// Organisieren gegen den Notstand!

Seit weniger als zwei Monaten ist Javier Milei Präsident Argentiniens, doch seine Regierungspraxis setzt die argentinische Demokratie bereits jetzt enorm unter Druck. Die autoritären Maßnahmen, die er in seinem Regierungsprogramm angekündigt hat, setzt er über den nationalen Notstand um. Sein marktradikales Umstrukturierungsprogramm hat bereits begonnen (mehr dazu bald online und im neuen Heft). Die vergrößerte Freiheit des Kapitals beschränkt zunehmend die Freiheit derer, die nicht über großes Kapital verfügen. Die argentinische Linke sieht sich vom Wahlergebnis schwer geschlagen, sie konnte keine glaubwürdigen Alternativen bieten. Einige linke Organisationen wie der trotzkistische FIT-U (Frente de Izquierda – Unidad) und große Gewerkschaften hatten bei der Stichwahl dazu aufgerufen, ungültig zu wählen. Nun sind sie mit einer Regierung konfrontiert, die die Errungenschaften jahrzehntelanger Kämpfe sozialer Bewegungen innerhalb kürzester Zeit zunichte machen könnte.

Mileis Vorgehen ist vergleichbar mit der Strategie Nayib Bukeles in El Salvador, der im März 2022 einen bis heute anhaltenden Ausnahmezustand erklärte. Beide Staatschefs nutzen ihre durch hohe Zustimmung bei den Wahlen legitimierte Macht, um die Institutionen auszuhöhlen und schrittweise die Rechtsstaatlichkeit aufzulösen. Am 4. Februar wird Bukele voraussichtlich wiedergewählt – obwohl die Verfassung eine zweite Amtszeit in Folge nicht vorsieht. Auch in El Salvador rufen nun einige kritische Stimmen aus der linken Opposition dazu auf, ungültig zu wählen, um so auf die Illegalität der Wiederwahl hinzuweisen. Dies könnte aber auch den Eindruck verstärken, dass die oppositionellen Kräfte keine Unterstützung genießen und Bukele in die Karten spielen.

Die Strategie Linker vor den Wahlen in Argentinien und El Salvador scheint nicht aufgegangen zu sein. In Deutschland hingegen, wo dieses Jahr Landtagswahlen stattfinden, gibt es noch nicht einmal eine erkennbare gemeinsame Strategie. Nach der Aufdeckung des Treffens in Potsdam, bei dem Faschist*innen Massenabschiebungen planten, sind Hunderttausende gegen Rechts auf die Straße gegangen – ein wichtiges Zeichen. Ob Abgrenzungsmaßnahmen wie Gegendemonstrationen jedoch einen signifikanten Einfluss darauf haben, wo andere ihr Kreuzchen setzen, ist zweifelhaft. Mehr als verzweifelte Forderungen, der faschistischen Katastrophe in den Landtagen über ein Parteiverbot zuvorzukommen, fällt vielen Linken in Deutschland aktuell nicht ein. Von den Regierungsparteien heben sie sich damit zudem kaum ab.

Dabei ist gerade die gescheiterte Sozialpolitik neoliberaler Parteien der Katalysator für autoritäre, ultraliberale oder faschistische Kräfte. Ihr Diskurs liegt dabei zudem oft weniger weit voneinander entfernt, als sie zugeben möchten. Wenn zum Beispiel Olaf Scholz jetzt öffentlichkeitswirksam verlauten lässt „Wir schützen alle – unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder wie unbequem jemand für Fanatiker mit Assimilationsfantasien ist“, hat er offenbar seine Forderung von Oktober, „in großem Stil abzuschieben“, schon wieder vergessen.

Das zeigt einmal mehr: Linke können sich Strategielosigkeit inbesondere in Zeiten von sozialen Krisen und Rechtsruck nicht leisten. Sie sind die einzige Kraft, die reale Alternativen anbieten könnte. In Deutschland ist von der Linken im Vergleich zu Argentinien jedoch noch zu wenig zu sehen. Was nachhaltige Organisierung der breiten Gesellschaft und die konsequente und öffentlichkeitswirksame Thematisierung der sozialen Frage in der Linken angeht, lässt sich von Argentinien viel lernen. Um Ideen zu entwickeln, wie das in Deutschland gelingen kann, kommt es jetzt auf uns alle an!

DER AUSNAHMEZUSTAND WIRD ZUR NORM

Der neue Normalzustand Soldaten bei der Kontrolle von Passagieren eines Buses (Foto: Victor Peña (@victorpena84) für El Faro, April 2022)

El Salvador befindet sich seit dem 27. März im Ausnahmezustand. Nach einer brutalen Mordserie mit 87 Todesopfern innerhalb von drei Tagen, die im Wesentlichen auf das Konto der berüchtigten Gang Mara Salvatrucha 13 (MS-13) gehen soll, hatte Präsident Nayib Bukele das Parlament angewiesen, für 30 Tage den Ausnahmezustand zu verhängen. Inzwischen wurde die Maßnahme um einen weiteren Monat bis zum 27. Mai verlängert. Die Ausweitung der Ausnahmebefugnisse wurde vom Minister für Justiz und Innere Sicherheit, Gustavo Villatoro, damit begründet, dass bis zum 24. April zwar bereits 16.500 Bandenmitglieder verhaftet worden seien, aber etwa 70.000 Kriminelle nach wie vor auf freiem Fuß seien.

Außerdem hat das salvadorianische Parlament zusätzliche Mittel für Polizei und Militär in Höhe von 80 Millionen US-Dollar genehmigt. Nach Angaben des zentralamerikanischen Instituts für Steuerstudien ICEFI machte das Sicherheitsbudget des hoch verschuldeten Landes bereits vor der Erhöhung 11 Prozent der Regierungsausgaben aus. Im Jahr 2021 summierten sich die Ausgaben auf 846 Millionen US-Dollar.

Der Ausnahmezustand berechtigt die Regierung vier zentrale Grundrechte einzuschränken: das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit; das Briefgeheimnis und das Recht der Unverletzlichkeit privater Kommunikation ohne vorherige richterliche Genehmigung; das Recht, innerhalb von 72 Stunden nach Verhaftung einem Gericht vorgeführt zu werden und das Recht, über die Gründe der Verhaftung informiert zu werden sowie einen Rechtsbeistand und einen fairen Prozess zu erhalten. Gleichzeitig mit der Einführung des Ausnahmezustands im März wurden acht Reformen – ohne jegliche parlamentarische Mitsprache – durch den von Bukeles Partei Nuevas Ideas kontrollierten Kongress gepeitscht. Darin werden die bestehenden strafrechtlichen Mittel gegen Gangs, die bereits seit 2010 verboten sind, wesentlich verschärft. So kann die Mitgliedschaft in Gangs zukünftig mit 20 bis 30 Jahren Haft bestraft werden, Anführern und Financiers drohen gar Haftstrafen von 40 bis 45 Jahren.

Häftlinge ohne Rechtsschutz

Neu ist, dass nun auch Jugendliche ab zwölf Jahren zu Haftstrafen von bis zu zehn Jahren verurteilt werden können, Jugendliche ab 16 Jahren bis zu zwanzig Jahren. Eine Person, die der Bandenmitgliedschaft beschuldig wird, hat kein Anrecht darauf, nach zwei Jahren Untersuchungshaft entlassen zu werden, selbst wenn keine Beweise für eine Straftat oder einen Freispruch vorliegen, sondern bleibt in Haft, bis alle Instanzen durchlaufen sind. Prozesse können auch in Abwesenheit der Beschuldigten durchgeführt werden, aus Sicherheitsgründen sollen Richter*innen außerdem das Recht auf Anonymität erhalten.

Zahlreiche Menschenrechtsorganisationen und Rechtsexpert*innen wiesen darauf hin, dass die im Eilverfahren verabschiedeten Reformen, vor allem im Falle minderjähriger Angeklagter, im Konflikt mit internationalen wie auch nationalen Normen stehen. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) veröffentlichte eine Stellungnahme, in der sie die Regierung Bukele bittet, die erlassenen Strafrechtsreformen für Minderjährige zu revidieren, da diese nicht im Einklang mit der UN-Kinderrechtskonvention stünden. Bezweifelt wurde ferner die Notwendigkeit der Anwendung des Ausnahmezustands, da auch die bereits bestehenden strafrechtlichen Instrumente dem Staat hinreichende Kompetenzen zur Verfolgung krimineller Banden erteilen.

Im Laufe des Ausnahmezustands sind derweil weitere Verhaftungswellen im Gange: Bis zum 2. Mai wurden laut Angaben der salvadorianischen Polizei, 22.754 Menschen festgenommen. Inzwischen häufen sich die Hinweise, dass es nicht nur zu einer Reihe von irrtümlichen Verhaftungen junger Männer kam, sondern zu gravierenden Menschenrechtsverletzungen. Bei den Menschenrechtsorganisationen Human Rights Watch und Cristosal gingen bis Ende April Informationen von über 160 willkürlichen Verhaftungen ein, sowie über brutale Gewalt gegen Inhaftierte. Nach Angaben der oppositionellen Kongressabgeordneten Claudia Ortiz sollen mindestens fünf Personen unter ungeklärten Umständen in Untersuchungshaft verstorben sein. Bereits vor der jüngsten Verhaftungswelle waren die salvadorianischen Gefängnisse hoffnungslos überfüllt: 39.147 Häftlinge gab es nach Angaben der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte im Land. Die Rate von 549 Häftlingen auf 100.000 Einwohner*innen wird in den Amerikas lediglich von den USA übertroffen. Bereits Anfang 2020 hatten die Bilder von zusammengepferchten, inhaftierten Bandenmitgliedern für weltweite Empörung gesorgt. In den vergangenen Wochen hat die Regierung erneut Bilder halbnackter tätowierter Männer veröffentlicht – mit dem Hinweis, dass der „Abschaum“ keine Menschenrechte besitze und den Häftlingen die Nahrung verweigert würde, wenn die Mordserie nicht abreiße. Regionale und internationale Menschenrechtsorganisationen, die ihre Sorge über die prekären Haftbedingungen zum Ausdruck bringen, werden pauschal als Sympathisierende der Gangs diffamiert. So twitterte Präsident Bukele am 28. März: „Diese windigen Typen von den internationalen NGOs geben vor, die Menschenrechte zu verteidigen, interessieren sich aber nicht für die Opfer, sondern verteidigen nur die Mörder, als ob sie die Blutbäder genießen würden“. Ein Großteil der Bevölkerung steht dem Populismus des Präsidenten jedoch positiv gegenüber. Laut einer Umfrage von Cid-Gallup vom April 2022 befürworten 91 Prozent der Befragten die gegen die Bandenmitglieder ergriffenen Maßnahmen.

Scharfe Kritik über die Landesgrenzen hinaus rief auch eine Reform hervor, die sowohl die Ausarbeitung und Verbreitung von Texten, Grafiken oder Graffiti unter Strafe stellt, die „Botschaften reproduzieren oder übertragen, die von Gangs oder angeblich von Gangs stammen und zu Angst oder Panik in der Bevölkerung führen können“. Präsident Bukele verglich die Maßnahme in einem weiteren Tweet mit dem Verbot von Nazi-Symbolen im deutschen Strafrecht, übersah hierbei jedoch, dass das salvadorianische Gesetz – anders als das deutsche – so vage und ambivalent formuliert ist, dass es grundsätzlich jegliche Form der Berichterstattung über Maras unter Strafe stellt. Bis zu 15 Jahren Gefängnis drohen damit Journalist*innen, die über Maras informieren.

Nach Ansicht der salvadorianischen Journalist*innenvereinigung APES handelt es sich dabei nicht um einen Formfehler, sondern um bewusste Zensur und einen Maulkorberlass. Die Reform soll die Berichtserstattung der unabhängigen Presse über Geheimverhandlungen der Regierung mit den Gangs unter Strafe stellen und verhindern, dass Informationen über die Freilassung von hochrangigen Bandenmitgliedern, deren Auslieferung US-amerikanische Gerichte fordern, publik werden.
Ähnlich kritisch wird auch die Aussetzung des Briefgeheimnisses und die Autorisierung von Abhörungen ohne Gerichtsbeschluss beurteilt. Bereits Anfang des Jahres war die Regierung Bukele in die Schlagzeilen geraten, nachdem bekannt geworden war, dass mehrere Dutzend Journalist*innen, insbesondere des Nachrichtenpools El Faro, monatelang mit dem Spionageprogramms Pegasus abgehört wurden. Die Regierung reagierte rasch und verabschiedete ein Gesetz über „digitale Undercover-Agenten“, das die rechtswidrige Spionage im Nachhinein legalisierte.

Schon seit Langem war der Regierung Bukele die Berichterstattung des unabhängigen Journalist*innenteams von El Faro ein Dorn im Auge. Während die Regierung mit dem expliziten Versprechen angetreten war, das organisierte Verbrechen und die brutalen Gangs mittels einer Politik der harten Hand unter Kontrolle zu bekommen, hatte El Faro aufgedeckt, dass Bukeles Regierung– wie auch bereits die Vorgängerregierungen unterschiedlicher politischer Ausrichtung – mit den Anführern der Gangs Geheimverhandlungen führte.

Journalist*innen werden als „Informationsterroristen“ gebrandmarkt

Reportagen von El Faro vom September 2020 und August 2021 belegen mit offiziellen Dokumenten und Fotografien, dass die amtierende Regierung praktisch seit Amtsantritt mit inhaftierten Anführern der Maras verhandelt hat. Eine Reportage, die von BBC Mundo Ende April 2022 veröffentlicht wurde, bestätigte diese Geheimverhandlungen anhand von Aussagen der Mara Barrio 18-Sureños. Nach den Recherchen sollen gegen die Zusicherung der ranflas (der nationalen Führungsriegen der Gangs), die Mordraten zu senken sowie bei den Wahlen Anfang 2021 die Regierungspartei zu unterstützen, Hafterleichterungen und ökonomische Anreize zugesagt worden sein. Dies hatte dazu geführt, dass das US-Außenministerium Sanktionen gegen die beiden Verhandlungsführer der Regierung verhängte: den Gefängnisdirektor und Vizeminister für Sicherheit und Justiz, Osiris Luna, sowie den Direktor des Sozialprogramms Tejido Social, Carlos Marroquin.

