MUSIKLEGENDE UND MEISTER DES VERSCHWINDENS

Suchend fährt die Kamera durch ein Hotel. Entlang an verwaisten Fluren, geschlossenen Türen . Lebt hinter einer von ihnen, vor der Öffentlichkeit verborgen, der Erfinder des Bossa Nova, João Gilberto? Oder bleibt die Suche wie so oft vergeblich? Der Regisseur Georges Gachot begibt sich in seinem Dokumentarfilm Wo bist du, João Gilberto? auf die Suche nach dieser brasilianischen Musiklegende.

Sein Film basiert auf dem Buch Hobálálá, geschrieben von Marc Fischer, einem deutschen Journalisten, dessen Leidenschaft für den Bossa Nova dieses literarische Kunstwerk hervorgebracht hat, betitelt nach dem gleichnamigen Song von Gilbertos erster Platte Chega de Saudade. Auch Fischer war ein Suchender, auch er von der Idee besessen, den Meister zu finden, der 1958 nur mit seiner Gitarre und seiner Stimme einen neuen Musikstil erschuf. Fischers Buch dient dem Filmemacher gewissermaßen als Drehbuch. Es beschreibt die vergebliche Suche nach João Gilberto, einem lebend Verschollenen, der sich allen Versuchen, ihm nahe zu kommen, mit Finesse entzieht. Diese Suche, von Fischer begonnen, nimmt Georges Gachot in seinem Film wieder auf. Dabei dienen ihm Aufzeichnungen, Tagebucheinträge, Fotos, sowie Bild- und Tonmaterial aus dessen Nachlass, denn Marc Fischer hat sich mit gerade 40 Jahren das Leben genommen. Unterstützung für sein Vorhaben findet er bei Rachel Balassiano, die seinerzeit schon Fischers Gehilfin bei der Suche nach João Gilberto war. Gemeinsam gehen sie den in Fischers Buch gelegten Spuren nach. Gachot kontaktiert einstige Weggefährten, Musiker und Komponisten, die ihn zwar zu den Ursprüngen und Wegbereitern des Bossa Nova führen, jedoch nicht zu João Gilberto, denn seine Gesprächspartner*innen haben ihn seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Regisseur und Buchautor verbindet die Sehnsucht nach dem Erlebnis eines schwer zu fassenden, traurigen Verlangens, das in den sanften Klängen, dem schwebenden, fast geflüsterten, poetischen Gesang ihres Idols seinen Ausdruck findet und den Zauber des Bossa Nova ausmacht. Sehnsucht ist im Film ein Schlüsselbegriff, der die Suche nach jenem Unsichtbaren antreibt, der der Welt diese einfühlsame, melancholische Musik geschenkt hat.

Am Ende des Buches fragt Sherlock (das literarische Alter Ego Marc Fischers) seine Gehilfin Dr. Watson (Rachel Balassiano): „Warum haben wir ihn nicht gefasst, Watson? Wir haben doch alles versucht.“ Watson: „Weil die Sehnsucht nicht zu fassen ist. Von niemandem, Sherlock.“ Am Ende des Films ein letzter Versuch des Filmemachers ihn doch noch zu fassen und Gilberto wenigstens ein einziges Mal live spielen zu hören: Vermittelt durch dessen Agenten lauscht Georges Gachot in einer der letzten Einstellungen andächtig seiner Musik durch eine Tür. Bleibt Joao auch diesmal ein Phantom? Das Archivmaterial diverser Konzerte Gilbertos, filmische Streifzüge durch Rio de Janeiro und die allgegenwärtige Präsenz der Bossa Nova-Rhythmen, lassen die Zuschauer*innen die Schönheit dieser Musik erleben. Nebenbei erfährt man, dass der Bossa Nova in der Toilette entstand, da João Gilberto diesen fünf Quadratmeter großen Ort als idealen Resonanzraum erkannte, wo die Akustik am besten war. Der Film ist gleichzeitig eine Art Entdeckungsreise in die Welt der brasilianischen Musik und der brasilianischen Musikszene des Bossa Nova.

