DIE STIMMEN HINTER DEN BILDERN

© Thais Nepomuceno

Matias Mariani (Brasilien, Regisseur Cidade Pássaro) über…

… den Grund, einen Film über die Igbo-Community (Exil-Nigerianer*innen) in São Paulo zu machen:
„Ich habe selbst längere Zeit als Migrant in New York gelebt. Und ich erinnere mich an das Gefühl der Einsamkeit, aber auch des Glücks und der Individualität. Also haben wir Communities von neu nach São Paulo gezogenen Menschen gesucht. Wir haben festgestellt, dass es eine starke Migration aus afrikanischen Ländern nach São Paulo gab. Aber statt eine große Untersuchung zu machen, hatten wir die Idee, Portugiesischstunden zu geben. So kamen wir schnell mit der Igbo-Community in Kontakt und nach 6 Monaten sind wir dann nach Nigeria gefahren, um weitere Nachforschungen anzustellen.

… den Unterschied zwischen den multikulturellen Städten Berlin und São Paulo:
„Berlin und New York verstehen sich denke ich als migrantische Städte. Das ist dort Teil der Identität. In São Paulo findet das eher als Verklärung der Vergangenheit statt. „Damals, als die Japaner oder die Italiener kamen“, heißt es, als ob die Migration irgendwann aufgehört und plötzlich alle nur noch Paulistas (Einwohner*innen von São Paulo, Anm. d. Ü.) seien. Das wird also unter den Teppich gekehrt, dabei ist São Paulo schon immer ein großer Katalysator für Migration und Binnenmigration, zum Beispiel aus dem Nordosten.“

… die Perspektiven für brasilianische Filmemacher*innen unter Bolsonaro:
„Im Moment gibt es überhaupt keine zentralstaatliche Förderung mehr. Natürlich können wir noch weiter auf internationale und regionale Fonds zurückgreifen, zum Beispiel aus São Paulo und Pernambuco. Brasilien ist mit 19 Filmen bei der Berlinale vertreten, viele davon sind aber schon 2015 oder 2016 finanziert worden, also vor langer Zeit. Dieses Loch, das das Einfrieren der Mittel durch Bolsonaro geschaffen hat, werden wir in den nächsten beiden Jahren schon spüren. Die Zahl der Filme, die auf der Berlinale gezeigt werden können, wird drastisch sinken.

 

© Thais Nepomuceno

Natalia Meta (Bild oben, Argentinien, Regisseurin) und Érica Rivas (unten, Argentinien, Hauptdarstellerin), beide El prófugo, über…

… die Gratwanderung des Films zwischen Traum und Wirklichkeit:

Natalia Meta: „Wir fragen uns im Leben ständig, was real und was nur eingebildet ist. Das hat mit Identität zu tun und mit dem Versuch des Individuums, logische Prinzipien, Rationalität aufzubauen. Ich habe Philosophie studiert und mich schon da mit dem Prinzip der Identität bei Aristoteles beschäftigt. Das Kino liebe ich deshalb so sehr, weil man hier nicht zwischen Realität und Fiktion oder Vorstellung unterscheiden muss. Im wirklichen Leben müssen wir natürlich rational handeln, aber im Film muss ich das nicht. Da kann ich diese Widersprüche auch mal stehen lassen. In El prófugo geht es aber nicht um eine psychologische Perspektive. Das war überhaupt nicht meine Idee.“

Érica Rivas: „Für mich war es auch schwierig herauszufinden, was mit meiner Figur Inés passiert, deren Stimme plötzlich nicht mehr so funktioniert, wie sie will. Das lässt sich nur schwer erklären. Wir hatten auch ganz unterschiedliche Interpretationen. Man kann interpretieren, dass sie verrückt ist, dass sie unter einem traumatischen Erlebnis leidet. Oder, dass es in dem Film um Traum und Realität geht. Die Parameter der Realität – wie definieren wir Realität? Was aber in allen Interpretationen enthalten ist – das sagt auch Natalia – ist, dass Inés eine Frau ist, deren Antrieb ihre Wünsche sind.“

