Vielfältige Bündnisse

Die Ausgangsbedingungen für feministische Bewegungen unterschieden sich allerdings von Land zu Land, denn schließlich ist der lateinamerikanische Kontinent ein Konglomerat von Rassen, Ethnien, Sprachen und Kulturen. Diese Vielfalt hat sehr ungleiche ökonomische, kulturelle und politische Entwicklungen verursacht. Sie hat außerdem die komplexen Probleme, die sich aus der spanischen Kolonisierung und später aus der Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten ergaben, noch verstärkt. Für die Entstehung der neuen Republiken nach den Unabhängigkeitskriegen hat auch das ideologische Gewicht der katholischen Kirche eine entscheidende Rolle gespielt. Denn die Kirche hat ihren Einfluß über einen langen Zeitraum hinweg aufrechterhalten können – in den Sphären politischer Macht ebenso wie in großen Bereichen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Eine solche Präsenz wird in bestimmten historischen Epochen immer verhindern können, daß sich Strömungen der sozialen Erneuerung und Säkularisierung durchsetzen.
Andererseits haben auch Klassen- und Rassenunterdrückung den Republiken, die nach dem Ende der spanischen Herrschaft gegründet wurden, ihren Stempel aufgedrückt. Bis heute hat dies die Überwindung der gesellschaftlichen Ungleichheiten verhindert und jedwede Form der Integration erschwert, besonders in den Ländern wo die indigene Bevölkerung seit Jahrhunderten marginalisiert wird.

Erste Feministinnen

Als Auslöserinnen der feministischen Bewegungen Lateinamerikas können einerseits fortschrittliche Ideen und die politische Durchsetzung kapitalistischer Modernisierung benannt werden, die um die Mitte des letzten Jahrhunderts besonders in Ländern mit europäischer Einwanderung oder in geographischer Nähe zu den Vereinigten Staaten auftauchten. Genauso bedeutsam ist aber auch die Bildung sozialer Bewegungen, die soziale und wirtschaftliche Verbesserungen einforderten. Sie sind hauptsächlich gewerkschaftlichen oder indigenistischen Ursprungs, mit Wurzeln im Anarchismus wie im Sozialismus.
Die Bewegungen, die sich für das Frauenwahlrecht, für gleichberechtigten Zugang zu Bildung und für die Verleihung gleicher bürgerlicher Rechte für Frauen einsetzen sind so parallel zu den sozialen Bewegungen der Arbeiter und Indígenas entstanden. Manchmal haben sie sich angesichts gemeinsamer Ziele auch miteinander verbündet. Der Kampf um den Acht-Stunden-Tag und Protestbewegungen von LandarbeiterInnen und ethnischen Gruppen zum Beispiel, wurden durch einen Teil der frühen Frauenbewegung unterstützt.
Forderungen nach weiblicher Emanzipation gab es bereits 1836, als eine Gruppe mexikanischer Frauen die Zeitschrift El Semanario de las Senoritas Mexicanas gründete, in der feministische Ideen diskutiert wurden. Die Argentinierin Juana Manso, die heute als Vorläuferfigur der feministischen Bewegung in ihrem Land gilt, veröffentlichte 1852 in Brasilien O’Jornal das Senhoras, eine Zeitschrift “für die gesellschaftliche Verbesserung und die Emanzipation der Frau”. Es war die erste Zeitschrift, die ausschließlich von Frauen geleitet und hergestellt wurde. Ebenfalls in Brasilien initiierte die Feministin Nisia Floresta (1809-1885) eine Reihe von Konferenzen zu Frauenfragen. Sie übersetzte auch Mary Wollstonecraft ins Portugiesische, während die Chilenin Martina Barros de Orrego ihrerseits 1874 John Stuart Mill “Über die Unterdrückung der Frauen” ins Spanische übersetzte.
Zwei Jahre später, also 1876, trug sich eine Gruppe chilenischer Frauen in das Wahlregister eines Bezirks von Santiago ein, und lenkten so die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Ungerechtigkeit ihrer Situation. Empört verhinderte die Mehrheit der männlichen Politiker die Teilnahme der Frauen an der Wahl, nicht ohne klarzustellen, daß die chilenische Verfassung, wenn sie von “Bürgern” spricht, “Männer” meint.

Die Themenpalette erweitert sich

Der Kampf um das Wahlrecht dauerte noch lange an und umfaßte viele Aktionen in zahlreichen Ländern des Kontinents. Bald schon ging es jedoch nicht mehr nur um das Wahlrecht. Im Jahr 1910 fand in Buenos Aires der Erste Internationale Frauenkongress (Congreso Femenino Internacional) statt, und zwischen 1914 und 1915 fand der Feministinnenkongress von Yucatan in Mexiko statt. Die Debatten über Themen wie Prostitution, Scheidung oder die Situation der Arbeiterinnen begannen auf diesen Kongressen.
In den 20er und 30er Jahren dieses Jahrhunderts dann wurden erste lateinamerikanische Frauenparteien gegründet, die ihre Aufgabe darin sahen, die Forderungen von Frauen in die Tagespolitik einzubringen. So etwa die Partido Feminista Nacional de Argentina und die Partido Civico Femenino de Chile, beide 1919 gegründet. 1921 wurde auf einem Frauenkongress in Havanna die Gründung der Partido Nacional Feminista vereinbart.
Sicherlich hatten diese Aktionen nicht die gleiche Wirkung wie die angelsächsischen Bewegungen für das Frauenwahlrecht. Oft handelte es sich nur um sehr kleine Gruppen oder Einzelpersonen, die ihren Kampf über den Journalismus oder in den Konferenzsälen von Kultur- und Wohltätigkeitseinrichtungen austrugen. Die lateinamerikanischen Mentorinnen und ihre Anhängerinnen waren intellektuelle Frauen der Mittelschicht, die meist einen bürgerlichen Beruf erlernt hatten. Der sufragismo, der Feminismus vor und nach dem Ersten Weltkrieg, vertrat also mehrheitlich eine politisch liberale Ideologie, die den sozioökonomischen status quo nicht in Frage stellte. Angesichts der frühnationalen und kolonialen Züge der lateinamerikanischen Gesellschaften muß der frühen Frauenbewegung aber zugutegehalten werden, daß sie in der Lage war, eine wichtige Gruppe von Frauen zu mobilisieren und daß er für seine Zeit sehr progressive Ziele vertreten hat.

“Proletarierinnen aller Länder…”

Während sich die von den Anarchisten und Sozialisten verbreiteten Ideen in Gewerkschafts- und Parteigründungen kristallisieren, betrat eine neue Spielart des Feminismus die Bühne, die ihre Ursache der wachsenden Eingliederung von Frauen in die Lohnarbeit hatte: Man könnte sie als proletarischen Feminismus bezeichnen. Insbesondere der Anarchismus unterstützte die Organisierung der einfachen Arbeiterinnen und auch die Formierung von Frauen mit Führungsqualitäten. Ihre Diskussionen kreisten um die Thematik von Klasse und Gender, wie wir heute sagen würden. Hervorzuheben wäre hier die Kolumbianerin Maria Cano, die als Arbeiteraktivistin ihre sozialistischen Überzeugungen mit ihrem Engagement für die Emanzipation der Frauen verband. Sie organisierte nicht nur Streiks in den Bergbau – und Erdölregionen sowie in den Bananenanbaugebieten, wo sie stets von einer kämpferischen Menge begleitet wurde; sondern attackierte auch gleichzeitig scharf ein Gesellschaftssystem, das sie aus Sicht der Frauen für höchst ungerecht hielt. Sie betonte zum Beispiel 1925, daß Frauen nicht an den Universitäten zugelassen wurden, “wo sie sich die Stellung, die ihnen zusteht, erarbeiten könnten. Nicht einmal das Recht zu denken, das Recht, ihre Meinung zu sagen, gesteht man den Frauen zu. Eingeschlossen wie in einem eisernen Ring müssen sie schweigen, sich wie Wesen ohne eigenes Bewußtsein unterwerfen, während auf ihrem Heim Unterdrückung und Unrecht lasten…”.
In manchen Fällen hat sich der Kampf der sufragistas direkt mit dem Klassenkampf verbunden. Beispielsweise beteiligen sich 1991 einige sufragistas aus der von der Schriftstellerin Zoila Aurora Caceres gegründeten Gruppe Feminismo Peruano an der Organisation einer Frauenversammlung, die die Forderung nach “Verbilligung der Lebenskosten/Grundnahrungsmittel(??)” erhob. Die Versammlung mündete in einem “Marsch gegen den Hunger”, der durch die Straßen von Lima zog. Später gründete Caceres, die als eine der wichtigsten Vorkämpferinnen für das Frauenwahlrecht in ihrem Land gilt, die erste Telefonistinnengewerkschaft.

Errungenschaften der ersten Feministinnen

Was hat der frühe Feminismus in Lateinamerika und der Karibik erreicht? Er hat weite Teile der öffentlichen Meinung auf die defizitären bürgerlichen und politischen Rechte der Frauen, auf ihre Situation der gesetzlich verankerten Unmündigkeit aufmerksam gemacht. Viele Veröffentlichungen, Reden, Bücher und Zeitschriften aus dieser Epoche zeugen von dieser Sensibilisierungsarbeit. Feministinnen wie Juana Manso in Argentinien, Paulina Luisi in Uruguay, Serafina Davalos in Paraguay, Adela Zamudio in Bolivien, Francisca Senhorina da Motta Diniz in Brasilien, Luisa Capetillo in Puerto Rico, Amanda Labarca in Chile, Maria Jesus Alvarado Rivera in Peru und viele andere setzten sich vehement für den Zugang zu Bildung für Frauen und die Änderung diskriminierender Gesetze ein. Natürlich beschränkte sich der Einsatz für diese Sache nicht allein auf die sufragistas, auch Sozialistinnen und Anarchistinnen organisierten Kerngruppen und Schauplätze für den Kampf um Gleichberechtigung. Hier trafen Feministinnen, Gewerkschafterinnen, Parteiaktivistinnen, Berufstätige und Intellektuelle aufeinander. Gemeinsam übten sie erfolgreich Druck aus und erreichten schließlich auch die Unterstützung einiger männlicher Politiker für bestimmte Gesetzesänderungen. Dieser langwierige Kampf wurde 1929 in Ecuador das als erste Land der region Frauen das aktive Wahlrecht zusprach zum ersten Mal von Erfolg gekrönt.
Später wurden dann auch andere Gesetze verändert, die Scheidung, den Zugang zu den Universitäten, das Recht auf Berufsausübung und auf bezahlte Beschäftigung regelten. Diese Errungenschaften hingen auch mit den Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges und dem beschleunigten Verstädterungsprozeß zusammen, der Lateinamerika vor allem seit den 50er und 60er Jahren bestimmte. Paradoxerweise war aber gerade im letzteren Zeitraum der organisierte Feminismus eher schwächer, was in erster Linie mit dem Aufstieg der politischen Parteien und der Gewerkschaftsbewegung zu tun hatte.
Die Zweite Welle des Feminismus in Lateinamerika und der Karibik fand ihren ersten Auftritt vor einem sehr spezifischen Hintergrund: dem antiimperialistischen Kampf der Linken. Die 60er Jahre waren von intensiven ideologischen Debatten der Linken, besonders innerhalb der orthodoxen stalinistischen Parteien bestimmt, insbesondere nach dem Triumph der kubanischen Revolution und den Guerrilla-Aufständen in Bolivien, Kolumbien, Peru und Venezuela. Die romantische Figur des Guerrilleros, die Stilisierung des bewaffneten Kampfes zum “Wahren Weg” in Richtung Sozialismus prägten den Alltag einer ganzen Generation. Tiefgreifende Veränderungen und Mobilisierung kennzeichneten die lateinamerikanischen Gesellschaften: LandarbeiterInnenaufstände in den Andenstaaten, Migration vom Land in die Metropolen, die dort wiederum in Basisbewegungen mündete. LandarbeiterInnen und SlumbewohnerInnen trugen die politische Radikalisierung bis in Gruppen der Mittelschicht, wie StudentInnen, Intellektuelle und FreiberuflerInnen. Auch die Revolution vom Mai ’68 wirkte als ein weiterer Faktor von außen besonders auf Sektoren der marxistischen Linken ein, in denen sich nach dem Scheitern der Guerrilla-Bewegungen eine gewisse Unzufriedenheit breitgemacht hatte.
In dieser Zeit kanalisierte sich das Engagement von Frauen für Veränderungen besonders in den linken Parteien. Figuren wie Haydee Santamaria (Kuba), Lolita Lebron (Puerto Rico), Domitila Chungara (Bolivien), aber auch Tania La Guerrillera, die Gefährtin Che Guevaras in Bolivien, waren die Modelle feministischen politischen Engagements.
Um 1970 aber tauchte das Bild des Feminismus als Importprodukt auf. Die Massenmedien zeigten das Bild nordamerikanischer Feministinnen, die scheinbar nichts anderes zu tun hatten, als sich ihrer BHs zu entledigen. Der Begriff “Feministin” wurde zum Synonym für eine verbitterte Frau, einer Art Anti-Mann, und der aktive Feminismus wurde zur Gefährdung des Klassenkampfes stilisiert. Schon Fidel Castro hatte den Feminismus für schädlich erklärt, da er einer gut durchdachten Strategie des internationalen Kapitalismus gehorche. So litten die ersten Versuche feministischer Aktionen unter den Angriffen und der Ablehnung der Linken – auch der in linken Parteien organisierten Frauen.

Institutionalisierung des Feminismus

Als 1975 die “Frauendekade” der Vereinten Nationen ausgerufen wurde, intensivierten sich die Diskussionen über die “Frauenfrage”, den Feminismus, die Beziehungen zwischen Feminismus und Klassenkampf und Formen der Selbstbestimmung. Neue Gruppen traten auf den Plan, die den ersten Zusammenschlüssen aus den Jahren zwischen 1970 und 1973 folgen. Die erste Konferenz des Internationalen Jahres der Frau, die von den Vereinten Nationen im Juni 1975 ausgerichtet wurde, geriet zum ersten großen Treffen der lateinamerikanischen und angelsächsischen Feministinnen. Gleichwohl – bedingt durch das Engagement der meisten Delegierten in sozialen und parteipolitischen Organisationen – räumte das Schlußdokument auch dem Klassenkampf und umfassenden gesellschaftlichen Veränderungen eine zentrale Bedeutung ein. Bei dieser Gelegenheit bezeichnete die bolivianische BergarbeiterInnenanführerin Domitila Chungara den Feminismus als bourgeois und realitätsfern. Die Zeit war noch nicht reif für einen Dialog zwischen Feministinnen und Aktivistinnen der Linken.
Andererseits durchlebte der lateinamerikanische Kontinent eine schwierige und sehr schmerzhafte Etappe: Neben die bereits institutionalisierten Diktaturen in Brasilien und Paraguay traten die Militärherrschaften in Argentinien, Chile und Uruguay. Mord, Folter, Verfolgung, die Aufhebung der bürgerlichen Freiheiten, Exil und – in dessen Folge – die Auflösung familiärer Bezüge waren die Folgen. Vor diesem Hintergrund reduzierte sich der Handlungsspielraum des Feminismus auf ein Minimum; nur in Ländern mit einem formaldemokratischen System konnten feministische Aktivitäten überhaupt überleben, etwa in Selbsthilfegruppen oder den ersten Frauen-NGOs (1978-1980). Dennoch war gerade das Exil auch Auslöser eines Bewußtwerdungsprozesses bei argentinischen, chilenischen, uruguayischen und brasilianischen Frauen. Viele erlebten die Realität des europäischen Feminismus und gründeten während des Exils eigene Gruppen. Die Rückkehr der ersten Exilierten in ihre Heimatländer fiel so mit dem Erscheinen unabhängiger feministischer Gruppen seit 1980 zusammen.
Außerdem begannen Frauen in der politischen Linken aufzubegehren, die bezüglich ihrer Parteizugehörigkeiten ein neues Selbstbewußtsein entwickelt hatten – schließlich hatte sich ihre Rolle zuvor auch innerhalb ihrer Organisationen auf die “häusliche Arbeit” beschränkt.
Die Abspaltung eines Sektors dieser Parteiaktivistinnen ist in etwa zeitgleich mit dem Auftreten eines “sozialistischen Feminismus”, einer Spielart besonders klassenbewußter Prägung, die sich erst im Laufe der Zeit starrer Schemata entledigte und Konzepte von Patriarchat und Sexualität in ihre Gesellschaftsanalyse einbezog. Manche Ausprägungen des lateinamerikanischen Feminismus lehnten sich stark an den Feminismus des Nordens an, insbesondere in ihrer Betonung von “Bewußtwerdungsprozessen”, dem radikalen Anspruch auf Separatismus bezüglich der Parteien und indem sie die Betonung einer spezifisch weiblichen Sexualität (und auch eine sehr schüchterne Kritik von Zwangsheterosexualität) in den Status politischer Fragen erhoben.

Vielfältige Feminismen und Bewegungen

In den letzten Jahren sieht sich der lateinamerikanische Feminismus neuen praktischen und konzeptuellen Herausforderungen gegenüber. Vor dem Hintergrund der aktuellen neoliberalen Umwälzungen in den Gesellschaften des Kontinents ist seine Situation schwieriger geworden. Die unterschiedlichen Formen des Feminismus wurden nun dazu gezwungen, umfassendere Analysen zu erarbeiten und – beispielsweise – ethnische Fragen zu thematisieren, die in der Region von entscheidender Bedeutung sind. War die Bewegung in ihren Anfängen von akademisch gebildeten Frauen der Mittelschicht und von emanzipierten Berufstätigen dominiert, so stellt sich das feministische Universum heute als ein Konglomerat aus Frauen und Strömungen unterschiedlicher Herkunft und mit unterschiedlichen Ansätzen dar. In dem oft als movimiento amplio de mujeres bezeichneten Gesamtzusammenhang finden sich so verschiedene Ausdrucksformen, wie zum Beispiel der feminismo popular (in Organisationen der Armenviertel, der Landarbeiterinnen oder Indígenas), die corriente autonoma (der “Feminismus per se”), der Feminismus in den linken Parteien, in Gewerkschaften und Berufsverbänden, der Feminismus im akademischen Bereich, der NGO-Feminismus und nicht zuletzt der “Regierungs-Feminismus” von Frauen, die in Regierungsinstitutionen beschäftigt sind.
In jedem dieser Bereiche können die Forderungen, die erhoben werden, Elemente aus der liberalen Strömung, Teile des Radikalfeminismus oder aber einer klassenbezogenen Ausrichtung enthalten. Bei bestimmten Gelegenheiten, etwa in Wahlkämpfen oder während internationaler Konferenzen, hat sich gezeigt, daß die zu den jeweiligen Anlässen gebildeten Plattformen eine strategische Kombination aus reformerischen und radikalen Forderungen wählen. Allianzen müssen eingegangen werden, die von vornherein die spezifischen Unterschiede wahrnehmen und respektieren. Es ist dementsprechend unmöglich, weiterhin von nur einem Feminismus zu sprechen, der in der Theorie einheitliche Forderungen vertritt und sich auch in der Praxis homogen darstellt. Neuere Beiträge des postmodernen Feminismus zielen in diese Richtung. Um mit den US-Amerikanerinnen Nancy Fraser und Linda J. Nicholson zu sprechen: Die feministische politische Praxis “wird immer mehr zu einer Angelegenheit von Allianzen. Es gibt keine Einheitlichkeit mehr in bezug auf ein Interesse oder eine Identität, die von allen geteilt werden”. Eine solche Praxis “funktioniert nur in der Form vielfältiger Bündnisse. Keines davon läßt sich auf einen Wesensgehalt festlegen. Vielleicht wäre es besser, immer nur im Plural, von einer Praxis der Feminismen zu sprechen…”. Auch für Lateinamerika ist das ein wichtiger Denkanstoß kurz vor dem Jahr 2000.

aus: Perspectivas 3/1996, Isis Internacional

Vom Recht, sich “das Kleid schmutzig zu machen”

Costa Rica war eines der ersten lateinamerikanischen Länder, das die politische Gleichstellung von Frauen mittels Quotenregelung gesetzlich verankerte. 1990 schon wurde ein Gesetz erlassen, das vorschreibt, die Positionen der Vizeminister, hohe politische Ämter und der Vorsitz staatlicher Institutionen in den ersten fünf Jahren zu mindestens 30 Prozent, in zehn Jahren zu 50 Prozent von Frauen eingenommen werden müssen. Es regelt außerdem, daß weder Männer noch Frauen mehr als 60 Prozent der Kandidatinnen stellen dürfen. Außerdem werden die einzelnen Parteien aufgefordert in ihren Parteistatuen “effektive Mechanismen” festzulegen, die eine Beteiligung von Frauen in der Parteiarbeit und bei der KanditatInnenwahl erleichtert.

Quotierung von KandidatInnen

Die in Lateinamerika am häufigsten praktizierte Form der Ouotierung beruht darauf, daß die Aufstellung der KandidatInnen politischer Parteien beeinflußt wird, eine Einflußnahme, die nur aufgrund der schon praktizierten Kontrolle der Parteien durch staatliche Organe stattfinden kann. Das bedeutet, daß die nationalen Wahlkommissionen die KandidatInnenlisten vor dem Beginn des Wahlkampfs anerkennen müssen, die Anerkennung verweigern, wenn nicht der im Quotengesetz vorgeschriebene Mindestanteil durch Frauen besetzt ist. Deshalb sind Quotenregelungen in Lateinamerika fast ausschließlich als Veränderungen der Wahlgesetze verabschiedet worden, nicht als Anti-Diskriminierungsgesetze per se.
Die weitreichendsten dieser Quotenregelungen sehen 30 Prozent der Kandidatinnenplätze auf den Listen der politischen Parteien für Frauen vor. Eine solche Regelung findet sich beispielsweise in Argentinien. Im November 1991 wurde hier das Gesetz Nr. 24.012 verabschiedet, welches vorschreibt, daß “die Liste der Kandidaten für ein öffentliches Amt mindestens 30 Prozent Frauen enthalten muß. Listen, die dieses Kriterium nicht erfüllen, dürfen nicht veröffentlicht werden.”
Auch in der Dominikanischen Republik gibt es seit diesem Jahr ein vergleichbares Gesetz, welches fordert, daß ein Minimum von 30 Prozent der KandidatInnen aller politischen Parteien und Gruppierungen für das Nationalparlament und die Provinzparlamente Frauen sein müssen. In Brasilien gibt es seit 1996 eine 20 Prozent Quote bei der KandidatInnenaufstellung, die von einem Zusammenschluß aller Parlamentarierinnen durchgesetzt wurde.
In Chile wurde dieses Jahr dem Parlament ein Gesetzesvorschlag über eine Frauenquote von 20 Prozent vorgestellt. Er wurde allerdings bisher noch nicht verabschiedet. In Mexiko dagegen ist schon im letzten Jahr ein Gesetzesvorschlag, der eine 30 Prozent Quote vorsah, an den Stimmen der Abgeordneten der Partido Revolucionario Institutional (PRI) gescheitert.

Freiwillige Quoten

Zusätzlich finden sich in anderen Ländern Frauenquoten als freiwillige Verpflichtungen einzelner Parteien. So garantieren zum Beispiel die Sozialistische Partei in Uruguay, die Partido Colorado in Paraguay und die Partido de la Revolución Democrática (PRD) in Mexiko eine Quote von 30 Prozent für Frauen. Die Partido por la Democracia (PPD) in Chile hat eine 20 Prozent Quote eingeführt. Auch die PT in Brasilien hat nach langen Auseinandersetzungen eine Quote von 30 Prozent für alle Parteiämter eingeführt. “Es war ziemlich schwer, diese Quote in der Partei einzuführen”, so Benedita da Silva, Gründungsmitglied der PT und seit 1994 im Brasilianischen Senat. “Einige Männer meinten, es gäbe gar keine Diskriminierung in der Partei und alle Frauen könnten hohe Parteiämter erlangen, wenn sie nur kompetent seien. Wir Frauen haben dagegengehalten: ‘Was denkt ihr eigentlich? Wir haben schon lange genug gezeigt, daß wir kompetent sind, erhalten aber nicht die entsprechende Anerkennung dafür’. Wir mußten sie also erst überzeugen, daß eine Quote notwendig ist, weil Diskriminierung der Grund ist, daß keine Frauen in hohen Positionen waren.”

Zusammenarbeit über politische Grenzen hinweg

Die Diskussionen um Quoten haben in allen Ländern dazu geführt, daß sich Frauen – teilweise auch Männer – aus verschiedenen politischen Gruppen oder unterschiedlichen Richtungen, aus Parteien und sozialen Bewegungen, in mehr oder weniger losen Koalitionen zugunsten der Quotenforderung zusammengeschlossen haben. Nur dort wo Zusammenschlüsse von Frauen mit massiver Unterstützung in der Öffentlichkeit eine Quotenforderung gestellt haben, waren diese auch erfolgreich, wie das argentinische Beispiel verdeutlicht.
Obwohl dort zwei unterschiedliche Versionen des Quotengesetzes zuerst von Abgeordneten der Unión Civica Radical, Senator Margarita Malharro, Norma Allegrone und Florentina Gomez Miranda im Senat und im Repräsentantenhaus vorgestellt wurden, erhielt es sofort Unterstützung von Vertreterinnen der anderen Parteien. Und obwohl die Stimmung vorher gegen das Quotengesetz gewesen war, wurde es überraschenderweise schon im September 1990 vom Senat verabschiedet. “An jenem Tag haben wir alle unsere Kollegen mobilisiert und um ihre Unterstützung gebeten”, so die Senatorin Malharro, “trotzdem hatten wir nicht viel Hoffnung und waren sehr überrascht, als die Abstimmung positiv verlief. Das war eher eine Frage des Glücks für uns.”
Ganz anders der Entscheidungsprozeß im Repräsentantenhaus: Als das Gesetz am 6. November 1991 debattiert werden sollte, war eine große Gruppe von Frauen als Beobachterinnen auf der Galerie, in den Fluren und auf den Straßen und Plätzen in der Nähe des Kongresses. Sie verliehen ihren Forderungen durch Rufe, Gesang und teilweise durch direkte verbale Angriffe auf die männlichen Abgeordneten während der Debatte Ausdruck. Frauen aus unterschiedlichen politischen und sozialen Gruppen und Vertreterinnen unterschiedlicher Ideologien waren sich einig in der Unterstützung des Gesetzes. Es war ihnen außerdem gelungen, die weiblichen Abgeordneten, die das Gesetz nicht unterstützten wenigstens dazu zu bringen, es nicht öffentlich zu kritisieren.

Nicht einmal Frauentoiletten im Parlament

Die Brasilianerin Benedita da Silva erzählt ähnliches über ihre Zeit als Abgeordnete: “Als ich zuerst gewählt wurde, waren nur 26 von 599 Abgeordneten Frauen. Das war so eine Männerwelt, daß es nicht einmal Frauentoiletten gab. Und die Männer behandelten uns mit einem unglaublichen Paternalismus! Sie wollten auch, daß Frauen nur über Frauenangelegenheiten sprechen und versuchten, uns aus allen anderen Diskussionen rauszuhalten. Ich als Vertreterin der PT interessierte mich aber für die Agrarreform und die Rechte der ArbeiterInnen. Um gegen ihre Vorurteile anzugehen, fing ich also an, über “Frauen und die Agrarreform” zu reden, oder über “Frauen und Rechte am Arbeitsplatz”, Frauen und alles mögliche, bis sie mich endlich in allen diesen Bereichen ernst genommen haben.”
Gegen diese männliche Übermacht sind die Frauen aller Parteien in Brasilien dann zusammengekommen und haben eine nationale Kampagne gestartet, um eine Frauenquote von 20 Prozent bei allen KandidatInnen zu verlangen. “Das war ein tolles Beispiel dafür, wie Frauen mit ganz unterschiedlichen politischen Überzeugungen, gemeinsam mit der Frauenbewegung aus allen Teilen des Landes, zusammenkommen können. Wir haben gemeinsam alle Parteien zwingen können, den Frauenanteil in ihren Reihen zu erhöhen.”

Allheilmittel gegen Machismo…

Dabei ist allen Beteiligten vollkommen klar, daß es sich bei der Quotenregelung keinesfalls um ein Allheilmittel gegen Machismo oder jede Art von Benachteiligung handelt. Eine Quote von 30 Prozent bei der Aufstellung der KandidatInnen erhöht ja nur in den seltensten Fällen den Frauenanteil wirklich auf 30 Prozent. Sie sagt an sich ja noch nichts darüber aus, ob Frauen auf aussichtsreichen Listenplätzen landen. Selbst wenn Frauen auf jedem dritten Listenplatz stehen, führt das vor allem bei kleineren Parteien, die nicht viele Sitze gewinnen, am Ende auch wieder zu einer weitaus geringeren Repräsentation von Frauen.
Letztlich haben Quoten bei der KandidatInnenaufstellung aber doch in allen Ländern dazu geführt, daß mehr Frauen in die Parlamente gelangen. In Argentinien beispielsweise halten Frauen seit den Wahlen 1994 ein Viertel der Sitze im Parlament, der höchste Frauenanteil in der Geschichte Argentiniens.
Schlechter sieht es dann allerdings bei der Verteilung von Plätzen im Kabinett aus, wo in keinem lateinamerikanischen Land eine Quotenregelung praktiziert wird. In Argentinien hat die erhöhte Anzahl von Parlamentarierinnen nicht dazu geführt, daß nun Frauen auch tatsächlich mehr Regierungsämter bekleiden und sich in den Rängen mit hoher politischer Verantwortung wiederfinden. Im Vergleich dazu finden sich mehr Frauen auf ministerieller Ebene in Ländern, die keine gesetzlich geregelte Quote bei der KandidatInnenaufstellung, haben so zum Beispiel in Chile und Venezuela. Und in den karibischen Staaten bekleiden Frauen bis zu 20 Prozent der Ämter auf Ministerialebene. Auch ohne daß die Listen der KandidatInnen quotiert sind, halten Frauen in der Karibik im Durchschnitt 18 – 20 Prozent der Sitze im Parlament.