FRIEDEN OHNE ENDE

Llanos de Yarí, eine Grassteppe am Fuße der Bergkette La Macarena, im Südwesten Kolumbiens. Am Tag der zehnten und letzten Konferenz der Bewaffneten Streitkräfte Kolumbiens (FARC) singen die Kämpfer*innen nebeneinander aufgereiht die Hymne der ältesten Guerilla-Organisation Lateinamerikas. Timoleón Jimenez, das Gesicht der FARC während der Friedensverhandlungen mit der kolumbianischen Regierung, redet vor historischer Kulisse über die Chancen des kommenden Friedens – in jenem Gebiet des Landes, das lange als Hochburg der Guerilla galt. Zwei Wochen danach, am 2. Oktober 2016, wird das 297 Seiten lange Abkommen, das vier Jahre lang zwischen Regierung und Guerilla in Havanna verhandelt wurde, zur Abstimmung stehen. Trotz der politischen Spannung herrscht in La Macarena eine scheinbar gelassene Stimmung, die Guerillerxs plaudern, lachen, gucken in die Ferne oder von der kleinen Kamera weg, mit der Uli Stelzner seinen Dokumentarfilm Tage und Nächte zwischen Krieg und Frieden aufgenommen hat. In 75 Minuten widmet er sich behutsam der Zeit vor und nach dem Referendum über den kolumbianischen Friedensvertrag, der einen Jahrzehnte währenden bewaffneten Konflikt beenden soll.

Die nächsten Szenen zeigen, wie die in grüne Anzüge gekleideten Frauen und Männer der zur FARC gehörenden Frente Milicia Bolivariana Felipe Rincón ein großes Tier schlachten, wie sie kochen, wie sie fernsehen. Bilder des alltäglichen Lebens im Warten vor der Stunde Null, in der die Kolumbianer*innen an die Urne gehen sollen, um mit ihrer Stimme Präsident Juan Manuel Santos Friedensprojekt offiziell einzuleiten. Man hört den Regen, die Geräusche des Dschungels und die der Gewaltexzesse aus einem Film, den einige Guerillerxs in einem Zelt gucken.

„Wer den Krieg selbst erlebt hat, wird danach nicht mehr derselbe sein“, erzählt Luis David Celis, ein Fariano, Anhänger der FARC, der gern dichtet. „Die Lyrik und die Verse, die ich schreibe, sind aus der Alltäglichkeit des Lebens der Guerilleros geboren.[…]Sie waren ein Fluchtweg aus den Bomben, den Schießereien, den lauernden Gegnern“, erzählt Celis. Die Gedichte, die er im Off vorliest, sind berührende Worte, die sich von der Rhetorik des Krieges nicht lösen können, doch etwas von intimen Momenten eines überzeugten Kämpfers verraten, der zwischen Leiden und Liebe die Notwendigkeit des Aufstandes sieht. Celis Worte erlauben einen kurzen, doch tiefen Einblick in ein Leben der Überzeugungen und Gegensätzlichkeiten.

Einfach, sinnlich und ästhetisch sind die Bilder der Interviewten und der Landschaft. Mit Nahaufnahmen der Gesichter und Hände sowie der Offenheit der Gesprächspartner*innen schmilzt die Distanz zwischen Redner*innen und Zuschauer*innen. Nüchtern erzählen die Opfer von der Grausamkeit des Konflikts und ihrer Hoffnung auf Entschädigung, sollte das „Ja“ im Referendum gewinnen. Vor einem zerbombten Haus in Santa Ana, circa zwei Stunden von Medellín entfernt, erzählt Roberto Giraldo wie die kolumbianische Armee unter Bombenhagel in die Dörfer des Gebiets eindrang. Das Ergebnis: 35 Familien wurden zwangsvertrieben und das nahegelegene FARC-Lager wurde dem Erdboden gleich gemacht.

Cúcuta, Arauca, zurück nach Antoquia – die Liste der Wohnorte des irrsinnig oft vertriebenen Gilberto Guerra ist lang. In Granada, wo der Bauer nun wohnt, starben zum Höhepunkt der Gewalt des Konflikts zwei bis drei Menschen täglich. 83 Prozent der Wähler*innen sprachen sich hier für das „Ja“ im Referendum aus. Das Ergebnis der Abstimmung kommt dann wie ein Schock: „Wir haben einen weiteren Kampf in diesem Krieg verloren“, klagt Guerrera wütend einen Tag nach der Volksabstimmung. Mit „wir“ meint er die Landbevölkerung, die der willkürlichen Gewalt der Armee und der Paramilitärs ausgesetzt war. „Wenn die FARC-Mitglieder ins Gefängnis müssen, warum denn nicht Uribe?“, fragt er empört. Auch der Expräsident Kolumbiens Alvaro Uribe Velez (2000-2008) habe Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verantworten: „Mit der Belohnung von 600.000 Pesos pro getötetem Guerillero wurden die Soldaten zu Auftragskillern gemacht“.

