Regierung. Der Außenminister müsse erklären, warum nicht direkt nach Dörings Verhaftung eine anwaltliche Vertretung des chilenischen Staates im italienischen Auslieferungsverfahren benannt wurde. Diese hätte aktiv für die Interessen des chilenischen Staates eintreten können.

„Es gab einen Haftbefehl, aber die Staaten haben nicht kooperiert, jetzt ist Döring entkommen“, sagt Mariana Maino. Sie kritisiert, Italien sei dafür verantwortlich, dass Döring entkommen konnte, Chile müsse nun reagieren. Und in Deutschland fehle es im Kontext der Colonia Dignidad insgesamt an einem Sinn für Gerechtigkeit. Tatsächlich ist Döring kein Einzelfall. Der in Chile rechtskräftig zu fünf Jahren Haft verurteilte frühere Leiter des Krankenhauses der Colonia Dignidad, Hartmut Hopp, lebt unbehelligt in Krefeld. Auch gegen ihn hatte die chilenische Justiz im Fall der Entführung von Juan Maino u.a. ermittelt – bis es ihm gelang, sich nach Deutschland abzusetzen (siehe LN 540).


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// ENTEIGNEN INSPIRIERT

„Die Ergebnisse in Berlin, bei denen die Linke stark abgeschnitten hat, sind sogar in Kolumbien gute Nachrichten“, sagt Verónica Vélez, eine in Berlin lebende, kolumbianische Aktivistin gegenüber LN nach den Wahlen vom 26. September. Damit meint sie den Ausgang des Volksentscheids zur Enteignung großer Immobilienkonzerne. „Die sozialen und politischen Bewegungen gegen Zwangsräumungen in Bogotá sind während der Pandemie stärker geworden. Die Möglichkeiten, für die das Berliner Referendum steht, haben eine große Bedeutung für den Kampf gegen Ungleichheit und das Recht auf Dasein und Wohnung.“ Dass der mit 56 Prozent Zustimmung zur Enteignung an den Berliner Urnen klar ausgefallene aktivistische Erfolg internationale Strahlkraft entfaltet und auch in den von Mietenspekulation gebeutelten Großstädten Lateinamerikas inspiriert, ist ein doppelter Erfolg.

Doch was den Subkontinent betrifft, sind leider nicht alle Ergebnisse der Wahlen in Deutschland so positiv. Für die deutsche Lateinamerikapolitik_bedeuten sie zunächst einen Rückschlag: Mehrere Parlamentarier*innen, die zuvor für eine kritische Öffentlichkeit zur Menschenrechtslage in Kolumbien und Brasilien sorgten oder bei Vorfällen von Polizeigewalt und politischer Verfolgung Druck bei den entsprechenden Regierungen ausübten, werden im neuen Bundestag nicht mehr vertreten sein. Dazu gehört beispielsweise Heike Hänsel (Die Linke), die durch das Programm „Parlamentarier schützen Parlamentarier” kolumbianische Abgeordnete wie Iván Cepeda unterstützt hat. Oder Uwe Kekeritz (Bündnis 90 / Die Grünen), der in der Vergangenheit maßgeblich Kleine Anfragen zur Lateinamerikapolitik der Bundesregierung stellte. Ohne die langjährigen Expert*innen wird die Lateinamerikapolitik der Fraktionen – zumindest vorübergehend – geschwächt. Mit Spannung erwartet werden auch die neuen Personalien der achtköpfigen Gemeinsamen Kommission von Auswärtigem Amt und Bundestag zum Thema Colonia Dignidad, aus der vier Abgeordnete ausgeschieden sind.

Angesichts von Einbußen an Fachexpertise zur Lateinamerikapolitik werden der Aktivismus und die Solidarität von außerparlamentarischen Gruppierungen umso wichtiger. Die parlamentarische Beobachtung der Menschenrechtslage in den Ländern Lateinamerikas erfordert Druck von außerparlamentarischen Akteur*innen. Auch bei dem verabschiedeten, aber noch nicht in Kraft getretenen Lieferkettengesetz muss die Zivilgesellschaft den Regierenden klarmachen, dass es erweitert und vor allem umgesetzt werden muss.

Es ist zu hoffen, dass nach dem bevorstehenden Regierungswechsel in einigen deutschen Ministerien künftig Politiker*innen sitzen, die empfänglicher für aktivistischen Druck sind und diesen an Entscheidungsträger*innen in Lateinamerika weitergeben. Bei den bevorstehenden deutsch-brasilianischen Regierungskonsultationen Ende November sollte die mögliche Neubesetzung an der Spitze des Verkehrsministeriums deutlicher fordern als der bisherige Amtsinhaber von der CSU, dass die Eisenbahnlinie Ferrogrão, die indigene Territorien bedroht, nicht gebaut wird. Auch ein Austritt Brasiliens aus der ILO-Konvention 169, die die Konsultation von Indigenen bei Baumaßnahmen auf ihren Territorien zwingend vorschreibt, müsste sanktioniert werden. Gerade weil diese Konvention in Deutschland erst im Juni 2021 ratifiziert wurde – nach langjährigem Druck der Zivilgesellschaft.

Vom Aktivismus der Berliner*innen, die sich weiter für die Kampagne „Deutsche Wohnen & Co. Enteignen“ engagieren, und deren Anbindung an verschiedene gesellschaftliche Akteur*innen könnte sich die außerparlamentarische Lateinamerikapolitik in den kommenden Monaten inspirieren lassen. Werden die parlamentarischen Organisationen schwächer, müssen sich die sozialen Bewegungen mehr Gehör verschaffen.


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IM SCHATTEN DES AMAZONAS

Methanproduzenten Immer mehr Fläche des Chaco wird für Viehzucht genutzt (Foto: Peer V via wikipedia.org, (CC BY-SA 3.0)

Die Flut an Schreckensmeldungen über Umweltzerstörungen im Amazonasgebiet reißt nicht ab. Auch in den großen Medien finden sich immer mehr Berichte und Reportagen über die katastrophalen Auswirkungen der Umweltpolitik der brasilianischen Regierung von Präsident Jair Bolsonaro auf das größte Regenwaldgebiet der Erde.