… oder Gnade der Mächtigen?

Was eine Quote real für Frauen bringt, ist umstritten. Selbst in den Ländern, in denen Quotenregelungen bestehen, sind sich die KommentatorInnen uneins, ob die Quoten den Frauen denn nun auch tatsächliche politische Handlungsmöglichkeiten verschaffen oder ob Frauen – mit oder ohne Quote – nur nach oben gelangen, weil sie durch Partei-Patriarchen unterstützt werden oder anders von Männern abhängig sind. Diese “Quotenfrauen”, so wird erwartet, machen sowieso keine progressive Politik.
Die Bolivianerin Sonia Montaño beobachtet zum Beispiel, daß “die wenigen Frauen, die nach oben kommen, eine solch große Bringeschuld gegenüber den parteipolitisch Mächtigen haben, daß sie fast immer nur zustimmend die Hand heben, mit der Mehrheit der Partei stimmen, um Konflikte zu vermeiden oder plötzlich blind werden für Menschenrechtsverletzungen.” Sie fügt deshalb unmißverständlich hinzu: “Von solchen Frauen wollen wir nicht mal 15 Prozent.”

Verändern Quoten Politik?

Forderungen nach Quoten wurden in der Öffentlichkeit manchmal so wahrgenommen, als ob sie nur den Partikularinteressen der parteipolitisch aktiven Frauen entgegenkommen, aber keine Relevanz für Normalbürgerinnen haben. Das hat einerseits die Vehemenz von Quotenforderungen geschwächt. Andererseits aber hat es dazu geführt, daß die Politikerinnen nur in intensiven Diskussionen über Politikstile und -inhalte die Unterstützung für Quoten durch Frauen der sozialen Bewegungen gewinnen konnten und ihr Verhalten im Parlament stärker beobachtet wurde. “Es war schwierig, dieses neue Konzept von Gleichheit durchzusetzen”, so die argentinische Abgeordnete der Frente Grande, Cecilia Lipczik, “nicht nur gegenüber der männlichen Welt, sondern auch der weiblichen Welt gegenüber.”
Die Diskussionen um Quoten spiegelten so die Debatte der Frauenbewegungen weltweit wider: Gibt es allen Frauen gemeinsame Interessen, die nur von Frauen vertreten werden können, und praktizieren Frauen als solche einen anderen Politikstil?
Insgesamt blieb es jedenfalls bisher eine Wunschvorstellung, daß sich feministische Überzeugungen, soziales Engagement und progressive politische Inhalte und Stile in einer Machtposition vereinigen. “Wenn auch Frauen anders als Männer sein mögen, so muß doch auch klar sein, daß nicht alle Frauen automatisch auf die Bedürfnisse anderer Frauen achten oder auf Gender-Fragen im allgemeinen. Mehr Frauen in wichtigen Positionen bedeuten deshalb noch lange nicht, daß auch mehr Aufmerksamkeit auf die Diskriminierung von Frauen gelegt wird”, so die Journalistin Anna Fernandez Poncela. Deshalb wäre es trügerisch, es als Erfolg zu werten, daß in Ecuador die Vizepräsidentin inzwischen eine Frau ist. Alexandra Vela bezeichnet sich selbst weder als Feministin noch hat sie besonderes Interesse an der Verbesserung der Situation von Frauen geäußert, auch wenn sich das mittlerweile ein wenig zu ändern scheint.
Auch das Beispiel Violettá Chamorros, der ehemaligen Präsidentin Nicaraguas, zeigt, wie wenig sich positive Veränderungen des Geschlechterverhältnisses einstellen müssen, nur weil eine Frau politische Entscheidungsträgerin ist.
Insgesamt scheint sich aber die Meinung durchzusetzen, daß sich die “Qualität der Debatte” durch die Anwesenheit von Frauen verbessert habe und daß eine “Erweiterung des demokratischen Raums offensichtlich geworden sei, weil “das Thema Frauendiskriminierung” notwendigerweise behandelt werden mußte, auch von Politikern und Parteien, die sich sonst nicht damit beschäftigt hätten”, betont die brasilianische Feministin Graciela Rodriguez.
Quotenregelungen können also reale Möglichkeiten schaffen für mehr Pluralismus und für die Ausübung von Kritik und Kontrolle durch Frauen – im Parlament und von außen. Formal müssen Frauen dann jedoch überhaupt erst das Recht erhalten, genauso schlechte Politiker zu sein wie die Männer. Unter den “Quotenfrauen” werden dann hoffentlich auch so manche dabei sein, die andere politische Inhalte vielleicht sogar mit anderen Politikstilen verbinden und streitbare Alternativen innerhalb des politischen Systems formulieren.
Die nicaraguanische Feministin Sofía Montenegro drückt das so aus: “Der Kampf um die Rechte von Frauen muß aus dem Inneren des Systems heraus stattfinden. Sonst werden weiterhin andere Entscheidungen treffen ohne uns zu fragen. Irgendeine von uns muß jetzt hier ihr Kleid schmutzig machen, um für uns alle neue Wege zu eröffnen.” Die Erfahrung mit Frauenquoten und institutionalisierter Gleichstellungspolitik in anderen Ländern wie zum Beispiel hier in der Bundesrepublik hat allerdings gezeigt, daß Quotendiskussionen die Energien der Frauenbewegungen eher aufsaugen und zum Verlust feministischer politischer Kreativität zu führen scheinen. Die Frage ist also noch offen, ob die Machtumverteilung und Politikveränderung durch Quoten, in Lateinamerika wie anderswo, die Frauenbewegung zum zahnlosen Tiger macht.

Tragische Königin im Zirkuszelt

Violeta Parra wurde 1917 in einem kleinen Ort im Süden Chiles geboren. Als ihr Vater, ein verarmter Dorflehrer, wenige Jahre später starb, besann sich ihre Mutter ihrer früheren Arbeit als Sängerin und tingelte mit ihren zehn Kindern jahrelang durch Zirkusarenen, Bars und Musikkneipen, den “Peñas”. Mit 15 Jahren kam sie nach Santiago, und gemeinsam mit ihrer Schwester trug sie in den Bars der Stadt die alten, von der Mutter gelernten Volkslieder vor und griff aktuelle Musik auf. Die dreißiger Jahre in Chile waren die Dekade der “Primera Onda Folklorica”, der ersten Volkslied-Welle. Das Volkslied war zu jener Zeit die Musik der städtischen Arbeiter und der Landarbeiterfamilien, die wegen der wirtschaftlichen Rezession in die Städte geflohen waren. Mit zwanzig heiratete sie einen fast doppelt so alten Eisenbahnangestellten, der ihr die Musik verbot, und bekam ihre beiden Kinder Angel und Isabel. Fast zehn Jahre sollte es dauern, bis sie sich aus dem Drama dieser Ehe befreite.

Volkslieder vor der Vergessenheit bewahren

Sie nahm ihre Gitarre bei der einen und ihre Kinder bei der anderen Hand und reiste kreuz und quer durch das Land, sang und begann, Lieder, die ihr unterwegs begegneten, aufzuzeichnen. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das ursprüngliche Volkslied in Chile vor der Vergessenheit zu bewahren. So sammelte sie mehr als 3000 Lieder und bekam dafür bei Radio Chilena gar eine eigene wöchentliche Sendung. Zu dieser Zeit entstanden auch ihre ersten selbst geschriebenen Lieder, die den traditionellen Rahmen der Volksmusik überschritten: Lieder voll zornigem Sarkasmus über die gesellschaftlichen Verhältnisse, zarte Liebeslieder, die jedes Klischee sprengten, eine Rückbesinnung auf die Rhythmen und Instrumente der Andenvölker. Violeta Parra war es, die fast vergessene Instrumente wie das Charango, die Zampona und die Quena wieder populär machte. 1954 wurde sie mit dem “Premio Caupolicán”, dem bedeutendsten Volksmusikpreis in Chile, ausgezeichnet.

Reisen für die Musik

Es folgten Jahre des Reisens, bis nach Europa, Skandinavien, und in die Sowjetunion. Allein in Paris blieb sie zwei Jahre, lernte dort Malraux und Sartre, Picasso und ihr großes Vorbild, Edith Piaf, kennen. Zurück in Lateinamerika, durchzogen ihre Wege auf der Suche nach Musik den ganzen Kontinent: Argentinien, Peru, Ecuador, Kolumbien und Bolivien. Wieder in Santiago, erkrankte sie schwer, blieb monatelang ans Bett gefesselt, lernte in der Zeit Töpfern, Malen und Weben, entfaltete darin ein derartiges Talent, daß sie bei ihrem zweiten Paris-Aufenthalt im weltberühmten Musée du Louvre ausstellte – als erste lateinamerikanische Künstlerin trat sie ein in den Pantheon der europäischen Kultur, damals eine Sensation.
Als sie 1964 abermals nach Santiago zurückkam, begann die Morgendämmerung der zweiten chilenischen Folklorewelle, die ohne sie nicht denkbar gewesen wäre. Zusammen mit ihren Kindern Angel und Isabel gründete Violeta Parra 1965 die legendäre “Peña de los Parra” im Zentrum Santiagos, und diesmal waren es die jungen Menschen, Arbeiter, Studenten, Schüler, die diese neue Bewegung emporhoben, die zu Violeta Parra kamen, um zu lernen: Victor Jara, Patricio Manns, die jungen Musiker von Illapu, Inti Illimani und Quilapayún. Sie errichtete am Rande von Santiago ein altes Zirkuszelt, Hommage an ihre Kindheit, und nannte es ironisch “La Carpa de la Reina”, das Zelt der Königin.

Selbstmord an der Schwelle zum Weltruhm

Hier fand man sie an einem lauen Sommermorgen des Jahres 1967 tot in ihrem Bett: Das Scheitern ihrer leidenschaftlichen Liebe zu dem Ethnologen Gilbert Favre, Geldsorgen, die Repressionen der Regierung Frei raubten ihr den Lebensmut, liessen sie sich selbst töten – an der Schwelle zum Weltruhm. Die Welle folkloristischer Musik, die Suche nach der Kraft der eigenen Wurzeln hatte den gesamten amerikanischen Kontinent erfaßt, für kurze Zeit die traditionellen kulturellen Grenzen überschritten. Posthum wurde ihr letztes Lied, interpretiert von der Nordamerikanerin Joan Baez, zu einem Welterfolg: “Gracias a la vida”.
In Chile selbst wurde sie zur Mutter des “Movimiento de la Nueva Canción Chilena”, der “Neuen Gesangsbewegung”, deren Schicksal sich eng mit dem Aufstieg und Fall von Salvador Allende, dem ersten frei gewählten sozialistischen Präsidenten Lateinamerikas, verbinden sollte. Allende war es dann auch, der gemeinsam mit Pablo Neruda den Trauermarsch für Violeta Parra durch die Straßen Santiagos anführte: Einen “Marsch tausender Menschen des Protestes, des unendlichen Bedauerns, der Blumen und der Tränen” (Patricio Manns).

“Kunst: eine Leidenschaft mit Risiko”

Ein kühles, stilles Morgenlicht liegt noch wie ein zartes Luftgewebe über Barranco. Noch ist die Straße menschenleer, ab und an nur braust ein zeternd hupendes Taxi vorrüber oder ein scheppernder Bus poltert mit klirrenden Scheiben durch die Schlaglöcher. Die Calle Domeyer zweigt von der Hauptstraße ab, und sie endet schon nach wenigen Metern an einem Tor hoch über den Klippen der Bucht von Lima. Víctor Delfín, ein kleiner alter Mann mit in Würde zerfurchtem indianischem Gesicht, langem grauem Haar, die sehnigen Beine ragen aus farbbeklecksten Shorts, schaut einen Moment lang listig wachsam hinter seinen großen Brillengläsern hervor. Freundlich heben sich seine Augenbrauen, und er läßt ein in sein Atelier, vor dessen weiten Fenstern von Horizont zu Horizont der Pazifische Ozean tobt.
Geboren 1927 als Sohn eines Erdölarbeiters im Norden des Landes, verschenkte er bereits als Kind selbstgebastelte Spielzeugautos aus Holz, Draht, und Blechdosen, und als Schüler verkaufte er Zeichnungen, um sich Zeichenutensilien kaufen zu können. Mit zehn Jahren mußte er von der Schule, und wie so viele peruanische Kinder zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Jahre verbrachte er als Straßenhändler, Hilfsarbeiter in Fabriken und auf Baustellen, doch vom Zeichnen ließ er nie. Er bestand die Aufnahmeprüfung für den Eintritt in die Kunstakademie von Lima, seinerzeit für einen Bewerber ohne Schulabschluß eine Sensation, die ihm ein Stipendium einbrachte.

Eine Generation von Künstlern auf der Suche nach ihren Wurzeln

Lateinamerika schien in den fünfziger Jahren nach Krieg und Zuwandererwelle kulturell neu zu erwachen. Der Kunststudent Víctor Delfín stürzte sich in die Bohème von Lima, die so sein wollte wie jene in Paris oder New York.
“Zu Beginn habe ich all diese “-ismen” aufgesaugt wie ein trockener Schwamm, die Befehle der Generäle Bréton, Picasso, Henry Moore, beinah bis zur Selbstvergessenheit. Doch da gab es in mir einen rebellischen Geist, der mir keine Ruhe ließ, der fragte: Wo bleibt die Seele?” Er ging auf die Suche, und gehörte zu jener Generation peruanischer Künstler wie auch Alberto Quintanilla, Tilsa Tsuchiya und Fernando de Szyzlo, die ihre indigenen Wurzeln neu entdeckten in einer Zeit, in der die politische und kulturelle Nomenklatura des Landes voller rassistischer Ressentiments und Ignoranz auf die “cholos”, wie sie Mestizen und Indios abfällig nennt, herabblickte. Nicht etablierte Ausstellungen und Wettbewerbe besuchte diese junge Generation, sondern Dörfer und Märkte und Werkstätten, sie stiegen hinauf nach Macchu Picchu, durchschritten die Ebenen von Nazca, studierten in den Museen die lustvolle, bunte Formenwelt der Keramiken und der farbenprächtigen, meisterhaft gewebten Stoffe präkolumbiner Kulturen. Während Künstler wie Szyzlo die Farben und Formen der indigenen Tradition in ihre abstrakte Malerei zu integrieren suchten, wandte sich Delfín dem Figurativen zu.

Bilder von Alltagsszenen im Altiplano

Nach Abschluß seines Kunststudiums wurde er Dozent und schließlich Direktor der Kunstakademien von Puno am Titicacasee und Ayacucho, Zentrum des peruanischen Kunsthandwerks. “Ich ging morgens auf den Markt von Ayacucho, sah die Stoffe aus Lamawolle, Hüte, Sättel aus Leder, kleine Spielzeugkühe aus Quinoafasern, so vieles und mehr, und fühlte mich wie in einer riesigen Akademie”. In dieser Zeit entstander flach und geometrisch wirkende, rationalistische Bilder; Landschaften und Porträts, streng durchkomponiert und in traditionellen Farben gehalten. Bilder von täglicher Arbeit: Maurerkolonnen auf dem Gerüst, Marktfrauen mit ihrer Ware, der Bauer auf der Scholle. Die Farbe des Bildes atmet den herben Duft der Erde des Altiplano. Dem Kulturministerium war dies schon zu revolutionär: Delfín wurde von seinem Posten entlassen.
Er ließ das reaktionäre Lima hinter sich, ging nach Santiago de Chile. Die sechziger Jahre lösten hier eine Welle der Rückbesinnung auf die kulturellen Wurzeln Lateinamerikas aus. Pablo Nerudas “Canto General” erscholl über den Kontinent, Violeta Parra machte das chilenische Volkslied populär, und ihre Kinder Angel und Isabel Parra gründeten die Bewegung des “Neuen Gesanges”. Einige Jahre lebte Delfín mit den Parras, aus seinem Atelier im Zentrum Santiagos wurde später gar die legendäre “Peña de los Parra”, wo auch Víctor Jara seine ersten musikalischen Schritte wagte. Delfín gab Zeichen- und Malkurse an den Kulturinstituten von Los Condes und Providencia. Erst hier bekam er das Gefühl, seine künstlerische Identität gefunden zu haben.

“Retablos” – eine Brücke zum Mestizo-Barock

Das Resultat seiner Suche, “den Durst nach der Wirklichkeit zu stillen”, waren seine bemerkenswerten “Retablos”, bemalte flache Kästen mit räumlichen Szenen, mit denen er eine Brücke schlägt zu den berühmten “Retablos” von Ayacucho, bemalten Tafeln oder mit prunkvollen Goldschmiedearbeiten gestaltete Tryptichone mit religiösen oder anekdotischen Szenen, die einst Kirchen- und Hausaltäre schmückten und zu den herausragensten Arbeiten des sogenannten Mestizo-Barock gehören. In seinen “Retablos” ersetzte Delfín das traditionelle Thema zunächst durch die plastische Umsetzung von Methaphern der populären Poesie, wie z.B. einem Schwarm Tauben oder Rosetten von Blüten, später gar durch erdachte, illusionistische Elemente aus Metall, Holz und Gips.

Ein Skulpturengarten auf den Klippen vor der Stadt

Er kehrte zurück nach Lima, kaufte eine heruntergekommene Villa in Barranco, das zu jener Zeit, den späten sechziger Jahren, nicht mehr als ein verschlafener Küstenort war. Nach Delfín entdeckten weitere Künstler, Schriftsteller, Dichter, Intellektuelle den beschaulichen Ort mit der Kolonialkirche und der baumüberdachten Plaza, wo das Zwitschern der Vögel morgens noch den Verkehrslärm übertönt, und machten ihn zu einer “Künstlerkolonie” von kontinentalem Rang, nicht zuletzt Delfíns Freund und Weggefährte Mario Vargas Llosa, der vor seiner Übersiedlung nach Spanien nach seiner Niederlage im Präsidentschaftswahlkampf 1990 gegen Alberto Fujimori in unmittelbarer Nachbarschaft wohnte.
Im Laufe der Jahre erlebte das Haus auf den Klippen vor Lima gleichsam eine kreative Explosion. Den Garten mit Blumenbeeten in versteckten Winkeln und windumtosten Terassen zieren zahlreiche Skulpturen, die Wände in seinem Atelier hängen voller großer Ölbilder. In manchen Porträts liest sich der Kommentar des Künstlers, das ganze Spektrum seiner Leidenschaften: Der liebevolle Blick, den ihm seine Tochter erwidert, eine Mischung aus Trotz und Zuneigung im Gesicht einer Freundin, der schneidende Schmerz des Christus, der von den Bajonetten des peruanischen Militärs durchbohrt am Boden liegt, der dumme, ignorante Ausdruck im feisten rosa Gesicht eines Generals, der mit seinem fetten Hintern auf einer Staatsflagge sitzt, die notdürftig einen Berg Totenschädel verhüllt.
“Wenn jemand verrückte Ideen hat, Ideen von Rebellion, von Weite angesichts der Natur, dann drückt er sie aus, und somit manifestiert sich das Ich, das Persönliche, das Unverwechselbare. Die Kunst ist kein Beruf, sie ist eine Leidenschaft, der man sich hingibt mit allen Risiken. Ich male keine angenehmen Themen, es gefällt mir zu streiten, wenn ich ausstelle.”
“Nur wenn ich gegen meinen eigenen Erfolg rebelliere, kehre ich zu den Wurzeln zurück und entwickle mich fort. Ich mache mir keine Schwierigkeiten über das Ziel, daß ein Kunstwerk haben könnte. Ich sehe die Kunst weder als eine Art Wettbewerb, noch glaube ich, daß ich eine Art Erleuchteter bin, der anderen den Weg vorgeben könnte.”

Monumentale Skulpturen aus Schrott und Wut

Mit der Rückkehr nach Lima wuchs in Delfín die Wut über die Ignoranz, die ihm begegnete. “Als ich nach Barranco kam, war ich ein sehr unruhiger Mensch, mit einem Ruf hin bis zur Gewalttätigkeit. Ich nahm ein paar Stücke Eisen, Schrott, Abfall- und fing an, meine ganze Wut, Frustration auszudrücken gegen diese rassistische Gesellschaft, wie ich sie erlebt habe, man nannte uns “diese cholos, diese negros”. Ich habe all dies wahrgenommen und mein “Bestiarium” (eine Serie großer, wuchtiger Tierplastiken aus Stahl) geschaffen: Jedem Stück verpaßte ich ein gewaltiges Geschlechtsorgan, groß, gewalttätig. Und unvorstellbarerweise genau das Publikum, daß ich damit angreifen wollte, jene die ihr Schäfchen im Trockenen haben, hat diese Sachen gekauft wie verrückt.”
Erst als Bildhauer eroberte sich der studierte Maler seinen Platz in der Kunstszene: Es folgten Ausstellungen, Verkäufe, Preise in Peru, in Chile, Ecuador, Kolumbien, schließlich schaffte er den Sprung nach Nordamerika, blieb zwölf Jahre lang in New York. Eine eigene Galerie im Greenwich Village, Ausstellungen im Hauptquartier der OAS, Versteigerungen bei Sothebys, Empfänge, Vernissagen.
Und doch zog es ihn wieder zurück nach Peru, nach Lima, nach Barranco. Seit Anfang der achtziger Jahre lebt er wieder ständig dort und hat den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Niedergang Perus in Zeiten von Militärdiktatur und Terrorismus durchgestanden.
Das Peru der späten achtziger und frühen neunziger Jahre war ein Staat in Auflösung. Der “Sendero Luminoso”, die maoistische Guerilla des “Leuchtenden Pfades”, rief zu einem “reinigenden Blutbad mit einer Million Toten” auf und trieb den Terror bis in das Zentrum von Lima. Bombenanschläge und Schießereien in den Straßen, das öffentliche Leben erlahmte, die Menschen trauten sich vor Angst nicht mehr aus den Häusern. Angesichts von Wirtschaftskrise und Terrorismus war das Regime von Präsident Alan García nicht mehr Herr der Lage.
Auch für Víctor Delfín begann eine Zeit der Isolation und der Furcht – nicht nur um die physische Existenz, sondern auch um das geistige Überleben in einer Zeit, in der “an Kunst, an Glück, an Liebe nicht zu denken war”.
Eine dröhnende, bleierne Stille herrscht in der verwaisten Skulpturenwerkstatt, aus Mangel an Leinwand werden alte Bilder übermalt. Sein früher zügelloser, aufbrausender Charakter ist einer beständigen, kämpferischen Natur gewichen, die nicht weniger leidenschaftlich ist.

Ein “Park der Liebe” für ein Land in der Krise

Stärker als je zuvor fühlte er sich mit seinem Land und seinen Mitmenschen verbunden, und er machte ihnen auf dem Höhepunkt der Krise ein herrliches Geschenk, daß ihn schlagartig im ganzen Land bekannt machte: Einen Hymnus an die Liebe, den “Parque del Amor”. Der Park, auf einem Felsen am Meer im Stadtteil Miraflores gelegen, ist zu einem Wallfahrtsort für Liebespaare aus dem ganzen Land geworden. Die geschlängelten Umfassungsmauern mit zahlreichen verborgenen Sitznischen und Durchbrüchen, gaudiesk bunt gefliest, sind geschmückt mit Zitaten aus den schönsten Liebesgedichten peruanischer Dichter, laden ein zum Verweilen und Entdecken.
“Ich denke, daß man als Künstler die Gabe hat, seine Sensibilität auszudrücken. Wie könnte ich unempfindsam sein angesichts eines vergewaltigten Mädchens, eines toten Kindes, eines verschwundenen Studenten? Wie kann man da still sein? Wie kann man sich isolieren, wenn man aus dem Haus geht und nur Elend, Unordnung, Korruption, Gewalt sieht? Die Jahre des Terrors, gegen den Staat und von ihm ausgehend, haben viele von uns hartherzig gemacht, wir haben einen Teil unserer Seele verraten. Man hat mich in den letzten Jahren gelehrt, demütig, bescheiden, standhaft zu sein, die Stirn zu bieten, keine Angst zu haben…Carajo!”
Überraschend gewann 1990 der japanstämmige Agraringinieur Alberto Fujimori, ein populistischer Außenseiter, die Präsidentenwahlen. Die ökonomische Krise und die ersten Folgen der neoliberalen Wirtschaftsreformen brachten das Land an den Rand des Abgrunds und das soziale Pulverfaß zum explodieren. Im April 1992 putschte Fujimori mit Hilfe des Militärs gegen sein eigenes Amt, setzte die Verfassung außer Kraft, löste das Parlament auf und stattete sich selbst mit weitreichenden Vollmachten aus. Die folgende Großoffensive der Armee gegen die zahlreichen im Land operierenden Guerillabewegungen brachte mit der Verhaftung von “Sendero”-Chef Abimael Guzman einen großen Erfolg, der das Land weitgehend befriedete. Die Wirtschaftsreformen griffen, stoppten die rasante Inflation und führten zu einem bescheidenen Wachstum. Doch der Preis dafür ist hoch. Steigende Arbeitslosigkeit, die Schere zwischen arm und reich klafft weiter auseinander, an den grundsätzlichen Problemen hat sich nichts geändert. Fujimori schaffte die demokratische Verfassung ab, ersetzte sie durch ein autokratisches, ihm beinah absolute Macht garantierendes Gesetzeswerk. Eine beispiellose Terroristenhatz überzieht das Land mit dem Ergebnis, daß tausende “Verdächtiger” zum Teil seit Jahren ohne Prozeß in Haft sitzen. Noch heute “verschwinden” Menschen spurlos, oder werden auf offener Straße vom Geheimdienst entführt, wie es zum Beispiel kurz vor Weihnachten dem Ex-General Robles geschah, der die Verbindungen des Chefs des Geheimdienstes SIN und engsten Fujimori-Vertrauten, Víctor Montesinos, zur Drogenmafia enthüllte.

Eine Ausstellung für die Verschwundenen

Das Massaker der Armee an neun Studenten und einem Professor der Universität von La Cantuta, der ein enger Freund von ihm war, weckte in Delfín sein politisches Engagement. Er hat die Menschenrechtsorganisation APRODEH mitbegründet, und als Fujimori 1995 alle uniformierten Menschenrechtsverletzer, unter ihnen auch die Täter von La Cantuta, generalamnistierte, rief er eine Initiative gegen das Amnestiegesetz ins Leben. Seitdem schreibt er Zeitungsartikel, spricht auf Demonstrationen, setzt sich für Gefangene ein. Mit einer Ausstellung in seinem Haus in Barranco, rief Delfín im Juni letzten Jahres zu einer Auseinandersetzung mit dem Thema der “Desaparecidos”, der Verschwundenen, auf. “Es wurde klar, wie sehr das Thema von der Angst aus der Öffentlichkeit verdrängt ist, wie groß aber auch das Interesse an der Wahrheit ist. Wir entreißen die “Desaparecidos” ihrer Anonymität, zeigen, daß sie Individuen waren, keine Zahlen, genauso wie ihre Mörder.”
Die Geiselnahme in der japanischen Botschaft durch ein Kommando der MRTA war auch für Delfín ein Schock, er fürchtet um die relative Stabilität im Land. Nach den verfehlten Hoffnungen der Regierung, Peru könnte ein ökonomischer “Tiger” Lateinamerikas werden, und nachdem sich jetzt zunehmend die Folgen des radikalen Ausverkaufs von Staatsbetrieben zeigen, galt der “Sieg über den Terrorismus” als Fujimoris größter politischer Erfolg. Ein Trugschluß, wie sich nun zeigt. Für Víctor Delfín sind die eigentlichen Probleme des Landes grundsätzlicherer Natur. “Welche Art von Land sind wir? Wir wissen, wir sind spät dran und haben eine wichtige Verabredung mit der Zukunft, also beeilen wir uns und entscheiden, welche Art von Modernität wir wollen: Die Erfahrungen der Industrieländer nutzen, ihre Fehler vermeiden, das Beste unserer Kultur retten und Bewußtsein zu erlangen für unsere Identität, so werden wir eine menschlichere Gesellschaft erreichen.”