Auch die Staatsanwaltschaft in El Salvador hatte unter der Führung des damaligen Generalstaatsanwaltes Raúl Melara begonnen, die Geheimverhandlungen der Regierung mit den kriminellen Banden zu untersuchen. Die Untersuchungen fanden jedoch Anfang Mai 2021 ein abruptes Ende, nachdem die Regierung in einer verfassungswidrigen nächtlichen Hauruck-Aktion – abgesegnet durch das Parlament – Melara durch einen regierungstreuen Staatsanwalt austauschen ließ, gemeinsam mit allen Richter*innen des Verfassungsgerichts. Die Verantwortung für den sogenannten Fall Catedral blieb in den Händen von Rodolfo Delgado, der die Anti-Mafia-Sonderkommission GEA auflöste und inzwischen sogar ein Strafverfahren gegen die sieben Staatsanwälte eingereicht hat, die die Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung Bukele untersucht hatten. Trotz des umfangreichen Beweismaterials und der belastenden Aussagen des geschassten Sonderermittlers Germán Arriaza gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters bestreitet die Regierung hartnäckig, dass die Verhandlungen mit den kriminellen Banden stattgefunden haben, und droht den Journalist*innen von El Faro, die als „Informationsterroristen“ gebrandmarkt werden, mit Strafrechtsprozessen.

So auch den Brüdern Oscar und Juan José Martínez, die in ihrem Buch El niño de Hollywood: una historia personal de la mara salvatrucha, anhand einer einzelnen Biografie eine bedrückende Aufnahme der politischen Ökonomie der Gewaltstrukturen der Maras liefern. Die Verlängerung des Ausnahmezustands im April wurde von einer Reform begleitet, die es der Regierung erneut ermöglicht, sich über die gesetzlichen Regelungen bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen hinwegzusetzen. Dies erinnert an die Situation 2020, als die Regierung zu Beginn der Pandemie alle Kontrollen für öffentliche Anschaffungen abschaffte und damit der Korruption Vorschub leistete (siehe LN 551). Nach Angaben der – inzwischen abgesetzten – Staatsanwälte wiesen bis Ende 2020 zwei Drittel aller staatlichen Einkäufe Unregelmäßigkeiten auf. Eine Reportage von El Faro hatte aufgedeckt, dass der Unterhändler des Paktes mit den Maras, Gefängnisdirektor Osiris Luna, die Notstandsbefugnisse während der Pandemie genutzt hatte, um 1,6 Millionen US-Dollar, die eigentlich für Lebensmittelhilfe vorgesehen waren, zu veruntreuen.

Keine Kontrollen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge mehr

Bereits zuvor waren die Befugnisse des Nationalen Instituts für den Zugang zu Öffentlicher Information (IAIP) stark beschnitten worden. Die Transparenzbeauftragte Liduvina Escobar sah sich nach Drohungen gezwungen, gemeinsam mit ihrer Familie ins Exil zu gehen (siehe Seite 36-40).

Leider deutet daher alles darauf hin, dass sich der rapide Abbau rechtsstaatlicher Strukturen und Kontrollen in El Salvador unter der Regierung Bukele noch weiter beschleunigt – und der Ausnahmezustand zur Norm wird. Nach der Gleichschaltung von Justiz und Staatsanwaltschaft am 1. Mai 2021 (siehe LN 564) werden nun der unabhängige Journalismus und zivilgesellschaftliche Organisationen, die nicht auf Regierungslinie liegen, zunehmend Opfer von Einschüchterungskampagnen. Zwar konnte ein Agent*innengesetz, das auf die Stummschaltung von Presse und Zivilgesellschaft ausgerichtet war, nach massivem internationalen Protest zunächst gestoppt werden. Die Kriminalisierung zivilgesellschaftlicher Organisationen nimmt jedoch zu. Ende April forderte Arbeitsminister Rolando Castro die Gewerkschaften auf, die traditionellen Demonstrationen zum Internationalen Tag der Arbeit abzusagen. Wer trotzdem marschiere, sei ein Sympathisant der Banden. Der Einschüchterungsversuch war nur teilweise erfolgreich. Der Minister konnte die Demonstrationen zwar nicht verhindern, die Beteiligung war jedoch deutlich schwächer als im Vorjahr.

VON BUKELE INS EXIL GETRIEBEN

Erst entlassen, dann verfolgt Ludovina Escobar hat El Salvador verlassen (Foto: Salvador Meléndez / Revista Factum)


Dieser Text wurde von der Zeitschrift Revista Factum auf Spanisch erstveröffentlicht. Hier könnt Ihr den Originaltext lesen.

„Ich fühlte mich bedroht. Mir wurde mitgeteilt, dass ich mich darauf vorbereiten solle, im Gefängnis zu landen”, berichtet Liduvina Escobar. Zwei Tage nach dieser Warnung verließ die ehemalige Mitarbeiterin des Instituts für Zugang zu öffentlichen Informationen (IAIP) Anfang Mai 2021 El Salvador. Die Regierung von Präsident Nayib Bukele hatte Escobar vorgeworfen, vertrauliche Informationen an die Presse weitergegeben zu haben, nachdem sie im Interview mit der Zeitschrift Revista Factum Unregelmäßigkeiten im Zugang zu öffentlichen Informationen publik gemacht hatte. Im April 2021 wurde sie deshalb vorübergehend ihres Postens enthoben. Am 7. Februar 2022 bestätigte Präsident Nayib Bukele ihre endgültige Entlassung.

Escobar verließ El Salvador, weil sie das Gefühl hatte, dass das System ihr weder Sicherheit als Bürgerin noch rechtliche Garantien bot. Drei Tage, bevor sie ins Exil ging, hatte das von der Regierung Bukele kontrollierte Parlament die Richter*innen der Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs und die Generalstaatsanwaltschaft entlassen. Zwei Beschwerden gegen Escobar bei der Staatsanwaltschaft beschleunigten ihren Entschluss, außer Landes zu fliehen. Escobar ist nicht die Einzige, die im Land über politische Verfolgung klagt: Nach Zählungen zivilgesellschaftlicher Organisationen haben im letzten Jahr mindestens 50 Salvadorianer*innen deswegen das Land verlassen, darunter Anwält*innen, Aktivist*innen, Politiker*innen, Staatsanwält*innen, Journalist*innen, Unternehmer*innen, Richter*innen des Obersten Gerichtshofes und Gemeindearbeiter*innen. Sie alle hatten zuvor Drohungen erhalten, wurden von Sicherheitskräften verfolgt oder fürchteten um ihre verfassungsmäßigen Rechte.

Bandenmitglieder drohen im Auftrag der Regierung

„Häufig sprechen Bandenmitglieder die Drohungen aus“, so Rina Montti, Leiterin der Beobachtungsstelle für Menschenrechte von Cristosal, einer Organisation, die Fälle von gewaltvoller Vertreibung sammelt. Allein Cristosal zählt 30 politische Geflüchtete bis November 2021. „Es ist ein Problem gesellschaftlicher Gewalt. Die Banden werden instrumentalisiert und angeheuert, um diese Art von Drohungen auszusprechen. Die Gründe für die Angriffe stehen nicht immer im Zusammenhang mit Erpressung oder der Tätigkeit von Banden in dem Gebiet“, so Montti.

Die Erfahrungen, die Salvadorianer*innen dazu veranlassen, ihr Land zu verlassen, sind so vielfältig wie alarmierend: Männer, die Fotos aufnehmen; zerstochene Reifen; Drohungen von Bandenmitgliedern oder im Internet; Verfolgung durch das Finanzamt; Beschwerden bei der Generalstaatsanwaltschaft und Polizei oder Militärs vor der eigenen Wohnung. Alle Betroffenen haben eines gemeinsam: Alle haben auf irgendeine Weise Kritik an der Regierung geübt. Einige von ihnen in ihrer Arbeit in zivilgesellschaftlichen Organisationen oder oppositionellen Parteien, andere durch ihr Wissen über Korruptionsfälle. Escobar hat die Vorgänge aufgeschrieben, die sie dazu gebracht haben, El Salvador zu verlassen. Dazu gehört, dass die Reifen ihres Wagens zerstochen wurden und Polizei- oder Militärpatrouillen häufig vor ihrem Haus parkten. Außerdem vermutet sie, dass ihr Handy von der Regierung abgehört wurde. Escobars Familie musste vor der Ausreise umziehen, weil sie sich gefährdet fühlte. Als ihr Mann die Möbel verlud, fragte ihn ein maskierter Mann mit dunkler Brille, der sich nicht weiter auswies, wo seine Frau sei und wohin und wieso sie umziehen würden. Ihr Mann sei gegangen, ohne zu antworten, so Escobar. Wer die Regierung kritisiert, muss mit Drohungen rechnen In den zehn Monaten, die sie sich bereits im Exil befindet, haben ihr Freund*innen geholfen. Durch den Verkauf von landestypischem Essen oder gebrauchter Kleidung konnte sie persönliche Ausgaben, Lebensmittel und Handyrechnungen bezahlen. Auch wenn sie dankbar sei, sogar ein Auto geliehen bekommen zu haben, wäre sie lieber in El Salvador, um ihren Beruf auszuüben. Momentan hängt ihr weiteres Leben von der Entscheidung der Einwanderungsbehörde ab. „Irgendwo im Nirgendwo anzukommen, von Solidarität zu leben. Ich wäre tausendmal lieber in meinem Land, in meinem Haus, und würde mit meiner Familie Bohnen essen, anstatt hier zu sein. Kein anderes Land wird jemals dein eigenes Land ersetzen, egal wie viele gute Menschen du dort triffst”, betont sie.

Ende 2020 hatte die Regierung Bukele das Institut für den Zugang zu öffentlichen Informationen, in dem Escobar arbeitete, übernommen und Vertreter*innen der eigenen politischen Linie als Bevollmächtigte eingesetzt. Das Institut war der Regierung ein Dorn im Auge geworden, weil es gefordert hatte, die Verwendung öffentlicher Mittel transparenter zu gestalten. Vor ihrer Absetzung hatte Escobar unter anderem ein Sanktionsverfahren gegen Osiris Luna eingeleitet. Der Generaldirektor der Strafvollzugsanstalten hatte Informationen über eine Reise im Privatjet zurückgehalten. Außerdem leitete sie eine Anordnung an das Verteidigungsministerium zur Suche nach Akten über eine Militäroperation an der Universität von El Salvador und drängte auf die Herausgabe von Informationen über Positionen und Gehälter von Regierungsangestellten. Die Zukunft ihrer Familie und ein Leben und Arbeiten in Ruhe sieht Escobar derzeit nur außerhalb von El Salvador. „Nach Monaten der Trennung bin ich jetzt wieder mit meiner Familie vereint und muss es in einem anderen Land aushalten. Das ist nicht fair“, sagt die ehemalige Ermittlerin, während sie ein Video ihrer Tochter zeigt, die im Hinterhof eines fremden Hauses spielt.

Zu den politisch Verfolgten gehören Oppositionelle genauso wie Journalist*innen

Das fehlende Vertrauen in die staatlichen Institutionen hält viele politisch Verfolgte davon ab, in El Salvador Anzeige zu erstatten. Präsident Nayib Bukele kontrolliert das Parlament, das sowohl regierungstreue Richter*innen am Obersten Gerichtshof sowie einen neuen Staatsanwalt ernannt hat. Die Verfassungskammer, die Missbrauchsfällen der Exekutive Einhalt gebieten könnte, und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf Linie der Regierungspartei. Wie aus zahlreichen von zivilgesellschaftlichen Organisationen dokumentierten Fällen hervorgeht, hat sich die politische Verfolgung im Land verschärft, seit die drei Staatsgewalten unter Kontrolle der Regierung sind. In den ersten zwei Jahren der Regierung Nayib Bukeles haben 106.104 Menschen aus verschiedenen Gründen in anderen Ländern Asyl beantragt. Weltweit wurden die meisten Anträge in den USA und Mexiko gestellt, in der Region hauptsächlich in Guatemala und Costa Rica. Laut der Zoll- und Grenzschutzbehörde der Vereinigten Staaten wurden zwischen Oktober 2020 und September 2021 95.930 Salvadorianer*innen bei der Überquerung der Grenze festgenommen. Das ist die höchste Zahl in diesem Jahrhundert – im Schnitt wurden jeden Tag 260 Salvadorianer*innen festgenommen, fast 8.000 pro Monat. Verónica Reyna, Leiterin der Menschenrechtsprogramme des katholischen Sozialdienstes der Passionisten, befasst sich seit Jahren mit der Analyse von Gewalt und Migration in El Salvador. Sie ist der Ansicht, dass wirtschaftliche Faktoren und Gewalt zwar nach wie vor die Hauptursache für die hohe Migration sind, dass der Flucht aufgrund politischer Verfolgung aber mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte – auch wenn die verhältnismäßig nicht so massiv ist. „Je mehr Menschen von den Behörden aufgrund kritischer Äußerungen zu Gegnern erklärt werden, desto mehr wird sich diese Entwicklung fortsetzen“, so Reyna. „In El Salvador zeigen sich heute eindeutig antidemokratische diktatorische Tendenzen in der Regierung. Dazu kommen wirtschaftliche Verluste in den Fällen von Menschen, die ihre Arbeit verloren haben oder ihren Lebensunterhalt in der informellen Wirtschaft verdient haben“, analysiert auch Óscar Chacón, Direktor von Alianza America, einer Organisation, die in den lateinamerikanischen Einwanderungsgemeinschaften in den Vereinigten Staaten tätig ist. Immer häufiger sähen sich Menschen gezwungen, El Salvador zu verlassen, um einer möglichen Kriminalisierung oder Angriffen auf ihre persönliche Unversehrtheit oder ihr Leben zu entgehen. Dazu gehören auch regierungskritische Journalistinnen. Das Zentrum zur Beobachtung von Aggressionen gegen Journalist*innen von der salvadorianischen Journalistenvereinigung APES dokumentierte bisher mindestens drei Fälle von Journalist*innen, die nach Drohungen, Verfolgung und Überwachung das Land verlassen mussten. „Korruption ist nicht neu, keine regierende Macht mag es, wenn man sie auf ihre Fehler hinweist. Politiker wollen eine Presse, die sie lobt und nur ihre Gegner angreift. Wenn sie aber von der Presse enttarnt werden, versuchen sie, Journalisten zu diskreditieren“, sagt Susana Peñate von APES. Mit der Erklärung des Ausnahmezustands im Land und der Verabschiedung neuer Gesetze, die die Arbeit unabhängiger Medien erschweren (siehe Seite 32), dürfte sich diese Entwicklung noch verschärfen.