Angesichts dieser Medienfülle gerät das zweitgrößte Biom des südamerikanischen Kontinents meist aus dem Blick. Doch auch im Chaco-Trockenwald, der sich von Südostbolivien über Westparaguay nach Nordargentinien erstreckt, veränderte sich in den vergangenen Jahren die Landnutzung immer schneller – mit dramatischen Folgen für die indigene Bevölkerung und die Umwelt.

Der größte Teil des Chaco liegt im westlichen Teil Paraguays. Über 60 Prozent des Staatsgebietes fällt auf diesen Naturraum, allerdings lebt weniger als zehn Prozent der paraguayischen Bevölkerung westlich des Paraguay-Flusses.

Ende des 19. Jahrhundert begannen multinationale Unternehmen – meist von Argentinien aus operierend – riesige Mengen Staatsland im Chaco vom verarmten paraguayischen Staat aufzukaufen. Für die damaligen Transaktionen sind zahlreiche Gesetzesverstöße und Korruptionsfälle belegt. Das wichtigste dieser Unternehmen, Carlos Casado S. A., kaufte über 56.000 Quadratkilometer Staatsland im Chaco, was ungefähr der Fläche Kroatiens entspricht.
Auf den teils gigantischen Ländereien gewannen diese Unternehmen Gerbstoffe aus dem Holz des Quebracho-Baumes für die Lederverarbeitung und betrieben – wo es die Vegetation zuließ – Viehzucht. Dabei kam es zu massiven Menschenrechtsverletzungen an der indigenen Bevölkerung, aber auch an den Arbeiter*innen, die das Holz schlugen oder in den Fabriken arbeiteten.

Eine Kohlenstoffsenke wird zur Quelle für Treibhausgase

Doch der weitaus größte Teil des Chaco galt weiterhin als wirtschaftlich nicht nutzbar und wertlos: Die dornige und dichte Vegetation verhinderte die unbegrenzte Erschließung für den Weltmarkt. Die landwirtschaftliche Nutzung beschränkte sich auf die sogenannten cañones – so werden die Abflussrinnen in der flachen Ebene genannt, in denen der dichte Waldbewuchs von einer savannenartigen Vegetation unterbrochen wird.

So blieb der Chaco eine periphere Region, die kaum in den Weltmarkt integriert war. Genau diese Isolation bot einer Vielzahl indigener Gruppen die Möglichkeit, ihre Lebensweise und relative Autonomie behaupten zu können. Keine andere Region im südlichen Südamerika weist deshalb eine so große ethnische Diversität auf wie der Chaco. Im nördlichen Teil des Gebiets, das mit etwas weniger als 300.000 Quadratkilometern ungefähr so groß wie Italien ist, leben einige indigenen Gruppen der Ayoreo Totobiegosode bis heute in freiwilliger Isolation und ohne jeden Kontakt zur Außenwelt.

Doch seit den 1970er Jahren haben sich die technischen Voraussetzungen für die wirtschaftliche Inwertsetzung des Chaco radikal verändert. Dornenwälder, die zuvor wie unüberwindbare Barrieren für die Rodung schienen, konnten von neu eingeführten schweren Bulldozern mühelos weggeschoben werden. Dazu kommt, dass die Fläche, die der Viehwirtschaft im Osten Parguays zur Verfügung stand, durch den Boom von – meist genmanipuliertem Soja- sank. Neue Flächen fanden die Unternehmen im Chaco.

Seit dem Beginn des neuen Jahrtausends nimmt die Zerstörung des artenreichen und an die harten klimatischen Bedingungen angepassten Trockenwaldes im Chaco massiv zu. In den Jahren 2000 bis 2012 waren es die höchsten Entwaldungsraten für tropische Wälder auf der ganzen Erde. Zahlreiche Tier- und Pflanzenarten drohen auszusterben.

Die Erschließung des Chaco für die Landwirtschaft hat aber auch globale Auswirkungen auf den Klimawandel: Durch die Rodung wird in der Vegetation gebundener Kohlenstoff in die Atmosphäre freigesetzt. Die Rinder, die danach auf den Flächen weiden, stoßen große Mengen Methan aus. Durch die Veränderung der Landnutzung wird eine riesige Kohlenstoffsenke in eine Quelle für Treibhausgase umgewandelt.

Dramatischer sind allerdings die Folgen für die unmittelbar Betroffenen: die indigene Bevölkerung des Chaco. Durch die zunehmende Landnutzung durch die Viehwirtschaft verlieren sie Territorium, dass sie für ihren Lebensunterhalt benötigen.

Insbesondere die Ayoreo Totobiegosode geraten dadurch unter Druck. Für ihre nomadische Lebensweise, die auf der Jagd und ganz besonders auf dem Sammeln von Wildhonig basiert, benötigen sie große Flächen. Doch da sie in freiwilliger Isolation leben und nichts von Gesetzen und Umweltbehörden mitbekommen, können sie sich nicht effektiv wehren, wenn Bulldozer in ihr Land eindringen und es zerstören. Die einzige Möglichkeit, die ihnen bleibt, ist zu fliehen.

In den vergangenen Monaten hat sich die Situation für die Ayoreo Totobiegosode enorm zugespitzt. Das Gebiet, in dem ihre kleinen Gruppen umherziehen, ist durch Rodungen enorm verkleinert worden. Ringsum sehen sie sich von expandierenden Rinderfarmen eingekesselt.