Ein steinernes Meer auf der Säule

Zur Zeit arbeitet Delfin an einer Skulptur auf dem Kreisel von Chimbote, einer Hafenstadt im Norden Perus, einer elf Meter hohen Säule, mit mehrfach durchbrochener Positiv-Negativ-Ornamentik , die an Escher erinnert. “Ich habe mir Leute von dort gesucht, ganz einfache Handwerker. Ich weiß um ihr Erstaunen, wenn man sie aus ihrem Schema herausreißt. Einer der immer nur gerade Steinmauern hochzieht wird verrückt, wenn er einen Zylinder machen soll, und wenn dieser Zylinder auch noch Bilder trägt. Sie sind stolz auf das was herauskommt und fühlen sich als ein Teil des Ganzen.”
Die Skulptur steht auf dem Verkehrsknoten von San Pedrito, wo täglich hunderte von Autos, Bussen und Lastern vorbeikommen auf dem Weg nach Norden oder zurück. “Hier stellen wir den ganzen Reichtum des Meeres dar, das alte Peru, daß sich von Fisch ernährte, das gegenwärtig ist bei den Mochica, ihren Keramiken, ihren Stoffen, gegenwärtig in Paracas, Nazca und Chanchán. Das Meer ist gegenwärtig in meinen steinernen Pelikanen, den Krebsen, den großen Fischen, den gigantischen, die Formen abstrahierend, denn man kann die Natur nicht imitieren. Man zieht aus ihr die Kraft, die Zartheit, die Farben, schließlich die Atmosphäre; die Farbe, die eine Landschaft hat, kann manchmal nur ein Künstler erfassen.”
Barranco taucht wieder zurück in die Dunkelheit. Wenn man über die “Puente de Suspiros” geht, die Seufzerbrücke, unter der die “Pirañitas”, jugendliche Taschendiebe, lauern, kommt man zu einem Aussichtspunkt auf der Klippe, von wo man die Schaumkronen der Wellen wie weiße Würmer über das Wasser tanzen sieht. Tief unten zieht ein Ausflugsdampfer in weitem Bogen durch die Bucht, ein Tango hallt herauf. In Barranco erwacht ein brodelndes Nachtleben, die Bars und Diskotheken sind “in” bei den Jugendlichen aus dem mondänen Nachbarort Miraflores, chic gekleidete, wohlduftende Teenies heizen in glitzernden japanischen Geländewagen um die Plaza. Während eines dieser zeternd hupenden Taxis hält, klingt noch der letzte Satz von Don Víctor in mir nach, kurz bevor er das große Tor hoch über den Klippen hinter mir schloß. “Das Einzige, was ich weiß ist, daß weder Du noch ich unendlich sind. Das menschliche Wesen, die menschlichen Leidenschaften sind das Zerbrechlichste.”

Flaschenpost an den Gott des Wortes

Mit 12 Jahren wurde ich beinahe von einem Fahrrad überrollt. Ein Herr Pfarrer rettete mich mit einem Schrei: Vorsicht! Der Radfahrer fiel auf den Boden. Der Herr Pfarrer sagte zu mir ohne stehenzuleiben: Hast Du gesehen, was die Macht des Wortes ist? Seit diesem Tag weiß ich es.
Heute wissen wir außerdem, daß die Mayas das schon vor Urzeiten wußten, und zwar mit solcher Sicherheit, daß sie einen speziellen Gott der Wörter hatten.
Nie zuvor war diese Macht so groß. Die Menschheit wird das dritte Jahrtausend unter dem Imperium des Wortes begreifen. Es stimmt nicht, daß die Bilder es verdrängen oder auslöschen können. Im Gegenteil, sie potenzieren es: Nie gab es auf der Welt so viele Worte, die soweit reichen mit solch einer Autorität und Beliebigkeit, wie in dem immensen Babylon des heutigen Lebens. Erfundene Wörter, von der Presse, den Einwegbüchern, den Werbeplakaten mißhandelt oder geheiligt; gesprochen und gesungen im Radio, Fernsehen, Kino, Telefon, den öffentlichen Lautsprechern; mit dicken Pinseln an Hauswände geschrien oder im Halbdunkel der Liebe ins Ohr geflüstert. Nein: Der große Besiegte ist das Schweigen. Die Dinge haben jetzt so viele Namen in so vielen Sprachen, daß es gar nicht mehr leicht ist, eines zu finden, das es in keiner gibt. Die Sprachen schwärmen auseinander, weg von ihren einstigen Paten, sie vermischen und verwechseln einander, losgelassen auf das unaufhaltsame Schicksal einer globalen Sprache.
Die spanische Sprache muß sich in dieser Zukunft ohne Grenzen auf eine große Aufgabe vorbereiten. Das ist ein historisches Recht. Nicht wegen ihrer ökonomischen Vormacht, wie andere Sprachen bis heute, sondern wegen ihrer Vitalität, ihrer kreativen Dynamik, ihrer weiten kulturellen Erfahrung, ihrer Schnelligkeit und Verbreitungskraft, in einem eigenen Gebiet von 19 Millionen Quadratkilometern und 400 Millionen Sprechenden am Ende dieses Jahrhunderts. Mit Recht sagte ein Spanischlehrer in den Vereinigten Staaten, während seiner Unterrichtsstunden könnte er als Dolmetscher zwischen Lateinamerikanern verschiedener Länder auftreten. Es ist beachtlich, daß das Verb pasar 54 Bedeutungen hat, während es in der Republik Ecuador 105 Namen für das männliche Sexualorgan gibt und daß dafür das Wort condoliente, das sich aus sich selbst erklärt und das uns so not tut, noch nicht erfunden wurde.
Einen jungen französischen Journalisten blenden die poetischen Funde, die er in jedem Schritt unseres täglichen Lebens entdeckt. Daß ein Kind, vom gleichmäßigen und traurigen Blöken eines Schafes wach gehalten, sagte: “Das ist wie ein Leuchtturm”. Daß eine Händlerin der kolumbianischen Guajira ein Melissengericht ablehnte, weil es nach Karfreitag schmeckte. Daß Don Sebastián de Covarrubias in seinem legendären Wörterbuch uns hinterließ, gelb sei “der Farbe” der Verliebten. Wie oft hat jeder einzelne von uns einen Kaffee probiert, der nach Fenster schmeckt, ein Brot nach Ecke, eine Kirsche, die wie ein Kuß schmeckt?
Das sind Beweise am Rand der Intelligenz einer Sprache, die schon lange nicht mehr in ihre Haut paßt. Doch unsere Aufgabe darf nicht sein, ihr ein Korsett zu verpassen, sondern sie, im Gegenteil, von ihren normativen Eisen zu befreien, damit sie in das 21. Jahrhundert eingeht wie Petrus in seine Pforte. In diesem Sinne traue ich mich, diesem weisen Auditorium vorzuschlagen, die Grammatik zu vereinfachen, bevor am Ende die Grammatik uns vereinfacht. Humanisieren wir ihre Gesetze, lernen wir von den indigenen Sprachen, denen wir so viel schuldig sind, wie viel sie uns noch zeigen, wie sehr sie uns bereichern können; nehmen wir die technologischen und wissenschaftlichen Neologismen schnell und gut auf, bevor sie uns unverdaut unterwandern, verhandeln wir gutherzig mit den barbarischen Gerundien, den endemischen qués (was), dem parasitären dequeísmo (dassismus), und geben wir dem Konjunktiv die Betonung der Grundform zurück (…). Pensionieren wir die Rechtschreibung, Terror der Menschen von Kindesbeinen an: Begraben wir die steinzeitlichen “h”s, unterschreiben wir ein Grenzabkommen zwischen dem “g” und dem “j” und verwenden wir etwas mehr Vernunft bei den geschriebenen Akzenten (…).
Das alles sind freilich zufällige Fragen, ins Meer geworfene Flaschen mit der Hoffnung, daß sie den Gott des Wortes erreichen. Es sei denn, er und wir bedauern ob all diesen Wagemuts und dieser Ungereimtheiten mit Recht und Vernunft, daß mich im Alter von 12 Jahren jenes ländliche Fahrrad nicht rechtzeitig überrollt hat.

Übersetzung: Brigitte Müller

Argentiniens Kampf gegen die Haare

Summa summarum war Ar­gen­tinien in den letzten 20 Jah­ren die er­folg­reichste la­tein­ame­ri­ka­ni­sche Mann­schaft. Zweimal Welt­meister (1978 und 1986) und zweimal Amerikameister (1991 und 1993). Seitdem ist al­ler­dings der Wurm drin. Bei der Qua­lifikation zur WM 94 setzte es in Buenos Aires mit dem 0:5 ge­gen Kolumbien die höchste Heim­schlappe in der Länder­spiel­geschichte, bei der WM selbst wurde Maradona des Do­pings überführt und Argentinien schied ohne ihn und den ver­letz­ten Caniggia bereits im Ach­tel­fi­nale aus. Der Trainer Al­fredo Ba­sile wurde entlassen und durch Maradonas Intimfeind Da­niel Passarella ersetzt. Passarella, der Kapitän der Weltmeister­trup­pe von 1978, ist bis heute sauer auf Maradona, den Welt­mei­ster­ka­pitän von 1986. Der Grund: Pas­sarella gehörte 1986 noch zum WM-Aufgebot und hätte als er­ster Argentinier zum zweiten Mal Weltmeister werden können. Spie­len durfte er indes nicht, sei­ner Meinung nach we­gen Mara­do­na, der ihm den Ruhm nicht gönnte und deswe­gen für José Luis Brown als Li­bero plädierte. Je­denfalls stellte Trainer Carlos Bi­lardo Brown auf, Argentinien wur­de Weltmei­ster und die In­tim­feindschaft Passarella-Mara­do­na nahm ihren Lauf.
Kettenraucher Passarellas er­ste Amtshandlung war denn auch ziel­gerichtet: Spieler mit langen Haaren und/oder mit Ohrringen hät­ten in der Nationalmannschaft fort­an nichts mehr zu suchen. Klar wem diese Maßnahme in er­ster Linie galt: dem ohrbe­ring­ten Maradona und dessen lang­mäh­nigem Freund Caniggia. Ei­ne glatte Überreaktion, war doch Ma­radona wegen seines Do­ping­ver­gehens ohnehin 15 Mo­nate ge­sperrt und damit für die Na­tio­nal­mannschaft kein Thema. Ca­nig­gia wiederum war in Europa wie­der einmal auf Ver­einssuche un es war äußerst un­klar, ob er über­haupt weiter für die Aus­wahl spielen wollte. Über­re­ak­tion aber insbesondere des­we­gen, weil neben Caniggia auch zwei andere Starspieler der Mann­schaft, Mittelfeldspieler Fer­nando Redondo und Torjäger Gab­riel Batistuta lange Mähnen zier­ten.

Der Trainer als Frisör

Die Reaktionen fielen un­ter­schiedlich aus: Caniggia wollte erstmal eine Pause einle­gen, Redondo machte klar, daß sei­ne langen Haare ein Teil sei­ner Persönlichkeit seien und er un­ter diesen Bedingungen nicht wei­ter spielen würde, Batistuta be­suchte hingegen flugs den Fri­sör und ließ sich die Haare schnei­den. Für ihn stand auch am mei­sten auf dem Spiel. Schließ­lich war er auf dem besten We­ge, Maradona als Rekordtor­schütze der Nationalmannschaft zu verdrän­gen, Pausen à la Ca­nig­gia kämen da ungelegen.

Die Krise geht weiter

Passarellas erstes Turnier, die Copa America 1995 in Uruguay, wur­de zum Fehlschlag. Mara­do­na ließ sich von seinem Feri­enort ein­fliegen, begutachtete die Spie­le und lästerte über die Dar­bie­tungen. Vor allem die bla­mab­le 0:3 Niederlage gegen die USA gab ihm dafür reichlich Muni­tion. Das unglückliche Aus­schei­den gegen Brasilien folgte auf dem Fuß, der Hausse­gen hing schief. Nur noch ein knap­pes Jahr bis zur Qualifika­tion und der argentinische Fuß­ball in der großen Sinnkrise. Zwei Tur­nie­re hintereinander frühzeitig ge­scheitert, die ein­stige Tur­nier­mann­schaft par ex­cellence be­gann an sich zu zwei­feln.

Ein haariger Kompromiß

Maradonas Sperre war unter­des­sen abgelaufen und Caniggia nach Argentinien zurückgekehrt. Bei seinem letzten Klub in Eu­ro­pa, Benfica Lissabon, war Ca­nig­gia wegen unmotivierten Auf­trit­ten bei den Fans derart in Un­gna­de gefallen, daß er auf of­fener Straße eine Abreibung ver­paßt be­kam. Daraufhin kehrte er der eu­ropäischen Diaspora den Rük­ken, zumal Maradona bei Boca Ju­niors sehnsüchtig auf seinen er­klärten Lieblingsmit­spieler war­tete. Wenn sie zu­sammen spiel­ten, harmonierten sie wie Zwil­linge. Wenn, denn oft war der eine oder der andere verletzt, be­ziehungsweise wegen roter Kar­ten gesperrt. Titel blie­ben so für Argentiniens populär­sten Club Boca Juniors de Bue­nos Aires aus.
Dennoch geriet Passarella zu­neh­mend unter Druck. Er mußte den Kader für das erste Qualifi­ka­tionsspiel gegen Bolivien be­nen­nen und Caniggia spielte im­mer stärker. Wiedereinmal mischte sich der Fuß­ball­fan und Staatspräsident Menem ein. Caniggia sei unver­zicht­bar, Maradona eigentlich auch, aber der würde ja nicht mehr wollen.
Was nun Passarella?
Caniggia zeigte sich kom­pro­miß­bereit. Um ganze drei Zen­ti­me­ter ließ er sich die Haare schnei­den. Passarella konnte an die­ser Geste des guten Willens nicht vorbeigehen und berief Ca­nig­gia ins Aufgebot. Alles in But­ter, da sich das Problem Re­don­do wegen dessen Verletzung zu diesem Zeitpunkt nicht stellte. Caniggia kam, sah und siegte. Ar­gentinien schlug Bolivien 3:1, Caniggia wurde zum man of the match gewählt und der große Fa­vo­rit schien wieder auf den Er­folgs­pfad zurückgekehrt zu sein.

Ecuadors bolivianische Taktik

Nach dem Heimspiel in Bue­nos Aires stand das Auswärts­spiel in Ecuador an. Ecuador konnte sich noch nie für eine Welt­meisterschaft qualifizieren. Bis 1994 hatten sie diese Bilanz mit Bolivien gemeinsam. Boli­vien setzte damals auf die Karte La Paz, Fußball in der Höhe von 3600 Meter, da geraten die Flach­landbewohner aus Argenti­nien, Uruguay und Brasilien aus der Puste. Nun, Ecuador besann sich seiner geographischen und kli­matischen Möglichkeiten und terminierte die Partie auf High Noon in der Höhe von 2700 Me­ter in Quito bei Temperaturen von 28 bis 30 Grad. Passarella be­zeichnete die Höhe als zusätz­li­chen Spieler Ecuadors. Mit 20 Li­tern Sauerstoff sollte dieser zu­sätzliche Spieler bekämpft wer­den. Es war vergebens und der ecuadorianische Torwart Car­los Morales behielt Recht: “Ba­tistuta und Caniggia werden Schwindel­anfälle bekommen und sich zeitweise nicht bewegen kön­nen”. Das argentinische Stür­mer­duo war wirklich nur ein laues Lüftchen, die 0:2 Nieder­lage die logische Konsequenz. Ecua­dor hat nebenbei bemerkt mit dieser Strategie vier seiner bis­herigen fünf Heimspiele ge­won­nen, nur gegen die Allklima­spie­ler aus Kolumbien gabs eine 0:1 Niederlage. Auch die Aus­wärts­bilanz Ecuadors spricht für sich: drei Spiele, ein Tor, null Punkte. Bisher reicht das für den vier­ten Platz.

Zurück in der Krise

Das nächste Auswärtsspiel Ar­gentiniens war nun in Perus Haupt­stadt Lima. Ausreden gebe es hier nicht, meinte Passarella. Mit viel Glück konnten die Ar­gen­tinier ein torloses Unent­schie­den retten. Neben dem Tor­wart Burgos war Abel Balbo der auf­fälligste Spieler Argenti­niens: Mit einem brutalen Foul setzte er sich gekonnt in Szene und durfte schon nach einer hal­ben Stunde duschen gehen. Ca­niggia übte nach dem Spiel Selbstkritik: “Ich schä­me mich nicht, zuzugeben, daß ich gegen Peru schlecht ge­spielt habe. Ich suche keine Ent­schul­digungen, ihr (die Medien) müßt schon die fragen, die nach Ent­schuldigun­gen suchen.” Vor­erst war es wiedereinmal das letzte Spiel Caniggias. Seit Juli 1996 macht er wieder Pause, suchte bisher erfolglos einen Ver­ein in Europa und befindet sich nun wieder in Ver­hand­lun­gen mit Boca, wie auch Spezi Diego Maradona.
Ohne seinen gewohnten Sturm­partner Caniggia machte sich Gabriel Batistuta im näch­sten Spiel gegen Paraguay auf die Socken, Maradonas Länder­spiel­torrekord von 34 zu über­bie­ten. Ein Schuß, ein Tor und Batigol hatte sein Ziel erreicht. Die Show wurde ihm dennoch ge­stoh­len. Im Tor Para­guays steht nämlich José Luis Chi­la­vert, Torhüter und Torjäger in ei­ner Person. Der Keeper des ar­gen­tinischen Vereins Velez Sars­field hatte vor dem Spiel an­ge­kün­digt, einen Treffer zu ver­sen­ken. Nichts ungewöhnliches für Chi­lavert, der schon über 30 Elf­meter- und Freistoßtore zu Buche stehen hat. Er hielt Wort, schnapp­te sich kurz vor Ende des Spiels den Ball und traf mit ei­nem Freistoß zum 1:1 Endstand. Ar­gentinien war schwer getrof­fen. Ausgerechnet der Gastar­bei­ter. Wenige Tage später stand eine Sportgerichtsverhandlung an. Chilavert hatte während eines Punkt­spiels eine leichte Tätlich­keit begangen, die nun schwer ge­ahndet wurde. Mehrere Mo­na­te Ausschluß vom Spielbetrieb lau­tete das erste Urteil. Chilavert war mit Recht sauer und kün­dig­te seinen Weggang aus Ar­gen­ti­nien zum Jahresende 1997 an. Das Urteil wurde revidiert, Chi­la­vert spielt und trifft weiter, aber nicht immer. Kürzlich ver­lor er seinen Nimbus als unfehl­ba­rer Elfmeterschütze und ver­sieb­te gleich deren zwei in einem Punkt­spiel. Paraguay hat es indes in erster Linie seinen Leistungen zu verdanken, daß es nach Ab­schluß der Vorrunde hinter Ko­lum­bien an zweiter Stelle steht, punkt­gleich mit dem Ersten und ge­radezu selbstverständlich mit den wenigsten Gegentoren.
Argentiniens Selbstbewußt­sein war heftig angeknackst, ge­gen Mannschaften wie Peru und Pa­raguay nicht zu gewinnen, war reich­lich ungewohnt. Venezuela kam da als Aufbaugegner gerade Recht. Jahrelang hatte das vene­zo­lanische Team kein Länder­spiel gewinnen können, von Punk­ten bei Qualifikationsspie­len ganz zu schweigen. Diesmal stand derweil schon ein Punkt aus dem Spiel gegen Chile zu Buche, deren Trainer daraufhin zu­rücktrat. Gegen Argentinien lang­te es immerhin zu einem Füh­rungs- und Anschlußtor. Zwei Tore in einem Spiel. Die Vene­zolaner hatten getroffen wie nie zuvor und doch verloren wie fast immer. Überzeugen konnten die Argentinier trotz ihrer fünf Tref­fer nicht, das Ziel Selbstbe­wußt­sein für die anstehenden Spie­le zu tanken, schlug fehl.
Die folgenden zwei Spiele gegen Chile und in Uruguay brach­ten das alte Leid. Krampf und Kampf und zwei schmei­chel­hafte Unentschieden. Und nur noch vier Wochen bis zum letz­ten Vorrundenspiel beim bis dato ungeschlagenen Tabellen­füh­rer Kolumbien. Unterdessen glänz­te der wiedergenesene Re­don­do beim designierten spani­schen Meister Real Madrid wäh­rend Passarella ungewohnte Töne von sich gab. Hatte er noch eini­ge Monate zuvor Maradona als abschreckendes Beispiel für den argentinischen Fußball be­zeich­net, jammerte er nun ge­gen­über dem Präsidenten von Lazio Rom, Dino Zoff: “Argentinien sehnt sich nach großen Namen. Wie Italien, das Zoff, Bettega, Causio und Paolo Rossi verloren hat. Wir in Ar­gentinien haben kei­nen Mara­dona mehr, das ist viel schlim­mer.” Maradona zu be­rufen kam im natürlich nicht in den Sinn, zum einen war die­ser vereinslos und zudem hatte er in seiner vor­erst letzten Spielzeit bei Boca vorallem dadurch auf sich auf­merksam gemacht, daß er sage und schreibe fünf Elf­meter hin­tereinander ver­schos­sen hatte. Von den gegnerischen Fans ver­spottet, von Selbst­zwei­feln ge­plagt, machte er sich dann zwecks Entziehungskur und Er­ho­lung Richtung Europa auf, um nach seiner Rückkehr nun wieder die Medien mit immer neuen Ver­tragsvorstellungen auf Trab zu halten. Maradona also nicht, den vereinslosen Caniggia auch nicht, da blieb nur noch Re­don­do. Dieser wurde berufen, kam aber nicht. Der Streit um die Haare war für ihn noch aktuell und in der Annahme, daß er sei­ne Haare mindestens um drei Zen­timeter kürzen müßte, sagte er ab. Batistuta war zudem we­gen einer Formkrise nicht mal be­rufen worden, so daß Argenti­nien zum ersten Mal seit der WM ohne einen der drei damali­gen langhaarigen Leistungsträger Re­dondo, Batistuta und Caniggia an­trat. Argentinien gewann 1:0 und ist nun Dritter. Die Zeichen ste­hen seitdem wieder auf Kurz­haar­schnitt, aber bis zur WM 1998 ist noch Zeit und Caniggia wird nicht ewig Pause machen.

Präsidentenpoker

Am 5. Februar gingen über zwei Millionen EcuadorianerInnen auf die Straße, um gegen das von Präsident Abdalá Bucaram durchgeboxte Reformpaket und seine Person selbst zu demonstrieren. Ihre Botschaft war eindeutig: “¡Que se vaya! Weg mit Bucaram!” Die harten wirtschaftlichen Anpassungsstrategien der Regierung Bucaram waren zweifelsohne ein Grund für diese Forderung. Aber vor allem die zunehmende Unglaubwürdigkeit des Präsidenten durch Korruptionsvorwürfe, Vetternwirtschaft und Mißbrauch öffentlicher Gelder sowie die immer neuen Peinlichkeiten Bucarams, der mit seinem Image als el loco – der Verrückte – spielt, hatten bereits Anfang des Jahres zu landesweiten Protestdemonstrationen geführt, die im Generalstreik am 5. Februar gipfelten. Der Streik, an dem mehr als ein Sechstel der Gesamtbevölkerung Ecuadors teilnahm, wurde von den Gewerkschaften, StudentInnen, LehrerInnen, indigenen Gruppierungen und anderen sozialen Bewegungen getragen, aber auch von der katholischen Kirche und dem privaten Sektor befürwortet.

Amtsenthebung wegen “geistiger Unfähigkeit”

In einer Sondersitzung beriet das Parlament das weitere Vorgehen. Bereits seit einigen Wochen standen seitens der Opposition Forderungen nach der Amtsenthebung Bucarams im Raum, und nun mußte eine schnelle Lösung zur Stabilisierung der innenpolitischen Situation auf den Tisch. Politische Amtsenthebungsverfahren sind in Ecuador durchaus verbreitet, sie sind jedoch langwierig und bedürfen der Zustimmung von zwei Dritteln der Abgeordneten. Eine Abkürzung des Verfahrens nach Artikel 100 der Verfassung, der eine Amtsenthebung bei “physischer oder mentaler Unfähigkeit” mit einer einfachen Mehrheit vorsieht, schien da ein probates Mittel. Mit 44 Stimmen bei 34 Gegenstimmen und zwei Enthaltungen wurde Bucaram am 6. Februar seines Amtes enthoben. Parlamentspräsident Fabián Alarcón wurde im gleichen Zug mit einfacher Mehrheit zum Interimspräsidenten bestimmt.

Drei Möchte-gern-Präsidenten über Nacht

Daß sie die Stimme des Volkes nicht vernommen hätten, kann den Abgeordneten der Opposition wohl kaum vorgeworfen werden, dennoch ist ihr Vorgehen juristisch sehr umstritten und die Uneigennützigkeit fraglich. Die Entscheidung des Parlamentes fiel in eine verfassungsrechtliche Grauzone und verhalf Ecuador über Nacht zu drei Möchte-gern-Präsidenten. Am 8. Februar 1997 meldete neben dem Ex-Präsidenten Bucaram, der seine Amtsenthebung nicht anerkennt und sich zeternd im Präsidentensitz verbarrikadierte, sowie dem frischgewählten Fabián Alarcón, nun auch Vizepräsidentin Rosalía Arteaga ihren Anspruch auf das höchste Amt an.
Das Militär bleibt neutral
Unerwartet vermochten vermittelnde Impulse seitens des Militärs die Situation zu entschärfen. Mit der Erklärung des Ausnahmezustands am Tag nach der Amtsenthebung durch den Verteidigungsminister Bayas im Namen Bucarams, war dem Militär Tür und Tor geöffnet, die Situation nach ihrem Gutdünken zu beenden. Der “Rat der Admiräle” betonte jedoch, das Militär werde neutral bleiben: Es sei Aufgabe des Parlaments, einen rechtmäßigen Nachfolger zu ermitteln. Bucaram wurde zwar militärischer Geleitschutz gewährt, aber gleichzeitig signalisiert, man sehe ihn nicht mehr als Präsidenten an. Zwischen Arteaga und Alarcón wurde unter Vermittlung des Militärobersten General Paco Moncayo ein Kompromiß vereinbart, der Arteaga als Vizepräsidentin zur rechtmäßigen Nachfolgerin Bucarams auf strikt begrenzte Zeit machte. Und zwar solange, bis das Parlament die verfassungsrechtlichen Unklarheiten beseitigt und einen Interimspräsidenten per Wahl bestimmt hat.

Arteagas Tage im Amt sind gezählt

Allem Anschein nach hatte Arteaga jedoch nicht damit gerechnet, so schnell die gerade eingenommene Position zu verlieren. Am Montag, den 10. Februar, hielt sie eine Antrittsrede und begann mit der Ernennung von Kabinettsmitgliedern. Sie protestierte heftig gegen das Vorgehen der Abgeordneten hinsichtlich der Amtsnachfolge und forderte eine Volksabstimmung, signalisierte aber letztendlich, das sie sich der “Diktatur des Kongresses” beugen werde. Nach nur zwei Tagen Arteagas im Amt wurde per Resolution mit Zwei-Drittel-Mehrheit der Weg frei für eine zweite Wahl im Parlament, in der Fabián Alarcón nunmehr verfassungskonform mit 57 von 82 Stimmen zum Interimspräsidenten bestimmt wurde. Die Partei Bucarams, die PRE, nahm nicht an der Abstimmung teil.
Die Verfassung sieht vor, daß ein neugewählter Präsident sein Amt am 10. August, dem Tag der Unabhängigkeitserklärung, antritt. Dieser Termin und die Einhaltung bestimmter Fristen für Wahlankündigung, Wahlkampf, Vorwahl und Stichwahl determinierten das Datum für 1998, da in diesem Jahr die Fristen bereits verstrichen sind.

Unpopulärer Populist

Wie aber konnte es dazu kommen, daß der erst im Juli vergangenen Jahres gewählte Populist Abdalá Bucaram seinen Rückhalt in der Bevölkerung dermaßen verspielt hat? Nach der Stichwahl am 7. Juli 1996, in der sich Bucaram eindeutig gegen seinen Kontrahenten, den Konservativen Jaime Saadi Nebot, behaupten konnte, verkündete er souverän den “Sieg der Armen”. Seine theatralischen Auftritte, wirren Äußerungen zu wirtschaftlichen Zielen, sein unberechenbares Temperament und die wüsten Beschimpfungen politischer Gegner klassifizierten das neue Staatsoberhaupt als einen nicht zu unterschätzenden Unsicherheitsfaktor, der sich in nervösen Kursschwankungen an der Börse und angespannter Marktlage manifestierte. Er werde “die Oligarchie und die Korruption bekämpfen” und “für die Armen regieren”, so das Leitmotiv seiner Wahlveranstaltungen, zu denen der 45jährige Anwalt aus der Küstenstadt Guayaquil auch gerne mal im Batman-Kostüm aufkreuzte.