„Hätte ich das Land nicht verlassen, wäre ich jetzt eine Verschwundene“

Doch auch Oppositionspolitiker*innen geraten ins Visier der autoritären Regierung unter Präsident Bukele. „Ich bin mir sicher, wenn ich das Land nicht verlassen hätte, wäre ich jetzt eine Verschwundene. Ich wäre tot”, sagt die 36-jähirge Alejandra Menjívar im Gespräch mit Revista Factum in Mexiko, wo ihr nach einem Mordanschlag dauerhaft Aufenthalt gewährt wurde. Menjívar ist Menschenrechtsverteidigerin und die erste trans Frau, die für einen Sitz im Zentralamerikanischen Parlament (PARLACEN) zur Wahl antrat. 2006 trat sie der linken Partei FMLN bei, für die sie im Februar 2021 an den Bürgermeister*innen-, Abgeordneten- und PARLACEN-Wahlen kandidierte. Außerdem äußerte sie sich in den sozialen Netzwerken kritisch gegenüber Regierungsentscheidungen.

Als Menjívar am 20. Mai 2021 im Norden der Metropolregion San Salvador unterwegs war, bremste ein Wagen vor ihr. Drei Männer stiegen aus – Bandenmitglieder, wie Menjívar vermutet. „Wir werden dir eine Lektion erteilen, damit du den Mund hältst“, erinnert sie sich an deren Worte, während einer eine Pistole auf sie richtete und den Abzug drückte. Die Waffe blockierte. Auch als er ein zweites Mal abdrückte, löste sich kein Schuss. Ein vorbeifahrender Streifenwagen schreckte die Angreifer ab und weckte Menjívar wie aus einer Trance. „In diesem Moment wusste ich, dass ich verfolgt werde, dass die Regierung es auf kritische Stimmen abgesehen hat und ich nicht noch einmal so ein Glück haben würde. Also entschied ich mich, das Land zu verlassen und tat dies innerhalb von 24 Stunden“, erzählt sie.

Menschenrechtsorganisationen aus Guatemala und Mexiko halfen ihr, schnell die Region zu verlassen. Die ehemalige Parlamentskandidatin ist sich sicher, dass der Angriff von der Regierung unterstützt wurde, auch wenn sie meint, dass diese nie direkt drohen würde. „Sie werden nicht auf dich zu kommen und sagen ‚Du wirst schon lernen still zu sein und den Mund zu halten‘. Aber die Kritik, die ich nur kurz davor geäußert hatte, richtete sich gegen die Regierung. Deshalb denke ich, dass dieser Angriff von ihnen kam“, betont sie.

Als trans Frau ist Menjívar in El Salvador ohnehin einem zusätzlichen Risiko ausgesetzt. Zwischen 2011 und 2021 wurden laut der Organisation Concavis Trans 42 trans Frauen ermordet. Während ihrer Wahlkampagne zur Regionalabgeordneten musste Menjívar mit ihrer Familie aufgrund von Drohanrufen ihren Wohnort verlassen. Die Hassbotschaften, die von Bandenmitgliedern kamen und sich gegen ihren Aktivismus in der FMLN richteten, konzentrierten sich auf ihre Geschlechtsidentität. „Ich musste mich daraufhin von meiner Familie fernhalten, um sie nicht in Gefahr zu bringen. Es war ein Risiko für mich, in ihrer Nähe zu sein. Ich konnte auch nicht im ganzen Land Wahlkampf machen, denn die Banden sind überall“, fügt sie hinzu.

Menjívar beantragte aus humanitären Gründen Schutz bei der Mexikanischen Kommission für Flüchtlingshilfe (COMAR). Insgesamt suchten zwischen Januar und September 2021 5.170 Salvadorianer*innen Zuflucht in Mexiko, 2.286 Anträge wurden gewährt. Allerdings hat Menjívar es auch in Mexiko nicht leicht. Am 22. Juni 2021 meldete die Organisation Refugio Casa Frida sie kurzfristig als vermisst. Nachdem sie gefunden wurde, berichtete die mexikanische Kongressabgeordnete Lucía Riojas, sie „wurde verletzt und wird entsprechend behandelt“. Auch die Anwältin und Menschenrechtsverteidigerin Bertha María Deleón hat El Salvador mit ihrer Tochter vor sechs Monaten verlassen. „Ich entschied mich, nicht ins Land zurückzukehren, da ich befürchtete, meiner Freiheit beraubt zu werden. Es gibt mehrere absurde Strafanzeigen aus dem Umfeld von Nayib Bukele gegen mich”, erklärte sie im März in einem Statement.

Mord- und Vergewaltigungsdrohungen nach Kritik an Abgeordnetem

Deleón war die erste Menschenrechtsverteidigerin aus El Salvador, die während Bukeles Amtszeit Schutzmaßnahmen von der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (CIDH) zugesprochen bekam. Am 19. September 2021 forderte die Kommission El Salvador auf, „die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um das Recht von Deleón auf Leben und persönliche Unversehrtheit zu schützen“. Die Anwältin solle ihre Arbeit machen können, ohne bedroht, eingeschüchtert oder Opfer von Gewalt zu werden. Trotzdem lebt María Deleón heute mit einem Schutzstatus und einer permanenten Aufenthaltserlaubnis in einem anderen lateinamerikanischen Land.

Bei den Wahlen 2021 war Deleón für die linksliberale Partei Nuestro Tiempo angetreten. Als Anwältin vertrat sie unter anderen Liduvina Escobar bei deren Einspruch vor der Verfassungskammer gegen ihre Suspendierung vom IAIP. Laut CIDH erhöhte sich Deleóns Risikostatuts bereits im Jahr 2020, als sie die Kandidatur des Politikers Walter Araujo auf das Abgeordnetenamt stoppte, indem sie ihn digitaler Angriffe auf sie beschuldigte, die zu Mord- und Vergewaltigungsdrohungen führten. Weil Araujo der Regierungspartei Nuevas Ideas angehört, galt Deleón seither als Kritikerin von Bukeles Regierung. Einen Tag nach der Auflösung der Verfassungskammer und der Staatsanwaltschaft am 2. Mai 2021 kündigte Araujo an, die Anwältin zu verklagen, weil sie als geheim eingestufte Details eines Gerichtsprozesses veröffentlicht hätte. Weitermachen will Deleón trotzdem: „Auswandern ist kein Verbrechen, ich will ein Leben ohne Gewalt, ein Leben in Würde führen, um meine Kinder aufzuziehen und weiterzuarbeiten“, sagt Deleón heute.

DER NEUE WIDERSTAND

Neue Bewegung an vielen Fronten “Tausche Bitcoin gegen meine verschwundene Tochter (Foto: Kellys Portillo-Alharaca)

Am 15. September 2021, dem 200. Jahrestag der Unabhängigkeit El Salvadors, waren die Hauptstraßen der salvadorianischen Hauptstadt von Menschen überlaufen. Im Gegensatz zu anderen Jahren gehörte der Zustrom jedoch nicht zur traditionellen Militärparade zur Feier der Unabhängigkeit. Dieses Jahr waren die Straßen des historischen Zentrums von San Salvador voller Bürger*innen, die gegen die Regierung von Nayib Bukele demonstrierten. Zwar gingen schätzungsweise nur 10.000 Menschen auf die Straße. Dennoch gilt die Protestaktion vom 15. September seither als Meilenstein für eine junge salvadorianische Demokratiebewegung.

Im Gegensatz zu den breiten Mobilisierungen zur Zeit der Militärdiktatur waren die salvadorianischen Bürger*innen seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens 1992 kaum noch in großer Zahl auf die Straße gegangen. Dabei hätte es an Anlässen nicht gemangelt: Weder die Gewaltexzesse im Land mit der zwischenzeitlich höchsten Mordrate der Welt noch Korruptionsskandale bei allen Parteien oder geheime und illegale Pakte zwischen Politiker*innen und Gangs hatten Massendemonstrationen herbei geführt.

Das bedeutet nicht, dass die Straßen in den vergangenen 30 Jahren leer waren. Insbesondere feministische Gruppen, bäuerliche und Umwelt-*bewegungen sowie die LGBTIQ*-Community demonstrierten regelmäßig und standen in sozialen Kämpfen der demokratischen Ära an vorderster Front. Auch sie waren es, die sich in den vergangenen zwei Jahren konsequent gegen die antidemokratischen Maßnahmen der Regierung einsetzten. Trotz des Engagements für Demokratie und Menschenrechte war es ihnen jedoch nicht gelungen, eine breitere zivilgesellschaftliche Beteiligung an den Demonstrationen zu mobilisieren.

Die Nichtregierungsorganisation Fundaungo bringt in einer Studie aus dem Jahr 2015 die schwache Protestkultur mit der Politikverdrossenheit der Salvadorianer*innen und ihrer tiefen Unzufriedenheit mit der Repräsentation im Zweiparteiensystem in Verbindung. So haben sich die früheren Kriegsparteien ARENA und FMLN in der demokratischen Parteienlandschaft als die zwei wichtigsten politischen Kräfte etabliert. Die rechte ARENA war für 20 Jahre an der Macht, die linke FMLN regierte für zwei fünfjährige Amtsperioden. In diesen drei Jahrzehnten haben die verschiedenen Regierungen es nicht geschafft, die schweren politischen Problemen des Landes zu lösen. Die salvadorianische Bevölkerung war zugleich innerlich tief gespalten und enttäuscht von den Regierenden (siehe LN 526).

Die Flitterwochen sind vorüber

Vor diesem Panorama bedeutete die Präsidentschaftskandidatur von Nayib Bukele für eine Gesellschaft, die das etablierte Zweiparteiensystem immer stärker ablehnte, neue Hoffnung. Bukele war jung, verkaufte sich als anti-ideologisch und verkörperte den Bruch mit dem veralteten Zweiparteiensystem. Zudem versprach er eine Art friedliche Revolution: Seine Partei Nuevas Ideas solle eine soziale Bewegung mit Raum für alle Salvadorianer*innen sein.

Die Unterstützung für Nayib Bukele wuchs daher schnell, nachdem er seine Präsidentschaftskandidatur angekündigt hatte. Im Jahr 2018 sammelte er innerhalb von drei Tagen etwa 200.000 Unterschriften für die Anmeldung seiner Partei – viermal so viele wie nötig. Sein Regierungskonzept Plan Cuscatlán sollte ein kollaboratives Projekt werden und wurde mit Vorschlägen von über 20.000 Menschen zusammengestellt. Seit Bukeles Amtsantritt im Jahr 2019 versucht seine Regierung, diese Illusion aufrechtzuerhalten. Derzeit ist der Präsident laut Umfragen noch immer einer der beliebtesten Staatschefs Lateinamerikas.

Doch die Kritik wächst. Nach dem Erfolg bei den Parlamentswahlen Anfang 2021 kontrolliert Bukele das Parlament und stellt nun auch die Mehrheit der Bürgermeister*innen in den Kommunen des Landes. Durch verfassungswidrige Maßnahmen hat sich der Präsident auch Kontrolle über die Judikative verschafft (siehe LN 564). Sogar für Bukeles Anhänger*innen wird immer klarer, dass diese „Bewegung” eher ein Vehikel für die Machtakkumulation des Präsidenten und seines engsten Kreises ist. Die weitere Militarisierung der Sicherheit, die harte Hand in der Pandemie (siehe LN 551), die sich häufenden Korruptionsskandale und der systematische Abbau der Demokratie zeigen ein gänzlich anderes Bild als jenes, das die Regierung selbst zu zeichnen versucht. Das Versprechen eines neuen Anfangs für El Salvador gerät mehr und mehr in Vergessenheit. Maßnahmen wie die Einführung des Bitcoins als gesetzliche Währung ohne vorherige Diskussion verschärfen unterdessen neben den steigenden Lebensmittelpreisen die Unzufriedenheit der Gesamtbevölkerung.

Auf der Demonstration am 15. September wurden all diese Kritikpunkte laut. Die Protestierenden richteten sich gegen die neue Währung, gegen das Verschwindenlassen von Personen, gegen den eingeschränkten Zugang zu Informationen, gegen die Angriffe auf Presse und Zivilgesellschaft, gegen die offensichtliche Korruption und den Abbau der Rechtsstaatlichkeit im Land. Die Aufrufe zur Demonstration kamen aus allen erdenklichen Gruppen, von Studierenden, Basisorganisationen, Gewerkschaften, Kirchen, Gremien und Aktivist*innen. Da die Initiativen so vielfältig waren, verlief die Planung nicht zentral. Dies führte dazu, dass es drei unterschiedliche Demonstrationsrouten gab, die sich schließlich aber im historischen Stadtzentrum am Platz Gerardo Barrios trafen. Dort kamen die verschiedensten Seiten der salvadorianischen Gesellschaft im Protest zusammen.

Wie erwartet fanden sich feministische Kollektive und Umweltorganisationen an der Spitze des Zuges wieder. Für Überraschungen sorgten allerdings Gruppen, die sonst kaum auf die Straßen gehen: Richter*innen und Rechtsan-*wält*innen, die gegen die Krise der Judikative demonstrierten; ebenso Mitglieder evangelikaler Kirchen und katholische Abtreibungs-*gegner*innen; sogar ganze Familien, die zum ersten Mal an einer Demonstration teilnahmen und sich eher als unpolitisch beschreiben würden. Sogar ARENA- und FMLN-Politiker*innen und Anhänger*innen beider Parteien forderten Seite an Seite die Aufrechterhaltung der demokratischen Institutionen.