Doch nicht nur die Ayoreo Totobiegosode sind von der zunehmenden wirtschaftlichen Erschließung des Chaco negativ betroffen. Auch wenn andere indigene Gruppen des Chaco, wie etwa die Quom oder die Angaité, zum Teil seit dem 19. Jahrhundert in unterschiedlich engen Kontakt mit der paraguayischen Mehrheitsgesellschaft stehen, spielen für sie die Jagd und das Sammeln von Pflanzen, Früchten und Honig aus dem Trockenwald weiterhin eine große wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung. Diese Aktivitäten werden durch die jüngere Entwicklung zunehmend eingeschränkt.

Das Gebiet der Ayoreo Totobiegosode wurde enorm verkleinert

Dies widerspricht eigentlich der paraguayischen Verfassung. Im Artikel 64 heißt es: „Die indigenen Völker haben das Recht auf den gemeinschaftlichen Besitz ihres Landes, im ausreichenden Ausmaß und der Qualität, um ihre eigene Lebensweise zu bewahren und zu entwickeln.“ Die Frage, die vielen Landkonflikten mit Indigenen zugrunde liegt, lautet: Wie viel Land ist dafür ausreichend?

Der Anthropologe Marcos Glauser hat intensiv zu dieser Frage geforscht und sich dabei auf die indigenen Angaité konzentriert. Er unterscheidet zwischen „Indigenem Land“ und „Indigenen Territorium“: Den ersten Begriff bezieht er auf die Ländereien, die bestimmten indigenen Gruppen unmittelbar gehören und die auch vom paraguayischen Staat anerkannt sind. Den zweiten Begriff bezieht er auf die Gesamtheit des Terri-*toriums, das die Indigenen nutzen: für die Jagd, das Sammeln und für bestimmte Rituale. Das legal anerkannte Land der Angaité ist dabei etwa 22.000 Hektar groß, das von ihnen genutzte indigene Territorium dagegen über 209.000 Hektar.

Dass es Überschneidungen zwischen Rinderfarmen und dem indigenen Territorium gab, spielte für die Angaité lange keine Rolle: In ihrer Weltanschauung teilen sie sich ohnehin den Raum mit einer Vielzahl von nichtmenschlichen Entitäten – Tieren, Pflanzen und Geistern. Und auch viele Rinderfarmer*innen – deren Aktivitäten sich ja historisch auf die weniger dicht bewachsenen Teile des Waldes beschränkten – störten sich lange nicht übermäßig daran, dass gelegentlich indigene Gruppen durch ihren Besitz zogen.

Dies hat sich mit der Aufheizung des Immobilienmarktes und der Veränderung der Landnutzung massiv gewandelt. Dort, wo der Wald gerodet wurde, sind die Sammel- und Jagdaktivitäten der Angaité nicht mehr möglich und selbst dort, wo der Wald noch intakt ist, wird ihnen zunehmend der Zugang verwehrt.

Deutsche Entwicklungshilfe an der Einschränkung indigener Rechte beteiligt?

Der paraguayischen Verfassung zufolge benötigen die Unternehmen für derartige Rodungen eine Studie über die Umweltfolgen (Relatório de Impacto Ambiental – RIMA) und eine Erlaubnis durch das Umweltsekretariat SEAM. Diese müssen auch eventuell betroffene indigene Rechte auf die Landnutzung berücksichtigen. Doch Analysen zeigen, dass in den RIMA die Auswirkungen auf das weitergehende indigene Territorium völlig vernachlässigt werden. Für das indigene Territorium La Patria der Angaité hat der Anthropologe Glauser die RIMA der benachbarten Farmen der letzten zehn Jahre analysiert. In kaum einer wurden indigene Rechte auch nur erwähnt. In den Gesetzen erkennt der paraguayische Staat indigene Rechte an, so Glauser, de facto erkennen die Rechte aber nur die Interessen der Viehfarmer an.

Mutmaßlich an dieser Entwicklung beteiligt ist eine deutsche Entwicklungsbank. Die Deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft mbH DEG, eine hundertprozentige Tochter der staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau KfW, hält derzeit etwa 15 Prozent der Anteile an dem luxemburgischen Unternehmen Paraguay Agricultural Corporation PAYCO, das unter anderem eine Farm besaß, die unmittelbar an das Angaité-Territorium „La Patria“ angrenzt. War die deutsche Entwicklungshilfe an der Einschränkung indigener Rechte in Paraguay beteiligt?

Genaues könne man nicht sagen, erklärt Philipp Mimkes der Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation FIAN Deutschland e. V. Seit mehreren Jahren verfolgt die Organisation die Investitionen der DEG in PAYCO kritisch. Mehrere Anfragen habe FIAN bereits gestellt, doch detailliertere Informationen seien von der DEG nicht zu erhalten. Auch auf Anfrage von LN, was die DEG unternehme, um die Auswirkungen der Geschäfte der PAYCO auf Indigene und die Umwelt zu kontrollieren, antwortet eine Sprecherin der DEG: „Als Kreditinstitut ist die DEG nicht berechtigt, ohne Einwilligung des jeweiligen Kunden interne Informationen, die sie im Rahmen ihrer Geschäftsbeziehung mit diesen erlangt hat, an Dritte weiterzugeben.“

Diese Haltung sei völlig unangemessen, findet Philipp Mimkes: „Über die Bundesrepublik Deutschland sind wir als Bürger*innen praktisch Mitbesitzer*innen von PAYCO und damit haben wir auch eine Verantwortung für die menschenrechtlichen Probleme vor Ort“, erklärt er gegenüber LN und fügt hinzu: „Die Menschenrechte machen vor Staatsgrenzen keinen Halt und die KfW-Bankengruppe hat diese auch extraterritorial zu wahren.“ Was FIAN über die Aktivitäten von PAYCO wisse, habe die internationale Organisation über die Recherche paraguayischer Mitarbeiter*innen erfahren.