Uli Stelzner hat einen Dokumentarfilm über die Menschen gedreht, die die Wunden des 53 Jahre währenden Konflikts am eigenen Leib tragen und über ihren nicht beachteten Appell, den Frieden mit der FARC zu unterstützen. Ihm gelingt die Rekonstruktion jenes Moments, als wahr wurde, was zunächst wie ein schlechter Witz klang und dann ein mulmiges Gefühl über die Widersprüche der kolumbianischen Gesellschaft hinterließ: der 2.Oktober 2016. Mit einer Wahlbeteiligung von 36 Prozent und einem Unterschied von 0,43 Prozent zwischen den Ergebnissen beider Lager, gewann die Ablehnung des Friedensprozesses und machte die Polarisierung und Gleichgültigkeit gegenüber Opfern und Land sichtbar, die Kolumbien bis jetzt nicht überwunden hat. Die Frage bleibt, warum nur die Umsetzung eines Friedensabkommens so beginnen musste, warum die Strategie des Angstschürens der politischen Opposition so viele Anhänger*innen in den Städten gewinnen konnte. Leider fehlt genau diese Erklärung in der ansonsten sehr informativen Dokumentation, die Beweggründe der Anderen, die am Tag des Referendums einen Sieg feierten und dem jetzigen Friedensprozess den Krieg erklärt haben.

Dafür überrascht Stelzner mit einem sehr persönlichen Gespräch mit Gloria Gaitán, Tochter des im Jahr 1948 ermordeten und parteilosen linken Präsidentschaftskandidaten Jorge Eliecer Gaitán. Das Jahr seiner Ermordung ist als Anfang der Gewalt in Kolumbien in die Geschichtsbücher eingegangen. Die Bevölkerung habe damals ihr Sprachrohr verloren, sagt Gaitáns Tochter fast 60 Jahre nach seinem Tod. „In Kolumbiens rassistischer Klassengesellschaft wird der Bauer verachtet und wurde gezwungen, sich zu bewaffnen“, klagt sie verbittert. Doch Gloria Gaitán glaubte auch nicht an den Erfolg des aktuellen Friedensvertrags. „Alle Friedensprozesse endeten mit der Ermordung der entwaffneten Guerilla-Führer, in allen gab es Verrat seitens der Oligarchie.“

Der historische Kinomoment, der Stelzner am Anfang des Filmes nach Kolumbien führt, war kein überwältigendes Ja. Es war der Moment der Aktivist*innen, Künstler*innen und wütenden jungen Leute, die auf der Straße Lösungen für das entstandene Vakuum nach dem Referendum forderten. Und der Moment von Präsident Santos, der den Friedensnobelpreis gewann. Nach dem „Nein“ im Referendum verhandelte die Regierung mit der rechten Opposition den Friedensvertrag erneut aus, den sie zuvor mit der FARC verhandelt hatte. 13 Seiten wurden hinzugefügt. Fast ein Jahr nach der Unterzeichnung des geänderten Abkommens am 24. November 2016 sind erst 18 Prozent der Vertragspunkte durch Senat und Verfassungsgericht ausgearbeitet. Die versprochene Agrarreform und Entschädigung der Opfer stehen noch aus. Zwar wurden am 11. Oktober per Verfassungsgericht weitere Änderungen des Friedensabkommens für die nächsten zwölf Jahre ausgeschlossen, die geschätzten 50 ermordeten Menschenrechtsaktivist*innen und die Massaker seitens der Armee gegenüber sieben Koka-Bäuer*innen in der Hafenstadt Tumaco zeigen jedoch, dass die Landbevölkerung immer noch der willkürlichen Gewalt der Paramilitärs und der Armee ausgesetzt ist.

“DAS KINO AUS LIMA HAT MICH WÜTEND GEMACHT”

Álvaro Sarmiento (Foto: Carmen Salas Cárdenas)


Zum Einstieg folgende Frage: Warum machen Sie eigentlich Filme?
Diego Sarmiento: Jeder Künstler sucht einen Weg, seine Emotionen auszudrücken. In unserem Fall ist es ein glücklicher Zufall gewesen, dass wir beide das hier tun, und wir ergänzen uns dabei irgendwie gegenseitig. Ich glaube, dass wir glücklich sind mit dem, was wir machen, und diese Art von Festivals lässt die Inspiration
und die Lust aufs Filmemachen wachsen. Es ist wie Nahrung für die Seele und den Geist.

Woher kam die Idee für Ihren aktuellen Film?
DS: Vor fünf Jahren haben wir einen Workshop über Dokumentarfilme für Kinder und Jugendliche im peruanischen Amazonasgebiet gemacht und sind fast ein ganzes Jahr dort geblieben. Durch diesen Workshop lernten wir viele Menschen kennen und eben dadurch entstand unser Kurzfilm Hijos de la Tierra (Kinder der Erde), der 2014 in der Berlinale-Sektion ‚Generation‘ lief. Die Kinder, die in diesem Kurzfilm zu sehen waren, stellten uns ihre Familien vor und so kamen wir zu einigen der Protagonisten des Dokumentarfilms Rio Verde. Außerdem leben wir teils in Cusco und teils im Amazonasgebiet und haben innerhalb der letzten fünf Jahre viele Reisen gemacht. Aus dem ganzen Material ist der Film eigentlich in der Postproduktion entstanden. Álvaro hat zusammen mit unseren Videoeditoren im Schnitt den Film als Ganzes ermöglicht. Diese Phase hat sehr lange gedauert.