… Feminismus in El prófugo und in Film und Gesellschaft Lateinamerikas
Natalia Meta: „In El prófugo geht es viel um die Autonomie von Frauen. Die Freiheit des Denkens hat bei der Hauptfigur Inés auch viel damit zu tun, dass sie auch mal nicht antworten muss. Zum Beispiel, wenn ihr Freund unbedingt wissen will, was in ihren Träumen passiert. Es geht also nicht nur um eine Autonomie des Körpers, die natürlich sehr wichtig ist, sondern auch um die der Gedanken.“

Érica Rivas: „Ich sehe mich als feministische Aktivistin und der Ort, an dem ich dafür kämpfe, ist meine Arbeit. Beim Betrachten von Filmen brauchen wir einen neuen Blick, eine andere Art von Narrativen, von Protagonistinnen. Wenn wir als Frauen unsere Rechte fordern, zum Beispiel legale, sichere und kostenlose Abtreibungen, dann reden wir nicht über Zahlen und prozentuale Anteile, die mehr werden müssen. Wir sprechen über einen Paradigmenwechsel. Das ist kein Krieg der Geschlechter, wir können schließlich auch nicht nur an zwei Geschlechter denken. Diese neue Welle des Feminismus kämpft auch für andere, sie ist antikolonial, antipatriachal, antikapitalistisch.“

© Thais Nepomuceno

 

© Thais Nepomuceno

Camilo Restrepo (Kolumbien, Regisseur, Los Conductos), über…

…seine Herangehensweise als Filmemacher:
„Ich versuche einen komplexen Blick, eine Herangehensweise, die das Publikum interpretieren muss. Was gesagt wird, muss man nicht unbedingt sehen. Die Tonspur erklärt eine Sache, während die Bilder eine andere zeigen. Aus beiden Dingen wird die Erzählung konstruiert. Oft werden im Kino in Bild und Ton die gleichen Dinge dargestellt. Das erscheint mir manchmal redundant. Deshalb nennt man das Kino eine audiovisuelle Erfahrung, ein visuelles Panorama. Nur, dass einige Filme die Audio-Hälfte vergessen.“

…seine Verbindung mit der Filmindustrie:
„Ich komme ursprünglich nicht vom Film, sondern von der Malerei. Ich versuche, mit Farben zu spielen, eine visuelle Palette zu zeigen. Ich war nie Teil der normalen Filmindustrie. Ich habe keine Ahnung, wie man normalerweise Filme in Kolumbien oder Frankreich, wo ich auch gelebt habe, produziert. Meine Filme sind immer ein bisschen selbstgebastelt, aus wenigen Stücken und mit wenig Geld zusammengebaut. In Frankreich wie in Kolumbien gibt es aber eine cineastische Peripherie, die genau so ihre Filme macht und dabei sehr kreativ ist.

… die aktuelle politische Situation in Kolumbien:
Mein Film ist keine dezidierte politische Kritik an Kolumbien, sondern an den Grenzen zwischen Gut und Böse. Das ist kein ausschließlich kolumbianisches Problem, hat in Kolumbien aber eine sehr große Bedeutung, weil sich diese Grenze dort sehr einfach verschiebt. In dem Film geht es um Manipulation. Über Leute, die sagen: „Das, was du für schlecht hältst, ist doch gut!“, obwohl sie das nur glauben machen wollen, um einen auszunutzen. Im Leben muss man sich ständig zwischen Gut und Böse entscheiden. Das große Problem in Kolumbien momentan ist für mich, dass diese freie Entscheidung nicht für alle möglich ist. Oder besser gesagt, die Leute können schon ihre Unzufriedenheit mit bestimmten Gruppen ausdrücken. Aber das bedeutet dann für sie auch, dass sie sich dadurch in große Gefahr begeben.