„Die DEG verpflichtet von ihr finanzierte Unternehmen vertraglich zur Einhaltung internationaler Umwelt- und Sozialstandards und begleitet sie aktiv bei der Umsetzung. Das gilt auch für PAYCO“, erklärt eine Sprecherin der DEG gegenüber LN. Zudem sehe das Umwelt- und Sozial Managementsystem von PAYCO auch vor, dass „für neue Plantagen Umwelt- und Sozialverträglichkeitsstudien im Einklang mit lokaler Gesetzgebung und internationalen E+S-Standards (IFC Performance Standards) erstellt werden“, so die DEG Sprecherin.

Angesichts der Parteilichkeit der paraguayischen Institutionen zugunsten der Agrarindustrie ist aber fraglich, ob diese Umwelt- und Sozialverträglichkeitsstudien nur auf dem Papier, oder auch in der Realität internationalen Mindeststandards entspricht. Überprüfen kann dies die Öffentlichkeit nicht, solange sensible Daten unter dem Hinweis auf Geschäftsgeheimnisse zurückgehalten werden. Dies wäre aber durchaus wichtig, schließlich besitzt PAYCO 1.460 Quadratkilometer Farmland (etwa die Größe des Bodensees) überall in Paraguay und wiederholt wurden auf PAYCO-Farmen Entwaldung und Landkonflikte mit Indigenen dokumentiert, wie FIAN Deutschland in einer Erklärung schreibt. Um doch mehr über die Aktivitäten der PAYCO herauszubekommen, hat FIAN Deutschland gemeinsam mit dem Europäisches Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte (ECCHR) am 21. Juni vor dem Verwaltungsgericht Köln eine Auskunftsklage gegen die KfW-Bankengruppe bezüglich der PAYCO-Investitionen angestrengt. „Die Projekte von KfW und DEG sind an die Ziele der deutschen Entwicklungspolitik gebunden. Eine Kontrolle durch Abgeordnete, Medien und kritische Öffentlichkeit ist jedoch nur möglich, wenn diese die notwendigen Informationen erhalten”, so Philipp Mimkes zur Klage.

Dann ließe sich auch überprüfen, ob die DEG über PAYCO auch an Rodungen beteiligt ist, die das Territorium der in freiwilliger Isolation lebenden Ayoreo Totobiegosode beteiligt ist. Mit den Farmen „Timboty“ und „Carandayty“ liegen zumindest drei ihrer Farmen potenziell im Einzugsgebiet der Ayoreo Totobiegosode. Genaueres kann man jedoch nicht sagen, ehe die DEG der Öffentlichkeit Zugang zu den Informationen gewährt.


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DIE BLUTIGE SPRACHE DES GELDES

Mit Waffen von Sig Sauer 38.000 Kleinwaffen wurden von Sig Sauer nach Kolumbien exportiert (Foto: Mikel Szinetar)

Die Freude im Bündnis Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel! ist riesig. Am 1. Juli hat der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe für den Frieden und gegen die Waffen entschieden. Der deutsche Rüstungsfabrikant Sig Sauer muss 11,1 Millionen Euro zahlen – die Summe, die das Unternehmen durch rechtswidrige Exporte in das Konfliktland Kolumbien verdiente. Bereits 2019 verurteilte das Landgericht Kiel drei Manager von Sig Sauer zu Geld- und Bewährungsstrafen. Die Staatsanwaltschaft ordnete zudem die Einziehung des Gewinns an. Dagegen legte die Firma aus dem schleswig-holsteinischen Eckernförde Revision ein. Der Rechtsstreit kam vor den BGH.

Ohne den Einsatz der Friedensaktivist*innen rund um das Bündnis Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel! wäre dieser Erfolg nicht möglich gewesen. Von einem „großen Erfolg“, einem „Meilenstein“ spricht Ralf Willinger, Kinderrechtsexperte der Organisation terre des hommes. Holger Rothbauer, verantwortlicher Rechtsanwalt der Aktion Aufschrei, hebt die historische Tragweite der BGH-Entscheidung hervor: Es sei „die höchste Summe, die je von einem Kleinwaffenhersteller eingezogen worden“ sei.

Doch der Weg zur Gerechtigkeit war ein langer. Vor sieben Jahren stieß das Bündnis den Prozess an. Jürgen Grässlin und Paul Russmann stellten im Juli 2014 Strafanzeige gegen Sig Sauer. Der Verdacht: Illegale Exporte der Pistolen Typ SP 2022 nach Kolumbien. Die Staatsanwaltschaft in Kiel nahm die Ermittlungen auf. Dabei schien die Strategie des Waffenherstellers zunächst aufzugehen: Etwa 47.000 Pistolen gingen in die USA. Das Land wurde in der sogenannten Endverbleibserklärung als Zielland angegeben. Dann wurden von dort aus 38.000 Kleinwaffen gesetzeswidrig ins südamerikanische Kolumbien exportiert. Eindeutig illegal – denn die Genehmigung für den Export lag nur für die USA vor. Ein Verstoß gegen das Außenwirtschaftsgesetz.

„Jede Pommesbude wird besser kontrolliert als die Empfänger von Rüstungsgütern“

Krisenregionen mit Waffen zu versorgen, von der Misere zu profitieren, das untersagen die Rüstungsrichtlinien der Bundesregierung ohnehin. Denn sobald „die innere Lage des betreffenden Landes dem entgegensteht“, komme eine Ausfuhr nicht in Betracht, heißt es auf Seite vier eines Grundsatzpapiers der Bundesregierung. Konkreter heißt es in einem Beispiel, dass etwa „bei bewaffneten internen Auseinandersetzungen und bei hinreichendem Verdacht des Missbrauchs zu innerer Repression oder zu fortdauernden und systematischen Menschenrechtsverletzungen“ keine Genehmigungen erteilt werden sollen. Die Menschenrechtssituation im Empfängerland spiele hierbei eine zentrale Rolle.