Bucaram als das “kleinere Übel”

Nach Schätzungen des Ökonomen Jaime Zeas würde es fast zwei Drittel des Haushaltsbudgets ausmachen, wolle Bucaram seine blumigen Wahlversprechen – unter anderem Lohnerhöhungen, Straßenbau, erweiterte Sozialversicherung, Subventionierung von Grundnahrungsmitteln, Medikamenten und Häuserbau – einlösen. Zwar ist Bucaram für seine Irrationalität bekannt und seine schwammigen Regierungsperspektiven wenig ernstzunehmen, dennoch gelang es ihm, sich nach dem Ausscheiden der beiden Hochlandkandidaten Freddy Ehlers des neugegründeten links-indigenistischen Movimiento Nuevo País-Pachakutik und Rodrígo Paz der Zentrums-Partei Democrácia Popular gegenüber dem Rechtsaußen Jaime Nebot als das “kleinere Übel” zu profilieren und vor allem WählerInnenstimmen der ärmeren Bevölkerung zu mobilisieren. Nebot galt eher als Kandidat der Geschäftsleute und oberen Schicht. Die Furcht vor einem autoritären, menschenrechtsverachtenden Regime und der harte neoliberale Kurs, mit dem Nebot ins Feld zog, hatten zu einer breiten Stop Nebot!-Koalition unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen geführt.

Kehrtwende nach dem Wahlsieg

Kaum hatte er die Wahlen gewonnen, versicherte Bucaram eifrig, den eingeschlagenen neoliberalen Kurs seines Amtsvorgängers Sixto Durán-Balléns fortzuführen, das Land für ausländische Investitionen zu öffnen und die Auslandsschulden zu verringern. Die Privatisierung von Staatsbetrieben werde fortgesetzt und öffentliche Ausgaben radikal eingeschränkt. Seinem Beraterteam für Wirtschaftsfragen gehörten drei Banker an, was Seriösität per se vermitteln sollte, genau wie Bucarams Zugeständnis, ein Ministerium für Indígenas einzurichten, einen multikulturellen Anstrich suggerierte. Wie die meisten seiner Wahlversprechen entpuppten sich auch diese als reine Augenwischerei und bewirkten einen starken Popularitätsabfall wenige Wochen nach der Wahl. Der private Sektor, um dessen Kooperation das neue Staatsoberhaupt sich redlich bemühte, drängte auf Fakten statt Beteuerungen. Bucaram hatte sich kurz nach seinem Amtsantritt mit einer Runde illustrer Wirtschaftsgrößen anderer lateinamerikanischer Staaten umgeben, dessen prominentester Vertreter der inzwischen in seiner Heimat in Ungnade gefallene argentinische Ex-Wirtschaftsminister und Architekt des Konvertibilitätsprogramms Domingo Cavallo war.

Cavallo-Plan für Ecuador

Trotz der prominenten Berater ließ das angekündigte Wirtschaftskonzept der Regierung Bucaram auf sich warten. Der Termin wurde mehrfach verschoben, so daß es zu einer nervösen Anspannung, Spekulationen und scharfer Kritik seitens der Opposition kam. Die uneinheitlichen Aussagen der Regierung zum neuen Wirtschaftsplan trugen nicht gerade zur Vertrauensbildung bei potentiellen Investoren bei: während Finanzminister Pablo Concha Mitte Oktober von harten aber notwendigen Anpassungsmaßnahmen sprach, entwarf Bucaram die Vision eines Currency Boards nach argentinischem Vorbild, das die bei 25 Prozent liegende Inflation mit einem Schlag beenden und auch alle anderen Probleme aus der Welt schaffen würde. Zum ersten Juli sollten drei Nullen weggestrichen und der Sucre in einem Verhältnis von 4:1 an den US-Dollar gekoppelt werden.
Der ehemalige Zentralbankchef Eduardo Valencia bezeichnete Bucarams Pläne als absurd, für Ecuador seien andere Instrumente von Nöten als für Argentinien. Eine neue Währung würde nur die heimische Industrie zerstören und zunehmende Arbeitslosigkeit bewirken. Der Herausgeber der Tageszeitung HOY, Ben Ortiz, kommentierte, ein Konvertibilitätsprogramm setze absolute Disziplin und politische Ethik voraus, und die Regierung Bucaram verfüge weder über das eine noch das andere. Mehrfach mußte der Finanzminister die Versprechen seines Präsidenten im nachhinein revidieren: die Subventionierung von Kochgas werde abgeschafft, auch wenn Bucaram das Gegenteil verkünde. Auf Zigarretten und Alkohol sollten Steuererhöhungen von bis zu 300 Prozent entfallen. Weitere Erhöhungen von grundlegenden Ausgaben wie Transport und Telefon waren geplant, um das staatliche Haushaltsdefizit von vier Prozent auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu senken. Neben Privatisierung und Finanzmarktliberalisierung gehört auch die “Flexibilisierung” des Arbeitsmarktes zu den Pfeilern des Plans.
Im Dezember kam es nach scharfer Kritik an den wirtschaftlichen Plänen der Regierung zu einem Sozialpakt von Regierung, Unternehmen und Gewerkschaften, die Lohnerhöhungen von zehn Prozent im öffentlichen Sektor durchsetzen konnten. Angesichts der brutalen Preiserhöhungen durch den Wegfall von Subventionen wirkt die zehnprozentige Lohnerhöhung jedoch lächerlich.
Zum ersten Januar traten weitreichende Preiserhöhungen in Kraft: 550 Prozent für Elektrizität und 270 Prozent für Kochgas, die Ende Dezember nach drei abgelehnten noch drastischeren Vorlagen vom Kongreß verabschiedet worden waren.

Korruption und Vetternwirtschaft

Parallel zu immer neuen preislichen Belastungen der Bevölkerung erhärtete sich der Korruptionsverdacht gegen das Staatsoberhaupt, der sich allem Anschein nach noch skrupelloser aus den staatlichen Töpfen bediente als seine Vorgänger. Bucarams Sohn Jacobo wurde der Beteiligung an Zollbetrug größeren Ausmaßes verdächtigt. Abdalá Bucaram hatte mit einer seiner ersten Amtshandlungen das Zollverfahren dem Militär unterstellt, um die dort vermutete Korruption “in den Griff zu bekommen”.
Seinem Kabinett gehörten sein Bruder Adolfo Bucaram und sein Schwager Pablo Concha als Finanzminister an, der bereits in früheren Regierungen im Finanzressort tätig war. Auch andere Verwandte und enge Freunde Bucarams wurden mit wichtigen Positionen bedacht, von denen Energieminister Alfredo Adum besonders umstritten war. Zumindest schien er der einzige, der dem Präsidenten im Punkte unflätige Beschimpfungen das Wasser reichen konnte. Bucarams Schwester Elsa, die seit einiger Zeit in Panamá lebt, um den Korruptionsvorwürfen aus der Zeit als Bürgermeisterin von Guayaquil zu entgehen, wurde von Bucaram rehabilitiert. In der Bevölkerung machte sich zunehmend der Eindruck breit, Preiserhöhungen fänden nur statt, um die Extravaganzen der Bucaram-Sippe zu finanzieren.
Am 8. Januar und an den folgenden Tagen kam es zu zunächst friedlich verlaufenden Demonstrationen, schließlich aber zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen StudentInnen und der Polizei, die zahlreiche Leute festnahm. Seit Mitte Januar streikten landesweit die LehrerInnen und StudentInnen, die Gewerkschaften verkündeten den Generalstreik für Anfang Februar. Längst hatte die scharfe Kritik am autoritären und unverantwortlichen Regierungstil Bucarams an soviel Eigendynamik gewonnen, daß dessen versöhnlicher Tonfall Ende Januar unbeachtet blieb: Die monatlichen Erhöhungen der Benzinpreise sollten eingestellt werden und Abhilfe für die besonders von der Erhöhung der Kochgaspreise betroffenen armen Familien in Form von speziellen Rabattmarken geschaffen werden. Bucaram kündete Kabinettsumbildungen für Februar an, erklärte aber, in jedem Fall an seiner Währungsreform festzuhalten.

Besuch bei Fujimori

Im April sollte in einer Volksabstimmung über die Währungsreform befunden werden. Ein mögliches “Nein” kam dabei für ihn nicht in Betracht, so daß die Tageszeitungen spekulierten, er werde notfalls der Entscheidung à la Fujimori nachhelfen.
Der ganz und gar autoritäre Regierungsstil Bucarams hatte von Anfang an deutlich gemacht, daß er von Kompromissen überhaupt nichts halte, sondern seine Entscheidungen durchsetzen werde. In anderen Bereichen wiederum wurde seine Dialogbereitschaft heftig kritisiert, so seine Offenheit gegenüber dem peruanischen Präsidenten Alberto Fujimori, den Abdalá Bucaram als erstes ecuadorianisches Staatsoberhaupt in Lima besuchte. Seine Verhandlungsbereitschaft gegenüber dem starken Nachbarn Peru, mit dem Ecuador einen lange schwelenden Grenzkonflikt hat, war vielen suspekt und das Gespenst des Vaterlandsverrats trieb wieder sein Unwesen. Während Bucaram und Fujimori in Lima Einigkeit demonstrierten und Bucaram tröstende Worte für seinen “amigo Alberto” anläßlich der MRTA-Geiselnahme in der japanischen Botschaft fand, drohte der Unmut auf den Straßen Quitos, Guayaquils und Cuencas endgültig überzukochen. Am 31. Januar signalisierte die Vereinigung ehemaliger Angehöriger der Streitkräfte ihre Unterstützung der öffentlichen Proteste, indem sie die Regierung aufforderte, die Maßnahmen zu korrigieren und der sich verbreitenden Unsicherheit zu begegnen.

Bucaram plant sein Come-back

Nachdem er seines Amtes durch das Parlament enthoben worden war, verbarrikadierte Abdalá Bucaram sich unter Protest in seiner Residenz. Als er am darauffolgenden Samstag Quito verließ und in seine Heimatstadt Guayaquil flog, wurde dies als Zeichen einer eingestandenen Niederlage gewertet. Doch Bucaram denkt nicht daran, seinen Anspruch aufzugeben. Nach einem kurzen Aufenthalt in Panamá, weilte Bucaram in Buenos Aires und ließ sich von Carlos Menem den Rücken stärken. Er sieht sich als Opfer eines Komplotts und will die Verschwörung gegen ihn beweisen.

Schmale Basis für Politik

Nach Ansicht des Journalisten Carlos Arcos Cabrera hat die Regierung Bucaram den Verfall des politischen Systems zwar beschleunigt, die Zerrüttung der demokratischen Substanz dauert jedoch schon länger an. Die Fähigkeit des politischen Systems, einen Legitimierungsanspruch aufrechtzuerhalten und glaubwürdig zu vertreten, hat in den vergangenen Jahren rapide abgenommen. Die überwältigende Manifestation des Unmuts weiter Teile der Bevölkerung am 5. Februar galt zwar besonders Bucaram, aber auch der verfilzten Polit-Oligarchie Ecuadors insgesamt. Alles in allem bleibt das dumpfe Gefühl, das der “Rechtmäßigkeit” verschiedener Entscheidungen gehörig auf die Sprünge geholfen wurde, unabhängig von der Person Bucarams, der vollkommen unglaubwürdig ist.

Bucaram ist weg, die Probleme bleiben

Auch wenn Bucaram vorerst von der Bildfläche verschwunden ist und Ecuador erleichtert aufatmet: der wirtschaftliche Spielraum bleibt trotz allem extrem begrenzt, und Korruption und Mißbrauch staatlicher Gelder hat Abdalá Bucaram nicht für sich allein gepachtet. Alarcón ist als gewiefter Taktiker bekannt, konnte sich aber möglicherweise auch deshalb als Kompromißfigur profilieren, weil seine Partei politisch so unbedeutend ist, daß die großen Parteien ihre Interessen für die kommende Wahl durch ihn in keiner Weise gefährdet sehen. Nur die gemeinsame Ablehnung der Person Bucaram hat die ansonsten zersplitterte Opposition andere Streitigkeiten vergessen lassen. Auch wenn dieses Bündnis Alarcón ins Präsidentenamt verhalf, ist es eine sehr schmale Basis für zukünftiges politisches Manövrieren.

KASTEN:
Abdalá Bucaram – Batman auf CD

Abdalá Bucaram ist alles andere als ein Unbekannter im ecuadorianischen Polit-Business. Der 45jährige Mango-Millionär aus der Küstenmetropole Guayaquil wettert sich seit Jahren durch die Ämter und beschenkt die Armen in spektakulären Aktionen. Der ehemalige Sportler, heute aber behäbige Abdalá ist Mitbegründer der Partido Roldosista Ecuatoriano (PRE), einer populistischen Partei, die an den Regierungsstil des 1980 bei einem Flugzeugabsturz getöteten populistischen Präsidenten Jaime Roldos, Bucarams Schwager, anknüpft. In den 80er Jahren verbrachte der unberechenbare Hitzkopf mehrere Jahre in Panamá, da ihm Korruption und Mißbrauch öffentlicher Gelder in seiner Funktion als Bürgermeister von Guayaquil vorgeworfen wurde. 1988 kehrte er nach Ecuador zurück und wurde vom Präsidenten León Febres-Cordero nicht nur rehabilitiert, sondern auch für die Präsidentschaftswahlen zugelassen. Vermutlich geschah dies, um dem Kandidaten Rodrigo Borja der linken Izquierda Democrática bei den unmittelbar bevorstehenden Wahlen das Wasser abzugraben. In seiner dritten Kandidatur 1996 gewann Abdalá Bucaram am 7. Juli die Stichwahl gegen den PSC-Kandidaten Jaime Nebot und wurde am 10. August in das Amt eingeführt. Außer der Kehrtwende hinsichtlich des wirtschaftlichen Kurses, war seine Amtszeit von Anfang an durch unkohärente populistische Aktionen gekennzeichnet, seinem exzentrischen Charakter entsprechend. Ab Mitte September wurde billige Milch mit dem Portrait des Präsidenten unter dem Namen Abdalact in den armen Vierteln angeboten. In einem spektakulären Fernsehauftritt ließ er sich sein Bärtchen abrasieren und versteigerte es für über 740.000 US-Dollar zugunsten kranker und bedürftiger Kinder. Immer wieder verschenkte er bündelweise Geld an die Armen und widmete ihnen seine CD Un Loco que ama, die Bucaram zusammen mit der urugayischen Band Los Iracundos aufnahm. Seine Vorliebe, politische Kontrahenten zu beschimpfen, und auch von den Medien keinerlei Kritik zu dulden, führte zu Spannungen mit der Tageszeitung HOY und einem Radiosender, der seine Schimpftiraden nicht länger ausstrahlen wollte.

Rosalía Arteaga – Präsidentin für 48 Stunden

Rosalía Arteaga bildete zusammen mit Abdalá Bucaram ein Team für die Präsidentschaftswahlen und wurde so zur ersten Vizepräsidentin Ecuadors. Doch schon bald mußte sie feststellen, daß die Aufgabenverteilung Bucarams für sie nur Unwesentliches vorsah, und er nicht daran dachte, sich an die ausgemachte Ressortaufteilung zu halten. Die Rechtsanwältin und engagierte Christin aus Cuenca, die Abdalá Bucaram als Zugpferd für Wählerstimmen aus dem Hochland einsetzte, war Erziehungsministerin der Regierung Sixto Durán-Ballén. Es kam zu mehreren heftigen Auseinandersetzungen Arteagas mit Bucaram und dem Energieminister Adum, gegen die sie ihre Meinung durchzusetzen versuchte. Sie kritisierte Bucarams Entscheidungen und Vorhaben mehr als einmal, blieb aber dennoch im Amt. Alarcón und andere Abgeordnete verdächtigte sie der Verschwörung und der Vorbereitung eines Staatsstreiches. Nach Bucarams Amtsenthebung am 6. Februar sah sie zu Recht ihre Sternstunde gekommen, die jedoch trotz Rückendeckung des Militärs nur von kurzer Dauer sein sollte. Voller Bitterkeit verkündete sie: “Ich wurde nicht gewählt, weil ich eine Frau bin”. Ihre rechtlichen Bedenken und ihr scharfer Protest sind bei genauem Hinsehen nicht unbegründet. Als Hauptargument gegen Arteaga wird aber ihr Bündnis mit Abdalá ins Feld geführt, denn damit erlösche ihr “moralischer” Anspruch auf das höchste Amt im Staat. Für das Amt der Vizepräsidentin unter Alarcón steht Rosalía Arteaga dennoch zur Verfügung.

Fabián Alarcón: Der geschickte Taktiker ist auf seinem Karrierehöhepunkt angelangt

Der vom ecuadorianischen Nationalkongreß am 5. Februar 1997 als Nachfolger von Bucaram und als Interims-Präsident bis August 1998 bestätigte Fabián Alarcón Rivera (50) ist in der politischen Klasse Ecuadors kein unbeschriebenes Blatt. Als Sohn des konservativen Diplomaten Ruperto Alarcón beginnen seine ersten politischen Schritte sehr früh. Seine erste erfolgreiche Wahl bestreitet er 1984 für die Demokratische Partei (PD), als er für die Provinz Pichincha zum Präfekten nominiert wird. In den 70er Jahren ist er aktives Mitglied in der Patriotischen Volkspartei (Partido Patriótico Popular). In den 80er Jahren gewinnt er das Bürgermeisteramt in Quito, das er allerdings 1988 an den Christdemokraten Rodrigo Paz wieder verliert. 1990 tritt er zum ersten Mal als Abgeordneter in den Nationalkongreß ein, und obwohl er einem kleinen Minderheitsblock angehört, gelingt es ihm, zum Parlamentspräsidenten gewählt zu werden. 1992 tritt er erneut, dieses Mal als Mitglied der Radikalen Alfaristen-Front (Frente Radical de los Alfaristas) zur Bürgermeisterwahl von Quito an, muß sich aber gegen Jamil Mahuad (Democracia Popular), heute noch amtierender Bürgermeister, geschlagen geben. Obwohl seine politische Karriere oft von Erfolg gekrönt ist, wird Alarcón nachgesagt, daß die einzige Konstante dabei “das Fähnchen im Wind” sei. Er habe Parteien und Fronten so oft gewechselt wie andere ihre Hemden und sei “der beste Wendehals der Politik”, so wie seine Partei (FRA) als “Wendepartei” betitelt wird. 1996 gelingt ihm ein erneuter Coup im Nationalkongreß: Obwohl nur mit zwei weiteren Abgeordneten in einem Block vertreten, verhilft ihm eine Allianz mit Abdalá Bucaram erneut zur Wahl zum Parlamentspräsidenten. Ironie des Schicksals, daß Alarcón eben diese Position am 5. Februar 1997 in die Lage versetzt, einem Mißtrauensvotum im Kongreß gegen seinen ehemals Verbündeten stattzugeben und ihn in eigener Person als Staatspräsident zu ersetzen?
Mit allgemeiner Skepsis werden seine ersten Amtshandlungen betrachtet: Die neue Regierung Alarcón hat Entlassungsdekrete durch die Administration Bucaram rückgängig gemacht und die Schaffung einer Finanzkomission zur Kontrolle der eigenen Regierung angekündigt. Die ersten offiziellen Besuche Alarcóns gelten den Bürgermeistern von Quito, Cuenca und Guayaquil. Alles Schritte, um Vertrauen in die eigene Politik zu schaffen, die das Begehren des Volkes respektieren und mehr, die sozialen Gruppen des Landes einigende Partizipation schaffen will? Die Bildung eines Kabinetts über viele politische Fronten hinweg gestaltet sich schon von Beginn an schwierig, da die großen Parteien wie ID, PSC und Pachakutik ihre Regierungsmitarbeit schon ausgeschlossen haben.
Die zahlreichen hupenden und fahnenschwenkenden Autokolonnen, die in der Nacht vom 5. Februar die Straßen Quitos und anderer Städte füllten, feierten ausgelassen die Absetzung Bucarams und den Sieg des Volkes in der Straße, nicht aber die Wahl Alarcóns zum Präsidentennachfolger. In diesem Sinne gilt der an eine Straßenmauer geschriebene Satz: “Paß auf Alarcón, das Volk bleibt auch nach dem 5. Februar wachsam.”
Andrea Kuhlmann

Krieg um die Umwelt?

In der Einleitung des Buches wird der spektakuläre Titel gerechtfertigt: “Wenige würden leugnen, daß Lateinamerika und die Karibik Zeugen eines Umweltkrieges geworden sind, der dramatischer, verbreiteter und sicherlich traumatischer als jeder militärische Konflikt ist.” Wirklich? Tatsächlich wird das Buch weder dem Titel noch dieser Feststellung der Einleitung gerecht. Damit ist schon die zentrale Schwierigkeit, die ich mit dem Buch habe, angedeutet: In dem Reader finden sich eine Vielzahl von Beiträgen zu den unterschiedlichsten Themen, die sich aber nicht mehr zu einer zentralen These verdichten lassen. Das Buch bestätigt meine Abneigung gegen Sammelbände und Bücher, die gleich einen ganzen Kontinent behandeln. Solche Unterfangen können eigentlich nur gelingen, wenn sie paradigmatisch einige zentrale Fallbeispiele analysieren, um so zu diskutierbaren Schlußfolgerungen zu kommen. Ansonsten ist ein Sammelband so sinnvoll und öde wie etwa das Zusammenbinden von LN-Artikeln unter zwei Buchdeckeln.

Ein zu breiter Überblick

Vielleicht ist das ungerecht. Will man es positiv sehen, so ließe sich anführen, daß der Sammelband eine Vielzahl von Themen angeht und damit die Wahrnehmung von Umweltkonflikten in Lateinamerika, die oft doch sehr auf die Tropenwaldzerstörung fixiert ist, erweitert. Zwar stellt auch “Green Guerrillas” Regenwald und indigene Völker in den Mittelpunkt, aber ein Kapitel widmet sich den Kosten der Modernisierung, ein anderes den Umweltkonflikten in Städten. Der Kauf des Buches wird mit Artikeln belohnt über Ökotourismus in den ecuadorianischen Küstenregenwäldern, über Puerto Ricos Energiepolitik, über Fischer in Honduras und Pionierfrauen in Mexiko, um nur einige Beispiele zu nennen.
Kaum überraschend, daß bei dieser Vielfalt von Themen die Qualität der einzelnen Beiträge extrem schwankend ist. Die Amazonasproblematik zum Beispiel ist mit zwei exzellenten Artikeln vertreten. Stephen Nugent rückt auf knappen acht Seiten einige häufige Wahrnehmungsverkürzungen zurecht. Er plädiert dafür, die Forschungen von Uhl und Mattos zur Kenntnis zu nehmen, die zeigen, daß in einigen Regionen Amazoniens Landwirtschaft und Viehzucht keineswegs in die sofortige ökologische Katastrophe führen. “Die Debatte geht nicht mehr darüber, ob Vieh zu Amazonien paßt. Viehzucht ist gekommen, um zu bleiben.” Diese ist eine These, die in das Zentrum einer wichtigen Diskussion führt, denn längst sind Rinder nicht nur auf den großen fazendas anzutreffen.
Der zweite, ausgezeichnete Artikel zum Thema Amazonien stammt von Anthony Hall und behandelt die Geschichte der Kautschukzapfer, insbesondere nach dem Tod von Chico Mendes. Hall gelingt es trotz der Kürze, einen kleinen Überblick über Erfolge und Schwierigkeiten dieser bedeutenden ökosozialen Bewegung zu geben. Bemerkenswert ist, daß Hall weder den üblichen Heiligenschein verbreitet, noch in das andere Extrem der Denunziation verfällt, sondern Schwierigkeiten der Bewegung, insbesondere beim Versuch, ökonomische Perspektiven zu entwickeln, markiert. Ärgerlich ist lediglich der Titel “Ist Chico Mendes umsonst gestorben?” Soll der Mord, den ein verkommener Großgrundbesitzer begangen hat, tatsächlich historischen Sinn bekommen? Das Lebenswerk Chico Mendes’ mag Früchte tragen, sein Tod bleibt grausam und gemein.
Nach dieser hoffnungsvollen Lektüre dann gleich die Ernüchterung.

Niveau einer Lokalzeitung

Der dritte Beitrag über Amazonien ist so schwach, daß es schon ärgerlich wird. Catherine Matheson kündigt einen Beitrag über “Fruit farming in the Brazilian Amazon” an, der sich als Erlebnisbericht über den Besuch einer Kooperative in Marabá entpuppt. Da ich die dort entwikkelte Arbeit aus eigener Anschaung und Begleitung über mehrere Jahre kenne, kann ich nur bestätigen, daß der Artikel von Ungenauigkeiten und Fehlern nur so wimmelt und alle schlechten Merkmale einer schnellen journalistischen Schreibe trägt. Der Autorin gelingt es nicht, eine einzelne Erfahrung zu analysieren, um daraus diskutierbare Schlußfolgerungen zu ziehen.
Dieses Manko teilt sie leider mit einer Reihe anderer Artikel, die konkrete Fälle oder Projekte behandeln, zum Beispiel über Pionierfrauen oder Ökotourismus in Ecuador. Es ist wohl die Vielzahl relativ belangloser Artikel, die in jeder Sonntagsausgabe einer Lokalzeitung ihren Platz hätten, die den Sammelband diffus und disparat erscheinen lassen.
Schade für die zahlreichen guten Artikel, die in dem Sammelsurium unterzugehen drohen. Tatsächlich finden sich in dem Band eine Reihe von lesenswerten Beiträgen, etwa über Haiti (Charles Arthur) oder Kuba (Peter Rosset). Diesen Artikel gelingt die Balance zwischen konkreter Beschreibung und dem Aufgreifen von Aspekten, die über den Einzelfall hinaus wichtig sind.

Stadtplanungsguerilla

Enttäuschend ist auch das Kapitel über Städte. Die durchaus annehmbare Einleitung versucht zu recht, Gegenakzente zu den allzu leichtfertig vorgetragenen Katastrophenszenarien über Stadtentwicklung in Amazonien zu setzen. Leider findet sich dann kein Beitrag mehr, der die Frage der Entwicklung der Megastädte aufgreift. Die Fallstudien, mit Ausnahme des Artikels über Santo Domingo, bleiben dann wieder zu sehr auf den Einzelfall beschränkt. Brasilien ist mal wieder mit dem unvermeidlichen Curitiba vertreten und einem Artikel, der nur das wiedergibt, was alle, die sich für Lateinamerika interessieren, an verschiedensten Orten (auch in den LN) nachlesen könnten. Curitiba ist sicherlich ein interessantes Beispiel für eine effektive und innovative Stadtplanung – aber Green Guerrilla?

Green Guerrillas. Environmental Conflicts and Initiatives in Latin America and the Caribbean, hg. v. Helen Collinson, London 1996, 250 S., 29,80 DM (ca. 15 Euro).

Schmutziger Krieg gegen imaginäre Feinde

Der Protest der Hinterbliebe­nen und ihr Verlangen nach Aufklärung, hat jetzt brennende Aktualität durch zwei Publika­tionen erlangt, die erst­mals die syste­matische Praxis der Folter und des Ver­schwindenlassens durch staatliche Organe des Lan­des aufzeigen. Als Folge dieser Sensibilisie­rung der Öffentlich­keit sehen sich nun auch staatli­che Stellen dazu genö­tigt, Unter­suchungen zu den Vorwürfen einzuleiten. Die 1995 erschie­nene Doku­mentation von M. Neira, herausgege­ben von der öku­me­nischen Menschenrechts­kom­mission Ecuadors, berichtet exempla­risch von rund 20 Ein­zelfällen von Personen, für deren Verschwinden in den achziger- und frühen neunziger Jahren mit hoher Wahrschein­lichkeit Funk­tionsträger der Po­lizei und des Mili­tärs verantwortlich sind. Bei der über­wiegenden Zahl der Tat­be­stände liegt kein politischer Hin­tergrund vor. In den wenig­sten Fällen wurde eine Untersu­chung von staatli­cher Seite über­haupt je eingeleitet und in nur zwei Fällen kam es zu einer Ver­urteilung der beteiligten Tä­ter aus den Reihen der “Sicher­heits­kräfte”. Meist konn­ten nicht ein­mal die Leichen der Ver­schwun­de­nen aufgefunden werden. Ge­ra­de durch den ex­emplarischen Cha­rakter der unterschied­lichen Einzelfälle wird ein Bild der vor­herr­schen­den Ge­walt und Will­kür ge­zeichnet.