Die Demonstrationen haben eine Tür geöffnet, die die Regierung nicht mehr schließen kann

Diese massive und vielfältige Demonstration hat die Regierung wie eine Ohrfeige getroffen. Und es war erst der Anfang: Im Zweiwochentakt sollten weitere Protestzüge folgen. Die Reaktion der Regierung auf die Demonstration bestand zunächst in ihrer Verharmlosung: Politiker*innen und staatliche Medien versuchten, den Rest des Landes davon zu überzeugen, dass nur sehr wenige Menschen demonstriert hätten. Andere Medien hätten das Ausmaß der Demonstrationen völlig übertrieben und die Demonstrierenden seien von den traditionellen politischen Parteien bezahlt worden, um ihre Unzufriedenheit mit dem Präsidenten vorzutäuschen. Alles in allem seien die Proteste also winzig und unbedeutend.

Widersprüchlicher Weise unternahm die Regierung gleichzeitig Maßnahmen, um weitere Demonstrationen zu vermeiden. In den folgenden Wochen kam es vor geplanten Protesten zu polizeilichen Straßensperren auf den Autobahnen, die die Hauptstadt mit dem Rest des Landes verbinden. Busse mit Demonstrierenden wurden von der Polizei ohne Rechtfertigung festgehalten. Am 20. Oktober, drei Tage nach einem erneuten Massenprotest gegen Bukele, sprach das Parlament ein Verbot für öffentliche und private Massenkundgebungen aus, angeblich aufgrund der hohen Corona-Infektionszahlen. Ausgenommen von diesem Verbot sind jedoch sportliche Aktivitäten wie Fußballspiele der Nationalmannschaft oder kulturelle Veranstaltungen wie Konzerte und Partys. Darüber hinaus erlaubt das Gesetzesdekret des Parlaments, dass die von Bukele kontrollierte Generalstaatsanwaltschaft gegen die Organisator*innen von Massenkundgebungen ermittelt und sie strafrechtlich verfolgt.

Doch die Bemühungen der Regierung, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen und die salvadorianische Bevölkerung von der Straße fernzuhalten, halten diese bisher nicht auf. Zehn Tage nach dem gesetzlichen Verbot von Demonstrationen fand eine neue Kundgebung statt, um die Regierung aufzufordern, Maßnahmen gegen die Welle des Verschwindenlassens von Personen zu ergreifen. Die Empörung der Demonstrierenden zeigt sich derzeit stärker als jegliche Drohung oder Repression. Das Verbot der Demonstrationen lässt die Ablehnung von Bukeles Vorgehen zudem wachsen. Die Demonstration vom 15. September hat daher eine Tür geöffnet, die die Regierung nicht mehr schließen kann.

Es bleibt abzuwarten, ob es dem neuen salvadorianische Widerstand gelingt, auch langfristig zu denken. Denn Demonstrationen auf der Straße als Reaktion auf politische Entwicklungen sind wichtig, aber nicht genug, um die salvadorianische Demokratie zu verteidigen und wieder aufzubauen. Derzeit handelt es sich bei der Widerstandsbewegung um eine sehr breite und vielfältige Allianz. Das mag Hoffnung bringen, reicht aber langfristig nicht aus. So wird sich die Bewegung bemühen müssen, weitere Anknüpfungspunkte zu finden, um mehr als lediglich eine Oppositionskraft zu verkörpern und eine echte politische Alternative aufzuzeigen. Denn auch wenn Nayib Bukele irgendwann nicht mehr Präsident sein sollte, bestehen die multiplen Krisen, die zu seiner Präsidentschaft geführt haben, weiterhin. Es sind diese multiplen Krisen, die die neue Widerstandsbewegung angehen muss. Der aufkeimende Widerstand muss sich also vielen Herausforderungen stellen. Aber eines hat er mit den größten Demonstrationen seit Jahren klargemacht: Die Flitterwochen sind vorüber. Eine neue Generation von Salvadorianer*innen wacht auf. Sie weigert sich, die Geburt einer Demokratie miterlebt zu haben, nur um sie drei Jahrzehnte später wieder zu beerdigen.

MIT DER PANDEMIE IN DEN AUTORITARISMUS

Allmachts-Fantasien? Präsident Bukele ist mit Überschallgeschwindigkeit auf dem Weg in den autoritären Staat

El Salvadors Demokratie ist noch jung: Erst nach dem Ende des zwölfjähriger Bürgerkriegs 1992 öffnete sich das ideologische Spektrum für die Repräsentation durch Parteien in freien Wahlen. Es begann ein dunkles Kapitel strafrechtlicher Amnestie und fehlender Aufarbeitung (s. LN 526). Zudem wurde die Mehrheit der Bevölkerung von einer Privatisierungswelle infolge der Liberalisierung der Wirtschaft getroffen. Kriminelle Gruppierungen und Netzwerke der Korruption breiteten sich aus, die Emigration wurde für viele zur einzigen Option.

Die politischen Parteien FMLN und ARENA, die die Lager des Bürgerkriegs repräsentierten und das Land in dessen Folge 30 Jahren lang regierten, waren unfähig, die wichtigsten strukturellen Probleme des Landes zu lösen: Armut und Ungleichheit, Umweltzerstörung, Gewalt und Missachtung der Menschenrechte – um nur einige zu nennen. Es war auch diese Unfähigkeit, die Nayib Bukele im Juni 2019 zur Präsidentschaft verhalf.

Bukele hat bewiesen, dass er die militärisch ausgerichtete Politik weiterführt

Die Regierung agiert über Präsident Bukele, den sie als einzige und unbestechliche Befehlsfigur inszeniert, und fördert permanent den Konflikt zwischen den Staatsgewalten, um die Politikverdrossenheit zu befeuern, die ihn an die Macht gebracht hat. Bereits acht Monate nach seinem Amtsantritt offenbarte Bukele seinen autoritären Politikstil, als er am 9. Februar im Parlament das Militär aufmarschieren lies, damit die Abgeordneten einer von ihm geforderten Kreditaufnahme zur Aufstockung des staatlichen Sicherheitsapparats zustimmen (siehe LN 549).

In El Salvador, das bereits seit Jahrzehnten mit sozialen, ökologischen, wirtschaftlichen und politischen Problemen kämpft, wird die Pandemie für das Land und seine Bewohner*innen zur Existenzbedrohung. Die ersten Maßnahmen zur Bekämpfung von SARS-Cov-2 der Regierung Bukele waren daher drastisch, aber notwendig: Die Landesgrenzen wurden geschlossen, noch bevor überhaupt ein Fall von COVID-19 im Land bekannt war. Obwohl dies viele Menschen betraf, etwa an den Flughäfen und Grenzen, fügten sie sich den Auflagen zum Wohl der Allgemeinheit.

Gleichwohl verbreitete sich mit den Nachrichten des Präsidenten auf Twitter und den nationalen Radio- und Fernsehkanälen auch die Angst vor dem Tod durch Ansteckung. Das war der Hauptgrund dafür, dass die Bevölkerung der Ausgangssperre und häuslichen Quarantäne gehorchte. Die Regierung nimmt an, dass die Bevölkerung die Auflagen nur einhält, wenn Druck oder sogar Gewalt auf sie ausgeübt wird. Das hat zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung geführt, die Polizei- und Militärkontrollen zur Überprüfung der Einhaltung der Maßnahmen im öffentlichen Raum unumgänglich macht.

Für die Politik Salvadors stellt Bukele eine seltsame Mischung dar: Sein unternehmerisches Erbe hat ihm auch ohne große akademische Bildung zu vielen Privilegien verholfen. Zuerst an der Seite der linken Partei FMLN, bindet er sich jetzt auch an die extreme Rechte, die alle attackiert, die sich ihren autoritären Entscheidungen entgegenstellen. Medienmanipulationen, wie bei Trump oder Bolsonaro, sind fester Bestandteil seiner Kommunikationsstrategie. So repräsentiert der salvadorianische Präsident gleichzeitig den caudillismo, den die Mehrheit der Bevölkerung in Krisenzeiten fordert, und den Durchschnittsmenschen, der nach seinen Instinkten, Emotionen und dem „gesunden Menschenverstand“ handelt.

Zu den Maßnahmen in der Coronakrise gehörten neben der Grenzschließung auch die finanzielle Beihilfe von 300 Dollar für 70 Prozent der Bevölkerung, die Aussetzung der Zahlungen für Wasser, Energie und Telekommunikation sowie der Steuern für drei Monate. Für Menschen, die bei der Einreise ins Land möglicherweise infiziert waren, wurden Zentren zur Eindämmung des Virus eingerichtet. Jede dieser sogenannten Erfolgsmaßnahmen muss jedoch reflektiert und verbessert werden, um der Pandemie dauerhaft wirksam entgegenzutreten.

Die finanzielle Beihilfe beispielsweise setzte einen Kredit von zwei Milliarden Dollar voraus; sie erhöhte die historische Auslandsverschuldung El Salvadors noch weiter, die im Januar dieses Jahres bereits 71 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entsprach. Weil es sich bei den Finanzhilfen für die Bevölkerung um Einmalzahlungen handelt, ist zudem unklar, was die Menschen tun, die ohne laufendes Einkommen im informellen Sektor arbeiten, wenn der Hunger die Angst vor dem Virus besiegt.

Die Festgenommenen wurden in die neuen Gesundheitszentren gebracht – zur Strafe und nicht, weil sie infiziert waren.

Die neu eingerichteten Zentren zur Eindämmung des Virus haben sich derweil zu Zentren der erzwungenen Isolation ohne feste Protokolle entwickelt. Gesunden oder geheilten Menschen ist es daher nicht einfach möglich, wieder nach Hause zu gehen. Die Zentren stehen exemplarisch für die Krise des Gesundheitssystems, in dem Mediziner*innen und Pflegepersonal einer hohen Ansteckungsgefahr ausgesetzt, extrem erschöpft und zudem der Diskriminierung jener Menschen ausgesetzt sind, die durch die Kommunikation der Regierung eine irrationale Angst vor allen entwickeln, die einer Ansteckung verdächtigt werden.

 Am meisten Unsicherheit bringt, wie schon vor der Pandemie, das Thema der territorialen Kontrolle und die Bekämpfung krimineller Banden mit sich. Keine von Bukeles Vorgängerregierungen war in dieser Hinsicht erfolgreich. Die von einem salvadorianischen Journalisten als „Mafia der Armen“ bezeichneten Menschen, sind nach wie vor der verwundbarste und gefährlichste Teil der Bevölkerung El Salvadors – die Ärmsten und am stärksten Ausgegrenzten, die zu einem Gebilde aus Macht und Gesetzlosigkeit werden; sie nutzen eine Gesellschaft aus, die seit Jahrzehnten auf Korruption, Ungleichheit und Klassenkampf beruht. Die Regierung von Bukele scheint bei der Bewältigung dieses historischen Problems eine Schlüsselrolle zu spielen: nie waren die Mordstatistiken so niedrig, wie in den letzten Monaten. Leider gilt dies nicht für den Schutz von Frauen: während der Quarantäne gab es 13 Feminizide und einen Anstieg von Berichten geschlechtsspezifischer Gewalt um 70 Prozent.

Die Gewalt in El Salvador könnte eine Zeitbombe sein. Am letzten Wochenende im April 2020 wurden 76 Morde in nur vier Tagen begangen, was den meisten positiven Berichten der Regierung widerspricht. Ob der neue Waffenstillstand ausgelaufen ist, die Wirtschaftskrise aufgrund der Pandemie die Bandenerpressungen beeinflusst, oder ob die Banden als politische Akteure alte und neue Forderungen an die Regierung stellen – niemand scheint zu wissen, was die Gründe dafür sind. Der Präsident hat seinerseits zum Ausdruck gebracht, dass seine Regierung und seine Streitkräfte hart darauf reagieren werden.

Alles deutet darauf hin, dass die Lösung des Problems für den Präsidenten und seine Regierung auf Gewalt basiert und Gewalttaten und -missbrauch in Kauf genommen werden, wie es für Länder mit schwachen juristischen Institutionen typisch ist – die finanzielle Stärkung der Sicherheitsorgane und des Militärs unter Bukele spricht diesbezüglich für sich. Nach einem Bericht der Onlinezeitung El Faro sah das staatliche Budget von 2019 hierfür gut 18 Prozent mehr vor als im Jahr davor, gleichzeitig wurden Darlehensanträge gestellt, um militärische Ausrüstung zu kaufen.

Die Pandemie verstärkt die Tendenzen eines autoritären Regimes.

Während der strengen Ausgangssperre sind bei Polizei- und Militärkontrollen mehrere hundert Personen festgenommen worden. Die Festgenommenen wurden in die neuen Gesundheitszentren gebracht – zur Strafe und nicht, weil sie infiziert waren. Die Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs erklärte am 15. April die Verfassungswidrigkeit dieser Festnahmen, Präsident Bukele missachtet dieses Urteil jedoch. Das treibt den salvadorianischen Rechtsstaat zunehmend in eine allgemeine Krise, die sich in Verwirrung und einer Tendenz zur Gesetzlosigkeit seitens der Bevölkerung sowie in verstärkter Repression seitens der bewaffneten Kräfte in Komplizenschaft mit dem Präsidenten äußert.

Diese Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit sind nicht neu und werden so lange andauern, wie der Präsident Rückhalt genießt. Die Regierung wird versuchen, die Kontrolle über politische Konflikte zu behalten und sich gleichzeitig mit sozialen Maßnahmen den Rückhalt der Bevölkerung zu sichern. Die Parteien im Parlament agieren in dieser Situation zaghaft, indem sie sich zwar gegen den Autoritarismus aussprechen, aber im Allgemeinen zugunsten des Präsidenten entscheiden und wegen der Pandemie den Ausnahmezustand ausrufen.