Dass auch bei den anhaltenden Protesten in Kolumbien zurzeit friedliche Demonstrant*innen durch Pistolen aus deutscher Produktion sterben, ist wahrscheinlich. Zweifelsfrei nachweisbar ist es allerdings nicht. „Sig Sauer sah die eskalierende Gewalt in Kolumbien. Dennoch wollten sie möglichst viele Waffen dorthin exportieren. Dem Unternehmen ist offenbar egal, wie die Waffen dort eingesetzt werden“, sagt Ralf Willinger von terre des hommes gegenüber LN. Er kritisiert fehlende Endverbleibskontrollen der Bundesregierung. Bereits durch das regelmäßige Nachfragen, ob sich die gelieferten Waffen noch am Bestimmungsort befänden, wären solche illegalen Exporte nicht möglich, sagt der Kinderrechtsexperte. „Jede Pommesbude wird hierzulande besser kontrolliert als die Empfänger von Rüstungsgütern.“

Besonders relevant ist der Zeitpunkt der Exporte: Sig Sauer schickte die tödliche Ware zwischen 2009 und 2011 nach Kolumbien. Damals hielt der insgesamt mehr als 50 Jahre dauernde bewaffnete Konflikt noch an. Erst 2016, mit dem Eintreten des Friedensabkommens, stabilisierte sich die Sicherheitslage etwas.

Eindeutig illegal – Exportgenehmigung lag nur für die USA vor

Doch in einer 2020 erschienenen Studie von terre des hommes heißt es, dass mehrere Fälle dokumentiert werden konnten, „in denen Sig Sauer-Pistolen bei der Ermordung von Kindern benutzt worden sind und paramilitärische Einheiten diese Waffen bei der Ausbildung von Kindersoldat*innen eingesetzt haben.“

Auch in den Händen der Polizei verursachen die Waffen Elend. Milena Meneses hat ihren Sohn durch die Willkür des Staates verloren. Am Telefon berichtet sie, wie es geschah. Am 1. Mai dieses Jahres habe sich ihr Sohn Santiago Murillo auf dem Heimweg befunden. Die Hände in den Hosentaschen. Ortszeit etwa 20:20 Uhr, in Ibagué in Zentralkolumbien, eingebettet in die Andenregion. Sie sei daheim gewesen, sagt Milena Meneses, dann kam der Anruf ihrer Schwester: Santiago sei im Krankenhaus, sein Zustand gravierend. Sie bricht in Tränen aus: „Mein Sohn wurde getötet, die Ärzte konnten nichts mehr für ihn tun.“ Der Bericht des Krankenhauses, der LN vorliegt, konstatiert als Todesursache ein „Projektil einer Feuerwaffe in der Thorax-Region“. Übersetzt heißt das: Santiago wurde in die Brust geschossen.

Wer ist verantwortlich für den Tod des 19-Jährigen? Warum musste er sterben? Fragen, die sich auch seine Mutter immer wieder stellte. Ihr Bauchgefühl und die ersten Erzählungen von Zeug*innen bestätigen später: Die Polizei schoss auf den Jugendlichen. Dabei stand Santiago Murillo gar nicht in Zusammenhang mit den Protesten, gegen die die Exekutive in Ibagué meist repressiv vorgeht. Das ballistische Gutachten, das der LN ebenfalls vorliegt, beweist: Murillo wurde mit einer Sig Sauer SP2022 erschossen. Dabei war er unschuldig. Er war einfach nur auf dem Weg nach Hause, geriet zwischen die Frontlinien – mit den Händen in den Hosentaschen.

Santiago Murillo ist aktuell Nummer 17 auf der Liste der während der Proteste Getöteten. Die Organisation Indepaz aus der Hauptstadt Bogotá dokumentiert akribisch die Opfer, Täter und Umstände getöteter Demonstrant*innen. 74 Ermordete zählen sie nach aktuellsten Zahlen, fast alle Anfang, Mitte 20. Dazu kommen Hunderte Verschwundene, sexuelle Übergriffe gegen Frauen, widerrechtliche Festnahmen – die Menschenrechtslage ist fatal.

Der Unmut der Bevölkerung entlädt sich aktuell fast täglich auf den Straßen, die Gründe dafür sind vielfältig (siehe LN 563 und 564). Es ist die größte Protestwelle, die Kolumbien je erfahren hat. Bereits im November 2019 zogen Hunderttausende beim paro nacional (Generalstreik) hinaus, um gehört und verstanden zu werden. Die Streikenden kritisieren die Korruption, die ökonomisch schwierige Situation, ausufernde Gewalt gegen Sozial- und Umweltaktivist*innen sowie Indigene, die extreme soziale Ungleichheit, Polizeigewalt und eine unzureichende Umsetzung des Friedensabkommens von 2016. Daran hat und hatte die Regierung von Iván Duque jedoch kein Interesse. Bereits am ersten Tag des Generalstreiks, dem 21. November 2019, schickte sie 170.000 Einsatzkräfte und antwortete mit Gewalt. Dialog? Fehlanzeige. Drei Menschen starben bereits an diesem Tag.

Die willkürliche Gewalt der kolumbianischen Exekutive ermöglicht auch ein enger Verbündeter Deutschlands – die USA. Die Ausstattung von Polizeieinheiten mit dem nötigen Equipment durch die USA kritisiert die Menschenrechtsorganisation Amnesty International scharf. In einer Pressemitteilung fordert sie einen sofortigen Stopp der Ausfuhr von Tränengas, Kleinwaffen, Überwachungstechnologie sowie Munition. Was Kolumbien angeht, so seien die „Waffen aus den USA das größte Problem“, sagt Christine Hoffmann, Sprecherin der Aktion Aufschrei und Generalsekretärin von Pax Christi.

Kein Interesse an Dialog

Für den Waffenhersteller Sig Sauer scheint es jedoch eine gute Gelegenheit für den Verkauf zu sein. Nach der schrittweisen Auflösung des deutschen Standorts Eckernförde verlagerte man die Produktion in die USA. Die Vermutung liegt nahe, dass sich Sig Sauer damit Exportkontrollen ihrer Rüstungsgüter in der Bundesrepublik entziehen will – zumal ihnen von den Behörden und der Öffentlich viel Aufmerksamkeit zuteilwird. „Genau das ist der Hintergrund, warum sie das gemacht haben“, erklärt Christine Hoffmann gegenüber LN. Der Kampf für Frieden und Gerechtigkeit der Aktivist*innen geht unterdessen weiter. Im April 2020 wurde erneut Strafanzeige gestellt. Es geht wieder um illegale Exporte von Sig Sauer – dieses Mal nach Mexiko, Nicaragua und erneut Kolumbien.