Foltermord in der Aus­bildung

Auf erschreckende Weise be­stätigt und ergänzt findet sich dieses Bild durch den im August 1996 unter dem Titel El Tes­tigo erschienenen persönlichen Be­richt des Ex-Polizisten Hugo España Torres, in dem die Sys­te­matik staatlicher Terrorprakti­ken deutlich wird. Wie der Sprecher der nichtstaatlichen Versamm­lung für Menschen­rechte (APDH), Alexis Ponce, im Vor­wort bemerkt, läßt sich aus die­sen Aufzeichnungen nur allzu deutlich able­sen, daß wäh­rend der Repressions­phase der späten 80er Jahre die An­wendung von Folter und Mord geradezu als professio­nelle, ausgefeilte Tech­nik von Elitesicher­heitskräften be­trachtet und staat­licherseits ange­ordnet wurde. Vor diesem Hintergund kann sich die Regie­rung kaum mehr un­ter Hinweis auf ver­meintlich indi­viduelles Fehlver­halten in Ein­zelfällen aus der Verantwortung zie­hen. Viel­mehr wird klar, daß es sich um po­li­tisch zu verant­wortende Staats­verbrechen handelt.
Im ersten Teil berichtet España über die Inhalte und Ziele seiner Aus­bildung bei der Po­lizei und seine Tä­tigkeit in ge­hei­men Spezialeinheiten zur Auf­standsbekämpfung. Bereits die Schil­derung der durch stän­dige physische Gewalt gegen die Rekruten gekenn­zeichneten Lehr­zeit verweist auf ein System entwürdi­gender Praktiken und insti­tutionalisierten Machtmiß­brauchs. Aufgezeigt wird die schon gewohnheits­mäßige Ak­zep­tanz der tief verwurzelten Korruption auf allen Ebenen der Diensthierarchie, ebenso wie die ab­solute Verpflichtung zur strikten Ein­haltung von Befehls­ketten im Sinne eines Korpsgei­stes, der zu vielfältigen unge­setzlichen Handlun­gen geradezu auf­ruft.
Nach Aussagen Españas lag die nachfolgende Aus­bildung zum Einsatz in geheimen Poli­zei­einheiten, die er selbst als To­desschwadronen be­zeichnet, in Verant­wortung offizieller Ex­perten aus den USA und Israel. Auf der Grundlage einer ständi­gen ideologi­schen Indoktrinie­rung beinhaltete die Schulung neben Grausamkeiten gegen Tie­re vor allem das Erlernen grau­samster Folter­techniken und de­ren Übungsanwendung an ein­fachen Häftlingen. Als Ab­schluß­prüfung wurde der ak­kurat aus­geführte Folter­mord an einem Ge­fangenen verlangt.

Kopfgelder von höchster Regierungsebene

Die Beschreibungen der Ein­sätze der erlernten Methoden zur “Aufstandsbekämpfung” in der Pro­vinzhauptstadt Cu­enca gegen die kaum einflußreichen Gueril­lagruppen AVC und MPL lassen das Ausmaß der von staatlicher Seite begangenen Grau­samkeiten nur erahnen. Einsatzbe­fehle zum Mord an ganzen Familien ver­meintlicher Subver­siver, gezielte nächtliche Mordein­sätze gegen Ver­dächtige, die der Öffentlich­keit dann als im Kampf gefal­lene Guerilleros präsentiert wurden, und die dauerhaft genutzten ge­heimen Folterlager er­scheinen in der Darstellung nur noch als Routinevorkomm­nisse in der tägli­chen Dienst­pflichterfüllung in der SIC 10, einer “Anti­sub­ver­sionseinheit” der Polizei. Die wohl brisanteste und das Ver­trau­en in die staatlichen Organe am stärksten erschüt­ternde Ent­hüllung liegt in der Aussage Españas, die geheimen Poli­zei­schwa­dronen seien wäh­rend der Prä­sidentschaft Febres Corderos (1984-88) direkt dem Innenmi­nisterium unter­stellt ge­wesen. Von diesem hätten die Spe­zi­al­agen­ten auch ein geson­dertes Kopf­geld für jeden ermor­deten “Sub­versiven” er­halten.
1987 ließ sich España zur Krimi­nalpolizei nach Quito ver­setzen und wurde Anfang 1988 in der Dienststelle zufällig Zeuge der Folter und des Mordes an den min­derjährigen Restrepo-Brü­dern.
Dem folgte die Be­seitigung der Lei­chen und die offi­zielle Vertuschung möglicher Spuren und Beweise. Die Tatsa­che, daß das “Vergehen” der bei­den Ju­gendlichen scheinbar in einer Spritztour im Auto ihres Vaters be­standen hatte oder darin, einen ver­dächtigen Eindruck auf die Polizisten gemacht zu haben, verdeutlicht, wie sehr die Bru­talität der verrohten Sicherheits­organe sich verselbständigt hatte und quasi Amok gegen die Be­völkerung lief. Da die Familie der Ver­schwundenen recht ein­flußreich ist und so der Fall ein er­hebliches öffentli­ches Interesse her­vorrief, brachte sich España auch noch anderthalb Jahre spä­ter mit einigen unvorsich­tigen Bemerkungen über seine Kennt­nisse des tatsäch­lichen Hergangs selbst in Lebens­gefahr. 1991 machte er schließlich eine um­fas­sende Aussage vor der inter­na­tionalen Untersuchungskom­mis­sion zu diesem Fall.

Schlampige Aufarbeitung im Restrepo-Fall

Der zweite Teil seines Buches be­schäftigt sich aus­schließlich mit den Maßnahmen der Unter­su­chungskommission zum Re­stre­po-Fall, mit der mühsa­men Ermittlung und Auf­klärung trotz aller institutionellen Ver­schlei­er­ungsbemühungen und trotz der Mordversuche an España als ein­zi­gem direkten Zeugen.
Im Zuge der Spu­rensuche wurde die Existenz von Massen­grä­bern auf­gedeckt. Weitere Nach­forschungen zu den Ver­brechenshintergründen und Op­fern fanden jedoch offenbar nicht statt.
So bleibt die Auf­arbeitung dieser Übergriffe in vielen Aspekten unbefrie­digend: nach Mög­lichkeit verschlei­ert, daß es sich um Staatsverbrechen han­delt, was durch Vernichtung von Beweis­mitteln und das Beseiti­gen von Zeugen, sowie durch dienstin­terne Re­pression erreicht wird. Auffällig ist vor allem, daß der Schwerpunkt der Unter­su­chun­gen sehr einseitig auf unpo­litische Menschenrechts­ver­let­zungen gelegt wird, wohin­gegen die staatlichen Verbre­chen im Na­men der inneren Sicherheit kaum beleuchtet werden. Doch der Boden für die minde­stens ebenso bru­tale politische Repres­sion wird gleichzeitig weiter­hin vor­bereitet, indem indigene Or­ganisationen, die Land- und Minder­heitenrechte ein­fordern, als kommu­nistisch inspirierte Um­stürzler diffa­miert werden.

Betätigungsfeld für den “Weltpolizisten” USA

Trotz der deutli­chen Konzen­tration auf den offensicht­lich un­politischen Fall der Restrepo-Brüder enthält die schriftliche Zeu­gen­aussage des Ex-Po­lizisten España ei­nige Brisanz. Denn dieser zufolge ver­sammelte der Kom­mandant der Polizei­einheit wenige Tage nach dem Vorfall sämtliche Dienstha­benden, die durch Beteiligung oder Anwe­senheit während des Foltermor­des Kenntnis vom Schick­sal der Opfer hat­ten, um alle zur abso­luten Ver­schwiegenheit über die Vorkommnisse zu verpflichten.
Zudem läßt die von España erwähnte An­wesenheit zweier Agen­ten der US-Drogenbehörde DEA an diesem Treffen vermu­ten, daß zu­mindest in den 80er Jahren eine über die zuvor dar­gestellte Kontinuität der spe­zi­ellen Folter­ausbildung durch US-Personal hin­ausgehende, dau­er­hafte Zusammenar­beit in der sy­ste­matischen Anwendung staats­ter­roristischer Methoden gegen die Bevölkerung ge­geben war, die sich keineswegs auf die sogenannte “Auf­stands­be­kämp­fung” be­schränkte. Nur allzu deutlich wird hier die Men­schen­ver­ach­tung der Sicherheitsdok­trin der USA: in offiziellen US-Ein­heiten wurde ganz offenbar auf keine Mittel und Methoden verzichtet, um schnelle Erfolge in der vor allem in den 80er Jahren weitge­hend aus innen­po­li­tischen Moti­ven dramatisierten Be­kämpfung des Dro­genhandels und lin­ker Gruppierungen in La­tein­amerika prä­sentieren zu können. So er­scheint es geradezu als Hohn, daß seit einigen Jahren offizielle Vertreter von US-Behörden Ein­heiten der Polizei und der Streit­kräfte der la­tein­amerikanischen Länder Un­ter­richt in Sachen Menschen­rechte ge­ben.
Obwohl die in spe­ziellen Fol­ter­tech­niken ausgebildeten Son­dereinheiten der Polizei Ecua­dors 1991 auf Veranlas­sung des da­ma­ligen Präsidenten Borja aufgelöst und die Verantwortli­chen und Mittäter im Restrepo-Fall durch die Strafjustiz verur­teilt wurden, bleibt es fraglich, ob in den Behörden und Regie­rungs­kreisen inzwi­schen tat­säch­lich ein ernsthaftes Auf­klärungs­bedürfnis besteht. Über Rück­trit­te oder Amtsenthebun­gen in den ver­schiedenen militä­rischen Ein­richtungen, wo eben­falls Fol­ter­zentren existierten, ist jedenfalls nichts bekannt gewor­den.

Aufklärung unerwünscht

Die Einrichtung einer weite­ren, in­ternationalen Untersu­chungs­kommissionen zur Auf­klä­rung des Verschwindens von Ein­zelpersonen, de­ren Angehö­rige we­niger gesellschaft­lichen Einfluß gel­tend machen konnten als die Restrepo-Familie, wurde von Präsident Borja zwar ange­kündigt, aber nie realisiert. Die den Demonstra­tionen der Mad­res de la Plaza de Mayo in Ar­gen­ti­nien ähn­lichen Versamm­lungen von Angehörigen der Ver­schwundenen mittwochs auf dem Platz vor dem Präsi­den­ten­pa­last in Quito wurde von Borjas Nach­folger im Amt, Du­rán Ballén, 1993 untersagt, das Ver­samm­lungsverbot mit Poli­zei­ge­walt zeitweise auch durch­gesetzt. Hier offenbart sich die Absicht, staatliche Institutionen und auch hochrangige Personen innerhalb des Staatsapparates zu schützen, die den Terror anord­neten und unter Hinweis auf die “innere Si­cher­heit” rechtfertig­ten. Nach wie vor scheint diese dem Recht der Bevölkerung überge­ordnet, Re­chen­schaft über die staatli­chen Verbrechen gegen die Men­schen- und Bürgerrechte zu er­hal­ten. Ecuador wird wei­terhin als for­male Demokratie betrach­tet, in deren Rahmen der Staat das Gewaltmonopol als Vertreter der öffentlichen Inter­essen und des Ge­meinwohls für sich bean­sprucht.
Lange Zeit hatte es so ausge­sehen, als könnten sich die Be­fürworter eines Schlußstriches durchsetzen, die die Verbrechen möglichst unter den Teppich ge­kehrt lassen und damit ein Sy­stem schützen wollen, in dem die will­kürliche Gewaltanwendung ge­gen die Bevölkerung als not­wendig er­achtet wurde. Schüt­zenhilfe er­hielten diese Kräfte durch die eher ab­wiegelnde Haltung der Präsidenten Borja und Durán Ballén. Angesichts dessen ist es zu­mindest ein hoff­nungsvolles Zeichen, daß infolge der Aussagen Hugo Españas die Regie­rung sich nun zu konkreten Maßnahmen veranlaßt sah, um dem Eindruck ent­gegenzutreten, sie bagatellisiere die Verbrechen und decke die Schuldi­gen. Zu er­höh­tem Handlungsdruck hat sicher­lich auch ein Anfang Sep­tember im Privatsender Ecuavisa ausge­strahlter Fernseh­beitrag unter dem Titel “Nunca más” beigetragen. Hier­nach könnten zwei weitere Massengrä­ber aus­findig ge­macht werden, deren Lage España in jüngsten Aussa­gen bezeichnet hat. Wenn auch Febres Cordero, der frü­here Staatspräsi­dent, die Anschuldi­gungen Españas als Hirngespin­ste abtut und für viele die Glaubwürdigkeit des Ex-Polizi­sten auf­grund seiner Vergangen­heit und eventueller Ungereimt­heiten seiner Aussagen insbe­sondere zur eigenen Person in Zweifel steht, heben andererseits Kom­mentatoren in der ecuato­rianischen Presse hervor, daß die Detailkenntnis in Españas Aus­sagen für dessen Glaubwürdig­keit spricht. Vor dem Hinter­grund einer durch den erwähnten Fernsehbeitrag hellhörig gewor­denen Öffentli­chkeit sind im Septem­ber zwei mit der Aufar­bei­tung der Menschenrechtsver­letzungen be­faßte Kommissionen ins Leben gerufen wor­den. Wäh­rend eine Mehrparteien­kom­mis­sion des Kon­gresses den Vor­würfen Españas nachgeht, soll eine durch Ministerbe­schluß und mit Un­terstützung des Präsi­den­ten Abdalá Bucaram einge­rich­te­te “Kommission für Wahr­heit und Gerechtigkeit” in­nerhalb der näch­sten 12 Monate alle nicht geklärten Fälle grober Men­schen­rechtsverletzungen der letz­ten 17 Jahre – das heißt, seit das Land for­mal demokratisch re­giert wird – un­tersuchen. Po­sitiv hervorzuheben ist, daß die­ses Organ prinzipiell mit der Be­fugnis ausge­stattet ist, Fälle an die Strafjustiz zu übertragen. Es wird interessant sein, weiter zu verfolgen, mit wel­chem Nach­druck diese Untersuchun­gen durch­geführt werden und ob sie tatsächlich jemals strafrechtliche Kon­sequenzen zeitigen. Skepsis in dieser Hinsicht ist ange­bracht, wenn man sich vor Augen hält, wie die Arbeit der Untersu­chungskommission zum Fall der Restrepo-Brüder ganz strikt auf den vermeintli­chen Einzelfall be­grenzt wurde und alle Versu­che zur Offenlegung der Struk­turen, aufgrund derer dieser sich hatte ereignen kön­nen, im Sande ver­liefen. Das Drängen auf lüc­kenlose Klä­rung der Vor­fälle und Offenlegung der Ver­ant­wortlichkeiten ohne Scho­nung der obersten Befehls­geber ist eine zen­trale Forderung von amnesty interna­tional. Wie von der Ecuador-Koordina­tion der Organisa­tion mitgeteilt wurde, ist einer Delegation des BMZ, die Ecuador im No­vember be­reist hatte, die Aufgabe mit auf den Weg gegeben worden, diese An­liegen bei ihren Treffen mit Vertretern der ecuatorianischen Regierung anzu­sprechen.

Scheitern in der Autowerkstatt

“Bis vor die Tür des Lebens” habe sie das “verführerische Monster seines Schreibens” ge­trieben, beschreibt es Viviane Steiner. Die chilenische Schau­spielerin und Theater-Regisseu­rin hat in diesem Herbst in San­tiago Heiner Müllers Werk “Medea Material” inszeniert. In der Estación Mapocho wurde die Bühne in die Mitte des Saales verlegt, auf der verschiedene Szenen simultan gespielt wur­den. Die Zuschauer saßen auf drei verschiedenen Niveaus. Eher klassisch war hingegen die Inszenierung von “Quartett” durch Rodrigo Pérez in der Co­media. Zwei der renom­miertesten Schauspieler des Landes ließ der junge Regisseur als Haß-Liebes-Paar gegenein­ander antreten, voller Pathos und in üppig-historischen Kostümen. Und dann war da noch der Berli­ner Theater-Regisseur Alexander Stillmark, der zur gleichen Zeit eigens nach Chile gekommen war, um mit dem chilenischen Teatro La Memoria den “Auftrag” zu inszenieren. Auf einer leeren Bühne, auf der die ganz in weiß gekleideten Schau­spieler noch von den an die Wand projizierten Lichtbildern überlagert wurden.
Warum diese Heiner-Müller-Euphorie? Darüber machten sich bei einem Seminar des Goethe-Instituts in Santiago Ende No­vember Theaterleute aus ganz Lateinamerika Gedanken. Mül­lers Werk besteht aus Fragmen­ten – und das scheint ihn interna­tional so interessant zu machen. Revolution, Gewalt, Unterdrük­kung, das gibt es auf der ganzen Welt, und Müllers Texte lassen den Interpretierenden genug Luft, das Werk mit ihren ganz eigenen Erfahrungen auszuklei­den. In Lateinamerika gilt Heiner Müller keineswegs als einer, der sich an deutsch-deutschen oder europäischen Konflikten festge­bissen hat. Vielmehr reizen hier­zulande die Metaphern des Deut­schen, die Platz für die latein­amerikanische Wirklichkeit schaffen. Müller behandelt das Thema eines Landes, seines Landes, aber wie er es be­schreibt, gilt es für alle Länder.

“Hamletmaschine” in Ecuador

“Europäisches Theater mit Platzangebot”, so bezeichnet es der Berliner Literaturprofessor Frank Hörngk. Müllers Werke lassen sich nicht einfach spielen, sie müssen erkämpft werden. Sie müssen in Amerika wiederge­funden werden. So berichtet der argentinische Theaterregisseur Luis Fernando Lobo, wie er sich mit seiner Truppe im Argenti­nien des Jahres 1994, bei stünd­lich steigender Inflation, auf die Suche nach einem Raum des Scheiterns und der Niederlage gemacht hat. Ein Raum, in dem “Der Auftrag” sich entfalten konnte. Sie fanden ihn schließ­lich am Rande von Buenos Aires in einer Autowerkstatt, in die seit Monaten kein Auto mehr ge­bracht wurde. Von dieser Wirk­lichkeit ausgehend, so Lobo, ge­lang es ihnen dann, Zugang zu Heiner Müller zu finden.
Ende der 80er Jahre wurde Heiner Müller das erste Mal in Argentinien aufgeführt. Danach tauchten seine Stücke immer wieder auf den Spielplänen der kleineren Theater auf. Die Schauspieler hatten Gefallen an der Herausforderung gefunden. Das Publikum tat sich etwas schwerer, war es doch an leich­tere Kost gewöhnt. So wurde “Hamletmaschine” im Jahre 1991 in Quito ein großer Rein­fall, 1995 gab es in Ecuador einen neuen Heiner Müller-Ver­such mit “Der Auftrag” – diesmal mit Erfolg. Das Land befand sich mitten in einer schweren Krise, ein Minister nach dem anderen strauchelte im korrupten Regie­rungssystem, die Erdölarbeiter verharrten im Hungerstreik. Eine kaputte Welt, wie von Müller skizziert. In Quito hing in dieser Zeit ein Hauch von Revolution in der Luft, in der der Aufschrei “Unsere Hure, die Freiheit” (“Der Auftrag”) nicht ungehört verhallte.
Die Gewalt und der Kampf gegen die Unterdrückung, the­matisiert in Müllers Werken, ist in Chile auch sieben Jahre nach dem Ende des Pinochet-Regimes noch präsent. Mit seinen Szena­rien von Leere, Hoffnungs- und Ratlosigkeit trifft der deutsche Autor genau den Nerv der Zeit. Viele, die über Jahrzehnte gegen die Diktatur gekämpft haben, hat die Demokratisierung des Lan­des 1990 in eine Orientierungs­losigkeit fallen lassen. Zufrieden sind sie mit den Zuständen kei­neswegs, doch wie schwer fällt es, den Kampf, nachdem das Ziel doch eigentlich erreicht sein müßte, wieder aufzunehmen.
Die Dritte Welt hat bei Mül­ler, ähnlich wie bei Brecht, die Funktion, die europäische Tradi­tion in Frage zu stellen, meint der Berliner Regisseur Alexan­der Stillmark. Drei ganz unter­schiedliche Personen finden sich im “Auftrag” in Jamaica zur Sklavenbefreiung zusammen. Zur Zeit der französischen Re­volution, den Ruf nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit noch im Ohr, sehen sie sich vor die konkrete Frage gestellt: Sind wir denn gleich? Die Dritte Welt, das ist bei Müller gleichzeitig Auf­bruch und Zurücknahme, das Aufgeben einer Hoffnung. So geht es in “Der Auftrag” um den Aufstand in der Dritten Welt, um die “Schwarze Revolution”. Der schwarze Sasportas ist der neue Hoffnungsträger der Geschichte – und kommt schließlich um.
Jeder kann nach Meinung von Stillmark zum Sklaven Sasportas in “Der Auftrag” werden – weit über die soziale Metapher hinaus einfach aus dem Gefühl heraus, mißachtet zu werden. Sasportas ist der, der bis zuletzt an die große Revolution als Allheil­mittel, als Utopie glaubt und schließlich dafür stirbt. Daneben Debussant, der mitten im Stück die Bühne verläßt, weil er keinen Weg mehr sieht, der individuell konsequent bleibt. Und schließ­lich Galudec, der seinen revolu­tionären Auftrag zurückgibt. Für Hörngk ist das Müllers allge­meines revolutionäres Ver­mächtnis: Die Bitte zur Entlas­sung aus dem Auftrag. “Der Auftrag”, Mitte der 70er Jahre geschrieben, beschreibt die Selbstverleugnung des Individu­ums in der Revolution. Aber dann ist gerade das Abnehmen der Maske, das Gesicht-Zeigen in Zeiten der Niederlage die ein­zige Alternative zum Verrat.
Als Lichtbilder im Hinter­grund der Inszenierung hat Stillmark Impressionen aus Chambuco gewählt, Eindrücke aus der öden, harten und verlas­senen Salpeterwüste. Daneben Momentaufnahmen von der Bombardierung der Moneda in Santiago, deutsche KZ-Häft­linge, zerstörte deutsche Städte nach dem Zweiten Weltkrieg, das Stadion in Santiago nach dem Putsch, die Totenmaske Ul­rike Meinhofs. “Müller stellt uns alle vor die gleiche Barbarei”, beschreibt es ein Seminarteil­nehmer. Und dennoch gibt es un­terschiedliche Arten, damit um­zu­gehen. Müller hat dafür den Humor, die Ironie.

Aufzug nach Peru

Da steht ein Mann im Fahr­stuhl, ein Büroangestellter, die Aktentasche fest an die gerade zurechtgerückte Krawatte ge­drückt. Auf dem Weg zum Chef. Stolz, gleich einen wichtigen Auftrag zu bekommen. Verzwei­felt, weil ihm plötzlich, ir­gendwo zwischen dem vierten und zwanzigsten Stock, die Zeit wegrennt und seine Mission, noch bevor sie begonnen hat, scheitert. Daß weniger als fünf Minuten vor der vereinbarten Zeit zu erscheinen schon beinahe die totale Niederlage bedeutet, wie soll man das in einem süd­amerikanischen Land vermit­teln?
Stillmark läßt in seiner Insze­nierung den Deutschen Deutsch sprechen und setzt einen Über­setzer daneben – der angesichts dieser nicht nachvollziehbaren Ängste seine professionelle Ge­lassenheit verliert und auch mal fragend die Stimme hebt. Schließlich landet der Ange­stellte statt beim Chef mit sei­nem Aufzug irgendwo in Peru, sein Auftrag ist passé, doch das Publikum hat sich köstlich amü­siert.
Das Scheitern, das sich in Heiner Müllers Texten wider­spiegelt, ist das Scheitern einer europäischen Linken, die von ei­ner sozialistischen Emanzipation geträumt hatte. Den Glauben an die Revolution hatte Müller al­lerdings schon lange verloren, im ungarischen Herbst 1956. Der späte Müller hat denn auch noch die letzte Hoffnung aufgegeben. Findet sich in den frühen Texten immmer noch ein Moment der Perspektive, eine mögliche Lö­sung, so zeichnet die späten Werke das verlorengegangene Vertrauen in Veränderbarkeit und auch eine Ratlosigkeit aus. “Verdammt noch mal, der wußte nichts mehr!”, so Hörngk. Der letzte Traumtext, Oktober 1995, beschreibt einen hilflosen Heiner Müller im Betonloch, hoch über ihm die kleine Tochter, die noch nicht hineingefallen ist.
Das ist die Hoffnung, die Müller bleibt- die Hoffnung auf die Nachwelt. Eine Aufforderung weiterzumachen, sich stets aufs Neue – nicht nur in Deutschland – an seinen Texten zu reiben. Und sie in aktuelle Kontexte zu stel­len, ohne dabei europäisch sein zu wollen. “Müller zu spielen, ohne ihn zu kritisieren, ist Verrat an Müller”, mahnte der Berliner Literaturprofessor und Freund Heiner Müllers die jungen Schauspieler in Chile.

Wer zahlt?

“Die Welt wird kleiner, La­teinamerika rückt näher. Es ist auch unsere Sache, die dort ver­handelt wird”, hieß es im Vor­wort der ersten Ausgabe von “Lateinamerika – Analysen und Berichte”. Der Anspruch, den die HerausgeberInnen 1977 an ihre gerade aus der Taufe gehobene Jahrbuch-Reihe stellten, war es, die wirtschaftliche und politische Entwicklung des Subkontinents darzustellen und kritisch zu dis­kutieren. Eine Entwicklung, die – so die AutorInnen – “in eine ein­deutige Richtung” ging: Hin zu einem Modell der Kapitalakku­mulation, das die Kombination von wirtschaftlichem Liberalis­mus mit extremer politischer Repression benötigte, um hohe Profite zu erzielen. Tatsächlich ergab der Blick auf Lateiname­rika in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre – nach Chile und Uruguay hatten sich nun auch in Argentinien die Militärs an die Macht geputscht – ein reichlich düsteres Bild. Hoffnungen auf revolutionäre Veränderungen hin zu einer gerechteren Gesell­schaft, sei es nach kubanischem oder chilenischem Vorbild, wur­den allmählich zu den Akten gelegt.
Zehn Jahre später stellten die unfreiwilligen “Chronisten von Niederlagen” zwar nicht ihre damaligen Einschätzungen in Frage, gingen aber dennoch mit sich ins Gericht: Skepsis sei an­gebracht gegenüber der in den ersten Bänden praktizierten Les­art der lateinamerikanischen Ak­tualität – basierend auf der Über­zeugung, anhand ökonomi­scher “Akkumulationsmodelle” ließen sich quasi automatisch Ten­denz­aussagen über die politi­sche Zu­kunft im “abhängigen Kapi­ta­lis­mus” treffen. Solcherlei “Ablei­tungen” hatten der kom­plexen Wirk­lichkeit der jeweili­gen Län­der nicht Rechnung ge­tragen und ließen umgekehrt auch nur man­gel­haft auf die Qualität der Ge­genkräfte zur herrschenden Ord­nung schlies­sen. Was die Beo­bachtung jener anbetraf, brauchte sich das Jahr­buch-Team freilich keine Vor­würfe gefallen zu las­sen. “Neue Organisations- und Kampffor­men” gegen wirtschaft­liche Mar­ginalisierung und poli­tische Un­terdrückung – Stadt­teil­bewegun­gen, Basisgemeinden, Indígena-Organisationen und lin­ke Par­teien jenseits leninistischer Kon­zeptionen – hatten von Be­ginn an das Augenmerk der Her­ausgebe­rInnen gefunden. Nur – vor­aus­sagbarer wurde die Zu­kunft La­teinamerikas damit auch nicht.

Verdrängung allerorten

Im zwanzigsten Jahr der “Analysen und Berichte” war es wieder einmal an der Zeit, sich anhand der Entwicklungen der vergangenen Jahre über die “Zukunftsfähigkeit” des Unter­suchungsobjektes Rechenschaft abzulegen. “Offene Rechnungen” heißt dementsprechend Band 20 der Reihe, denn – so die im Vor­wort geäußerte Ansicht – zu­kunftsfähig ist Lateinamerika nur, wenn nicht “Vergessen und Verdrängen” die Tagesordnung bestimmen. Vergessen und ver­drängt wird freilich überall, und in eigener Sache fehlt nicht der Hinweis auf die Gefahr, die “besseren Einsichten von ge­stern” – Solidarität mit den sozia­len Kämpfen und das Ziel einer befreiten Gesellschaft – der mo­dischen Anpassung an herr­schende Terminologie und The­mensetzung zu opfern.
Offensichtlich unbewältigte Schatten der Vergangenheit sprechen die ersten beiden Bei­träge an. Daß die Ökonomie in Chile “zur Staatsreligion erho­ben” worden ist, und die Regie­renden eine konsequente Aufar­beitung der unter der Diktatur begangenen Menschenrechts­verletzungen scheuen, schildert David Becker und liefert zudem eine überzeugende Analyse der psychischen Mechanismen bei den Opfern, aber auch der Be­völkerungsmehrheit. Die “inter­nalisierte Angst”, so Becker, ist das zentrale Element der neuen chilenischen Demokratie: Nach­dem die auf dem zuerst nur zäh­ne­knirschend akzeptierten Kon­sens­prinzip basierende tran­si­ción zumindest teilweise ge­lun­gen war, blieb die traumati­sche Er­innerung an Putsch und Repression der Garant für die “politisch wirksame Gleichung Konflikt = Zerstörung = Neuauf­la­ge der Diktatur”.
Unter diesem Vor­zeichen werden Mutlosigkeit und feh­len­der Wille der regie­renden Con­certación und ihrer christ­de­mo­kra­tischen Präsiden­ten ver­ständ­li­cher, wenn auch nicht le­gi­ti­mer. Tragischerweise deckt sich hier der Wunsch vieler Politiker nach schnellem Vergessen und weit­gehend fol­genlosen Sym­bol­hand­lungen mit dem Bedürfnis der nicht direkt von der dik­ta­to­riellen Repression betroffenen Chi­lenInnen, Kon­flik­ten aus dem Weg zu gehen. Folteropfer und An­gehörige von Ver­schwun­de­nen sehen sich in einem Umfeld man­gelnden Erin­nerungswillens neu­erlich diskri­miniert. Das, meint Becker, muß allerdings nicht so bleiben: Trotz aller Ver­su­che seitens Präsident Frei und sei­nem Technokraten­team, miß­lie­bige Erinnerungen an Ver­gangenes auszuklammern, mel­det sich dieses immer wieder zu Wort – und sei es durch das Sä­bel­rasseln der Militärs. “Das un­ver­mittelt Konflikthafte kann nicht mehr unter den Teppich ge­kehrt werden, es sucht sich sei­nen Weg an die Öffentlich­keit. Und das ist ein wesentlicher Be­stand­teil einer echten Demo­kra­ti­sierung.”