Was bedeutet der Titel Die Zeit der Yakurunas?
Álvaro Sarmiento: Es ist ein metaphorischer Titel. Die Yakurunas sind eigentlich Unterwassermenschen
aus einer Legende in Amazonien, aber dieser Film handelt nicht von Menschen, die unter Wasser leben, sondern von denen, die in der Nähe oder am Rande des Flusses leben. Es ist also ein poetischer Titel auf
Quechua, der uns gefallen hat, und gleichzeitig eine weitverbreitete Legende aus Amazonien mit hohem repräsentativen Wert. Daher haben wir uns für diesen Titel entschieden.

Sie haben Lima zugunsten von Cusco und dem Regenwald schon vor vielen Jahren den Rücken gekehrt. Was hat Sie dazu bewogen?
ÁS: Unser erster Dokumentarfilm über die Region von La Oroya war wie eine Rückkehr zu unseren Wurzeln, weil unsere Mutter aus der Stadt Huancayo kommt. Unsere Großeltern kommen aus Cerro de Pasco und unser zweiter Dokumentarfilm war eben über Cerro de Pasco. Es ist also eine Familiensache: eine Rückkehr zu
unseren Wurzeln, zu unserem Zuhause durch das Filmemachen und das Zeigen der Realität dieser Regionen. Außerdem identifiziere ich mich nicht mit dem Kino, das in Lima produziert wird, eben wegen der Qualität der dortigen Filme, der Nicht-Repräsentation der indigenen Bevölkerung oder ihrem Erscheinen als die ewigen
Diener, Hausmädchen und Ähnliches. Das hat mich immer wütend gemacht. Ich habe mein Studium an der Universidad de Lima abgebrochen und bin nach Brasilien gegangen, um dort vier Jahre lang Film zu studieren. Dort habe ich gelernt, was cine indígena (indigener Film) ist. Ich habe meine Abschlussarbeit über die NGO
Video nas Aldeias geschrieben, eine Organisation, die seit 25 Jahren indigenen Völkern das Filmemachen beibringt, sowohl theoretisch wie auch technisch. Ich kam dann aus Brasilien mit dem Wunsch und der Entschlossenheit zurück, diese Art von Kino zu machen.

Diego Sarmiento (Foto: Carmen Salas Cárdenas)

Das Thema der indigenen Gemeinschaften kommt nicht oft in die Medien und ist auch nicht wirklich präsent als künstlerisches Motiv in Peru. Was möchten Sie mit Ihrem Interesse an den Indigenen Perus erreichen?
DS: Das hängt von der jeweiligen Produktion ab. Es ist nicht so, dass wir mit all unseren Projekten das gleiche Ziel erreichen wollen, aber indem wir sie zeigen, möchten wir die indigene Kultur wieder aufwerten und verbreiten.
ÁS: Wenngleich unsere vorherigen Produktionen in Peru wenig gesehen wurden, glaube ich, dass es doch ein Publikum gibt, das sich für diese kulturelle Produktion interessiert. Das Interesse an einem Dokumentarfilm bedeutet, dass der Zuschauer etwas lernen möchte. Diese Art von Filmen hat eine lehrreiche Funktion. Was
Río Verde betrifft: Dieser Film würde in Peru zwischen fünf- und zehntausend Zuschauer im Kino erreichen. Aber was Filmfestivals angeht, könnte dieser Film sicher auf 50 Festivals gezeigt werden, eben wie unsere Kurzfilme, die bislang auf 30-40 Festivals gezeigt wurden. Angenommen, pro Festival würden 1.000 Menschen den Film sehen, dann würden wir durch die ganzen Festivals 50.000 Zuschauer weltweit erreichen. Das ist eine bedeutende Zahl, obwohl sie neben den Zahlen eines Blockbusters klein erscheint. Die Leute interessiert schon diese Art von Themen, die wir präsentieren, und ich glaube, damit sind wir alle glücklich.