Der SWR konnte durch Recherchen Einsicht in Dokumente des US-Handelsministeriums bekommen. Diese Unterlagen belegen, dass selbst nach dem Urteilsspruch im April 2019 und der Verurteilung dreier Führungskräfte noch 10.000 Pistolen von Sig Sauer nach Kolumbien gelangten. Die Staatsanwaltschaft in Kiel ermittelt nach wie vor.

Genugtuung durch langwierige Gerichtsprozesse gibt Menschen wie Milena Meneses ihren Sohn nicht zurück, der durch die Brutalität eines autoritären Systems gestorben ist. Doch es ist ein Schritt in die richtige Richtung, ein „Signal an die gesamte Rüstungsindustrie“, so Ralf Willinger von terre des hommes. Der entgangene Gewinn durch den gesetzeswidrigen Export von Kleinwaffen werde das Unternehmen empfindlich treffen, ist sich Christine Hoffmann sicher: „Die Sprache des Geldes ist die Sprache, die die Rüstungsindustrie versteht.“ Sollten die aktuellen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft die Sig Sauer-Bosse allerdings eindeutig belasten, wird es nicht mehr bei Geld- und Bewährungsstrafen bleiben.


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KUBA WIRD AUSSORTIERT

Fotos: Andreas Knobloch

Noch ist Deutschland entwicklungspolitisch in etwa 85 Ländern direkt aktiv, meist über die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) oder die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) – alles unter dem Dach des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Im Zuge der Neuausrichtung soll unter dem Motto „Weg von der Gießkanne“ die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit in etwa einem Drittel der Länder beendet werden, darunter Kuba, schrieb die FAZ mit Verweis auf eine Ausstiegsliste, die dem Blatt vorliege. Diese Nachricht sorgte vor allem bei Kuba-Unterstützer*innen für Unruhe.

„Wir beenden mit keinem Land die Zusammenarbeit, sondern wir steuern in einer Reihe von Ländern um. Die erwähnte Umsteuerung betrifft vor allem die direkte staatliche, also bilaterale Zusammenarbeit“, erklärt eine Sprecherin des Ministeriums auf Nachfrage. „Die Entscheidung betrifft ausschließlich die direkte Zusammenarbeit von Staat zu Staat über die Durchführungsorganisationen wie die GIZ oder die KfW.“ In Ländern, in denen man nicht mehr direkt staatlich zusammenarbeite, würde weiterhin die Arbeit der Kirchen und der Zivilgesellschaft sowie der EU und multilateraler Institutionen unterstützt, sowie Investitionen der Privatwirtschaft gefördert.

Das klingt beruhigend. Aber bei Investitionsförderung vermittelt der Realitätscheck für Kuba eher ein tristes Bild. Nicht selten bleiben Investitionsprojekte in der Entwicklungsphase stecken. Das hat mit den schwierigen Finanzierungsbedingungen zu tun. Seit fast sechzig Jahren leidet Kuba unter der Wirtschafts-, Finanz- und Handelsblockade durch die USA. Deren Bestimmungen betreffen auch Drittstaaten und lassen potentielle Investor*innen vorsichtig agieren. Derzeit findet sich keine deutsche Bank, die Projekte auf Kuba finanziert. Darüber hinaus fehlt es an öffentlicher Entwicklungsfinanzierung. Kuba selbst steckt in Zahlungsschwierigkeiten.

Schwieriges Pflaster Wegen der US-Blockade bleiben Investitionen deutscher Banken aus

Eine Erhöhung der Hermes-Bürgschaften, mit denen der deutsche Staat private Investitionen absichert, war mehrmals an Zahlungsverzögerungen auf kubanischer Seite gescheitert. Zwar gibt es seit Oktober 2018 in Havanna ein Deutsches Büro zur Förderung von Handel und Investitionen, aber das fehlende Entwicklungshilfeabkommen mit Kuba sei ein „großes Hemmnis“, hört man immer wieder aus dem Kreis deutscher Unternehmer*innen auf der Insel.

Während zwischen Kuba und der DDR enge Beziehungen bestanden, ist das Verhältnis zwischen Berlin und Havanna nach 1990 erheblich abgekühlt. Erst im Jahr 2000 wurde die Frage der kubanischen Altschulden gegenüber der DDR in einem Umschuldungsabkommen geregelt. Die offizielle Entwicklungszusammenarbeit liegt seit 2003 auf Eis, ebenso ein bereits ausgehandeltes deutsch-kubanisches Kulturabkommen – eine Reaktion auf die Verhaftung von 75 Systemoppositionellen in Kuba und deren Verurteilung zu langjährigen Haftstrafen im März 2003.

„In Kuba wurden Maßnahmen der bilateralen staatlichen Zusammenarbeit noch nicht umgesetzt, daher können diese auch nicht beendet werden“, heißt es dazu aus dem Ministerium. „Vom BMZ mitgeförderte Projekte der Zivilgesellschaft und anderer Träger sind [von der Strukturreform, Anm. d. Autors] nicht betroffen und werden auch künftig in Kuba möglich sein.“ Derzeit sind einige deutsche Nichtregierungsorganisationen auf Kuba tätig, vornehmlich im Bereich der Energie- und Wasserversorgung sowie in der Erwachsenenbildung.