Linke Altlasten

Gedächtnislücken einer ganz an­deren Art beschreibt Ricarda Knabe in ihrem Bericht über die Studie, die eine salvadorianische Frauenorganisation unlängst der FMLN und der aus ihr hervorge­gangenen Partido Democrático vorgelegt hat. Das Thema ist bri­sant, geht es doch um die Rolle der Frauen im Guerillakampf, ge­nauer: um ihre Sexualität. Vie­le der guerrilleras – ent­stammten sie nun dem haupt­städtisch-intel­lek­tuellen Milieu oder den Dör­fern im Kriegsge­biet – litten nicht nur an der Brutalität der Kämpfe sondern ebenso an der se­xuellen Diskri­minierung durch ih­re eigenen com­pañeros und die Be­vormun­dung durch die FMLN-Hierar­chie. Diese, so die Au­torinnen der Studie, hatte in den ersten Kriegsjahren noch ei­ne rigide Kontrolle über das Pri­vat­leben der GenossInnen aus­ge­übt und qua selbst durch­ge­führ­ten Ehe­schließungen (revolutio­nä­re) Mo­ral praktiziert. Später, als Kampfbereitschaft Priorität vor ideologischer Festigkeit ge­wann und diese Einflußnahme nach­ließ, kamen etliche der in den Camps lebenden Frauen vom Re­gen in die Traufe. “Den Kör­per mit den Genossen solidarisch tei­len”, war ein häufig miß­brauch­tes Schlagwort. Den gue­rrilleras, die aus eigener Ent­scheidung ein promiskuitives Ver­halten praktizierten, schlug freilich nicht selten die geballte männliche Verachtung entgegen. Daß diese Problematik inzwi­schen offen thematisiert und dis­kutiert wird, hält Knabe freilich für eine hoffnungsvoll stim­men­de Errungenschaft.

Die “Multis”: unheilvolle Wohltäter

Der Frage “Was von den Multis noch zu erwarten ist” geht Urs Müller-Plantenberg in sei­nem Artikel nach. Dabei konsta­tiert er die bemerkenswerte Wandlung, die die Beurteilung trans­nationaler Unternehmen in Lateinamerika selbst in der Sichtweise einstiger Kritiker durchgemacht hat: Wurden die “Multis” zu Zeiten der “Import­substituierenden Indu­striali­sie­rung” mit Argwohn be­trachtet und nach Möglichkeit rigiden Kon­trollen unterworfen, hat spätestens seit den achtziger Jah­ren ein Wettlauf um die Gunst der ausländischen Wohl­täter ein­gesetzt.
Aufschlußreich ist Müller-Plan­tenbergs histori­sche Ana­ly­se, mit der er zu zei­gen ver­sucht, wie gering schon immer der tat­sächliche Beitrag transnationaler Un­ter­nehmen zum ersehnten Ka­pitalzufluß ge­wesen ist. Das ge­genwärtige, ge­rade von stei­genden Portfo­lio­investitionen ge­prägte Szena­rio ist noch be­denklicher: In dem Maße, in dem das global allge­genwärtige Kapi­tal dank moder­ner Technologie im­mer mobiler, ja “scheuer und flüch­tiger” ge­worden ist, über­wiegt das Risiko des unkon­trol­lierbaren Zusam­men­bruchs, ei­nes Kollaps, wie er Mexiko 1994 er­eilte.
Auch die Hoffnung auf Be­schäf­tigungsef­fekte und Tech­no­lo­gietransfer, die Direkt­in­ve­sti­tionen entge­gengebracht wird, hält einer ein­gehenderen Be­trach­tung nicht stand. Dennoch ist die Gier nach frischem Ka­pi­tal nicht einfach ein “frommer Selbst­betrug” wirt­schafts­li­be­ra­ler Regierung, fol­gert Müller-Plan­ten­berg. “Viel­mehr ent­sprechen massive Di­rekt­in­ve­sti­tio­nen auch den hand­festen In­te­res­sen derer, denen es darauf an­kommt, ein Wachs­tumsmodell zu fördern, das schnelle Be­rei­che­rung er­laubt und unter der Dro­hung von möglichen Ka­pi­tal­ab­flüssen im­mer weiter geführt werden muß.”
Handfeste Interessen weltweit agierender Konzerne stehen auch im Mittelpunkt der Debatte um “Biodiversität”, die Elmar Römpczyk nachzeichnet. Vor al­lem Pharmaunternehmen aus den USA versuchen, sich die Ver­fügungsgewalt über den ge­ne­tischen Reichtum des tropi­schen Lateinamerika zu sichern – sei es mittels Druck auf interna­tionale Gre­mien wie die Welt­han­delsorganisation WTO oder Lob­bying bei lateinamerikani­schen Regierungen. Sollte es diesen “Multis” gelingen, so Römpczyk, über die Schaffung eines ver­bind­lichen Patent­schutz­systems die Resultate ihrer Forschung zu mo­nopolisieren und dem­ent­spre­chend exklusiv zu verwerten, kä­me den Ländern des Südens einer ihrer größten Reichtümer – die Verfügung über ihre Artenvielfalt – abhanden. “Neben­effekt” der transnationa­len Offensive ist der skrupellose Eingriff in den Lebensraum der in­digenen Völker, die den Kapi­tal­interessen nur insofern von Nut­zen sind, als sie durch ihr tra­diertes Wissen eine Informa­tions­quelle über die Anwendung des “genetischen Materials” ab­ge­ben können.
Perspektiven für ei­ne gerech­tere Nutzung der Bio­diversität sieht Römpczyk in er­sten Ini­tia­ti­ven indigener Grup­pen, die sich ein Mitspra­cherecht erkämpft ha­ben, aber auch in einer Wei­ter­ent­wicklung der 1992 in Río ge­schaf­fenen Bio­di­ver­sitäts­kon­ven­tion.

Die Kosten der (De)industrialisierung

Anhand der brasilianischen Aluminiumproduktion versucht Dieter Gawora, “offene Rech­nungen” im Amazonasgebiet auf­zuzeigen. In diesem Falle handelt es sich zwar weniger um den direkten Einfluß der allge­genwärtigen Transnationalen, wohl aber um die ökologische Zerstörung und ethnische Ver­drängung, die Großprojekte wie die extrem energieintensive Alu­miniumgewinnung und -ver­ar­beitung zu verantworten haben.
Detailliert schildert Gawora die Situation am Rio Trombetas, ei­ner Region mit reichen Bauxit­vorkommen, in der seit Ende der sechziger Jahre entstandene För­derstätten und Retortenstädte die Nachkommen der vor zwei Jahr­hunderten in dieses Gebiet ge­flohenen afrikanischen Sklaven, der quilombos, verdrängen. Im Zusammenhang mit einem Stau­dammkomplex, der den Energie­bedarf der Produktion sichert, treiben die Aluminiumkonzerne die Umweltzerstörung voran; kri­tische GewerkschafterInnen wer­den mit zum Teil kriminellen Me­thoden mundtot gemacht. Gaworas Fazit: “Großprojekte sind immer geprägt von einer Ignoranz gegenüber ‘den ande­ren’. Sie sind unvereinbar mit ethnischen Differenzen und tra­ditioneller Wirtschaftsweise”.
Mit Akribie und einer Fülle an Datenmaterial schildert Paul Singer eine andere Facette brasi­lianischer Realität: die fort­schreitende Deindustrialisierung, ja “ökonomische Aushöhlung” des Großraums Sâo Paulo, wo sich vor den Inflationskrisen der achtziger Jahre und der in den Neunzigern forcierten Welt­mark­töffnung mehr als ein Drit­tel der industriellen Arbeitsplätze Brasiliens konzentrierte. Sym­ptomatisch für die Folgen der Strukturanpassung ist auch die stetige Zunahme prekärer, da informeller Arbeitsverhältnisse und ein Anwachsen der ohnehin starken Einkommenskonzentra­tion.
Eine Option, sinnvoll auf die kurz­fristig kaum umkehrba­ren Rah­menbedingungen von Markt­öff­nung und Strukturkrise zu re­agieren, erkennt Singer in de­zen­tralen Kompensationspoli­tiken. Dar­über hinaus denkt er über die Mög­lichkeit nach, “ausgehend von Initiativen der Stadt­re­gie­run­gen gemeinsam mit Kräften der Zi­vilgesellschaft einen neuen Wachs­tumszyklus zu eröffnen”, in­dem das enorme brachliegende Ar­beitspotential der Ar­beitslosen, Informellen und Un­ter­beschäftigten in “an­gepaßten For­men der Organi­sierung der Pro­duzenten” akti­viert wird. “Al­le Organisations­formen sind mög­lich, von iso­lierten oder zusammengeschlos­senen Privat­un­ternehmen bis zu kollektiven Un­ternehmen wie Ko­operativen, Pro­duktionsge­mein­schaften oder was sonst noch ausgedacht und aus­probiert werden könnte”.

Revolutionäre Werte in Erosion

Inwiefern die kubanische Re­volution alte Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten nicht restlos hat beseitigen, sondern nur ver­drängen können, beschreibt ab­schließend Bert Hoffmann. Lan­ge nicht für möglich gehaltene “Come­backs” – von der Wieder­kehr des Weihnachtsfestes über die öffentliche Akzeptanz der santería bis hin zum Aufleben des latenten Rassismus – haben die Versuche von Partei und Re­gierung den KubanerInnen be­schert, Wege aus der wirtschaft­lichen Misere zu finden. Daß mit der faktischen Legalisierung des Dollarbesitzes, der beginnenden Liberalisierung der Arbeitsver­hältnisse und den Privilegien des devisenträchtigen Tourismusge­schäftes neu-alte soziale Un­gleichheit entstanden ist, er­scheint noch weniger erschrek­kend als die Renaissance einer rassistischen Mentalität, die von einem ebenso neuen wie alten sozialen Gefälle zwischen den Ethnien genährt wird. Das ideo­logisch verordnete Gleichheits­postulat erweist sich hier als we­nig tragfähig, galten doch auf Kuba zaghafte Ansätze ethni­scher Selbstartikulation etwa als “schwarzer Rassismus”. Für Hoffmann stellt gerade die von der kubanischen Führung betrie­bene Ineinssetzung von Revolu­tion und sozialistischem Staat in diesen Krisenzeiten eine Gefahr dar, denn “wenn diese Verknüp­fung nicht aufgebrochen werden kann, droht der Legitimitätsver­lust des politischen Systems auch die der Revolution zugrun­deliegenden Werte insgesamt in Frage zu stellen”.
Trotz der zum Teil ausgespro­chen lesenswerten Artikel krankt die Konzeption des Jubiläums­bandes an der zu weit formu­lierten und locker gehandhabten Themenvorgabe. Vorausgegan­ge­ne Ausgaben konnten deutlich stringenter der bewährten Schwer­punktsetzung folgen. Si­cher: “Offene Rechnungen” wer­den präsentiert. Bloß läßt sich diese Interpretationshilfe mit ein wenig Geschick auf nahezu alle sozialen, politischen und öko­no­mischen Problematiken an­wenden.
Daß die Herangehensweise der AutorInnen an ihr Thema stark variiert, hat weniger Aus­wirkungen auf den Gehalt ihrer Darstellungen als auf die Les­barkeit. Während die Herausge­berInnen Singers Beitrag im Vorwort zu Recht als “sperrig” bezeichnen, fällt Hoffmanns feuilletonistischer Stil wohltuend auf.
Lesenswert sind wie immer die Länderberichte, die im zweiten Teil die Ereignisse des vergangenen Jahres in Brasilien, El Salvador, Guatemala, Haiti, Kolumbien, Kuba, Mexiko und Ve­nezuela nachzeichnen. Be­dau­erlich ist allerdings die im vor­liegenden Band reduzierte An­zahl von Ländern: Während durch den Kuba-Artikel eine ge­wis­se Dopplung entsteht, wäre der Blick auf ein anderes der hier fehlenden Länder – Argenti­nien, Bolivien, Peru oder Ecuador – wünschenswert gewesen.

Nichts Neues in Sicht?

Die Zeiten großer gesell­schaftlicher Gegenentwürfe sind vorbei. Zwar ist dem Herausge­berInnenteam zuzustimmen, daß sich “zentrale Fragen internatio­nalisierter Ausbeutung und des Spielraums von Emanzipations­be­wegungen gerade in Latein­amerika in exemplarischer Weise stellen”. Die Texte dieses Jahr­buches sind durchaus in der Lage, dies zu zeigen. Mit Vor­schlägen für gangbare linke Al­ternativen – etwa wie der Glo­balmacht der “Multis” zu begeg­nen sei – halten sich allerdings die meisten AutorInnen vorsich­tig zurück oder bleiben vage. Das Vorwort vermerkt dies mit Selbstkritik und verweist nur auf Singers locker konzipierten Ent­wurf einer Basisökonomie jen­seits von Staatsunternehmen und Finanzkapital, da dieser “eine Diskussion über vorhandene und nicht vorhandene Alternativen der Linken zum Neoliberalismus eröffnen könnte”.
Eine revidierende Feststellung mußten die HerausgeberInnen – zwanzig Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes – allerdings treffen: Lateinamerika steht nach den weltweiten Veränderungen der letzten Jahre zweifelsohne nicht mehr im Mittelpunkt der Auf­merksamkeit. Daß dennoch auch im deutschen Sprachraum aktuelle und kritische Forschung weiterhin ein Sprachrohr hat, ist nicht zuletzt auch ein Verdienst der “Lateinamerika”-Reihe.

Lateinamerika – Analysen und Be­richte 20: Offene Rechnungen, hg. von Karin Gabbert u.a., Horlemann 1996.

Deutsches Exil in Lateinamerika

Lateinamerika stand bei der Aufnahme von Flüchtlin­gen aus Deutschland an führender Stelle. Etwa 20 Prozent aller Emi­grantInnen fanden dort zumin­dest für eine gewisse Zeit Zu­flucht vor der Verfolgung durch das NS-Regime. Für viele war Latein­amerika anfangs jedoch nur ein Exil zweiter Wahl, was sich deutlich an der Chrono­logie der Emigration in die mittel- und südamerikani­schen Staaten zeigt. In den Jahren 1933-1937 sind wohl höchstens ein Viertel aller Lateinamerika-Flüchtlinge aus Deutsch­land eingewandert. Vor al-lem die auch früher als Ein­wan­derungsländer bevorzugten Staa­ten des “Süd­gürtels”, also Argen­tinien, Chile, Uruguay und das südliche Bra­silien, waren bis etwa 1937 eine Art Ge­heimtip für Emi­grantInnen, während in die übri­gen Län­der nur verein­zelte Personen­kreise sickerten. Auch die meisten in diesem Zeit­raum von einigen Staaten unter­nommenen Aktionen zur Auf­nahme von EmigrantInnengrup­pen betrafen in der Regel nur kleine Zahlen, die nur in Einzel­fällen die 100 überschrit­ten, – so die An­siedlung saarländi­scher Emi­grantInnen in Para­guay.
Die Erklärung für dieses Phä­nomen liegt darin, daß Latein­amerika kaum im Motivations­spek­trum von Hitler-Flücht­lin­gen angesiedelt werden konn­te. Wer nach dem erhofften Sturz der NS-Herr­schaft nach Deutsch­land zurückkehren woll­te, blieb nach Möglichkeit in einem Nach­barland, jedenfalls in Eu­ro­pa. Wer als Jude Deutsch­land den Rücken kehrte und end­gültig mit der angestammten Heimat brach, bemühte sich um die Aus­reise nach Palästina. Auch Emi­grationsbewegungen in die USA oder UdSSR waren in jener Zeit spärlich. Wer vor 1939 nach La­teinamerika emigrierte, war trotz des poli­tischen Hinter­grundes seiner Motive meistens auch eine Art Auswanderer, der sich in der Ferne eine von Be­drohungen und Repressalien freie Existenz auf­bauen wollte. Die bevorzugte Wahl der typi­schen Einwande­rungsländer des Süd­gürtels be­stätigt diese Beob­ach­tung.
Mit der weiteren Expansion des Dritten Reiches im Jahre 1938 und mit Restrik­tionen der europäischen Asylländer, welche die Flüchtlingsströme nicht mehr auf­nehmen konnten oder woll­ten, begann die Massen­emigra­tion in überseeische Länder, vor­zugsweise nach Lateinamerika. Sie hielt mit kriegs­bedingten Un­terbrechungen bis etwa 1942 an. Da die meisten lateinamerikani­schen Staaten daraufhin die Ein­wanderung bremsten und zeit­wei­lig die Grenzen völlig sperr­ten oder nur unter besonderen Be­dingungen öffneten, richtete sich der Flüchtlings­strom auch in “we­niger at­traktive” Länder. Wer unter größter Gefahr sein Leben retten wollte, ging auch nach Hon­duras oder Bolivien, ob­wohl er eigentlich nach Palä­stina oder Nordamerika emigrieren wol­lte. Man­che Länder nahmen den Cha­rakter von Wartesälen an, in de­nen Flüchtlinge bis zu ihrer mög­lichen Weiterreise vor­über­ge­hend Zuflucht nahmen. Wer in Ku­ba oder in der Domini­kanischen Republik Asyl ge­funden hatte, wartete meist auf die Weiterreise in die USA, wer nach Para­guay oder Bolivien ver­schla­gen worden war, zog oft nach Argentinien, Chile oder Uru­guay.
Fluchtwege und Fluchthelfer
Die Wege, auf denen deut­sche Flüchtlinge nach Lateinamerika ge­langten, wurden im wesentli­chen vom Zeitpunkt der Emigra­tion und von den Emigrations­motiven bestimmt. Es gab vom Feb­ruar 1933 bis zum Oktober 1941 eine vom NS-Regime ge­dul­dete legale Auswanderung aus Deutschland. Ihr Zahlenver­hält­nis zur fluchtartigen Emi­gration schwankte erheblich und stand 1939 zu dieser im Verhält­nis von 7:1. Von den rund 78.000 jüdischen Emi­grantInnen dieses Jahres gin­gen etwa 13.000 nach Latein­amerika, in der Regel von Hamburg aus. EmigrantIn­nen, die von einem europäischen Exil-Land aus weiterfuhren, schifften sich gewöhnlich in den Niederlanden, in den französi­schen Atlantik-Häfen und in Marseille oder aber in Genua ein. Nach Ausbruch des Krieges än­derten sich die Routen, zumal Belgien, die Niederlande und die französi­sche Atlantik-Küste be­setzt wurden. Marseille wurde zeitweilig der wichtigste Aus­reisehafen, gefolgt von Lissa­bon, das aber nur über Spa­nien er­reicht werden konnte. 1940-42 waren Spanien und Portugal wichtige Transitländer. In der Zeit vom Herbst 1939 bis Juni 1941 emigrierten zahlreiche Flüchtlinge über Sibirien nach Wladiwostok und von dort wei­ter nach Shanghai in die USA und nach Lateiname­rika. Ab No­vem­ber 1941 durften Juden aus dem deutschen Macht­bereich nicht mehr ausreisen – die Ent­scheidung über die so­genannte “End­lösung” war ge­fallen. Mit der Besetzung Süd­frankreichs durch deutsche Trup­pen im No­vem­ber 1942 wurden die letzten Aus­reisemöglich­kei­ten blockiert. Die Emigra­tions­be­wegung kam fast voll­ständig zum Stillstand.
Besonderes Interesse ver­dienen in diesem Zusammen­hang die Organisatio­nen, durch deren Aktivitäten die in der Re­gel mittellosen Flüchtlinge über­haupt nach Lateinamerika gelan­gen konnten. Der Erwerb von Visa und anderen Doku­menten, die Bezahlung der Schiffspassa­gen und sonstigen Reiseko­sten, Quartiere und Klei­dung, Kurse zur beruflichen Um­schulung so­wie die Ausrü­stung mit Werk­zeug – alles dies waren Pro­ble­me, die die EmigrantInnen ge­wöhn­lich aus eigener Kraft nicht be­wältigen konnten. Eine Reihe von Vereinigungen hat hier be­trächtliche Summen auf­gebracht, die selbst wiederum größtenteils aus Spenden stamm­ten. Zu nen­nen sind vor allem die jüdische Hilfs­organisation HICEM, die selbst wiederum ein Dachver­band an­derer Verbände war, und das “American Jewish Joint Distri­bution Commit­tee”. Diese beiden Organisa­tionen hat­ten für die Flucht­hilfe und für die Start­hilfe in den Exilländern eine große Bedeutung. Da­gegen rich­te­ten sich die Unter­stüt­zungen an­derer Hilfsorga­ni­sa­tio­nen nur auf einen kleinen und spe­ziel­len Teil der Emi­gra­tion. An­dere wich­tige Ver­ei­ni­gun­gen wa­ren die so­zial­de­mo­kra­tische Flücht­lingshilfe, so­wie die von der Liga für Men­schen­rech­te ge­tra­ge­ne Demo­kra­ti­sche Flücht­lings­fürsorge (beide wa­ren bis 1938 in Prag, da­nach in Lon­don).
Unter den Umständen der NS-Diktatur nahmen gele­gentlich auch solche Organi­sationen den Charakter von Fluchthelfern an, deren ei­gentliche Zielsetzung nichts oder wenig mit Emigra­tion zu tun gehabt hatte. Die JCA (Jewish Colonisation Associ­ation) verfolgte ursprünglich den Ge­danken jüdischer landwirt­schaftlicher Siedlungen in Ar­gentinien und Brasi­lien, ver­mittelte aber – teil­weise im Rah­men der HICEM – zahlreichen be­drohten Juden eine Zuflucht in Lateiname­rika. Der St. Rapha­elsverein unterstützte seit den 1890er Jahren katholische Aus­wanderInnen durch soziale und seel­sorgerische Betreuung, kon­zentrierte sich aber in den 1930er Jahren immer mehr auf bedrohte Personen aus Deutsch­land, ins­besondere auf die soge­nannten “ge­tauften Nicht-Arier”. Auch die ihm nahestehende “Gesell­schaft für Siedlung im Ausland” er­möglichte vielen katholischen Hitler-GegnernIn­nen eine Aus­wanderung und Ansiedlung in Brasilien, wobei hier die Gren­zen zwischen Emigration und Auswanderung verschwimmen. Die Zahl der ge­nannten Orga­nisationen muß noch ergänzt werden um weitere jüdische, christliche, politische und huma­nitäre Vereinigungen, die inner­halb und außerhalb Deutschlands Fluchthilfe leiste­ten; der Hilfs­verein der Juden in Deutschland, die Quäker und an­dere. Dagegen war die Hilfstä­tigkeit ein­zelner Staaten, zwischen­staatlichen und in­ternationalen Ein­rich­tungen wie dem Völker­bund erbärmlich ge­ring. Emi­gran­tInnen, die sich nach Über­see retten konnten, ver­dankten dies fast ausschließ­lich pri­vater Initiative.
Die Anzahl der deutschen be­ziehungsweise deutsch­sprachi­ge Emigrant­Innen in Lateiname­rika schwankt zwischen 90.000 und 120.000; man darf also von einer Grob­schätzung von rund 100.000 aus­gehen. Es besteht allenfalls weit­gehend Klarheit in der quan­titativen Reihenfolge der Auf­nahmeländer:

Argentinien 45.000
Brasilien 25.000
Chile 2.000
Uruguay 7.000
Bolivien 6.000
Kuba 5.000
Kolumbien 2.700
Ecuador 2.500
Dom. Rep. 2.000
Mexiko 1.200

Die übrigen Länder, ange­führt von Paraguay nahmen Emigran­tInnen nur in drei­stelliger, einige karibische und mittelamerikani­sche Staaten nur in zweistelliger Höhe auf. Über 90 Prozent aller Flüchtlinge fanden Zu­flucht in jenem Südgürtel, der sich von Rio de Janeiro über Montevideo und Buenos Aires bis nach San­tiago de Chile er­streckt. Dort la­gen daher auch die wichtigen Emi­grantInnenzentren. Einen Son­derfall bil­dete Mexiko, das zwar hin­sichtlich der Auf­nah­mezahl eines der Schluß­lichter bil­dete, aber wegen der hoch­karätigen politischen und lite­rarischen EmigrantInnen so­wie wegen der von ihnen ge­tragenen Ver­lage, Zeitschrif­ten und Ver­einigungen ein Exil­zentrum von be­sonderer Bedeu­tung war.
Soziale und kulturelle Integration
Die berufliche Qualifika­tion der EmigrantInnen in Lateiname­rika war nicht auf die Gesell­schaften der Asyl­länder zuge­schnitten, so daß die berufliche Eingliederung meistens große Pro­bleme ver­ursachte. Exakte Zah­len lie­gen nur für einzelne Länder und Städte vor, aber sämtliche Indizien verweisen da­rauf, daß kaufmännische und an­dere mittelständische Berufe, Selbständige und Angestellte, sehr stark vertreten, Hand­wer­ker­Innen, ArbeiterInnen und Land­wirte unterrepräsen­tiert wa­ren. Aber gerade sie, insbeson­dere die Landwirte, waren be­son­ders gefragt. Viele Exilländer hatten die Einreiseerlaubnis nur mit der Verpflichtung zu land­wirt­schaftlicher Siedlung er­teilt, worauf aber die wenig­sten vor­be­reitet waren. Von den etwa 1.000 Emigranten, die in Ar­gen­ti­nien, Brasilien, Paraguay, Bo­li­vien, Ecuador und Santo Do­min­go kleine Bauernhöfe grün­de­ten, sind die meisten gescheitert.
Die mittelständischen Be­rufe stießen deswegen auf be­sondere Schwierigkeiten, weil für sie zunächst kein Bedarf bestand. Wegen der für lateinameri­ka­ni­sche Gesellschaften seit lan­gem no­torischen Unterbeschäf­tigung in Handel und Dienst­leistung bil­de­ten die Emi­grant­Innen eher ei­nen Störfaktor und stießen oft auf Konkurrenz­neid und Frem­den­feindlichkeit, nicht selten mit an­tisemitischem Ak­zent. Einige Län­der verboten oder behin­der­ten die Ausübung be­stimmter Be­ru­fe. Leichter hat­ten es Fach­ar­beiterInnen und Hand­werker­In­nen, die wegen ih­rer im all­ge­mei­nen beträchtli­chen Überle­gen­heit an Berufs- und Allge­mein­bil­dung gefragt waren. Da­ge­gen standen Vertre­terInnen künst­lerischer und geisteswis­sen­schaftlicher Berufe vor be­son­deren Schwierigkeiten, weil ih­re Tätigkeiten nicht ge­fragt und teilweise engstens auf die deut­sche Sprache fi­xiert wa­ren.
Die soziale Integration aus ei­nem Abstand von 50 Jahren be­trachtet zeigt, daß nach ei­ner mehrjährigen Durststrecke die meisten EmigrantInnen und ihre Nachfahren wirt­schaftlich heute nicht schlecht gestellt und in der Regel in relativ wohlhabende Mittel- und Oberschichten auf­gerückt sind.
Die Gründe für diese über­wiegend gelungene so­ziale Inte­gration liegen in dem beruflichen und allgemeinen Bildungsvor­sprung der meisten EmigrantIn­nen vor ein­heimischen Arbeits­kräften. Aber wesentlich war wohl der Zusammenhalt der Emi­gran­tInnen über gemeinsame Zeit­schriften, Clubs, Vereinigun­gen und Einrichtungen, der trotz ideologischer, politischer und anderer Differenzen zumindest in den Zentren des Exils eine wechselseitige Kommunikation er­mög­lichte. Vor allem müssen hier die deutsch-jüdischen Ge­meinden, Verbände und Ins­ti­tu­tio­nen erwähnt werden, die – so­weit Informationen vorlie­gen – oft einen hohen Organi­sa­tions­grad hatten. Ihre Arbeit dürf­te in hohem Maße soziale Not­fäl­le aufgefan­gen und eine Mar­gi­na­lisierung und Verelen­dung von EmigrantInnen verhin­dert haben.
Politische Organisationen im Exil
Die politischen Organisa­tio­nen deutscher EmigrantInnen wa­ren, gemessen an der Zahl ih­rer aktiven Mit­glieder, recht klein. Aber sie standen stärker im öffentli­chen Rampen­licht und bean­spruchten einen höheren Re­präsentationsgrad als etwa deutsch-jüdische Sportver­eine. Aus der Perspektive der deut­schen Geschichte sind sie frei­lich interessanter, weil sie gewis­ser­ma­ßen “mit dem Blick nach Deutsch­land” ar­beiteten, wäh­rend ein großer Teil der jüdi­schen Emigran­tInnen mit ihrer al­ten Heimat innerlich gebrochen hatte und vielfach kein Interesse mehr an Deutschland zeigte. An­de­rerseits wurden rund 50 von den Organisationen herausge­ge­be­nen Blätter und Zeit­schriften, von denen aller­dings einige nur ein­mal oder nur sehr selten er­schienen oder aber über das For­mat hektographierter Rund­brie­fe nie hinausgelangten, doch auch von einem breiteren Spek­trum innerhalb der Emi­gration gele­sen; sie bezogen so­mit auch po­litisch weniger enga­gierte Per­sonen in die Diskussio­nen und Kontrover­sen ein. Wie in der ge­samten Exilszenerie wa­ren die Emi­grantInnen in Latein­amerika untereinander heillos zerstrit­ten und befehdeten sich aufs heftig­ste. Die Bedingungen für politi­sche Aktivitäten va­riierten von Land zu Land und waren stark von den inneren Verhält­nissen ab­hängig. So wa­ren ir­gend­welche Aktivi­täten un­ter der blut­rünstigen Herr­schaft des do­mi­nikani­schen Diktators Rafael Tru­jillo über­haupt nicht und in dem von Ge­tulio Vargas auto­ri­tär regierten Brasilien nur ein­ge­schränkt möglich. Dage­gen bo­ten demo­kratische Länder wie Chi­le und Uru­guay, das ge­mä­ßigt autoritäre Argentinien so­wie das nachrevolutionäre Mexi­ko gün­stige Voraussetzungen. Wäh­rend aber in Chile auf amtli­chen Druck die politischen Emigran­tIn­nenverei­nigungen fu­sionieren muß­ten, blühte in Bo­livien ein Chaos der Ver­bände, Clubs und Organisa­tionen.
Das politische Spektrum der EmigrantInnenorganisationen läßt sich grob in drei Richtungen ein­teilen. Die älte­ste von ih­nen war auch zugleich die kleinste, die aber zeitweilig lautstark auf­trat: die Stras­ser-Bewegung. Be­reits 1934 war ein Netz von Or­ganisationen in fast allen latein­amerikani­schen Staaten nach­weisbar, geführt von einem “Kampfleiter” mit Sitz in Pa­raguay. In Buenos Aires er­schien ab 1935 das Zentralorgan der Be­wegung “Die Schwarze Front”. Leser des Blattes und Mit­glieder der gleichnamigen Or­ganisation waren größtenteils dis­sidente Nazis sowie antinazi­stische, aber gleichwohl rechts­extreme Kreise – Auslandsdeut­sche wie auch EmigrantIn­nen.
Zu den bedeutenden politi­schen Stimmen des deutschen Exils in Lateinamerika ge­hörten Zeitschrift und Bewe­gung “Das An­dere Deutsch­land”. 1938 aus ei­nem gleich­namigen Hilfsko­mi­tee in Bu­enos Aires hervorge­gan­gen, wurde die Zeitung bald das führende Organ einer zu­nächst breiten linken und de­mokratischen Leserschaft. Erst infolge der Kontroversen um den Hitler-Stalin-Pakt schieden die KPD-Anhänger aus und gründe­ten ihre eigene Zeitschrift “Das Volksblatt”. Unter der Schrift­leitung des Gründers und Her­ausgebers August Siemsen ver­einigten sich im “Anderen Deutsch­land” in immer stärke­rem Maße SozialdemokratInnen und VertreterInnen anderer nicht-kommunistischer linker Grup­pen. Aus Lesezirkeln ent­stan­den in mehreren Län­dern La­tein­amerikas kleinere Grup­pie­rungen und Vereini­gungen, die in loser organi­satorischer Ver­bin­dung zur Zentrale in Bue­nos Ai­res standen und im we­sent­lichen nur durch die Zeit­schrift zu­sammengehalten wur­den. Die­se lockere Orga­nisations­form hat­te den Nachteil, daß die Be­we­gung “Das Andere Deutsch­land” in nur einge­schränktem Maße eine regel­mäßige Ver­bands­arbeit lei­sten konnte; sie hat­te den Vor­teil, daß sie nicht von politisch dissi­denten Emi­gran­tInnengrup­pen un­ter­wandert und um­funktioniert werden konn­te. Ihre Schwer­punkte hatte die Bewegung im südlichen La­tein­amerika, also in Argenti­nien, Uru­guay, Chile, Brasi­lien, Para­guay und Boli­vien. Doch gelang dem “Anderen Deutschland” nicht, über einen längeren Zeit­raum eine Mehrheit der politisch den­kenden deut­schen Emigran­tIn­nen zu verei­nen.