Die Hauptbefürchtung der progressiven Gesellschaftsteile ist, dass sich die autoritären Tendenzen nach der Pandemie fortsetzen oder sogar verstärken. Die anhaltende Beschneidung der Pressefreiheit, etwa durch die Zensur von regierungskritischen Medien und Menschenrechtsorganisationen sind ein beständiges Symptom geschwächter Demokratien, die sich nach und nach in Diktaturen verwandeln. Vertreter*innen kritischer Onlinemedien, wie etwa El Faro, die Vereinigung von Journalist*innen in El Salvador (APES) und der Tisch zum Schutz der Journalist*innen im Land, stimmen in ihren Aussagen darin überein, dass der Zugang zu Informationen blockiert wird und Journalist*innen vor und während der COVID-19-Krise wiederholt belästigt und schikaniert wurden. Dieses Warnsignal wird verstärkt durch Troll-Angriffe in Reaktion auf kritische Kommentare und Analysen in sozialen Netzwerken.

Alle vor uns liegenden Straßen tragen Warnbotschaften für die verwundbare salvadorianische Demokratie

Für die Regierung Bukele symbolisieren der 9. Februar und der 15. April 2020 den Beginn von Schritt 4 aus dem Buch von Ece Temelkuran „How to Lose a Country in 7 Steps“: Juristische und politische Mechanismen abbauen, indem die gesetzgebende Gewalt bedroht und die richterliche Gewalt missachtet wird. Die Strömung des Populismus in Lateinamerika ist nach wie vor stark, wenn es darum geht, Wahlen zu gewinnen und sich in autokratischer Art an der Macht zu halten – und dies als öffentliche Forderung im Sinne des Allgemeinwohls zu tarnen. Die Pandemie erweist sich als idealer Kontext für solche antidemokratischen Szenarien.

Autokratie wird als ein Regierungssystem definiert, das die Macht in einer einzigen Figur konzentriert, deren Handlungen keinen rechtlichen oder gerichtlichen Beschränkungen unterliegen, und so die Rechtsstaatlichkeit bricht und beseitigt. Die salvadorianische Regierung zeigt durch die Handlungen, Botschaften und die Symbolik des amtierenden Präsidenten mit Unterstützung der Streitkräfte unmissverständlich, dass er und sein Vertrauenskreis absolute Macht für die einzige Möglichkeit halten, zu regieren.

Im Zentrum von Bukeles Handlungen steht das Vorhaben, die Vorschläge und Meinungen eines ganzen Bevölkerungsteils, der sich seit Jahrzehnten für eine echte partizipative Demokratie einsetzt, unsichtbar zu machen. Doch Menschenrechtsorganisationen, Bürgerrechtler*innen, Wirtschaftsreformer*innen, sowie nationale und internationale Institutionen, die sich für den Schutz der Umwelt und den verwundbarer Bevölkerungsgruppen einsetzen, sind unabdingbar für die Existenz eines demokratischen Staates – nur mit ihrer Beteiligung im Dialog mit den staatlichen Organen, kann den akuten und chronischen Krisen, die die Pandemie nach und nach mit sich bringen wird, entgegengetreten werden.

Die für 2021 geplanten Parlaments- und Bürgermeisterwahlen könnten infolge der Pandemie als auch des autoritären Vorgehens der Regierung umgangen oder abgesagt werden. Vor dem Hintergrund, dass das oberste Ziel staatlichen Handelns der Schutz des Lebens ist, tragen alle vor uns liegenden Straßen Warnbotschaften für die verwundbare salvadorianische Demokratie − eine Demokratie, die nur ohne Autoritarismus überleben kann.

MIT GOTT UND MILITÄR

Der Präsident El Salvadors, Nayib Bukele, ist seit Juni 2019 im Amt (Foto: Presidencia El Salvador)

Nayib Bukele von der Mitte-Rechts-Partei GANA hat es wieder einmal in die internationalen Schlagzeilen geschafft. Nach seinem deutlichen Wahlsieg in der Präsidentschaftswahl im Februar vergangenen Jahres und seinem Selfie vor der UN-Generalversammlung im September steht er dieses Mal allerdings deutlich in der Kritik. Für den 9. Februar – einen Sonntag – hatte der salvadorianische Präsident das Parlament zu einer umstrittenen Sondersitzung befohlen. Als die meisten Abgeordneten sich weigerten, zu erscheinen, lief er gemeinsam mit Soldat*innen und Polizist*innen in Kampfuniform in den Plenarsaal ein. Dort betete er zu Gott, der ihm vermeintlich zuflüsterte, sich in „Geduld zu üben“.

Die brachialen Bilder des militärisch besetzten Parlaments haben eine Vorgeschichte: Der häufig als Twitterpräsident bezeichnete Bukele, der seine Meinung und Befehle vor allem über den Kurznachrichtendienst verbreitet, kann seit Monaten vor allem einen Erfolg vorweisen: die Senkung der Mordrate. Die Tendenz hatte zwar 2016 unter der linken FMLN-Regierung begonnen, sich aber unter Bukeles Regierung erheblich verstärkt. Dass dies vor allem auf einem Abkommen mit den Jugendbanden, den sogenannten Maras, beruhen könnte, ist zwar nicht bewiesen, aber recht offensichtlich. Die Regierung spricht von einem Sicherheitsplan mit sieben Etappen, von dem sie bisher jedoch nur zu drei Etappen diffuse Informationen veröffentlicht hat. Das Parlament billigte den Haushalt für 2020 mit erheblich gesteigerten Mitteln für die Ressorts innere Sicherheit und Verteidigung und winkte auch einen Kredit über 91 Millionen US-Dollar für die zweite Etappe des Sicherheitsplans mit einfacher Mehrheit durch. Damit darf die Regierung laut salvadorianischem Recht Verhandlungen mit dem Kreditgeber aufnehmen. Für eine endgültige Bewilligung ist anschließend eine Zweidrittelmehrheit nötig.

Parallel dazu beantragte die Regierung nun einen weiteren Kredit über 109 Millionen US-Dollar, mit dem neben Polizeiausrüstung und Videoüberwachung auch Helikopter und ein Patrouillenboot angeschafft werden sollen. Als die nötigen Stimmen beinahe zusammen waren, kamen Bilder von Osiris Luna Meza, dem Leiter der salvadorianischen Strafvollzugsanstalten, an die Öffentlichkeit. Sie zeigen ihn in einem Privatflugzeug auf einer vermeintlichen Arbeitsreise nach Mexiko. In den sozialen Netzwerken ging daraufhin die Frage „Wer hat die Mexikoreise bezahlt?“ viral. Schließlich stellte sich heraus, dass es sich bei dem Finanzier um die Firma SeguriTech mit Sitz in Mexiko handelt. Sie geriet während der Amtszeit des mexikanischen Präsidenten Enrique Peña Nieto (2012-2018) wegen mangelhafter Überwachungstechnologie stark in die Kritik. Für die gleiche Technologie sind nun in einem der Kreditanträge rund 25 Millionen US-Dollar vorgesehen.

Bukele betete theatralisch zu Gott

Die FMLN-Regierung hatte in ihrer Amtszeit von 2009 bis 2019 oft über Monate und sogar Jahre hinweg mit der rechten Parlamentsmehrheit gerungen, um zum Beispiel Kredite für ein neues Zentralkrankenhaus in der Hauptstadt San Salvador oder die Modernisierung der wichtigsten Wasseraufbereitungsanlage für die Hauptstadtregion bewilligt zu bekommen. Der junge Präsident Bukele zeigt sich hingegen schon nach wenigen Wochen ungeduldig und wenig kompromissbereit.

Dies wurde besonders deutlich, als er auf einen für Katastrophenfälle gedachten Verfassungsparagraphen zurückgriff, der es dem Kabinett erlaubt, das Parlament zu einer Sondersitzung einzuberufen. Diese setzte er für Sonntag, den 9. Februar an und rief gleichzeitig zu einer Massendemonstration vor dem Parlament auf. Die Abgeordneten lehnten die Sondersitzung mehrheitlich ab.

In den Tagen vor dem 9. Februar spitzte sich die Situation zu. Staatsbedienstete wurden von Bukele unverhohlen dazu aufgefordert, an der Demo teilzunehmen, um ihren Arbeitsplatz nicht zu gefährden. Am Sonntagmorgen war das Behördenviertel rund um das Parlament mit Militär­einheiten besetzt. Von den 84 Abgeordneten waren nur gut zwanzig vor Ort. Die FMLN-Fraktion wurde von eigenen Anhänger*innen beschützt, nachdem die Verantwortlichen der Polizei den Abgeordneten die Leibwächter*innen entzogen hatten.

Die öffentlichen Reaktionen fielen bis Sonntagmorgen eher zurückhaltend aus: Die Jesuitenuniversität UCA bezog früh kritisch Stellung, ebenso wie einige soziale Organisationen und Institute, während Luis Almagro, der US-hörige Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) der Regierung sein Vertrauen aussprach und der US-Botschafter zur Ruhe aufrief. Als sich die Situation weiter verschärfte, meldete sich die EU mit einem kritischen Kommuniqué zu Wort. Auch die Vereinten Nationen und vor allem der US-Botschafter Ronald Johnson äußerten sich immer deutlicher, während die Katholische Kirche und die Nationaluniversität UES sich in Schweigen hüllten.

Vor dem Parlament demonstrierten statt der erhofften Massen gerade einmal 5.000 Personen, viele von ihnen hatten das Angebot einer kostenlosen Reise in die Hauptstadt inklusive Verpflegung angenommen.

Auch eine erneute Sonntagsdemo für den „Volksaufstand“ in der darauffolgenden Woche versammelte nur 300 Personen, während sich in den (sozialen) Medien Entsetzen über das Vorgehen Bukeles abzeichnete. Letztlich erklärte das Verfassungsgericht die Entscheidungen des Präsidenten für gesetzeswidrig, weshalb der Kredit für die innere Sicherheit vorläufig auf Eis gelegt wurde.

300 Personen auf der Demo für den „Volksaufstand“

Bukele hat die rechte Arena-Partei und die linke FMLN in eine Ecke gedrängt, in der sie gemeinsam die Nachkriegsordnung inklusive der in der öffentlichen Wahrnehmung völlig diskreditierten Judikative, Legislative und Staatsanwaltschaft verteidigen. Dabei können sie auf die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und wohl auch breiter Teile des Bildungsbürgertums zählen. Die Frage ist jedoch, ob Bukele mit seinem konfrontativen Diskurs gegen das „alte“ und „korrupte“ System bis zu den Parlamentswahlen im Februar 2021 seine vergleichsweise breite Unterstützung halten kann. Gelingt dies, könnten im Parlament neue Mehrheitsverhältnisse entstehen, die ihm eine Vertiefung seines diffusen populistischen Projekts erlauben würden.

Die Lähmung der rechten Arena und der linken FMLN, die beide in interne Streitigkeiten verwickelt und öffentlich weitgehend diskreditiert sind, kommt Bukele dabei recht. Gegenwind droht ihm dennoch, da die Fortschritte im Bereich innerer Sicherheit fragil sind und die Wirtschaftspolitik des neuen Präsidenten bisher keine Verbesserungen erkennen lässt. Die systematische Demontage auch anerkannter Fortschritte der FMLN-Regierung, der harsche und populistische Umgangston und die Anfälligkeit für Korruption sind weitere Risikofaktoren. Nicht zuletzt aber droht Gefahr aus den eigenen Reihen. Denn in Bukeles politischem Umfeld tummeln sich Leute mit Machtansprüchen. Dies birgt für die internen Vorwahlen für die Listen der Kommunal- und Parlamentswahlen in den nächsten Monaten einiges an Zündstoff für Konflikte innerhalb der Partei.

VOM „DRECKSLOCH“ ZUM „SICHEREN DRITTSTAAT“

Botschaft am Grenzzaun von Tijuana „Kein Hindernis kann uns daran hindern, unsere Träume zu erreichen; wir sind Mexikaner und nicht aufzuhalten“ (Foto: Wolf-Dieter Vogel)

Während des mexikanischen Herbstes der Migration vergangenen Jahres standen nicht etwa die Gewalt der organisierten Kriminalität, nicht die von extraktivistischen Projekten ausgelösten Vertreibungen, nicht die von einer strukturellen Armut gebeutelte Bevölkerung im Fokus der Öffentlichkeit. Stattdessen hat der zur Angst konvertierte Rassismus und die mediale und politische Scharfmacherei in den USA die Debatte bestimmt. Weil sich in sogenannten Karawanen von Migrant*innen (Caravanes Migrantes) tausende Menschen aus Zentralamerika gemeinsam auf den Weg gen Norden machten, gab sich der US-amerikanische Präsident Trump aggressiv, drohte und schickte das Militär an die Südgrenze des Landes. Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen teilte mit, dass am 19. und 20. Oktober vergangenen Jahres 7.233 Personen aus Guatemala, Honduras und El Salvador registriert wurden, die nach der mexikanischen Grenzbrücke Rodolfo Robles über den Fluss Suchiate eine Regierungsstelle für die Erstversorgung von Migrant*innen aufsuchten. Ein Großteil von ihnen begab sich anschließend auf den Weg durch Mexiko. Es fehlten noch immer tausend Kilometer zur US-Grenze. Trump kündigte an, 5.200 weitere Soldaten an die Grenze zu schicken – zusätzlich zu den bereits stationierten 2.092. Die Größe der ersten, von den Medien so breit rezipierten Karawane ließ sich zu diesem Zeitpunkt auf ungefähr 3.500 Menschen schätzen. Darunter 2.300 Kinder.
Fast zeitgleich kam eine zweite Karawane an die guatemaltekisch-mexikanische Grenze, knapp 2.000 Menschen aus Honduras. Auch aus El Salvador hatten sich mindestens 200 Personen auf den Weg Richtung Mexiko gemacht. Der offizielle Grenzübergang bei Tecún Umán wurde, wie zu erwarten war, auf mexikanischer Seite gesperrt . Die Bundespolizei schoss, obwohl sie es verneinte, mit Gummigeschossen auf die Verzweifelten. Henry Adalid Días Reyes wurde unterhalb des rechten Auges getroffen und starb.
Zwischen Guatemala und Mexiko verläuft der Grenzfluss Suchiate. Viele Migrant*innen versuchen immer wieder den Weg über den Fluss. Was dann passierte ist nur schwer an Maßnahmen der Verachtung für diese Menschen zu übertrumpfen. Die mexikanische Bundespolizei entsandte einen Helikopter, der mit den Rotorblättern die Menschen am Durchschwimmen hinderte. Kaltblütig wurde in Kauf genommen, dass hierbei Menschen, darunter viele Kinder, hätten ertrinken können.