Seit 1990 ist das Verhältnis zwischen Berlin und Havanna deutlich abgekühlt

„Obwohl es bislang kein deutsch-kubanisches Kulturabkommen und kein unabhängiges Goethe-Institut gibt, bilden die vielfältige kulturelle Kooperation, die Zusammenarbeit in Wissenschaft und Forschung sowie der durch den Deutschen Akademischen Austausch Dienst (DAAD) geförderte akademische Austausch zentrale Säulen der bilateralen Beziehungen“, heißt es von Seiten des Auswärtigen Amtes.

DAAD-Projekte gehören zu den wichtigsten Vorhaben in der BMZ-geförderten deutsch-kubanischen Kooperation. Sie betreffen Themen wie Biodiversität, Recycling und Abwassermanagement, unternehmerische Bildung an Hochschulen, Alumni-Netzwerke, Workshops in Hoch­schulmanagement usw. Darüber hinaus fördert das BMZ eine Dreieckskooperation Mexiko-Kuba-Deutschland im Bereich erneuerbarer Energien und Energieeffizienz, zivilgesellschaftliche Kooperationen sowie Vorhaben der politischen Stiftungen, zwei Entwicklungspartnerschaften mit der Wirtschaft sowie ein regionales Sparkassenpartnerschaftsprojekt. Nach Hurrikan Irma im Herbst 2017 flossen über vom BMZ unterstützte UN-Programme Übergangshilfen in Höhe von 750.000 Euro.

Deutschland setze die Zusammenarbeit mit Kuba in der Entwicklungszusammenarbeit auch durch sein europäisches und multilaterales Engagement fort, so die BMZ-Sprecherin. „Zudem finanziert Deutschland durch seinen Beitrag zum EU-Haushalt aktuell mehr als 20 Prozent der EU-Entwicklungsleistungen und unterstützt damit indirekt auch die Entwicklungszusammenarbeit der EU mit Kuba.“

Das künftige Kuba-Engagement des BMZ lässt sich vielleicht auf die Kurzformel bringen: Wo man nie richtig eingestiegen ist, kann man auch nicht aussteigen. Die allgemein auf die Reformstrategie für das BMZ gemünzte Aussage des Verbandes Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO) kann auch auf Kuba angewendet werden: „Eine umfassende Bewertung der Auswirkungen ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich. Viele Fragen stellen sich im Zuge der Umsetzung, von denen dann auch zivilgesellschaftliche Organisationen betroffen sein können.“


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„MEINE MUSIK HAT KEINEN SINN AUF EINEM TOTEN PLANETEN“

Sie sind zum zweiten Mal in Europa auf Tour und geben heute Ihr erstes Konzert in Deutschland. Wie waren Ihre Erfahrungen bisher?
Bisher haben wir nur gute Erfahrungen gemacht, vor allem in Spanien, wo wir den Menschen sprachlich verbunden sind. In Ländern zu spielen, in denen kein Spanisch gesprochen wird, ist eine Herausforderung, da der Text die Hälfte des Liedes ausmacht. Dann denkst du, okay, niemand versteht, was ich hier gerade singe, aber im Endeffekt ist Musik Musik, in jeder Sprache.

Loli Molina Es bewegt sich was in der Musikszene (Foto: Marcelo Quiñones)

Können Sie etwas über Ihren musikalischen Werdegang und Ihre Einflüsse erzählen?
Ich habe sehr früh damit angefangen, Instrumente zu lernen. Die Musik war etwas, das mich schon immer in meinem Leben begleitet hat, es ist etwas Gigantisches für mich. Ich bin eine Person, die alles wie ein Schwamm absorbiert: Alles, was ich gehört und gelernt habe, hinterlässt Spuren auf meiner inneren Festplatte und wenn ich meine eigene Musik mache, kommt diese Information auf mysteriöse Weise zu mir zurück.

Sie interpretieren einige klassische Lieder südamerikanischer Folklore sowie Lieder von bekannten Interpreten wie Luis Alberto Spinetta oder Fernando Cabrera. Waren dies auch Lieder, die Ihren musikalischen Werdegang begleitet haben?
Ja, es gibt Lieder, die sozusagen Teil der Enzyklopädie großer Musik sind und um die keine Person, die Lieder schreiben möchte, herumkommt. Sie zu lernen und zu interpretieren, um tiefgreifend zu verstehen, wie sie gemacht worden sind, ist wie zur Schule zu gehen.

Sie kommen aus Buenos Aires, wohnen aber seit einigen Jahren in Mexiko Stadt. Wie ist denn die Situation der unabhängigen Musikerinnen in Argentinien und Mexiko?
In Mexiko gibt es eine sehr große Szene, denn allein in Mexiko Stadt leben 25 Millionen Menschen, in Buenos Aires „nur“ 10 Millionen. Zudem ist Mexiko Treffpunkt vieler Immigranten aus Argentinien, Chile, Venezuela, Kolumbien, der Dominikanischen Republik… Es gibt also eine große Liedermacher-Szene aus all diesen Ländern, und die Sprache ist immer ein bisschen unterschiedlich: die Lieder von den Inseln sind tropischer, die aus dem Süden nostalgischer und kryptischer, die Mexikaner spielen eher Pop oder Folklore. Das ist sehr interessant, aber die Szene ist auch etwas übersättigt. In Buenos Aires ist die Szene viel kleiner und die Strömungen sind sich ähnlicher. In den Süden kommen nicht so viele Leute von außerhalb, die Szene nährt sich eher von sich selbst.

Ihre ersten beiden Alben wurden von einem großen Label veröffentlicht. Das dritte Album Rubí haben Sie selbst veröffentlicht. Wie kam es dazu?
Nach meinen ersten beiden Alben habe ich das Label verlassen. Ich war 25 oder 26 Jahre alt und dachte, es gäbe keine andere Möglichkeit. Danach begann ein langer Weg, in dem ich lernte, alles selbst zu machen, meine eigene Managerin zu sein, meine eigenen Videos zu machen und zu verstehen, wie die Musikindustrie funktioniert. Die Industrie verändert sich ständig, zum Beispiel durch Spotify. Es geht viel darum, wie viele Aufrufe und Likes ein Song hat. Das erzeugt einen sehr unfairen Konkurrenzkampf. Ein unabhängiger Künstler hat keine Chancen gegen jemanden, der Millionen von Aufrufen für sein Video kauft. Diese großen Strukturen sind nichts für mich.