© John Trengove

Marco Dutra (Bild oben) und Caetano Gotardo (unten; Brasilien, Regisseure Todos os Mortos) über…

… das Konzept und die zeitliche Einordnung ihres Films:
Caetano Gotardo: „Die Zeit, in der der Film spielt, hat eine Menge damit zu tun, wie unsere Gesellschaft heute organisiert ist. Das Konzept war es also, auf diese Zeit mit den Augen der Gegenwart zu blicken und zu verstehen, wie sich diese verschiedenen Zeitebenen bis heute vermischen. Und zwar nicht nur in der Art und Weise, wie die Gesellschaft organisiert ist, sondern auch, wie die Leute sich verhalten. Das haben wir im Film versucht, nicht nur rational, also durch Dialoge, sondern auch auf der Gefühlsebene, cineastisch, auszudrücken. Wir haben mit den Zeitebenen gespielt und deshalb immer mehr verschiedene Bilder und Geräusche aus der Gegenwart einfließen lassen, obwohl der Film am Ende des 19. Jahrhunderts spielt.“

Marco Dutra: „Das Ende der Sklaverei war eigentlich der symbolische Todesstoß für die koloniale Ära und nun dachten alle in Brasilien: „Jetzt kommt unsere große Zeit!“ Aber das ist nicht wirklich passiert, weil Brasilien es nie geschafft hat, sich in eine wirklich demokratische Gesellschaft zu verwandeln.“

… über Fortschritte und Versäumnisse in der gesellschaftlichen Entwicklung Brasiliens:
Caetano Gotardo: „Wir waren in Brasilien lange geblendet von dem Konzept der„Racial Democracy“, das auch von europäischen Wissenschaftlern in Brasilien beschrieben wurde. Die Wahrheit ist aber, dass diese „Racial Democracy“ für die Schwarze Bevölkerung nie existiert hat. Die Kluft zwischen den Chancen, die sie hatten und denen der weißen Bevölkerung war immer enorm. Klasse und race sind in Brasilien untrennbar miteinander verbunden, wegen der Strukturierung der Gesellschaft nach dem Ende der Sklaverei. Und ich denke, einige Verbesserungen, die hätten gemacht werden können, sind wegen dieser falschen Idee, dass es in Brasilien keinen Rassismus gibt, nicht gemacht worden. Zum Glück hat das Konzept in den letzten Jahren immer mehr angefangen zu bröckeln und uns wird bewusst, dass Brasilien ein großes Rassismusproblem hat. Seit der Regierungszeit von Lula und Dilma gibt es zum Beispiel Quotenregelungen für Schwarze in den Universitäten. Aber von Gleichheit sind wir natürlich immer noch weit entfernt. Die aktuelle Regierung will zum Beispiel wieder zurück zur Idee, dass es keinen Rassismus in Brasilien mehr gibt und wir keine inklusive Politik mehr brauchen. Was natürlich total falsch ist.“

… über das Konzept der „Whiteness“ in Todos os mortos und ihre eigene Positionierung:
Caetano Gotardo: „Wir beide werden in Brasilien als weiß gesehen und haben die Privilegien weißer Menschen.“
Marco Dutra: „Natürlich sind wir ein totaler Mix, aber wir werden als weiß wahrgenommen. In Brasilien wird oft nicht nach Abstammung, sondern nach dem Aussehen beurteilt. Für uns sind unsere Vorfahren aber wichtig, wir wollen wissen, wo wir herkommen. Meine Familie kommt zum Beispiel aus Syrien und Palästina. Auch im Film kommt ein Mädchen aus Palästina vor. Das war ein Versuch, zu zeigen, dass zu dieser Zeit Menschen aus allen möglichen Teilen der Welt nach Brasilien kamen: Japan, Italien, Palästina, Syrien, Libanon. Das ist eine große Mischung, aber es gibt „Whiteness“ und „Blackness“.

Caetano Gotardo: „Die Vermischung der unterschiedlichen races begann in Brasilien als ein offizieller Plan, „Blackness“ zu eliminieren – ein „Whitening“ der Bevölkerung. Den weißen Einwanderern wurde die Ankunft in Brasilien leichter gemacht. Nach diesem Plan sollte Brasilien 100 Jahre nach dem Ende der Sklaverei dann komplett weiß sein.

Auch Filmemachen in Brasilien ist vor allem eine Tätigkeit der weißen Elite. Aber glücklicherweise hat sich das in den letzten Jahren auch angefangen zu ändern. Es gibt mehr und mehr Schwarze Filmemacher*innen auch aus ärmeren Regionen. Und es ist in unseren täglichen Diskussionen Thema, dass wir mehr Diversität im Kino brauchen.“

© Beth Gotardo

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