Administrativer Irrsinn

Fast 2.500 Kilometer nördlich, an der Grenze zu den USA, wurde die mexikanische Polizei am Grenzübergang von Tijuana von den Migrant*innen der ersten Karawane ausgetrickst. Sie sprangen über Mauern und durchliefen einen Kanal, abseits des normalen Grenzübergangs. Auf ihren Versuch, die Grenze illegal zu überqueren, wurde mit Gummigeschossen und Tränengas seitens der US-Border Patrol geantwortet. Trump sagte zwei Wochen zuvor, während einer Pressekonferenz: „Wenn sie Steine auf uns werfen, wird unser Militär zurückschlagen. Wir werden die Steine als Waffe betrachten.“ Er zeigte damit, dass auf den rhetorischen Wahnsinn auch menschenfeindliche Akte folgen.
Mexikanische Behörden behaupteten zwar, es gäbe keine Verletzten, was allerdings die USA-Korrespondentin für TeleSur, Alina Duarte, auf ihrer Facebook-Seite dementierte: „Babies und Kinder, die wegen des Tränengases weinten. Frauen, die von den Gummigeschossen verletzt wurden. Mexikanische Bundespolizisten, die auf die Migrant*innen einschlugen. Vor allem aber sah ich Leute, die, wissend dass sie sterben könnten, weiterhin die Grenze zu überqueren versuchten.” Wenn die Not und die Verzweiflung der Antrieb sind, dann schreckt auch die militärisch stärkste Nation der Welt nicht ab.
Während sich die Augen der Welt damals auf die US-mexikanische Grenze konzentrierten, war mit Blick auf die mexikanische Südgrenze ersichtlich, dass sich dort auch zukünftig die Kristallisationspunkte einer verschobenen US-Grenzpolitik und dem Exodus aus Mittelamerika etablieren würden. Denn der Exodus würde weitergehen. Das verdeutlichten schon damals nicht nur die zwei, drei, vier Karawanen, die inzwischen kleiner wurden. Vielmehr zeigt es sich an der Menge der Menschen, die bisher medial und politisch meist unbemerkt fliehen. Von Januar bis September 2018 haben mexikanische Behörden 41.759 Menschen aus Honduras aufgegriffen; zusätzlich zu 9.503 aus El Salvador und 36.708 aus Guatemala. Abgeschoben wurden über 78.000. Und es ist noch lange nicht vorbei. Das ist auch der US-Regierung bewusst. Folglich vollzog sie einen schärferen Kurs in ihrem Migrationsregime und handelte mit Guatemala im Juli, El Salvador Mitte September und Honduras Ende September dieses Jahres Abkommen über eine sogenannte sichere Drittstaaten-Regelung aus. In allen drei Ländern wird zur Zeit heftige Kritik an der neuen Regierungsvereinbarung geübt, die zwar zwischen den Ländern bereits vertraglich festgehalten worden ist, von den gesetzgebenden Instanzen aber noch angenommen werden muss.
Das Konzept des sicheren Drittstaates sagt aus, dass, wenn eine Person ihr Heimatland verlässt, um in einem anderen Land Asyl zu beantragen, sich dieses zweite Land dem widersetzen und die Person stattdessen an einen dritten Staat weiter leiten kann, der als sicher verstanden wird. Zur Folge haben könnte dies, dass eine Honduranerin, die in den USA einen Asylantrag stellen will, an Guatemala oder El Salvador verwiesen wird, die als „sicher“ gelten. An sich grenzt die Regelung an einen administrativen Irrsinn, da aus allen drei „sicheren Drittstaaten“ die Menschen zuhauf fliehen. Gleichzeitig sind die Migrationspolitiken der letzten Jahrzehnte keineswegs dafür bekannt, zugunsten der fliehenden Menschen erarbeitet worden zu sein, sondern um die eigene restriktive Immigrationspolitik zu verschärfen. Nicht verwunderlich also, dass sich Donald Trump nun mit scheinheiliger Wertschätzung an seinen salvadorianischen Amtskollegen wendet.

Über 10.000 Soldat*innen sichern Mexikos Südgrenze

Diejenigen, die sich von der Regelung nicht abschrecken lassen und sich dennoch auf den Weg machen, treffen an der Grenze zwischen Guatemala und Mexiko seit Juni 2019 auf eine militarisierte Zone. Über 10.000 Soldat*innen hat Präsident Andrés Manuel López Obrador in den Süden seines Landes geschickt – und zollte damit seinem nördlichen Nachbarn Tribut, damit er nicht, wie zuvor angedroht, höhere Zöllen auf mexikanische Produkte erhob.
Sollte es dennoch Mittelamerikaner*innen geben, die all die tödlichen Strapazen der Reise überwinden und vor den Toren der USA stehen, dann warten an der über 3000 km langen Grenze, laut Trump, an die 27.000 Militärs, die López Obrador geschickt habe. Nicht umsonst frohlockte Scharfmacher Trump Ende Oktober und gab vor einigen Journalist*innen bekannt, was allen klar war: „Ich benutze Mexiko, um unsere Grenze zu sichern.“ Nebst der militärischen Drohung wartet seit Jahresanfang auch eine neue administrative Hürde auf die Schutzsuchenden. Die Verordnung (Migrant Protection Protocol) dient dazu, dass Personen, die aus Mexiko in die USA einreisen wollen und über keine ausreichenden Dokumente verfügen, in Mexiko auf die Bearbeitung ihres Antrags warten müssen. Der Theorie nach, so das US-Department for Homeland-Security, „wird Mexiko ihnen einen angemessenen humanitären Schutz während ihres Wartens gewähren.“ Diese Zusicherung sind die elektronischen Bytes nicht wert, mit denen sie auf der Internetseite zu lesen sind, bedenkt man die Gewalt- und vor allem Mordrate in den zwei mexikanischen Grenzstädten Tijuana und Ciudad Juárez.
Der Ausbau des Migrationsregimes zahlt sich für die Trumpsche Politik aus. Verhaftete der US-Grenzschutz noch 144.000 Menschen im Mai, waren es 82.000 im Juli und später im August nur noch 64.000, erklärte das Weiße Haus im September dieses Jahres. Dies geht zeitgleich einher mit einer höheren Zahl der Abschiebungen auf mexikanischer Seite. Bereits im Juli 2017 lag die Zahl der Abschiebungen an der Südgrenze Mexikos bei 700 pro Tag.
Wirkte in den vergangenen Jahren das Land Mexiko wie eine Mauer, aufgrund der Gefahren, denen sich die Migrant*innen zu stellen hatten, hat es sich unter dem vermeintlich linken Präsidenten López Obrador in den erweiterten US-Grenzschutz verwandelt.

 

HOFFNUNGSTRÄGER OHNE PLAN

Nayib Bukele im Wahlkampf Unabhängiger Querdenker? (Foto:Caroline Narr)

Der 3. Februar 2019 wird den Salvadorianer*innen noch lange in Erinnerung bleiben: Als der Tag, an dem das Zweiparteiensystem im Land begraben wurde. Seit den Friedensverträgen von 1992 hatten die linksgerichtete Nationale Befreiungs­front Farabundo Martí (FMLN) und die ultrarechte ARENA-Partei die Macht unter sich aufgeteilt. Doch seit Nayib Bukele die politische Bühne des Landes betreten hat, ist alles anders. Bukeles Aufstieg ist eine politische Karriere im Schnell­durchlauf: mit 30 Jahren zum Bürger-meister des kleinen Hauptstadt-Vororts Nuevo Cuscatlán gewählt, drei Jahre später Bürger-meister von San Salvador, nun, mit nur 37 Jahren, die Präsidentschaft. Sein Triumph hatte sich in den Wochen und Monaten vor der Wahl angekündigt. Dass er so deutlich ausfallen würde – Bukele sicherte sich schon im ersten Wahlgang mit rund 53 Prozent der Stimmen die Präsidentschaft – überraschte jedoch auch salvadorianische Beobachter*innen. Noch ist weitgehend unklar, mit welchem politischen Programm Bukele ab dem 1. Juni 2019 das Land regieren will. Denn gewonnen hat er die Wahl nicht so sehr mit eigenen politischen Konzepten, sondern vielmehr mit einer Kampagne gegen die etablierten Parteien und die „alte Politik“. „Bukele ist ein Kind der politischen Fehler, die die FMLN und ARENA begangen haben, als sie an der Macht waren“, sagt der Journalist Sergio Arauz vom salvadorianischen Online-Medium El Faro. „Die Straflosigkeit, die Gewalt, der fehlende Sozialstaat – wir haben noch heute mit den gleichen Problemen zu kämpfen wie nach dem Bürgerkrieg.“

 

Bukele hat die Wahl nicht mit eigenen politischen Konzepten gewonnen

Ähnlich wie in Guatemala, wo der frühere Fernsehkomiker Jimmy Morales vor vier Jahren die Präsidentschaftswahlen mit einem Erdrutsch-sieg gewann, ist nun auch in El Salvador ein politischer Outsider an die Macht gewählt worden – so zumindest präsentierte sich Bukele im Wahlkampf. Stimmen tut das allerdings nur auf den ersten Blick. Denn Bukele, der viel gegen die Korruption der politischen Eliten wetterte und die Einrichtung einer Internationalen Kommission zur Bekämpfung der Straflosigkeit nach dem Vorbild der CICIG in Guatemala versprach, ging als Präsidentschaftskandidat für die Gran Alianza por la Unidad Nacional (GANA) ins Rennen. Die kleine, rechte Partei ist mit ihren Problemen prototypisch für das salvadorianische Parteiensystem: Die Finanzierung ist intransparent, wichtige Partei­mitglieder werden der Korruption beschuldigt. Geschadet hat das Bukele im Wahlkampf offenbar wenig. Denn der zukünftige Präsident des Landes wusste sich stets als Opfer des politischen Establishments in Szene zu setzen. Mit GANA habe er nur paktiert, um seine Präsidentschaftskandidatur zu retten, so Bukele – seine eigene politische Organisation „Nuevas Ideas“ war nicht rechtzeitig zur Präsidentschaftswahl als Partei zugelassen worden. Dabei war es eben jenes Establishment, das ihn politisch überhaupt erst groß gemacht hat. Sein Vater Armando Bukele, ein Unternehmer palästinensischer Abstammung und Sympathisant der linken Guerilla, wurde zu seinem Mentor. Nayib Bukeles erste politische Heimat war die linke FMLN, die nach dem Bürger­krieg aus der ehemaligen Guerilla hervorgegangen war.

Der neue Präsident ist nur auf den ersten Blick ein Outsider.

Während seine Amtszeit als FMLN-Bürgermeister des kleinen Hauptstadt-Vororts Nuevo Cuscatlán öffentlich anfangs kaum wahrgenommen wurde, war Bukeles Wahl zum Bürgermeister San Salvadors 2015 gegen den prominenten ARENA-Politiker Norman Quijano eine echte Sensation. Doch die FMLN war für Bukele von Anfang an weniger politische Heimat aus Überzeugung als vielmehr ein Vehikel auf dem Weg zur Macht. Der Vorwurf der Frauenfeindlichkeit – Bukele soll während seiner Amtszeit als Bürgermeister eine städtische Angestellte beleidigt und mit einem Apfel beworfen haben – führte im Oktober 2017 zu seinem Rauswurf aus der Partei. Angekündigt hatte sich das Zerwürfnis schon seit Längerem: Durch seine wiederholte scharfe Kritik an der Regierungsarbeit der eigenen Partei – El Salvador wurde in den vergangenen zehn Jahren links regiert – war er für die FMLN untragbar geworden.

Seiner Popularität tat der Rausschmiss indes keinen Abbruch – im Gegenteil: Er verfestigte das Bild des unabhängigen Querdenkers, der seine Agenda im Zweifel auch gegen die mächtigen Parteiapparate durchsetzt. Bukele, der mit hunderttausenden Followern auf Instagram, Facebook und Twitter seine Wahlkampagne vor allem über die sozialen Netzwerke betrieben hat, gilt als Marketing-Genie. Sein Mandat als Bürger­meister nutzte er dementsprechend, um prestige­trächtige Projekte voranzutreiben – allen voran die Wiederbelebung des Zentrums San Salvadors. Noch vor wenigen Jahren war die historische Mitte der Hauptstadt ein chaotischer Ort voller Straßenhändler*innen und heruntergekommener Gebäude, den man nach Einbruch der Dunkelheit besser nicht betrat. Als Bürgermeister ließ Bukele einige Plätze und bedeutende Gebäude im Zentrum sanieren und siedelte die Straßenhändler*innen in eine neu gebaute Markthalle um. Dafür soll er auch mit den Jugendbanden verhandelt haben, wie das Online-Medium El Faro berichtet hat. Heute haben sich die Salvadorianer*innen einen Teil der Hauptstadt zurückerobert und flanieren auch noch am Abend durch das nun beleuchtete und von Polizist*innen überwachte Zentrum. „Die Dinge, die er versprochen hat, hat er tatsächlich umgesetzt“, sagt der Taxifahrer Humberto Quintanilla aner­kennend. „Das ist etwas Konkretes, das er allen Widerständen zum Trotz durchgesetzt hat – obwohl sich die traditionelle politische Klasse heftig dagegen gewehrt hat.“

Bukele diente die FMLN als Steigbügel für seine Karriere

Bukele profitierte bei seinem Wahlsieg von einer Mischung aus seinem Macher-Image und den Problemen der beiden großen Parteien ARENA und FMLN. Der frühere ARENA-Präsident Antonio Saca wurde 2018 wegen Korruption zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt, sein Nachfolger, der linke Mauricio Funes (FMLN) konnte wegen ähnlicher Delikte nur deshalb noch nicht verurteilt werden, weil Nicaraguas Staatschef Daniel Ortega ihm politisches Asyl gewährt hat. So blieben die beiden großen Parteien bei der Wahl chancenlos: Carlos Calleja, Sohn einer einfluss-reichen Unternehmerfamilie und ARENA-Kandidat, hatte außer dem Versprechen von mehr Arbeitsplätzen in der Wahlkampagne kaum etwas Substanzielles anzubieten und landete mit etwa 32 Prozent deutlich hinter Bukele. Für den Kandidaten der Linken, den langjährigen Außenminister Hugo Martínez, reichte es sogar nur für einen abgeschlagenen dritten Platz – er kam auf gerade einmal gut 14 Prozent der Stimmen. Ein weiterer Rückschlag nach den Parlamentswahlen 2018, bei denen die FMLN nur noch knapp 25 Prozent und 23 Sitze einheimsen konnte. Die FMLN droht damit Schritt um Schritt in der Bedeutungslosigkeit zu versinken, denn auch ihr ist es nicht gelungen, während der zehnjährigen Regierungszeit strukturelle Re-formen anzustoßen, um die großen Probleme des Landes, wie die Unterfinanzierung des Staates oder die grassierende Gewalt, zu lösen.