Wie hat sich die Musikszene verändert? In einem anderen Interview meinten Sie, dass es wieder mehr vielversprechende Liedermacher*innen gibt, vor allem Frauen.
Da bewegt sich etwas, auf vielen Ebenen. Es gibt eine Art Aufstand der Frauen mit vielen feministischen Bewegungen. Der Diskurs hat sich verändert und es wird gefordert, Frauen mehr Raum zu geben. Das gab es noch nicht so sehr, als ich damit begann, Musik zu machen. Außerdem gibt es ja diese schon erwähnte Übersättigung: Jeder kann Musik aufnehmen und veröffentlichen. Es scheint mir, als gäbe es deswegen wenig wirklich besondere Projekte. Ich weiß selbst nicht, ob ich zu den Besonderen oder zu den Normalen gehöre.

In Argentinien hat der Senat vor kurzem das Ley del cupo femenino (zur Frauenquote auf Musikfestivals) verabschiedet, welches noch von der Abgeordnetenkammer beschlossen werden muss. Glauben Sie, dass das erwas ändern wird? Haben Sie sich auch schon von der „historischen Ungleichbehandlung und Diskriminierung, die Frauen auf den Bühnen der Festivals erleben“, wie es im Text heißt, betroffen gefühlt?
Ja, definitiv! Zudem komme ich aus einem Land, in dem die Figur des Gitarristen zutiefst männlich konnotiert ist. Die Gitarre, ein prägendes Instrument des Rocks und der Folklore, war immer in den Händen von Männern. In den letzten Jahren sind viele Gitarristinnen aufgetaucht, auch ich zähle mich dazu. Das ist sehr gut, denn es zeigt, dass Frauen nicht nur Sängerinnen sind, sie spielen auch Instrumente. Es ist sehr traurig, dass das nun per Gesetzt geregelt werden muss. Aber wie beginnen, wenn nicht so? Es gibt noch viel Widerstand in einigen rückständigen Sektoren, von alten Produzenten, alten Konzertorganisatoren oder alten Rockern, die sehr machistisch sind und nun sagen: „Jetzt müssen wir Frauen eine Bühne geben, nur weil sie Frauen sind.“ Nein: Sie müssen Frauen eine Bühne geben, weil sie genauso talentiert sind und weil wir den Raum verdienen!

Erstmals auf Europatournee Loli Molina live in Berlin (Foto: Jara Frey-Schaaber)

Auf Ihren Accounts in den sozialen Netzwerken unterstützen Sie soziale und feministische Bewegungen und zeigen Ihre Besorgnis für die Umwelt. Wie fühlen Sie sich mit diesen Kämpfen verbunden?
Ich glaube, das Rockigste und das Revolutionärste, was man in diesem Moment auf der Welt machen kann ist, mit seinem eigenen Beutel einkaufen zu gehen, den Müll zu trennen, und darum zu bitten, keine Plastiktüten zu bekommen. Ich glaube wirklich, dass das etwas Kritisches ist und genauso geht es mir bei sozialen Themen, ob sie Gewalt betreffen oder Frauenrechte. Es gibt viele Menschen, die mir folgen und mir zuhören, also versuche ich, von diesen Dingen zu sprechen. Ich sehe das als ein Werkzeug, um die Welt ein kleines bisschen besser zu machen. Wenn es nur eine Person gibt, die dank dem, was ich geschrieben habe, anders denkt und andere Möglichkeiten erwägt, ist das schon unglaublich. Das ist viel wichtiger, als nur von mir und meiner Musik zu reden oder Selfies zu veröffentlichen, um Likes zu bekommen. Meine Musik hat keinen Sinn auf einem toten Planeten, meine Musik hat keinen Sinn in einer Welt, in der meine Freundinnen auf der Straße geschlagen werden, das steht wirklich an erster Stelle.

Können Sie etwas zur politischen Situation in Mexiko sagen, wo seit über einem halben Jahr ein neuer Präsident an der Macht ist, und zu Argentinien, wo bald Wahlen anstehen?
Im Moment ist es auf politischer Ebene sehr aufgewühlt, überall auf der Welt. In fast allen Ländern gibt es eine Tendenz zum Rechtsruck, es werden Rechte beschnitten und Subventionen für Kultur zusammengestrichen. Ich bin nicht so gut über die politischen Hintergründe in Mexiko informiert, aber es gab fast 70 Jahre, die von ständiger Korruption geprägt waren, und auch wenn eine neue Person an die Macht kommt, ist es schwer, wieder neu zu beginnen. Die Macht müsste neu konstruiert werden, aber wir sollten Mexiko die Möglichkeit zugestehen, sich zum Besseren zu verändern. Was Argentinien betrifft: Das Land ist unter der Regierung von Macri in den letzten vier Jahren kollabiert. Es sieht schlecht aus, was die Bildung, die Kultur und die Wirtschaft betrifft. Ich hoffe, dass die Leute bei dieser Wahl eine gute Entscheidung treffen und nicht aus Wut wählen.

Was kommt nach dieser Tour? Sie haben von Alben gesprochen, die dieses Jahr herauskommen werden?
Ja, am Ende des Monats kehren wir nach Mexiko zurück und stellen zwei Alben fertig, eines kommt Ende des Jahres heraus und das andere im Februar. Also werde ich viel mit der Vorbereitung zu tun haben und nicht viele Konzerte geben können. Dazu kommt die persönliche Suche, wie wir eigentlich in dieser Welt leben wollen, die jeden Tag eine Herausforderung darstellt. Das ist der Plan, Musik machen, die Alben fertigstellen, alles ein bisschen ordnen… Das wird schon!


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