Der große Konkurrent der Bewegung “Das Andere Deutschland” war die Bewe­gung “Freies Deutschland”, die mit Blick auf die Namensähnlichkeit nicht mit Stras­sers “Frei-Deutschland-Be­wegung” ver­wech­selt werden darf. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt hatten sich in mehreren lateinamerikanischen Staaten die politischen Emi­grantInnengruppen gespalten, wo­bei die der KPD angehö­renden oder nahestehenden Mit­glieder in der Regel eigene Gruppierun­gen bildeten. Diese Spaltun­gen blieben, auch als mit dem Überfall auf die So­wjetunion ihr äußerer Grund ent­fallen war. Die Gruppierungen wa­ren auf die Sammlung eines möglichst breiten politischen Spektrums angelegt und ver­einigten in sich auch bürgerli­che, christliche, konservative, ja so­gar monarchistische EmigrantIn­nen. Ihre Pro­grammatik und Phraseologie war verschwom­men antifa­schistisch und ließ zahllose Interpretationen zu, je­doch blieben die Schlüssel­positio­nen fest in den Händen von KPD-FunktionärIn­nen. In Mexiko, wo sich 1941/42 eine meist aus dem besetzten Frank­reich geflüchtete relativ starke Gruppe kommunistischer Schrift­stellerInnen und Funktio­närInnen niedergelas­sen hatte und wo sich mit ei­ner kleinen Ausnahme keine anderen deut­schen Exil-Orga­nisationen bil­deten, wurde im November 1941 die Zeit­schrift “Freies Deutsch­land” gegründet. Um dieses poli­tisch-literarische Blatt scharte sich bald eine gleichna­mige Ver­einigung mit Ablegern in ande­ren Ländern. Im Mai 1943, vier Monate nach dem Kongreß des “Anderen Deutschland” in Mon­tevideo, wurde unter Führ­ung der mexikanischen Emi­grant­Innen­organisation das KPD-ge­lenkte “Latein­ameri­ka­ni­sche Komitee Freies Deutsch­land” gegründet, dem in der Folge­zeit kleinere Organisatio­nen beitra­ten. Man hatte Hein­rich Mann für das Amt des Ehren­präsidenten und für den Vor­stand Hubertus Prinzen zu Löwenstein und den konser­vativen böh­misch-österreichi­schen Schrift­steller Karl v. Lu­stig-Prean ge­wonnen, aber die tatsächliche Leitung hatte Lud­wig Renn als amtie­render Präsi­dent, Anna Seg­hers sowie der KPD-Funktio­när Paul Mer­ker als General­sekretär. Der Name des Ko­mitees und andere Indizien ver­weisen auf die Be­wegung “Freies Deutschland” in euro­päischen Exil­ländern sowie auf das gleich­na­mige Natio­nalkomitee in Mos­kau und lassen es als In­strument der damaligen sowjeti­schen Deutsch­land-Poli­tik erschei­nen.

In Kuba, Ecuador und den kleineren mittelamerikani­schen und karibischen Repu­bliken nahm die Bewegung “Freies Deutschland” bald eine dominie­rende Stellung ein, in Brasilien, Argentinien, Bolivien, Uruguay und Chile machte sie dem “Anderen Deutschland” Konkur­renz. In Uruguay und Chile fusionier­ten die beiden Bewe­gungen, in Chile aufgrund staat­lichen Drucks, in Uruguay auf frei­williger Basis. Insgesamt wa­ren die “Freien Deutschen” er­folgreicher in der Ausdehnung ihrer Bewegung, allerdings dür­fen Vereinsattrappen und Brief­kastenorganisationen vor allem in einigen mittelameri­kanischen Staaten nicht über ihre tatsächli­che Stärke hin­wegtäuschen. Die Bewegung verlor an Einfluß, als sie ge­gen Kriegsende kritiklos die sowjetischen Konzeptionen für Nachkriegsdeutschland über­nahm und beispielsweise die Abtretung der deutschen Ostge­biete befürwortete, was bei allen anderen EmigrantInnenorga­nisa­tionen auf heftig­sten Wider­spruch stieß. 1946 lößte sich das lateinamerika­nische Komitee “Freies Deutschland” auf. Neben die­sen überregiona­len po­litischen Bewegungen gab es noch Zusammenschlüsse von Emi­grantInnen, die sich auf ein­zelne Länder oder Städte be­schränkten und sich auch nicht einer der genannten Or­ganisationen zuordnen ließen.
Politische Aktivitäten im Exil
Neben den Aktivitäten in den politischen Organisatio­nen deut­scher EmigrantInnen gab es noch weitere Betäti­gungsfelder, die sich mit den Vereinigungen nicht völlig deckten und in denen auch nicht organisierte Hitler-Geg­nerInnen aktiv werden konn­ten. Dazu gehörte der Kampf gegen die sogenannte Fünfte Kolonne. Das Dritte Reich hatte mit gerin­gem propagan­distischem Auf­wand einen großen Teil der in Lateiname­rika ansässigen Volks- und Auslandsdeutschen gleich­ge­schaltet. Fast überall gab es NS-Organisationen, die das aus­landsdeutsche Vereinsleben so­wie Schulen und Presse be­herrschten und durch Hetz­propaganda und teilweise auch durch Gewaltakte die Emigran­tInnen drangsalierten. Hinzu kam, daß die diploma­tischen und konsularischen Missionen die EmigrantInnen ob­servierten und zu diesem Zweck meistens ortskun­dige auslandsdeutsche Spitzel mo­bilisierten. In einigen Län­dern, so etwa in Argentinien und Bolivien, verfügten sie durch Unterstützung einhei­mischer Nazi-SympathisantInnen in Poli­zei, Militär und Wirtschaft über einigen Ein­fluß. Es lag da­her im ureige­nen Interesse der EmigrantIn­nen, sich gegen diese Bedro­hung zur Wehr zu setzen und die einheimischen Regie­rung durch Sprach- und Sach­kenntnisse und andere Mittel zu unterstützen. Nach Ab­bruch der diplomatischen Beziehungen zwi­schen dem Dritten Reich und den meisten lateinamerikani­schen Staaten wurden die mei­sten NS-Organisatio­nen ver­bo­ten. In einigen Ländern al­ler­dings hatte es nie eine nen­nens­werte Fünfte Kolonne ge­geben.
Ein weiteres Aufgabenge­biet, an dem sich auch nicht­organisierte EmigrantInnen be­teiligten, waren Nach­kriegs­kon­zeptionen für Deutsch­land. Ei­ni­ge der inter­essantesten Über­le­gun­gen stam­men vom früheren li­be­ralen Reichsinnen- und -ju­stiz­minister Erich Koch-We­ser, der im brasi­lianischen Bundes­staat Paraná sein Asyl gefunden hat­te. Die der Be­wegung “Freies Deutschland” nahestehenden Emi­grant­Innen äußerten sich nur sehr allge­mein über Ver­fas­sungs­fragen und wollten ne­ben recht ver­schwommenen For­de­run­gen nach Ausrottung von Na­zis­mus und Antisemitismus die kon­krete Gestaltung Deutsch­lands den Alliierten überlassen. Ver­breitet war eine anti­ka­pi­ta­li­sti­sche Grundstim­mung und die Ab­sicht, mit einer weitgehenden So­zia­li­sierung auch die ge­sell­schaft­lichen Ursa­chen an­tidemo­kra­tischer Ent­wicklung zu besei­ti­gen. Die mei­sten Konzep­tionen hiel­ten am Na­tionalstaat fest, plä­dierten aber für eine Aus­söh­nung der ehemaligen Kriegs­gegner und für einen losen Ver­bund der eu­ropäischen Staa­ten. In den Be­reich der politi­schen Akti­vitäten gehören auch größ­tenteils die kulturellen Lei­stungen der deut­schen Emi­grantInnen, da sie auch dort, wo sie inhaltlich nicht unmit­telbar politische Fragen an­sprachen, indirekt darauf eingin­gen. Das war deutlich in der Presse und in den von ei­nigen Emigrant­Innen­or­ganisationen regelmäßig ge­stal­teten Rund­funksendungen der Fall, vor al­lem aber in den von Or­ga­ni­satio­nen unabhän­gi­gen Zeit­schriften und Ver­lagen. Zu er­wähnen ist hier vor allem die in Santiago de Chile heraus­ge­ge­be­ne, auch in Nord­amerika und Eu­ropa ge­lesene Monatsschrift Deut­sche Blätter, deren hohes Ni­veau und solide Aufmachung von allen po­litischen Richtun­gen res­pek­tiert wurde.
Emigration nach 1945
Mit der Niederlage des Drit­ten Reiches endeten we­der Exil noch Folgeprobleme der Emi­gration, vielmehr tauchten neue Probleme auf. Die Frage nach der Rückkehr ließ sich von Emi­grantInnen in keinem einzigen Falle leicht beantworten. Viele jü­dische EmigrantInnen hatten mit Deutschland gebrochen und somit kein Interesse mehr an ei­ner Rückkehr. Sie hatten in La­tein­amerika Wurzeln ge­schlagen oder aber bemühten sich um eine Wei­terwande­rung nach Palä­stina/Israel oder in die USA. Die Faustre­gel, derzufolge politische EmigrantInnen im allgemeinen zu­rückkehren wollten, die jüdi­schen EmigrantInnen aber nicht, gilt tendenziell auch für Latein­ame­rika, wenngleich hier stark differenziert werden muß. Aus den Jahren 1945-1949 sind etli­che Anfragen an den SPD-Vor­sitzenden Kurt Schumacher er­halten, ob man als Jude inzwi­schen wieder nach Deutsch­land zu­rückkeh­ren dürfe. Und umge­kehrt ent­schlossen sich manche der politischen EmigrantInnen, dort wo ihre Kin­der und teil­weise auch sie selbst heimisch geworden waren, zu bleiben. Hinzu kamen objek­tive Schwie­rigkeiten, zu denen einmal die Reisekosten und zum andern Einreisesperren der Alli­ierten gehörten. Am leichtesten hatten es Kommu­nisten, die – so­fern sie ge­braucht wurden – mit sowjeti­scher Hilfe in die Sowje­tische Besatzungszone zurück­kehren konnten. Andere betraten erst 1948/49 wieder deutschen Boden oder kehrten sogar erst in den 60er Jahren aufgrund be­stimmter politischer Ereig­nisse zurück – so Boris Gol­denberg aus dem in­zwischen kommuni­stisch gewor­denen Kuba. Für viele, die sich zum Bleiben ent­schlossen, war es aber eine un­angenehme ワber­raschung, daß nach 1945 eine gewisse “Emi­gration” ehema­liger NS-Funk­tionäre nach La­teinamerika einsetzte. De­ren Vertreter – wie beispiels­weise Eichmann oder Men­gele – woll­ten unter anderem Namen unter­tauchen und teil­weise aber auch mit Hilfe ein­heimischer Ge­sin­nungs­freunde ih­re un­rühmlichen Ak­tivitäten fortset­zen.
In den Jahren 1946-1949 lö­sten sich aber die meisten der po­li­tischen Organisatio­nen auf. Un­ter­schiedliche Auffassungen über die Zu­kunft Deutschlands und voll­ends der Kalte Krieg ent­zo­gen ihnen die gemeinsame Platt­form. Bemerkenswert ist, daß sich in drei Ländern – Me­xiko, Bra­silien und Bolivien – Nach­fol­georganisationen als so­zi­al­de­mo­kratische Landesver­bän­de konstituierten, nach­dem während der NS-Zeit die SPD als Par­tei oder als parteina­her Ver­band im lateinamerikani­schen Exil über­haupt nicht existiert hatte. Diese Organisa­tionen be­mühten sich einerseits um mate­rielle Hilfe für ihre aus­geblutete frühere Heimat, und veranstal­teten – wenigstens im Falle Bra­siliens – Sammlun­gen. Sie be­kämpften nach wie vor re­aktionäre Strömungen un­ter den Auslandsdeutschen und attackierten teilweise heftig die jun­ge Bundesrepu­blik, weil sie die diplomati­schen und kon­su­la­ri­schen Missionen in Lateiname­rika hauptsächlich mit erzkonser­vativem Personal be­setzte.
Lateinamerika hat die deut­sche Literatur in vielfältiger Weise beeinflußt. Ludwig Renn und Hilde Domin haben in ihren Memoiren ihr mexi­kanisches bzw. dominikani­sches Exil aus­führlich be­schrieben; Anna Seg­hers griff gelegentlich latein­amerikani­sche Motive auf; Egon Erwin Kisch veröffent­lichte noch in Mexiko eine bril­lant geschrie­bene Sammlung mit Episoden aus der mexikanischen Ge­schich­te und Paul Zech gab In­dianermärchen aus dem Chaco heraus, die sich aber nachträglich offensichtlich als seine Erfin­dung herausstell­ten. Manche EmigrantInnen vermittelten auf andere Weise den Deutschen ein differen­ziertes Lateinamerika-Bild, entweder durch Sachbücher über ihr jeweiliges Exilland oder durch Presseberichte. Erwähnt sei hier der langjäh­rige Süd­amerikakorrespon­dent der Frank­furter Rund­schau in Mon­tevideo, Her­mann P. Gebhardt. Aus den Reihen ehemaliger EmigrantIn­nen sind aber auch be­deutende Wis­sen­schaftlerInnen und Ver­tre­terInnen des öffentli­chen Le­bens in ihren Exilländern her­vor­ge­gangen. Der gegensei­tige Kul­tur­trans­fer bildet viel­leicht den er­freulichsten Aspekt des Exils, das mit Verfolgung und Flucht so leidvoll begonnen hatte.

Die schwierige Flucht

Ihre beruf­lichen Qualifikatio­nen stellten sich für die jüdi­schen Flüchtlinge als großes Hin­dernis heraus. Der Auf­bau einer neuen Existenz in vielen Ein­wanderungslän­dern konnte nur unter be­stimmten be­ruflichen Vor­aussetzungen ge­lingen, in man­chen Staaten fanden nur ge­wis­se Berufsgrup­pen Einlaß.
Aber auch die Politik zahl­reicher überseeischer Län­der, die im 19. und begin­nenden 20. Jahr­hundert die Einwanderung in dem Be­streben zu forcieren ver­sucht hatten, ihre gewalti­gen Ge­biete zu erschließen und zu be­völkern, gehörte der Vergangen­heit an. Die besondere Tragik für die Juden lag darin, daß die na­tionalsozialistische Ver­folgung in eine Zeit fiel, in der die Auswanderungs­möglichkeiten we­gen der Weltwirtschafts­krise so ge­ring waren wie niemals zu­vor.
Bizarre Listen, bitterer Ernst
Besonders die USA, die bri­tischen Dominions und Latein­amerika waren durch den Zu­sam­menbruch der Agrar- und Roh­stoff­preise schwer getroffen worden und suchten, jede neue Einwanderung abzu­wehren bzw. nur unter be­stimmten Vorausset­zun­gen zuzulassen. So be­schränk­te sich einem Infor­ma­tions­blatt der jüdischen Aus­wan­de­rungsberatungsstelle in Berlin zufolge das Ange­bot im Sommer 1938 auf nur wenige ausge­fal­le­ne Möglichkeiten: ge­sucht wur­de für Pa­raguay ein perfek­ter, selb­ständiger Bonbon­kocher und für San Salvador ein un­ver­heirateter, jü­discher In­genieur für den Bau elek­trischer Ma­schinen. Die Li­ste, die noch weitere ähnlich bi­zar­re of­fene Stel­len in Afrika und den Bri­tish Dominions nennt, könnte einem Sketch ent­nom­men sein, war aber bitterer Ernst.1
Die Entscheidung für ein Auswande­rungsland hing von vielen Faktoren ab. Zunächst galt es sich eine Art “Auswanderer-Dia­lekt” anzueignen. Begriffe wie “Chamada” (Visum­voraus­set­zung für Brasi­lien), “Leu­munds­zeugnis”, “Unbe­denk­lich­keits­erklärung”, “Bord­geld” und “Ge­sundheits­attest” be­stimmten den Alltag, die Reise in ferne Län­der wurde erwogen, deren La­ge erst mühsam auf dem Glo­bus eruiert werden mußte.
Papiere entscheiden
über Leben und Tod
Die Wahl eines Aus­wan­de­rungs­lan­des und der Besitz der ent­sprechen­den Un­terlagen sollte sich bald als eine Frage von Le­ben und Tod erwei­sen. Nachdem sich ein Staat nach dem anderen der Aufnahme von Juden aus Deutschland ver­schlossen hatte, wurde die Suche nach einem auf­nah­me­be­reiten Einwande­rungs­land zu einer Art “Gesell­schafts­spiel”, wie die Berlinerin Inge Deutsch­kron be­richtet: “Viel­leicht könnte man hierhin oder auch dorthin … Und die Finger wan­derten unru­hig auf der Land­karte hin und her. Oder: ‘Was ist eigent­lich mit Para­guay?’ ‘Hast du schon Neusee­land pro­biert?’ ‘Ich habe gehört, daß der X ein Vi­sum für Panama bekommen hat.’ ‘Zehntausend Mark soll ein Visum nach Vene­zuela ko­sten’…”2
Tatsächlich zahlten manche Unsummen für ein Visum. Im­mer wie­der fielen die verzweifelt nach einer Auswanderungs­mög­lich­keit su­chenden Juden auf zwie­lichtige Geschäftemacher he­rein. Nicht selten stellte sich nach wochen- oder monatelanger Fahrt bei der Ankunft im neuen Land heraus, daß es sich um ge­fälsch­te, un­autorisierte oder be­reits abgelau­fene Visa han­del­te. Oft war es nur durch Über­re­dungs­kunst und durch die Hilfe von jüdischen Organisationen vor Ort möglich, doch noch ein­zu­reisen, aber manche wurden auch zurückge­schickt, wie die Ge­schichte der St. Louis und der Ver­such der Passagiere, in Kuba an Land zu gehen, zeigt (vgl. den folgenden Artikel).
Obwohl die Emigration nach Süd­amerika bereits 1933 einge­setzt hatte, war ihr Anteil an der ge­samten Auswanderung an­fangs eher unbe­deutend. Insbe­son­dere we­gen der Sprachpro­ble­me blieb die Emigration dorthin lange Zeit nur zweite Wahl. Als sich die Lage in Eu­ropa allmählich zuzuspitzen be­gann, wurden ins­besondere Ar­gen­tinien und Bra­silien zu be­gehr­ten Auswande­rungszielen. Im­merhin rangierte Brasilien be­reits 1933 nach den Ver­einigten Staaten und Palä­stina an dritter Stel­le bei den Aufnahmeländern. Eine interes­sante Tatsache, vor al-lem weil zum damaligen Zeit­punkt die eu­ropäischen Länder noch einen erheb­lichen Teil der Emi­grantIn­nen aufnahmen und Süd­amerika eher exotisch und fern­ab er­schien. Deshalb wurden Län­der wie Ecua­dor, das von al­len latein­amerikanischen
Staa­ten die liberalste Einwanderungs­po­li­tik aufzu­weisen hatte, nur als letzte Hoffnung in Erwägung gezo­gen.3 Als nach der Pogromnacht im No­vember 1938 eine Massen­flucht einsetzte, hatten viele Län­der ihre Einwanderungspolitik neu geregelt und re­striktive Maß­nahmen eingeführt. 1937 ver­schärfte Brasilien die Ein­wan­derungsbestim­mungen dra­stisch, zunächst schien es so­gar, daß bereits eingewanderte Flücht­linge wieder ausgewie­sen wer­den sollten. Auch Argenti­nien, das seit 1935 zum Kreis der wichtigen Auswanderungs­länder ge­hörte, schränkte die Einwan­de­rungs­möglichkeiten deut­lich ein. Seit den Regierungsdekre­ten vom 28. Juli und 26. August 1938 hing die Aufnahmeerlaub­nis von der Einladung durch na­he Ver­wandte (Llamada) oder von spezieller beruflicher Quali­fi­kation ab. Danach sank die Zahl der Einwande­rerInnen ste­tig und er­reichte nach Beginn des Zweiten Weltkriegs den Nullpunkt. Auch in Uru­guay und Para­guay ver­schlechterte sich, vor allem durch die deso­late Wirt­schafts­lage, die Situa­tion seit 1937. Hinge­gen trat Kolum­bien 1937/38 mehr in den Vor­der­grund. Eine grö­ßere An­zahl Emi­gran­tInnen aus Deutschland fand in jener Zeit Zu­flucht in den klima­tisch gün­stigeren mittleren und höheren Lagen des Landes.
ワberleben in Avivgdor
Viele dieser EmigrantIn­nen wur­den in der Land­wirtschaft be­schäf­tigt. Daß es gerade hier noch einen Bedarf an Arbeits­kräf­ten gab, nutzten Organsatio­nen wie die 1891 als Auswan­derer- und Fürsor­gegesellschaft gegründet Jewish Colonisa­tion Asso­ciation (ICA) für Gruppen­aus­wanderun­gen. Die ICA ver­fügte über Ackerbauko­lonien in den Verei­nigten Staa­ten, Ka­nada, Argentinien und Bra­silien. So umfaßte etwa das Sied­lungsgebiet der ICA in Ar­gentinien ein Areal von 600.000 Hektar. 1936 hatte sie dort eine erste Grup­pe von 19 jü­dischen Fa­milien aus Deutschland in ih­rer Ko­lonie Avivgdor (Entre Rios) an­gesiedelt. Die Zeit­schrift “Jü­di­sche Wohl­fahrtspflege und So­zial­poli­tik” berich­tete dar­über: “Zum Zweck der An­siedlung er­hält jeder Kolo­nist von der ICA soviel Land zuge­wiesen, daß er bei dessen persön­licher Bear­beitung für sich und seine Fami­lie ein normales Aus­kommen hat und das Land im Verlauf einer Reihe von Jahren abzahlen kann. Es ist je nach Lage der Kolonie zehn bis hun­dert Hektar groß. Für jede Fami­lie wird auf dem ihr zugewie­senen Felde ein Haus aus zwei Zimmern und Küche gebaut. Sie ent­hält ferner die zur Be­wirtschaftung notwendige An­zahl von Pferden, Kühen und Acker­geräten und wird von land­wirt­schaft­lichen Experten wäh­rend der er­sten Zeit ihres Auf­ent­haltes zur Arbeit angesie­delt …
Die­se Kolonie ist im 32. Grad süd­licher Breite gele­gen, ihr Kli­ma ist gesund und für Eu­ropäer gut er­träglich … Jede Siedlung ist umzäunt und besitzt fol­gende An­lagen: 1 Haus, be­stehend aus 2 Zimmern und Kü­che mit not­wendig­ster Einrich­tung (1 Tisch, 4 Stühle, 4 Betten, 1 Schrank, 1 Herd und et­was Ge­schirr), eine of­fene Scheune, einen Hüh­ner­stall, ein Klosett und eine Dusch­vorrichtung. Ein Brun­nen wird im­mer gemeinsam für 2 oder 4 Sied­lungen angelegt. An le­ben­dem In­ventar wird je­der Sied­lungs­familie über­geben: Kü­he, Pferde, Hüh­ner. Eine Zucht­station ist für die Verbesse­rung des Vieh­bestandes vorgese­hen. Das Vieh wird dem Siedler ent­sprechend der Entwick­lung sei­ner Siedlung zuge­teilt. An Ma­schinen und Geräten erhält jede Sied­lungsfamilie 1 Wagen, 1 Pflug, 1 Egge, Milcheimer, Schau­feln, Hacke usw.”4 Die An­siedlung jü­discher Familien auf den ICA-Ko­lonien in Ar­gen­ti­nien blieb – neben der nach Pa­lästina – die wichtigste Form der Grup­pen­aus­wan­derung.
Ähnliche Organisationen wur­den in Brasilien tätig: Sie leiste­ten Bürgschaften, die ga­rantieren sollten, daß die Einwande­rerInnen nicht der Für­sorge zur Last fielen, und zahlten die gefor­derte Landungsgarantie­summe, in Höhe von rund 700 RM pro Per­son. Nach Uruguay konn­ten auf diese Weise mit ei­ner Ausnahmegeneh­migung des Prä­siden­ten 50 Bauernfamilien und einige land­wirtschaftliche Ar­beiter einwandern. Auch Chile nahm durch die Interven­tion ei­ner amerikanischen Hilfsorgani­sation 50 Fami­lien auf, Bedin­gung war, daß sie mit 4.000 RM aus­gestattet wurden.
Die schwierige Integration
Die südamerikanischen Län­der wurden seit 1936, besonders duch die indivi­duelle Immigra­tion, neben den USA und Palä­stina zu den bevorzugten Flucht­zie­len. Die schwierigen Le­bens­be­dingungen, das Klima und die Be­schäfti­gungssituation veran­laßten jedoch viele, später, als sich die Möglichkeiten boten, in die USA weiterzuwandern. Die kli­matischen Bedingun­gen waren zwar in Palästina ähnlich schlecht, aber dort versetzte der Wille, einen jüdischen Staat auf­zubauen, Berge. Die Arbeitssu­che war über­all, auch in den USA, kompliziert, aber in Süd­amerika war die Kluft zwischen den Einheimi­schen und den Zuwande­rerInnen besonders schwer zu überbrücken.
Die Emi­grantInnen wurden von der ansässi­gen Bevölkerung als Gringos – Weiße – angese­hen, die eigent­lich der Oberklasse an­gehören müßten. Sie verrichteten aber niedere Arbeiten, wa­ren in der Landwirtschaft tätig, eine Tatsache, die nicht in das Erscheinungs­bild passen wollte. Kon­flikte konnten nicht aus­blei­ben, eine Integration war kaum möglich, weder in die Gruppe der Indí­genas und Me­stizInnen noch in jene der “Wei­ßen”. Hin­zu kamen antise­mitische Vor­ur­tei­le, die von den dort lebenden Deutschen, ins­besondere dem Bot­schafts­per­sonal und ande­ren of­fiziellen VertreterIn­nen der NS-Re­gierung, geschürt wurden. So zeigt gerade Südamerika deut­lich, daß die Emigration, die Rettung vor der Verfol­gung, nicht gleichbedeu­tend war mit einer sicheren Existenz und ge­re­gel­ten Lebensumständen. Für die mei­sten be­deutete die Aus­wan­de­rung einen völligen Neu­an­fang, einen gänzlich verän­derten Kulturkreis und zumeist einen ge­sell­schaftlichen Abstieg mit all sei­nen Konsequenzen, insbeson­de­re dem Verlust eines per­sön­li­chen Umfelds, das dem eigenen so­zialen Niveau ent­sprach.