Unterstützer*innen Bukeles 53 Prozent der Menschen stimmten für den 37-Jährigen
Ob Nayib Bukele das allerdings schaffen wird, steht in den Sternen. Zum einen ist seine Partei GANA nur mit einer kleinen Fraktion im Parlament vertreten. Zum anderen ist Bukele selbst alles andere als ein transparenter Politiker: „Bei ihm ist es wie in einer Kirche, wie bei einem Künstler oder Rockstar: Er möchte nur Applaus bekommen, aber er will nicht darüber reden, was hinter diesem Applaus steckt: wer seine Vertrauensleute sind, woher sein Geld kommt, und was er über wichtige politische Themen denkt“, sagt der Journalist Sergio Arauz von El Faro. Die „alte Politik“, die der zukünftige Präsident so oft im Wahlkampf kritisiert hat, ist offenbar noch längst nicht tot. Vielleicht hat sie in Bukele lediglich einen neuen, modernen Vertreter gefunden.

 

SOUVERÄNE KORRUPTION

Unterstützung für die CICIG: 2018 auf einer Kundgebung in Guatemala-Stadt (Foto: Nis Melbye)

Die Unbeliebtheit der Kommission zur Bekämpfung der Straflosigkeit (CICIG) bei Guatemalas Regierung und Eliten kommt nicht von ungefähr. Nach eigenen Angaben hat die CICIG bereits 60 kriminelle Netzwerke aufgelöst und war an Verfahren gegen rund 680 Personen beteiligt, von denen bisher 310 verurteilt wurden. Die Gründung der CICIG war eine Reaktion auf die Politik der sozialen Säuberungen, die darin bestand, dass die Kriminalpolizei nicht mehr selbst ermittelte, sondern auf der Grundlage von Untersuchungen des militärischen Geheimdienstes unmittelbar vollstreckte. Viele vermeintliche Kriminelle wurden nicht vor Gericht gestellt, sondern gefoltert und anschließend getötet. Den extralegalen Hinrichtungen fielen im Februar 2007 sogar Abgeordnete des Parlaments aus El Salvador zum Opfer, während sie sich für einen Arbeitsaufenthalt in Guatemala befanden. Bei den Abgeordneten der rechten Partei ARENA hatten die Beamten Drogen oder Drogengeld vermutet.

Die internationale Kommission gegen die Straffreiheit in Guatemala (CICIG) nahm 2007 als Institution der Vereinten Nationen (VN) ihre Arbeit auf und arbeitet in erster Linie zur Aufdeckung illegaler Sicherheitsapparate innerhalb staatlicher Strukturen, die Ermittlungen decken vielfach Verstrickungen zwischen den politischen Eliten und der organisierten Kriminalität auf. Die CICIG unterstützt seitdem die Arbeit der FECI, einer Abteilung der guatemaltekischen Staatsanwaltschaft zur Bekämpfung der Straflosigkeit. Die FECI führt gemeinsam mit der CICIG die Ermittlungen und Vertritt vor Gericht die Anklage.

Demonstration in Berlin im Januar 2019: Deutschland gehört zu den Geberländern für die die CICIG (Foto: Andrea Ruíz)

Als derzeitiger Leiter der CICIG wurde Iván Vélasquez in Guatemala zu einem Symbol für die Bekämpfung der Korruption (Interview in der LN 529/530). Unter keinem ihrer bisherigen Chefs war die CICIG so erfolgreich wie unter dem Kolumbianer. Vélasquez hatte bereits zuvor in seinem Heimatland als Staatsanwalt ein Netzwerk von Kongressabgeordneten und Paramilitärs, auch bekannt als „Parapolítica“, aufgedeckt. Er war also bestens vorbereitet auf die in Guatemala anzutreffenden kriminellen Strukturen.

Eines der vielen Verfahren richtet sich gegen den Amtsvorgänger des gegenwärtigen Präsidenten Guatemalas, der ein Netzwerk zur systematischen Veruntreuung von Zolleinnahmen betrieben haben soll. Angeklagte sind Otto Pérez Molina und dessen ehemalige Vizepräsidentin Roxana Baldetti in dem „La Línea“ genannten Fall. Seit Molina 2015 nach anhaltenden Protesten als Präsident zurücktrat, befindet er sich in Untersuchungshaft.
Das Mandat der CICIG wurde bisher alle zwei Jahre erneuert. Noch zu Beginn seiner Amtszeit hatte der frisch gewählte Präsident Morales geäußert, dass die CICIG einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung der Korruption leiste und die Regierung das Mandat um zwei weitere Jahre bis September 2019 verlängert.

Morales änderte seine Einstellung gegenüber der CICIG als im August 2017 bekannt wurde, dass die CICIG und die FECI ein Verfahren gegen ihn wegen illegaler Wahlkampffinanzierung eingeleitet hatten und nun die Aufhebung der Immunität des Präsidenten beantragten.

Zudem wurden Verfahren gegen dessen Sohn und Bruder eingeleitet, weil sie und 20 weitere Beschuldigte mittels Scheinbeschäftigungen und falscher Rechnungen, sich an den Kassen des Grundbuchamtes bereichert haben sollen.

Viele Abgeordnete wechseln nach Wahlen die Partei

Morales reagierte prompt und erklärte Vélasquez zur „persona non grata“. Eine Ausweisung des Leiters der CICIG wurde jedoch durch eine Entscheidung des Verfassungsgerichts verhindert.

Nachdem der guatemaltekische Kongress gegen die Aufhebung der Immunität des Präsidenten stimmte, versuchte dieser mit der Hilfe seiner Amtskontakte, von der Presse „Pakt der Korrupten“ genannt, Änderungen an Gesetzen vorzunehmen und seinem Strafverfahren wegen illegaler Wahlkampffinanzierung und weiterer Korruptionsdelikte den Boden zu entziehen. Auf internationalen Druck und nach vielen Protesten konnten die Gesetzesänderungen jedoch abgewendet werden (siehe LN 525). Mittlerweile bestätigten guatemaltekische Unternehmer*innen öffentlich, dass sie den Wahlkampf von Morales heimlich finanziert hatten.

Morales fürchtete damals um sein Image als politisch unverbrauchter Außenseiter, falls bekannt würde, dass sein Wahlkampf von den alten Eliten bezahlt wird. Schließlich war Morales demonstrativ mit dem Slogan „Weder korrupt, noch ein Dieb“ zu den Präsidentschaftswahlen angetreten. Da Morales für die Partei FNC kandidierte, eine dem guatemaltekischen Militär nahestehende und von Ex-Militärs gegründete Partei, lag jedoch schon damals die Vermutung nahe, dass der ehemalige Fernsehkomiker alles andere als ein Garant für Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung ist.

Im August 2017 begann die Regierung unter Morales Druck auf die VN und die Staaten, welche die Arbeit der CICIG finanzieren, auszuüben, um das Mandat zu beenden.

Diese Bemühungen wurden seit Anfang 2018, zunächst anlässlich eines Besuchs von Morales bei Trump im Februar und einer anschließenden Rede vor den VN, intensiviert.

Gegen Morales wird wegen illegaler Wahlkampffinanzierung ermittelt

Kurz darauf versuchte er auch den schwedischen Botschafter des Landes zu verweisen, dessen Regierung zuvor eine weitere Unterstützung der CICIG in Höhe von 9 Millionen US-Dollar zugesagt hatte.

Anschließend wurden erst Polizist*innen, welche die CICIG bei ihren Ermittlungen unterstützten, wenig später auch 20 der insgesamt 45 zur Bewachung der CICIG eingesetzten Beamten abgezogen. Zur Begründung hieß es, die Beamt*innen würden an anderer Stelle dringender benötigt.
Ende August 2018 kündigte Morales an, er werde das Mandat der CICIG nicht verlängern und diese nur noch bis September 2019 dulden. Zeitgleich fuhren Militär-Pickups vor die CICIG, die Büros verschiedener Menschenrechtsorganisationen und die Häuser bekannter Menschenrechtler*innen. Wie so häufig, wenn es für ihn eng wurde, sucht Morales demonstrativ die Nähe zum guatemaltekischen Militär.

Jimmy Morales: Präsident Guatemalas (Foto: Flickr (CC0 1.0))

Der Einsatz des Militärs an diesem Tag spricht eine eindeutige Sprache. Demonstrant*innen stehen nun erstmals seit langem wieder schwer bewaffneten Soldaten gegenüber, zudem verbreiten sich Gerüchte über einen möglichen Putsch. Dass ein Putsch, jedenfalls außenpolitisch, kaum Konsequenzen nach sich ziehen würde, kann Morales bereits seit 2009 im Nachbarland Honduras mitverfolgen.

Kurz bevor im September 2018 das Visum des CICIG-Leiters Velásquez ausläuft, bricht dieser zu einer Dienstreise in die USA auf. Unmittelbar nach dessen Ausreise erklärt die guatemaltekische Regierung, sie werde Velásquez kein neues Visum ausstellen und fordert die VN auf, einen neuen Leiter zu ernennen. Zwar verfügt das Verfassungsgericht in einer Entscheidung, dass die Regierung verpflichtet ist, Velásquez einreisen zu lassen. Doch Morales hatte bereits zuvor angekündigt, Entscheidungen des Verfassungsgerichts zugunsten der CICIG nicht mehr zu respektieren und kündigt damit einen offenen Verfassungsbruch an. Die CICIG wird seitdem von Velásquez aus dem Ausland geleitet.

Ende September tritt Morales erneut vor die VN und fordert die Beendigung des Mandats der CICIG. Diese sei eine Bedrohung für die nationale Sicherheit, weil sie guatemaltekisches Recht verletze und unschuldige Bürger verfolge.

An Intensität gewinnt der Konflikt nochmals, als der ehemalige Innenminister Carlos Vielman (2004–2008) verhaftet wird. Er gehört zur guatemaltekischen Elite und wird für die während seiner Amtszeit praktizierte Politik der „sozialen Säuberungen“ verantwortlich gemacht. Er soll mehrere extralegale Hinrichtungen, etwa an geflohenen Häftlingen im Jahr 2005, zu verantworten haben. Er floh zunächst nach Spanien, wo er in drei Mordfällen angeklagt und anschließend freigesprochen wurde. Nach seiner Rückkehr wurde er in Guatemala wegen der Tötung weiterer Menschen verhaftet. Morales und seine Verbündeten sehen in diesem Verfahren einen Fall politisch motivierter Verfolgung Unschuldiger durch die CICIG und die FECI.

Die CICIG wird von Velásquez aus dem Ausland geleitet

Als auch die Visa weiterer Mitarbeiter der CICIG nicht verlängert werden, landet der kolumbianische CICIG-Ermittler Yilen Osorio Anfang Januar 2019 in Guatemala-Stadt. Dort angekommen, wird ihm die Einreise verweigert und er wird vorübergehend festgenommen. Es folgen chaotische Stunden am Flughafen. Auch eine Entscheidung des Verfassungsgerichts mit der die Freilassung des Ermittlers angeordnet wird, wird zunächst nicht umgesetzt. Unterdessen sammeln sich Protestierende am Flughafen und fordern die Freilassung des Ermittlers. Erst als die Generalstaatsanwältin Consuelo Porras androht, gegen das Personal der Einwanderungsbehörde wegen Freiheitsentziehung vorzugehen, wird diesem die Einreise letztlich gestattet.
Am Tag darauf trifft sich die Außenministerin Sandra Jovel mit dem Generalsekretär der VN, António Guterres, und gibt anschließend im Rahmen einer Pressekonferenz bekannt, dass die guatemaltekische Regierung das Mandat der CICIG bereits jetzt beendet. Innerhalb von 24 Stunden müsse das Abkommen beendet werden und die Mitarbeiter der CICIG das Land verlassen.

Am Abend folgt eine Ansprache des Präsidenten Morales an die Nation. In Begleitung seines Kabinetts und vermeintlicher Opfer der CICIG wie dem ehemaligen Minister Vielman, verteidigt Morales das Handeln seiner Regierung. Die CICIG sei eine Gefahr für die nationale und internationale Sicherheit, zudem habe die CICIG die Menschenrechte vieler Guatemaltek*innen und sogar die von Ausländer*innen verletzt, indem sie Unschuldige verfolge und in Untersuchungshaft gebracht habe. Er unterstellt der CICIG, sie verfolge lediglich ihre politischen Gegner*innen, die jedoch keine Straftaten begangen hätten.