In Río Verde versuchen Sie, das Zeitgefühl der Menschen des Amazonas zu vermitteln, um eine Distanz durch diesen ethnographischen Blickwinkel zu klassischen Dokumentarfilmen zu schaffen. Haben Sie nicht die Befürchtung, damit ein größeres Publikum zu verschrecken?
ÁS: Mich interessiert das Autorenkino. Es ist auf jeden Fall für ein eingeschränkteres Publikum gedacht, eines, das Filme über Kulturen mag, das sogenannte ‚World Cinema‘. Zum Beispiel gibt es Menschen, die es genießen, die thailändische oder vietnamesische Gastronomie durch einen Film kennenzulernen. Es gibt durchaus Leute, die sehr kleine Filme genießen. Wir zielen auf dieses Publikum, das andere, wenig
erkundete Teile der Welt durch Filme entdecken möchte. Río Verde ist auf keinen Fall ein kommerzieller
Film, wir appellieren nicht an das große Publikum. Es ist ein Film, der einem Gemälde ähnelt, indem wir dadurch unsere eigene künstlerische Sensibilität zum Ausdruck bringen. Derjenige, der dies genießt, ist stets willkommen!
DS: So, wie es Animations-, Fiktions-, und Genre-Kino gibt, glauben wir, dass es auch indigenes
Arthouse-Kino, indigenes Fiktionskino, indigenes Animationskino und von Indigenen selbst gemachtes Kino geben könnte. Indigenes Kino muss nicht immer Protest-Kino gegen etwas sein, es kann auch etwas Künstlerischeres sein. Das ist es, was wir verbreiten wollen, eine Palette von verschiedenen Arten des indigenen Kinos.

Welche konkrete Vorteile hat Ihnen die Berlinale gebracht?
DS: Auf der einen Seite ist es im Bereich des Vertriebs sehr wichtig, die Weltpremiere bei der Berlinale zu haben. Dadurch wird es einfacher, einen Film auf andere Festivals zu bringen. Bei einem so großen Festival entwickelt sich ab der Premiere eine Art Netzwerk. In wirtschaftlicher Hinsicht bringt es nicht unbedingt Vorteile.

Wenn wir jetzt von der internationalen auf die nationale Ebene zurückgehen, stellt sich die Frage: Kann man in Peru von einem Vollzeitjob als Filmemacher*in leben?
DS: Alles ist möglich. Das hängt vom Lebensstandard ab, den jeder erreichen möchte. Zurzeit sind wir tatsächlich zu 100 Prozent mit unseren Produktionen ausgelastet.
ÁS: Ich glaube, dass man tatsächlich vom Filmemachen leben kann. Wir leben davon, aber auf eine sehr bescheidene Art und Weise. Leider gewinnen wir nicht immer die Preise, die von der peruanischen Regierung ausgeschrieben werden. Es gibt sehr viel Konkurrenz und die Jurys interessieren sich zum Teil einfach nicht
für das, was wir machen, obwohl wir uns international bereits einen Namen gemacht haben. Aber klar ist: Mit oder ohne Geld, wir werden weiter unsere Filme machen.

Jetzt, wo der peruanische Schauspieler und Filmregisseur Salvador del Solar zum Kulturminister
ernannt wurde: Meinen Sie, dass Peru dadurch einem neuen Filmgesetz einen Schritt näher gekommen ist?
DS: Ich denke, dass wir noch näher sein könnten. Es ist ein politisches und schwieriges Thema. Denn manchmal hängt das Kulturministerium vom Wirtschaftsministerium und anderen Organen ab. Es mag sein, dass da seinerseits Bereitschaft besteht, aber auf jeden Fall wird für so etwas die Stärke des filmischen Gremiums, die Stärke der kleinen Filmindustrie in Peru, benötigt. Es hängt nicht nur von Salvador ab. Nichtsdestotrotz ist jetzt ein neues Filmgesetz durchaus möglicher als früher. Was dabei aber nicht vergessen werden darf ist, dass alle Künste gefördert und besser gefördert werden sollten. Es ist die Gesamtheit und nicht nur die Filmindustrie, die das Land repräsentiert. Jetzt gerade vertreten wir in gewisser Weise unser Land und es ist natürlich wie ein großes Geschenk, Teil der Berlinale sein zu können, aber das ist nicht unser endgültiges Ziel. Es sollte mehr Förderungen geben. Zum Beispiel haben wir den DAFO-Preis (eine Auszeichnung der peruanischen Regierung, Anm. d. Red.) gewonnen und die staatliche Agentur Promperu hat die Flugtickets für die Regisseure bezahlt – leider nur die der Regisseure, denn wir hätten auch gerne zumindest unseren Videoeditoren mitgebracht – aber es ist traurig, diese Leistungen mit denen anderer lateinamerikanischer Staaten zu vergleichen. Die Botschaften kümmern sich um das ganze Team, sie helfen ihnen in wirtschaftlicher
Hinsicht, es ist schon ganz schön teuer, aus Südamerika hierher zu kommen. Ich glaube, dass zumindest unsere Botschaft sich in dieser Hinsicht etwas mehr Mühe geben sollte.