1 Walter Laqueur, Heimkehr. Reisen in die Vergangenheit, Berlin 1964, S. 53.
2 Inge Deutschkron, Ich trug den gelben Stern, Köln 1978, S. 46.
3 Marie-Luise Kreuter, Wo liegt Ecuador? Exil in einem unbekannten Land 1933-1945, Diss. Ms. Berlin 1995, S. IX
4 Jüdische Wohlfahrtspflege und So­zialpolitik, April 1936, S. 138f, Die Bedingungen der ICA-Kolonisation in Argenti­nien.

Hoffen auf ein Wunder

In fetten Lettern wettert die oppositionelle Tageszeitung “La República” gegen Präsident Fu­jimori. Einsam hängen die politi­schen Schlagzeilen zwischen Busen- und Revolverblättern in der abendlichen Kälte am Zei­tungsstand auf der Plaza de Ar­mas in der südostperuanischen Provinzstadt Puno. Alle anderen Tageszeitungen sind ausverkauft. “Haben Sie keine andere Zei­tung?”. Die Kundin ist verärgert. “Die da ist gegen den chino, die will ich nicht.”
Fujimori scheint sich auf seine Wählerschaft verlassen zu können. Rund 40 Prozent der Wahlberechtigten sollen, so die Umfragen, sichere Fujimori-Wähler sein. Die noch nicht ganz Entschlossenen mit Fujimori-Tendenz eingerechnet, werden dem Präsidenten zwischen 45 und 53 Prozent vorausgesagt. Sein schärfster Rivale, Ex-UNO-Generalsekretär Pérez de Cuél­lar, bringt es gerade einmal auf 20 bis 22 Prozent.
Der Wahlkampf dümpelt vor sich hin. “El Perú no puede pa­rar”, Peru kann nicht anhalten, verkündet das lächelnde Gesicht des Präsidenten von den Wahl­plakaten. “Weiter so” auf pe­runaisch. Und damit trifft er wohl die Hoffnung der Mehrheit der Bevölkerung. In den zwei­einhalb Jahren seit der Verhaf­tung von Sendero Luminoso-Chef Abimaél Guzmán hat man sich daran gewöhnt, wieder ohne die ständige Bedrohung durch Bombenanschläge zu leben. Auch die Zeit des wirtschaftli­chen Chaos mit der Hyperinfla­tion unter Präsident Alan García ist schon fünf Jahre her. Diese Erfolge kann sich Fujimori gutschreiben. Er ist für seine Anhänger der Garant dafür, daß die dunkle Vergangenheit nicht wiederkommt, und er vermittelt anhand von Symbolen den Ein­druck, daß es aufwärts geht.
Nicht zufällig verbindet Fuji­mori seine Wahlkampfauftritte vorzugsweise mit der Einwei­hung neuer Schulen. Er weiß, daß Bildung für die Kinder be­sonders auf der Prioritätenliste von armen Eltern ganz oben steht. Auch wenn sich an der Armut für viele nichts geändert hat, macht sich an solchen Sym­bolen die Hoffnung fest, daß es langsam, Schritt für Schritt, wie­der besser werden kann.
Pérez de Cuéllar – wer steht hinter ihm?
Die Opposition hat unterdes­sen alle Mühe, starke Argumente gegen den Präsidenten zu finden. Javier Pérez de Cuéllar verfügt zwar über ein hohes Prestige durch seine Vergangenheit als UNO-Generalsekretär, aber den 74-jährigen zum Präsidenten zum wählen, ist für viele doch noch eine andere Frage.
Auch Pérez de Cuéllar tritt als Unabhängiger an, eine unver­zichtbare Voraussetzung, um in der peruanischen Politik in die­sen Jahren Erfolg zu haben. Die traditionellen politischen Par­teien, “die Politiker” überhaupt, sind in der öffentlichen Meinung gründlich diskreditiert. So liegen in den Umfragen denn auch alle Parteien, die früher die peruani­sche Politik bestimmt haben, deutlich unter fünf Prozent: sowohl die bürgerliche Acción Popular von Ex-Präsident Fern­ando Bellaúnde Terry, der von 1980 bis 1985 regierte, als auch die APRA von Alana García, der von 1985 bis 1990 an der Spitze des Staates stand. Nicht besser ergeht es Izquierda Unida, der “Vereinigten Linken”, die in den 80er Jahren den Kern der Oppo­sition darstellte.
Wenn Pérez de Cuéllar auch als Unabhängiger nur wenig Lei­denschaft entfachen kann, liegt das nur zum Teil an seinem di­stanzierten persönlichen Stil. Die “Union für Peru” (UPP), die zur Unterstützung seiner Kandidatur gegründet wurde, vermittelt den Eindruck, außer der Ablehnung von Fujimori und der Unterstüt­zung von Pérez de Cuéllar keine eindeutige politische Linie zu haben. In der UPP haben sich aus allen politischen Richtungen diejenigen zusammengefunden, die nach dem Motto “Wenn überhaupt einer eine Chance ge­gen Fujimori hat, dann Pérez de Cuéllar” auf das richtige Pferd setzen wollen. Viele Politiker sind dabei, die früher in anderen Parteien waren und deren Unter­stützung für den Kandidaten eher kontraproduktiv ist. Das Mißtrauen ist groß, über Pérez de Cuéllar könnten doch wieder die alten Politiker an die Macht kommen, von denen sich Fuji­mori so erfolgreich abgrenzt.
Die Oppostition auf der Suche nach Themen
Die Argumente, mit denen Pérez de Cuéllar verusucht, ge­gen Fujimori Wahlkampf zu be­treiben, finden in der Öffentlich­keit nur ein begrenztes Echo. Zum einen fordert er “soziale Marktwirtschaft” für Peru. Zwei­fellos ist die Massenarmut das größte soziale Problem des Lan­des, aber die Aussagen Pérez de Cuéllars dazu bleiben vage. Slogans wie “Arbeit für alle” sind nicht glaubwürdig in einem Land, in dem es für viele Men­schen zur Alltagserfahrung ge­hört, vor Wahlen immer wieder die gleichen Versprechen zu hö­ren, um dann in den folgenden Jahren doch wieder ganz auf sich selbst angewiesen zu sein.
Pérez de Cuéllar muß eine Gratwanderung betreiben. Zum einen muß er Fujimori als Präsi­dent der Massenarmut angreifen, zum anderen darf er aber keinen Zweifel daran lassen, daß er die Stabilitätspolitik Fujimoris im wesentlichen weiterführen will. Die Angst vor einer neuen Phase von Instabilität und Inflation scheint größer als die Hoffnung, durch Sozialprogramme im großen Stil könnten sich die Le­bensbedingungen tatsächlich dauerhaft verbessern.
Der Ecuador-Konflikt: als Wahlkampfthema ein Flop
Der Grenzkrieg mit Ecuador schien zu einem Wahlkampf­schlager für Pérez de Cuéllar zu werden. Nachdem Fujimori eher unfreiwillig in diesen Konflikt hineingeschlittert war (vgl. LN 249), beging er alle nur denkba­ren Fehler. Zum Treffen der Prä­sidenten der Andenländer in Ve­nezuela kurz nach Ausbruch des Konfliktes reiste er gar nicht erst an und überließ dem ecuadoria­nischen Präsidenten Durán Bal­lén das propagandistische Feld.
Kurz darauf brüskierte er Chile – immerhin einer der Ga­rantenstaaten des Protokolls von Rio – mit der Bemerkung, Peru sei militärisch deshalb so außer­ordentlich stark, weil in den 60er Jahren, im Blick auf einen mög­lichen Krieg gegen Chile aufge­rüstet worden sei. Die Aussage war vielleicht sachlich nicht falsch, das öffentliche Echo aber war verheerend. In Chile wurde besorgt kommentiert, man müsse sich vor dem Nachbarn im Nor­den wohl in Acht nehmen. In Ecuador konnte Durán Ballén triumphierend darauf verweisen, Peru sei eben immer schon ein kriegslüsterndes Volk gewesen. In der oppositionellen Presse wurde darüber hinaus ausführ­lich diskutiert, wellche takti­schen und strategischen Fehler auf der militärischen Ebene ge­macht wurden. Der Grenzkrieg ist für Ecuador zu einem diplo­matischen und militärischen Er­folg geworden und nicht nur das: Durch geschicke Pressearbeit steht Peru international als der Aggressor da, Ecuador dagegen als Opfer.
Das Wochenmagazin Caretas, das im Wahlkampf vehement Partei für Pérez de Cuéllar er­greift, ließ es sich nicht nehmen, den Oppositionskandidaten aus­führlich zu Wort kommen zu las­sen. “Ich hätte einfach ein Flug­zeug genommen und die vier Präsidenten der Garantenstaaten besucht, um die Verletzung des Protokolls (von Rio de Janeiro) anzuzeigen”, so Pérez de Cuél­lar. Die Botschaft war deutlich: Der Staatsmann Pérez de Cuéllar mit dem ganzen Gewicht seiner inernationalen Erfahrung hätte den Konflikt diplomatisch bei­gelegt, Fujimori dagegen war dazu nicht fähig. Aber der Ver­such, aus den peinlichen Fehlern der Regierung Fujimori Kapital für Pérez de Cuéllar zu schlagen, ist bis jetzt ins Leere gelaufen. BeobachterInnen in Lima bestä­tigen, daß der Verdruß über den Verlauf des Konfliktes zwar weit verbreitet ist, das Thema für die Entscheidung bei der Präsident­schaftswahl aber keine wesentli­che Rolle spielt.
Nur Realos haben eine Chance
Der Wahlkampf dreht sich weiterhin um die Frage, ob für die Stabilität des Landes kein Weg an Fujimori vorbei führt, oder ob Pérez de Cuéllar doch in der Lage sein könnte, mit seinem bunt gemischten Team eine gangbare Alternative für die nächsten fünf Jahre zu bieten. Auch für viele, die keine begei­sterten Anhänger Fujimoris sind, ist die viabilidad der nächsten Regierung, die reale Chance, fünf Jahre lang Politik zu betrei­ben, ohne sich mit internen Streitereien zu blockieren, ein starkes Argument für den amtie­renden Präsidenten. Und so wird Fujimori wohl auch einige Stimmen von denen bekommen, die sich für ihn als kleineres Übel gegenüber den Risiken ei­ner Regentschaft Pérez de Cuél­lars entscheiden.
Fujimori hat die Wahl fast, aber noch nicht ganz gewonnen. Sollte er es nicht mit der abso­luten Mehrheit im ersten Wahl­gang schaffen, kommt es auf die Drei-Prozent-Gruppierungen an – je nachdem, wen der beiden Kandidaten sie bei einer Stich­wahl empfehlen. Allerdings kön­nen auch sie nicht mehr, als eine Empfehlung abgeben. Durch die wie im französischen Wahlrecht vorgesehene Stichwahl zwischen den beiden stärksten Kandidaten reicht es nicht, durch Koalitions­politik eine Mehrheit zu kon­struieren. Das Wahlvolk kann noch einmal zwischen zwei Per­sönlichkeiten entscheiden. Die Umfragen allerdings sagen Fu­jimori auch für diesen Fall einen großen Vorsprung voraus.
Keine Mehrheit für Fujimori im Kongreß
Koalitionspolitik wird Fuji­mori dagegen im Kongreß nötig haben. Seine Liste Cambio 90 – Nueva Mayoría (Wechsel 90 – Neue Mehrheit) wird aller Vor­aussicht nach keine Mehrheit be­kommen. Die Stimmen, die Fu­jimori durch sein persönliches Prestige als Präsident erhält, übersetzen sich nicht automa­tisch in Stimmen für seine Liste.
Als sicherer Koalitionspartner gilt Renovación, die Liste des Opus-Dei-Mitgliedes Rafael Rey. Er tritt gar nicht erst als Präsidentschaftskandidat an, sondern macht Wahlkampf für den Kongreß mit dem Slogan “Garantie für einen konstrukti­ven Kongreß”. Reichte es zu­sammen mit Renovación nicht für eine Mehrheit, müßte Fuji­mori noch einige Zeit in Ver­handlungen investieren. Nach­dem er die 1993 verabschiedete neue Verfassung ganz auf sich als Präsidenten zugeschnitten hat, ist er nur begrenzt auf den Kongreß angewiesen. Doch er wird es sich in den nächsten Jah­ren kaum leisten können, noch einmal, wie bereits 1992, den Kongreß aufzulösen, wenn ihm dessen Entscheidungen nicht passen.
Was Meinungsumfragen wert sind
Ab 25. März dürfen bis zu den Wahlen am 9. April keine Mei­nungsumfragen mehr veröffent­licht werden. Ob man diese Re­gelung für sinnvoll hält oder nicht, sie erspart Peru hoffentlich bis zur Wahl eine Reihe von ab­surden Diskussionen. Die Um­fragen haben in der Vergangen­heit oft kraß geirrt – in diesem Punkt hat die Oppositon recht. Der völlig überraschende Wahl­sieg Fujimoris gegen Maro Var­gas Llosa vor fünf Jahren ist nur ein Beispiel dafür.
Allerdings trägt der Verweis auf Meinungsumfragen auch mitunter satirische Qualitäten. Beispielsweise verbreitet die Opposition erst wochenlag mit großem Aufwand, Meinungsum­fragen seien überhaupt nichts wert, um sich dann als Zeichen einer Trendwende auf eine leichte Zunahme der Werte für Pérez de Cuéllar zu berufen, wie am 24. März druch UPP-Vize­präsidentschaftskandidat Guido Pennano. Es ist bezeichnend für einen Mangel an wirklichen Themen im Wahlkampf, daß Diskussionen dieser Qualität breiten Raum einnehmen kön­nen.

Kasten:

Wieder Sendero-
Führungskader verhaftet
Präsident Fujimori hat am 23. März in Pucallpa, der Haupt­stadt des Departements Uca­yali im östlichen Tiefland, die Verhaftung von 20 mut­maßlichen SenderistInnen bekanntgegeben. Unter den in Huancayo, Callao und Lima Verhafteten befindet sich, so der Präsident, Margie Clavo Peralta alias “Comandante Nancy”, die als Nummer zwei des “Sendero Rojo” gilt.
Sendero Rojo spaltete sich von Sendero Luminoso ab, nachdem Sendero-Chef Abimaél Guzmán im Oktober 1993 in seinen berühmten Briefen aus dem Gefängnis an Fujimori die vorläufige Einstellung der bewaffneten Aktionen angeboten hatte. Die Splittergruppe ist der letzte Teil Sendero Lumino­sos, der die bewaffnete Gue­rillatätigkeit weiterführt, al­lerdings weit entfernt von der militärischen Stärke, über die Sendero Luminoso noch An­fang 1992 verfügte.
Margie Clavo Peralta gehört zur Gründungsgeneration von Sendero Luminoso, die am 19. April 1980 den “bewaffneten Volkskrieg” ausrief, und hatte verschie­dene Positionen inne. Sie er­scheint unter anderem auf dem 1991 beschlagnahmten Video von einer Fiesta der Sendero-Spitze in einer Villa im gutbürgerlichen Viertel Chacarilla del Estanque in Lima.

Hunger als Waffe

Der Presse und interna­tio­nalen BeobachterInnen, die nur unter gro゚en Schwie­rigkeiten die zahlreichen Militär­sperren pas­sieren können, bieten sich Schrec­kensbilder in den ins­gesamt 152 von der Armee be­setzten Ortschaften. Nur in An­sätzen können wir erfassen, was sich dort abgespielt hat und weiter abspielt. Der Großteil der etwa 26.000 Flüchtlinge hält sich weiter­hin in den Bergen vor der Armee versteckt, ohne Nah­rungsmittel und ausreichend Klei­dung.
Er­schöpft von der ta­gelangen Flucht, geschwächt durch Unter­ernährung und krank vom Trin­ken verschmutzten Wassers ste­hen sie vor dem Hungertod. Be­sonders die Ver­fassung alter Menschen – viele müssen von ih­ren Familienange­hörigen getra­gen werden – und von Säug­lingen ist dramatisch. Da auf­grund der Entbehrungen unzäh­lige Mütter ihre Kin­der nicht mehr stillen kön­nen, sind viele Babies ver­hungert oder er­froren. Trotzdem ziehen viele Men­schen dieses Schicksal einer Rückkehr in die von der Armee besetzten Orte vor – Ausdruck der bitteren Er­fahrungen, die sie mit den Soldaten gemacht haben.
Die von den Regierungstrup­pen in der Offensive vom Januar 1994 durchgeführten Massener­schießungen, Fol­terungen und Vergewalti­gungen sind noch in leidvoller Erinnerung. Zu­dem sind die Nachrichten über das brutale Vorgehen der Besat­zungstruppen mittlerweile auch bis in die letzten Winkel der Selva La­candona vorgedrungen.
Rückkehr in völlig zerstörte Heimatorte
Internationale BeobachterIn­nen haben in den letzten Wochen ins­gesamt 70 Fahrten in die Selva Lacandona gemacht. Überall bot sich ihnen das glei­che Szenario: verlassene und völlig zerstörte Dörfer. Inzwi­schen sind die ersten Bewohne­rInnen wieder in ihre Heimat­orte, beziehungsweise was davon übrig geblieben ist, zurück­gekehrt. Oft sind es nur die Männer, da die Frauen und die Kinder eine eventuell noch ein­mal notwendige Flucht nicht mehr durchste­hen würden.
Einer der wenigen Orte, in den die BewohnerInnen fast ge­schlossen zurückgekehrt sind, ist Prado Pacayal im Verwaltungs­bezirk Ocosingo. Bei der Ar­meeoffensive vom 9. Februar waren die meisten BewohnerIn­nen in die Berge geflüchtet. Mehrere Frauen, die in der Ge­meinde zurück­geblieben waren, sind von Regierungssoldaten verge­waltigt worden. Alle Häu­ser wurden geplündert, zwei brannnten völlig ab. Den Men­schen in Prado Pacayal und an­deren Orten der be­setzten Zone wurde alles Lebenswichtige ge­raubt oder zerstört. Erntereife Felder wurden abgebrannt oder mit MG-Salven niedergemäht. Die neue Saat – im Februar wer­den Mais und Bohn ge­säet – wurde gestohlen oder vergiftet.
Die Viehbestände sind unter dem Schutz der Armee von Groß­grundbesitzerInnen wegge­schafft worden. Allein Prado Pa­cayal hat so 600 Kühe und 200 Pferde verlo­ren. Hühner wurden abge­schlachtet und einfach lie­gengelassen. Systematisch wur­den alle Kleidungsstücke und Schuhe aus den Häusern geholt, aufgeschichtet und angezündet. Persönlich wertvolle Dinge wie Fotos sind verschwunden, Mais­mühlen oder Küchengeräte nicht mehr auffindbar. Selbst die Kli­nik wurde völlig ver­wüstet. Der Stromgenerator hat nur noch Schrottwert, die Wasserleitungen sind zer­hackt und der Trink­wasser­brunnen vergiftet, Fahr­zeuge zertrümmert oder ein­fach gestohlen.
Die Zerstörung in Prado Pa­cayal ist kein Einzelfall. In vielen Ortschaften stehen die BewohnerInnen vor dem Nichts. Vor dem Einmarsch der mexika­nischen Armee hatten sie kaum etwas, jetzt können sie ohne Hilfe von außen nicht mehr überleben.
Armee hat die Kontrolle über­nommen
Das, was wir Internationalen hier erle­ben, sehen, hören, ist nur ein kleiner Ausschnitt, und den­noch fällt es mir schwer, es zu beschreiben. Die Besatzungs­truppen sind all­gegenwärtig. Permanente Patroullien, jeder Schritt wird überwacht, Häuser werden von der Armee ge­filmt und numeriert.
Wenn die Männer die Fel­der bestellen wollen, werden sie durch zahlreiche Kontrollen schikaniert. Viele von ihnen ver­lassen ihre Häuser erst gar nicht, um bei ihren Frauen zu bleiben, die begründete Angst vor Ver­gewaltigung haben.
In vielen Orten müssen Be­wohnerInnen Zwangs­arbeit ver­richten: Die Frauen müssen für die Sol­daten kochen und die Uni­formen waschen, die Männer werden zum Straßenbau heran­gezogen. Denn die Armee schlägt mit Bulldo­zern große Schneisen in die Selva, um ihren Panzern und Artilleriefahrzeugen das Vorrücken zu ermöglichen. In der offiziellen Version heißt das “humanitäre Hilfe der Ar­mee”.
Präsident Zedillo brachte den menschenverachtenden Zynis­mus seiner Politik auf den Punkt: “Der Rechtsstaat ist wieder her­gestellt.” Die mexikanische Ar­mee hat in vielen Orten Bordelle einge­richtet – Rechtsstaat? Frauen werden permanent von den Be­satzungstruppen belästigt und bedroht. Müttern wird Geld für den “Verkauf” ih­rer Töchter ge­boten.
In den Municipios Ocosingo, Altamirano und Las Margaritas werden von der Armee nach guatemalte­kischem Vorbild re­gierungstreue Campesinos ange­siedelt und in sogenannten Pa­trullas de Autodefensa Civil (PAC) organisiert. Diese be­waffneten Gruppen über­nehmen die Kontrolle und Einschüchte­rung der Bevöl­kerung. Opposi­tionelle wer­den unterdrückt, be­droht, überfallen, vertrieben und teilweise, wie am 15. März in Salto de Agua, umgebracht. Dort hatten Mitglieder der PRI mit Waffen Angehörige der PRD an­gegriffen, Er­gebnis: 6 Tote.
Großgrundbesitzer fordern Revanche
Aber der Krieg findet nicht nur in der sogenannten “Kon­fliktzone” statt. Mit den Verbre­chen der Regie­rungs­truppen in der Selva haben diejenigen Auf­wind bekommen, denen nicht an einer friedlichen Lösung ge­legen ist. Kaum ein Tag vergeht, an dem die ver­schiedenen Vereini­gungen der Großgrundbesitzer nicht zur großen Revanche aufru­fen. Sie fordern die Wieder­herstellung der Zustände vor dem 1. Januar 1994 – angeb­lich einer Zeit des Friedens. Auf ih­ren sonntägli­chen Demonstratio­nen rufen sie offen zum Mord an Bischof Sa­muel Ruíz auf und fordern auf Transparenten: Massen­ver­ge­wal­tigung von Ma­risa Kraxsky. Ma­risa Kraxsky ist die Koordinato­rin der Frie­dens­grup­pe in San Cristóbal.
Unverhohlen drohen die Ga­naderos mit ihren To­des­schwadronen, den Guardias Blancas, um die Räumung der etwa sieben­hundert Fincas au­ßerhalb der Selva zu erreichen. Zu­sammen mit der Polizei wer­den Fincas geräumt, die Campesinos verschleppt, ge­foltert und inhaftiert. Be­sonders in der Region Fraylesca hat sich die Lage zugespitzt. In der Nähe der Ortschaften Liquidánbar und Prusia hält die Unión Campesina Popular Francisco Villa mehrere Fincas der deutschen Kaffeemil­lionäre Marianne Schimpf, Lau­rence Hudler und Felke von Knoop be­setzt. Starke Militär- und Polizeieinheiten ließen nicht auf sich warten.
Das in Chiapas vorherr­schende Thema ist natürlich der erwartete Beginn direk­ter Frie­densgespräche zwischen Regie­rung und EZLN. Dabei sind die ver­änderten militärischen Bedin­gungen von besonderer Bedeu­tung. Die EZLN hat die Auf­nahme des Dialogs von einem Rückzug der Re­gierungstruppen auf die Positionen vom 8. Fe­bruar abhängig gemacht. Aus Militärkreisen wurde be­kannt, daß die Armee einen Rückzug überhaupt nicht nötig habe und jederzeit je­den Ort in der Selva erreichen könne.
Armeeoffensive verhindert Frie­densgespräche
Die EZLN er­widerte darauf, daß die militäri­sche Strukur der Guerilla intakt sei. Offensive Maßnahmen wur­den nur deshalb nicht durchge­führt, um die Zivil­bevölkerung nicht noch weite­rem Terror durch die mexikani­sche Ar­mee auszusetzen. Ober­stes Ziel sei der Frieden. Jedoch würde ein weiteres Vorrüc­ken der Regie­rungstruppen sofortige Gegenre­aktionen der EZLN herausfor­dern. Ein weiterer Rückzug der EZLN sei ebenso­wenig denkbar wie eine Kapitu­lation.
“Wenn wir uns weiter zu­rückziehen” so Subcomandante Marcos am 11. März, “werden wir an ein Schild mit der Auf­schrift “Willkommen an der Grenze Ecuador/Peru” kommen. Nicht, daß uns eine Reise nach Südamerika mißfallen würde, aber zwischen drei Feuern zu stehen, scheint wenig ange­nehm.”
Am 14. März wurde von Prä­sident Ernesto Zedillo der Rück­zug der Truppen aus den besetz­ten Orten und die Auflösung der Straßen­sperren angeordnet. Be­folgt wird dieser Befehl jedoch kaum. Die internationalen Beob­achterInnen können bezeugen, daß sich die Truppen, wenn überhaupt, nur auf Sichtweite zurückge­zogen haben. Patrouil­len werden nach wie vor durch­geführt. Auch gehen die Fahn­dungen, Verhöre und Ein­schüchterungen durch Militär und Polizei weiter, obwohl ein Erlaß der Regie­rung jede Verfol­gung vermeintlicher Zapatistas für die Dauer eines Monats aus­setzt. Die Staatsanwalt­schaft ar­beitet weiter daran, inhaftierten Menschen eine Mitgliedschaft in der EZLN vorzuwerfen. Selbst die staatliche Menschenrechts­organisation Comisión Nacional de Derechos Humanos (CNDH) mußte einräumen, daß die Ge­fan­genen unter Folter zum Un­terschreiben vorgefer­tigter “Ge­ständnisse” gezwungen wur­den. Jeden­falls werden der Öf­fent­lich­keit mehrere inhaf­tierte Sub­comandantes präsen­tiert. Das kom­mentiert der Sub­comandante Marcos, der einzige Subcoman­dante der EZLN, so:

“Ich las, daß es eine Sub­comandante Elisa, einen Subco­mandante Daniel, einen Subco­mandante Genaro und einen Subcomandante Eduardo gibt. Daher habe ich folgen­den Be­schluß gefaßt: Wenn die PGR (Generalstaatsanwaltschaft) noch mehr Subcomandantes hervor­bringt, werde ich in den Hunger­streik treten.”
So heiter die in den letzten Wochen vom Sub geschrie­benen, mit Gedichten von Pablo Ne­ruda, Federico Garcia Llorca, Shakespeare und anderen ge­würzten Briefe auch erscheinen, die Lage ist verdammt ernst.
Frank Kreuzer

Dringend werden Spenden für den Kauf von Werkzeugen, Me­dikamenten, Kleidung und Nah­rungsmitteln benötigt. Weiterhin ist von vielen Comunidades die Präsenz von internationalen Be­obachterInnen erbeten worden, um Übergriffe des Militärs auf die Zivilbevölkerung zu verhin­dern.
Insgesamt sind bisher neun­zehn

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