
„Ich glaube, du hast Angst wegen dem, was mit Amin passiert ist”, sagt die Regisseurin Nayibe Tavares-Abel zu ihrem Großvater, als sie mit ihm über die Geschichte ihrer Familie und der Dominikanischen Republik spricht. „Natürlich”, antwortet dieser, „ich habe Angst um dich, ich habe Angst um meine Kinder, um meine Frau, um meine Enkelkinder.” Amin Abel, der Großonkel von Tavares-Abel, wurde 1970 im Auftrag der Regierung Balaguer wegen seines Aktivismus in der Studierendenbewegung, seiner Teilnahme am bewaffneten Kampf und seiner politischen Aktivitäten ermordet. Mehr als 50 Jahre sind seit seinem Tod vergangen, doch die Familienmitglieder stehen weiterhin unter Spannung und vermeiden es, über bestimmte politische Themen zu sprechen.
Die spürbare Angst, die Angespanntheit bei den Interviews und die Einblicke in ihre Wohnung machen den Dokumentarfilm Colosal sehr persönlich. Der Film spannt einen Bogen über mehrere Jahrzehnte Geschichte der Dominikanischen Republik anhand der Familiengeschichte des Großvaters und Großonkels der Regisseurin. Colosal erzählt durch Archivmaterial, Aufnahmen und Interviews eine Geschichte zwischen demokratischer Hoffnung, Diktaturen und einer Intervention der USA: 1962 gewann Juan Bosch die ersten freien Wahlen des Landes nach 31 Jahren Diktatur unter Rafael Trujillo. Nur sieben Monate später putschte das Militär, und als zwei Jahre darauf ein Bürgerkrieg ausbrach, intervenierten die USA. Der nächste Präsident der Dominikanischen Republik wurde 1966 Joaquín Balaguer, ein ehemaliger Verbündeter des Diktators Trujillo. Während seiner Amtszeit von 1966 bis 1978 fielen Berichten zufolge etwa 11 Tausend Menschen dem Staatsterrorismus zum Opfer. Zudem war seine Präsidentschaft von Intransparenz und Zweifel an der Korrektheit von Wahlergebnissen durchzogen. Auch von 1986 bis 1996 regierte Balaguer das Land wieder, erst 1996 wurde er durch den Kampf der Opposition und aufgrund des immer lauter werdenden Vorwurfs des Wahlbetrugs abgesetzt.
Auch wenn diese Hintergründe im Film nicht ausreichend eingeführt werden und der Kontext daher für Neulinge im Fach stellenweise nicht ganz leicht nachvollziehbar ist – wer zumindest die Geschichte anderer lateinamerikanischer Länder ein wenig kennt, wird sich durch den Film angesprochen fühlen. Die Regisseurin zeichnet darin nicht nur die politische Arbeit und den Tod ihres Großonkels Abel nach, sondern spinnt die Geschichte weiter in die Neunziger und schließlich ins Jahr 2020. Denn ein weiterer Erzählstrang handelt von Florián Tavares, Tavares-Abels Großvater väterlicherseits. Er war ein renommierter und unabhängiger Anwalt, der zum Leiter der Junta Electoral (Wahlkommission) des Landes für die Präsidentschaftswahlen im Jahr 1990 ernannt wurde. Joaquín Balaguer wurde wiedergewählt, woraufhin ihm, wie schon häufig zuvor, von vielen Dominikaner*innen Wahlbetrug vorgeworfen wurde. Ob Tavares-Abels Großvater an dem Wahlbetrug beteiligt war, ist eine der zentralen Fragen des Films. Und obwohl mehrere Familienmitglieder nicht direkt vor der Kamera über das Thema sprechen wollen, stellt sie die Frage nach der Rolle ihres Großvaters in dieser Geschichte und forscht unermüdlich nach einer Antwort.
Zudem filmte Tavares-Abels Teile des Dokumentarfilms im Jahr 2020 weiter, in dem sie selbst als Wahlbeobachterin tätig wurde. Und das, zu einem Zeitpunkt, an dem es erneut einen großen Vertrauensverlust in das Wahlsystem gab. Sie besucht Demonstrationen, trifft Parteimitglieder und politische Aktivist*innen, die dazu ermutigen, Teil des Wahlprozesses zu sein und erklären, wie Aktivist*innen den Prozess zugunsten von mehr Transparenz beeinflussen konnten. „Politik ist schlecht, wenn man sich nicht einmischt und aktiv teilnimmt”, erklärt einer der Wahlbeobachter. 2020 gewann schließlich der damalige Oppositionskandidat Luis Abinader, nachdem 16 Jahren die gleiche Partei das Land regiert hatte.
Colosal zeigt die komplexe Realität politischer Prozesse, in denen Werte und Leben auf dem Spiel stehen. Gleichzeitig leistet der Dokumentarfilm die wichtige Arbeit der Aufarbeitung der eigenen Geschichte und versucht diese zu verarbeiten. Am Ende überlässt es Tavares-Abel den Zuschauer*innen, sich ihre eigene Meinung über ihren Großonkel Tavares zu bilden und ermutigt zu engagiertem politischen Aktivismus und einer aktiven Gedenkkultur.