Welche Projekte verfolgen Sie in der nächsten Zeit?
DS: Wir würden nur ungern viele Details verraten, aber jetzt gerade sind wir in der Endphase des Dokumentarfilms Sembradoras de Vida (Säerinnen des Lebens), der durch einen Fonds des Kulturministeriums im Jahr 2014 möglich gemacht wurde und parallel dazu haben wir stets mehrere Ideen und Kurzfilmprojekte, denen wir nachgehen.
ÁS: Unsere Produktionen werden immer auf eine sehr handwerkliche, familiäre Art gemacht. Das ist unser Stil. Ähnlich, wie wenn man ein handgemachtes Produkt kauft. Zum Beispiel stehe ich auf, frühstücke und schneide dann im eigenen Heim. Ich brauche also keine Superproduktion im Rücken, um voranzukommen.

DEM HORROR IN DIE AUGEN SEHEN

Foto: Berlinale

Eines sei vorweg gestellt: Wer „La libertad del diablo“ bis zum Ende sehen will, der muss hart gesotten sein. Fiktionale Darstellungen der Drogenmafia haben seit Jahren Hochkonjunktur, sind aber meist verpackt in einen unterhaltsamen Kinoabend mit Comic-Gemetzel im Stile eines Quentin Tarantino oder höchstens in kurzfristiges Befindlichkeits-Jojo á la Breaking Bad. Und man vergisst dabei schnell, dass diese Geschichten ihren Ursprung in der Realität haben. An Zahlen alleine lässt sie sich nur schwer ermessen. 20 000 Tote durch den Drogenkrieg alleine jedes Jahr in Mexiko sind zu viel, um das Ausmaß des Horrors verarbeiten zu können. Die beeindruckende Dokumentation „La libertad del diablo“ zeigt deswegen nur einen kleinen, aber genau deshalb so intensiven und schockierenden Ausschnitt davon – hart, grausam und gnadenlos. auch wenn man die Bilder dazu nur im Kopf des Betrachters ablaufen. Denn der Film besteht fast ausschnittlich aus Interviews, die aber so außergewöhnlich sind, dass man den Blick nicht eine Sekunde von der Leinwand wenden kann. Zu Wort kommen Beteiligte von allen Seiten des Drogenkrieges: Menschen, die entführt und gefoltert wurden. Mütter, die ihre Kinder verloren haben. Polizisten, die offen Selbstjustiz und Machtmissbrauch eingestehen. Und Auftragskiller, die ihre grausamen Morde in allen Einzelheiten nacherzählen. Das besondere: Die Identität aller Personen bleibt zwar natürlich verborgen, jedoch nur unter einer Strumpfmaske. Die Augen sind immer sichtbar, auch die Stimmen wurden von Regisseur Everardo González nicht verzerrt. Das macht die Interviews manchmal zutiefst erschütternd, manchmal unheimlich, manchmal geradezu abstoßend. Es macht Angst, wenn ein Auftragskiller voll Stolz und ohne Reue von seinem ersten kaltblütigen Mord erzählt, dem Adrenalin, das er spürte, den Glückwünschen seiner Gang. Es macht wütend, die Erzählung einer Mutter zu hören, die nach langer Suche bei einer Ausgrabung auf die Turnschuhe ihrer toten Kinder stieß und von der Polizei von deren Leichen weggedrängt wurde. Es widert an, wenn fast alle Mörder und Folterer – Polizisten wie Mafiakiller – ihre Verbrechen damit rechtfertigen, sie würden nur „Befehle von oben befolgen“. Und fast nicht zu ertragen ist es, wenn ein anderer Massenmörder berichtet, wie er einen Schuldner nicht zu Hause antraf und deshalb seine komplette Familie, inklusive seiner kleinen Kinder, erschoss. Gerne würde man wissen, wie Everardo González all diese Menschen dazu brachte, ihre Geschichte vor einer Kamera zu erzählen und auf seine präzisen, schonungslosen Fragen ihre Geheimnisse preiszugeben. Ein Mann spricht zum ersten Mal in seinem Leben über seine Entführung und Folter durch die Polizei. Ein Polizist erklärt offen, dass man Selbstjustiz verüben müsse und sich nicht an Gesetze halten könne, wenn man den Krieg gewinnen wolle. Und als schließlich die Frage auf die gerechte Bestrafung für das Morden kommt, erklären zwei Kinder, deren Mutter verschwand, dass sie ihre Entführer*innen genau so leiden sehen möchten, wie diese ihre Opfer leiden ließen. Dieser Film ist beängstigend und schockierend, weil er zeigt, wie tief sich die Spirale aus Gewalt, Wut und Vergeltung in den Alltag der Menschen, die mit dem Drogenkrieg leben müssen, eingefressen hat. Und er ist wichtig, weil er ins Bewusstsein ruft, dass dieser Krieg in Mexiko nicht nur in Spielfilmen und Serien existiert, sondern Tag für Tag die Realität von Millionen Menschen definiert.

DIE WIEDERAUFERSTEHUNG EINER LEGENDE


Foto: Berlinale

Gekleidet in einem langen, schwarz-rot gemusterten Poncho steht Chavela Vargas, ruhig und aufrecht, im Scheinwerferlicht einer kleinen Bühne. Neben ihr ein Gitarrist, der mit gehauchten Bewegungen langsam die Melodie eines Boleros erahnen lässt. Chavelas charaktervolle, in Rauch und Tequilla gereifte Stimme erklingt zunächst sanft und zart, fast zerbrechlich, wächst jedoch stetig an, wird scheinbar unaufhaltsam lauter, bis sie schließlich leidenschaftlich explodiert, in einem kaum auszuhaltenden Schmerz, wie der hemmungslose Schrei eines Betrunkenen im Vollrausch. In eigenwilligen Harmonien, singt Chavela gnadenlos nostalgisch über Liebe, Schmerz und Einsamkeit. Ein Leidensweg eingefangen von altem Videomaterial, Bildern und Interviews, womit Chaterine Gund und Daresha Kyi ein liebevolles, bewegendes und intimes Porträt gelungen ist, das für 90 Minuten Chavela wieder zum Leben erweckt.

Geboren ist Isabela Vargas Lizano 1919 in San Joaquín de las Flores, Costa Rica. Dort beginnt der Dokumentarfilm. Die Einsamkeit begleitete sie seit ihre Kindheit, berichtet Chavela hier selbst, in einem vor über 20 Jahren gedrehten und bis dato unveröffentlichten Interview. Wegen ihrer maskulinen Art und Kleidung wurde sie schon in jungen Jahren vom familiären Leben und von der Kirche ausgegrenzt. Nach der Trennung ihrer Eltern, lebte sie eine Weile bei einer Tante, bis sie mit vierzehn Jahren allein nach Mexiko Stadt zog.

Auch in Mexiko stieß Chavela Vargas wegen ihres Erscheinungsbildes auf Missfallen. Sie brach als stark rauchende, trinkende, mit Hose, Hemd und strenger Frisur auftretende Ranchera-Sängerin alle Tabus der männlich dominierten und streng katholischen Gesellschaft Mexikos der 1940er Jahre. Dennoch fand sie schnell Anschluss an die mexikanischen Kulturszene und machte Bekanntschaften, wie den mexikanischen Schriftsteller Juan Rulfo und schauspielerte sogar im Film La Soldadera vom Regisseur José Bolaños. Sie ging regelmäßig in die Cantina El Tenapa, feierte und musizierte mit José Alfredo Jiménez, einem der berühmteste Ranchera Sänger Mexikos, und lernte die Maler*innen Diego Rivera und Frida Kahlo kennen. José Alfredo Jiménez wurde zu einem engen Freund und Kollegen, dessen schmachtende Texte sie später selber sang. Leidenschaftliche Begierde und Liebeserklärungen an Frauen, diesmal von einer Frau. Mit Kahlo hatte Chavela eine kurze, liebevolle Liaison.

Chavela Vargas hatte viele Leben, viele Versionen ihres Selbst. Erinnert wird sie häufig als „die männlichste aller Rancheras Sängerinnen“, als offen lesbisch lebende Frau, die aber nie ihre Homosexualität aussprach, mit vielen Affären: Anfangs besonders gerne mit den, oft mäuschenhaften Ehefrauen von Politikern und berühmten Persönlichkeiten.

In den 60er Jahren war sie zu einer begehrten Sängerin in Cantinas und Bars geworden, blieb jedoch mit ihren ungewöhnlichen Interpretationen der mexikanischen und lateinamerikanischen Folklore eine Randfigur, die mit ihrer provozierenden Art, aber vor allem mit Tequila, sich den weiteren Karriereweg versperrte.

Mit etwa 50 Jahren verschwand Chavela Vargas aus der Öffentlichkeit. Lebte von der Wohltätigkeit ihrer Freunde und gab sich vollends dem Alkohol hin, bis sie die junge Anwältin Alicia Pérez Duarte traf. Pérez Duarte klärte nicht nur Chavelas Rechte an ihren Liedern -denn von dem Erlös aus dem Verkauf ihrer Platten hatte Chavela all die Jahre kaum etwas gesehen-, sie eroberte auch Chavelas Herz. Aus dieser, im Film sehr eindrucksvoll beschriebenen, ersten Begegnung entstand eine lange intensive Beziehung.

In ihrem Beitrag gewährt die Anwältin besonders bezeichnende und intime Einblicke in das Leben der Künstlerin. Die fortlaufend schlimmer werdenden Alkoholexzesse und ihre Brutalität, bis zu dem Moment der Kehrtwende – an die kaum noch jemand geglaubt hatte – und Chavelas musikalische Wiederauferstehung.

Denn nachdem ihre Beziehung im Tequila-Fluss ertrunken war, gelang Chavela „die Heilung“ der Trunksucht, wie sie darüber selber spricht. Mit der Hilfe von Bewunderer*innen, einer Reihe berühmter Musiker*innen und Regisseur*innen gelang ihr mit 70 Jahren das Comeback. 20 weitere Jahre triumphierte Chavela daraufhin wieder auf der Bühne und brachte es zu Weltruhm. Schließlich, im alter von 80 Jahren, sprach sie zum ersten Mal ihre Homosexualität öffentlich aus.

Mit ihren herzzerreißenden Interpretationen von Songs wie „La Llorona“, „La Macorina“, „Piensa en Mi“, ihrer tiefen rauen Stimme, wie ein Abbild ihrer persönlichen Geschichte, ist Chavela Vargas lebend zur Legende der lateinamerikanischen Musik und Heldin der Frauenbewegung Mexikos geworden. Eine Frau, die verliebt in Lieben und Singen war, dem Leben im Moment. Sie starb 2012 mit 93 Jahren in ihrer Wahlheimat Mexiko Stadt, als wahrhaft große Künstlerin.

JETZTZEIT

Angeregt durch die Filmaufnahmen seiner Mutter, die Salles 40 Jahre nach ihrer privaten Kulturreise nach China entdeckte, montiert er aus fremden, meist privaten Filmaufnahmen eine filmische Analyse der Veränderungsprozesse jener Jahre. Im ersten Kapitel des Films, „Vor den Fabriken“, beschreibt er die Entwicklungen im eher kulturrevolutionären Mai der Studenten in Paris, das Glück dieses Augenblicks, das bis zum Unwillen, zu schlafen, führt, und in sich die Hoffnung auf tatsächliche Veränderungen trägt. Besonders im Fokus ist Daniel Cohn-Bendit in seiner eher widersprüchliche Rolle als Leitfigur, die auf dem Höhepunkt der Ereignisse zu einer bezahlten und gut dokumentierten Reise nach Berlin aufbricht.


Foto: Berlinale

Die Filmrollen aus Prag, die Salles in den Archiven entdeckt hat, tragen nicht einmal die Namen derjenigen, die sie aufgenommen haben, sondern nur Nummern: Angesichts der anrollenden Panzer der Sowjetunion schien bereits die Dokumentation der Ereignisse gefährlich. Noch viel stärker als die Szenen in Paris zeigen die Bilder aus Prag bereits unübersehbar das Ende der Hoffnung auf Veränderung. Die Szenen aus Prag gehen unmittelbar in das zweite Kapitel des Films über („Nach den Fabriken“), das Salles den großen Beerdigungen von Mitgliedern der Bewegungen in jener Zeit widmet: Jan Palach verbrannte sich aus Protest gegen die allmähliche Gewöhnung an das Ende der revolutionären Hoffnungen selbst. Seine Beerdigung wurde Anfang 1969 zum Trauermarsch des Protests, an dem Tausende teilnahmen. Auch die Beerdigungen wenig bekannter Mitglieder der Studentenbewegungen in Paris und in Rio de Janeiro wurden zum politischen Akt mit massenhafter Beteiligung. Leider zeigt „No Intenso Agora“ sonst kaum Szenen aus Brasilien – schade, denn bei 127 Minuten Filmlänge wäre durchaus Platz für eine Auseinandersetzung mit der brasilianischen Studentenbewegung der 1960er Jahre gewesen.

„Jetztzeit“ nennt Walter Benjamin die historischen Phasen, in denen – wie während der französischen Revolution – entscheidende Umbrüche stattfinden. Der von Benjamin formulierte Gegensatz zur Jetztzeit ist die „homogene und leere Zeit“ des „Kontinuums der Geschichte“. Auch wenn Salles den Begriff „Jetztzeit“ weder in Interviews noch im Film erwähnt, scheint der Titel Im Intensiven Jetzt auf die Geschichtsdefinition von Benjamin zu verweisen. Doch Salles´ filmische Reflexion der Phasen des möglichen revolutionären „Tigersprungs“, eingesprochen in einem poetischen Portugiesisch, entdeckt vor allem die Trauer über das Ende der Hoffnung nach der kurzen Phase intensiven Glücks. Auch wenn dies historisch richtig sein mag, in der gegenwärtigen Phase der brasilianischen und internationalen Geschichte hätte man sich einen hoffnungsvolleren Film gewünscht.

Newsletter abonnieren