Als das Verfassungsgericht das Vorgehen der Regierung für verfassungswidrig erklärt, haben die Ermittler der CICIG bereits das Land verlassen. Es ist die insgesamt sechste Entscheidung des Verfassungsgerichts zugunsten der CICIG, seit Morales deren Leiter zur „persona non grata“ erklärte.
Mit diesen Entscheidungen ist auch das Verfassungsgericht in den Fokus der Kritik geraten.

Morales, der Unternehmerverband CACIF und rechte Gruppen fordern nun die Abschaffung des Verfassungsgerichts, da dieses angeblich selbst gegen die Verfassung verstoße, weil es sich in Angelegenheiten der Außenpolitik einmische, welche von Verfassungs wegen nur der Regierung oblägen.

Es folgten Strafanzeigen gegen die für die Entscheidung verantwortlichen Richter*innen des Verfassungsgerichts, welchen der Oberste Gerichtshof den Weg frei machte, indem es die Aufhebung der Immunität der Richter*innen veranlasste.

Die Geberländer für die CICIG, unter ihnen Deutschland und die USA, drückten in einer gemeinsamen Presseerklärung ihre Besorgnis hinsichtlich der jüngsten Geschehnisse aus, bekräftigten die Wichtigkeit der Verfassungsordnung und forderten den Rechtsstaat und die Gewaltenteilung zu respektieren.

Die Reaktion der guatemaltekischen Außenministerin Sandra Jovel hierzu fiel recht kurz aus. Es handle sich um eine souveräne Entscheidung des guatemaltekischen Staates, welche die Geberländer respektieren sollten.

Morales ging bei dessen Rede im guatemaltekischen Kongress weiter und geißelte die Einmischung der Geberländer und die Forderung nach einer Bekämpfung der Korruption als eine neue Form des Kolonialismus. Die Welt solle die natürliche Form der guatemaltekischen Politik respektieren. Dass es ausgerechnet die Nachfahren der spanischen Kolonialherren sind, die in Guatemala die Wirtschaft und Politik dominieren, scheint ihn dabei nicht zu irritieren.

Auch in Honduras stößt die Korruptionsbekämpfung auf Widerstand

Die im vergangenen Mai von Morales ernannte Generalstaatsanwältin Consuela Porras zeichnete sich bisher durch ihre Abwesenheit im Konflikt zwischen der Regierung und der CICIG aus. Im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin Thelma Aldana, welche den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit auf die Korruptionsbekämpfung legte und dafür – wie Velásquez – 2018 den Alternativen Nobelpreises erhielt.

Doch nicht nur in Guatemala stößt die Korruptionsbekämpfung auf Widerstand. Auch in Honduras trifft die Unterstützungskommission gegen Korruption und Straflosigkeit (MACCIH) der VN auf einen Kongress, der sich gegenseitig die Aufrechterhaltung der Immunität sichert. Honduras, in dem die organisierte Zivilgesellschaft ohnehin unter Druck steht und die Repression gegen diese bereits auf einem deutlich höheren Niveau als in Guatemala erfolgt, könnte nun dem Beispiel Guatemalas folgen, wenn sich abzeichnet, dass eine Aufkündigung des Abkommens folgenlos bleibt.
In El Salvador hingegen, wo insbesondere die USA auf einen Ausbau der nationalen Strafverfolgungsorgane setzen, gelang im vergangenen Jahr die Verurteilung des Ex-Präsident Antonio Saca zu zehn Jahren Haft wegen Korruption.

CODECA: Die Landarbeiterorganisation gründet die neue Partei MLP (Foto: Nis Melbye)

Seit Anfang 2018 verzeichnen Menschenrechtsorganisationen in Guatemala wieder einen Anstieg der gezielten Morde an Menschenrechtsverteidiger*innen und Gewerkschafter*innen. Mindestens 23 Morde sollen es im Jahr 2018 gewesen sein. Der Ausblick für das Wahljahr 2019 verspricht keine Wendung zum Besseren. Vor den Wahlen im September ist vielmehr damit zu rechnen, dass sich die Konflikte noch verschärfen. Zumal die FECI nach dem Verweis der CICIG ohne deren Unterstützung zurückbleibt. Ob die FECI ohne diese Unterstützung dem politischen Druck standhalten kann, ist fraglich.

Die etablierten Parteien bieten jedenfalls keinen Anlass zur Hoffnung, dass es es bei der Wahl eine*n Kandidat*in geben wird, welche*r sich der Korruption im Land entgegen stellt.

In Guatemala, wo etwa 60 Prozent der Bevölkerung in Armut leben, die Bildung gerade in den ländlichen Regionen auf das Nötigste beschränkt ist und der Wahlkampf der Abgeordneten zum großen Teil darin besteht, Saatgut oder Pestizide im Gegenzug für Stimmen zu verteilen, gibt es selten positive Überraschungen. Auch wechselt üblicherweise ein nicht geringer Teil der Abgeordneten unmittelbar nach der Wahl die Partei, so dass das spätere Kräfteverhältnis im Kongress häufig nicht den Wahlergebnissen entspricht.

Lediglich die Landarbeiterorganisation CODECA mit ihrer neu gegründeten Partei MLP (Befreiung der Völker), welche dieses Jahr zur Wahl antreten will, könnte eine Alternative darstellen. Doch selbst wenn sich die MLP durchsetzen sollte, gibt es keine Garantie, dass die Abgeordneten der bestehenden Korruption etwas entgegensetzen können.

 

EINGESACKT

Am 29. August 2018 fiel das Urteil. Fünf Jahre Haft für Unterschlagung, und weitere fünf für Geldwäsche. Mehr als 300 Millionen US-Dollar soll der ehemalige Präsident Elías Antonia Saca González während seiner Regierungszeit laut Staatsanwaltschaft veruntreut haben. Zuvor hatten Saca und fünf weitere Angeklagte sich mit dem Gericht und der Staatsanwaltschaft verständigt, und ihnen wurde im Gegenzug für ihre geständige Einlassung eine Strafobergrenze von zehn Jahre zugesagt. Andernfalls hätte Saca für die vorgeworfenen Taten eine Freiheitsstrafe von bis zu 30 Jahren gedroht.

Saca wurde auf der Hochzeitsfeier seines Sohnes verhaftet

Neben Saca wurden drei seiner ehemaligen Sekretäre, der ehemalige Leiter der Finanzabteilung, sowie sein Schatzmeister und sein Buchhalter verurteilt. Letzterer ließ sich nicht auf eine Verständigung mit dem Gericht und der Staatsanwaltschaft ein, beteuerte bis zuletzt seine Unschuld und erhielt eine längere Freiheitsstrafe von 16 Jahren.
Saca dagegen gestand vor Gericht, staatliche Gelder veruntreut zu haben. Während seiner Präsidentschaft habe er systematisch Schecks mit Beträgen über Beträge bis zu mehreren Millionen Dollar an seinen EX-Privatsekretär Élmer Charlaix übergeben, damit dieser das Geld auf privaten Konten deponiere.

Um das Geld aus der Staatskasse auf private Konten zu transferieren, wurde es zunächst an dafür gegründete Werbefirmen überwiesen, die es dann als vermeintliche Werbepartner*innen, abzüglich eines Anteils von 20 %, an Radiostationen weiterleiteten. Der Mediengeschäftsmann Saca selbst war jedoch zu 50 bis 90 Prozent Inhaber dieser Radiostationen und ließ sich anschließend das Geld als Geschäftsführergehalt auszahlen. Je Gesellschaft soll er sich monatliche Gehälter in Höhe von 4.000,00 bis 60.000,00 Dollar haben auszahlen lassen.

Generalstaatsanwalt Melénez bezeichnete das Urteil als ein historisches Ereignis, da es das erste mal sei, dass ein Gericht El Salvadors einen ehemaligen Staatspräsidenten wegen Korruption verurteilte. Mit dem Urteil wurde Saca zugleich verpflichtet, Schadensersatz in Höhe von rund 260 Millionen Dollar an den Fiskus zu leisten. „Die Verurteilten waren alle Teil der kriminellen Struktur und das Handeln jedes Einzelnen hat dazu beigetragen, dem Staat einen Schaden zuzufügen. Sie sind daher zivilrechtlich alle verantwortlich“, begründete die Richterin María Ábrego das Urteil hinsichtlich der Rückzahlung. Während des Strafverfahrens wurden zudem mehrere Anwesen von Saca durch die Staatsanwaltschaft beschlagnahmt – samt Sportplatz, Tanzsaal, Privatkino und Beautysalon. Mario Machado, der Verteidiger Sacas, sagte, man behalte sich vor, das schriftliche Urteil abzuwarten, um zu entscheiden ob gegen die zivilrechtliche Entscheidung Berufung eingelegt wird.

Bereits während der Präsidentschaft Sacas wurden diesem insbesondere von der damaligen Oppositionspartei FMLN (Farabundo Martí zur Nationalen Befreiung), die Zweckendfremdendung staatlicher Gelder vorgeworfen. Erst als diese 2009 mit Mauricio Funes an die Macht kam, wurden Ermittlungen eingeleitet. Im Oktober 2016 wurde Saca, der den Tatvorwurf zunächst leugnete, dann auf der Hochzeitsfeier seines Sohnes verhaftet. Funes Wahl wurde durch die Korruptionsvorwürfe gegenüber Saca und seiner Partei ARENA damals befeuert. Doch auch gegen ihn ermitteln die staatlichen Behörden mittlerweile wegen Veruntreuung staatlicher Gelder. Funes hat sich unterdessen im benachbarten Nicaragua Asyl ersucht. Er wolle sich aber dem Prozess in El Salvador stellen und seine Unschuld beweisen. Das Auswärtige Amt in Nicaragua bestätigte, dass Funes Asyl gewährt wurde, da dessen Leben in El Salvador in Gewahr sei. Funes selbst gab an, es würde einen Attentatsplan seitens der extremen Rechten gegen ihn geben.

WAHL DER NICHTWÄHLER*INNEN

Als mit Abstand stärkste Kraft ging die extrem rechte Partei Republikanische Nationalistische Allianz (ARENA) aus den Wahlen hervor. Auch bei der Wahl des Bürgermeisters der Hauptstadt San Salvador, welche in El Salvador stets richtungweisend war, setzte sich ARENA durch.

Während die FMLN bei den Präsidentschaftswahlen 2014 noch mit 50,11 Prozent der Stimmen einen knappen Sieg errang, blieb sie mit 24,44 Prozent bei den aktuellen Wahlen weit hinter ARENA zurück. Letztere konnte mit 42,34 Prozent das Ergebnis der letzten Wahlen halten. Die 1981 gegründete Partei ist nationalistisch und neoliberal sowie sehr antikommunistisch ausgerichtet. Ihre politische Verwicklung in den Bürgerkrieg ist bis heute nicht aufgearbeitet.

Den größten Anstieg verzeichnete hingegen die Anzahl der Stimmenthaltungen und der ungültigen Stimmabgaben. Waren es bei der letzten Wahl noch rund 30.000 ungültige Stimmen, verfünffachte sich diese Zahl nun. Der massenhafte Wahlboykott war als Protest organisiert worden und sollte die stetige Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den Parteien zum Ausdruck bringen. Dabei hatten selbst Vertreter*innen der einflussreichen katholischen Kirche im Vorfeld zum Wählen aufgefordert. Letztlich dürfte es ausgerechnet die große Gruppe der ungültig wählenden oder sich der Stimme enthaltenden Bevölkerung gewesen sein, die ARENA ihren Erfolg bescherte. Die Politikverdrossenheit hängt auch mit der Vergangenheit der beiden großen Parteien zusammen. Sowohl ARENA als auch die FMLN haben als ehemalige Konfliktparteien im Bürgerkrieg eine bewegte Vergangenheit und haben sich nur bedingt den neuen demokratischen Verhältnissen angepasst.

Die als links geltende FMLN wurde im Jahr 1980 zunächst als Zusammenschluss marxistisch orientierter Bewegungen als eine Guerillaorganisation gegründet. 2009 gelang es ihr erstmals, sich bei den Präsidentschaftswahlen durchzusetzen und mit Salvador Sánchez Cerén den Präsidenten zu stellen. Zwar bewies sie, dass sie in der Lage ist, die Regierungsgeschäfte zu leiten, ein wirtschaftliches Verständnis mitbringt und das Land keinesfalls in ein zweites Venezuela verwandelt. Doch linke Wähler*innen halten die Partei offenbar nicht mehr für glaubwürdig.

2015 bildete die FMLN eine Koalition mit der neu gegründeten Allianz für nationale Einheit (GANA), eine Abspalterpartei von ARENA, die sich als rechtskonservativ versteht. GANA fungierte damals als Mehrheitsbeschafferin der FMLN. Für die diesjährigen Wahlen wurde die Zusammenarbeit noch weiter intensiviert. Für die Kommunalwahlen stellten GANA und die FMLN nunmehr in vielen Kommunen gemeinsame Kandidat*innen gegen ARENA auf. Nicht zuletzt wegen dieser strategischen Koalition leidet die FMLN unter einem Profilverlust: Die historisch linke Linie der Partei scheint nicht mehr glaubwürdig.

Zudem dominiert das Thema der Gewalt und die Bandenkriminalität der sogenannten Maras den Wahlkampf. Die hohe Mordrate in El Salvador ließ die Hauptstadt San Salvador zur gefährlichsten Hauptstadt der Welt avancieren (ohne solcher in Kriegsgebieten). Auch hier änderte die FMLN ihre Vorgehensweise. Während sie gegen Bandenkriminalität zuerst auf soziale Politik setzte, geht sie nun ähnlich repressiv vor wie die rechte Partei ARENA.

In einem Land, wo 40 Prozent der Menschen als arm gelten, fühlen sich offenbar nur wenige von den großen Parteien repräsentiert.

KLASSENFRAGE ABTREIBUNG

Wie organisiert ihr euch als Anarchist*innen?
Ich bin in der Radio-Gruppe Rosas Negras, die zu verschiedenen Themen Sendungen macht. Rosas Negras besteht aus verschiedenen feministischen Gruppen. Wir unterstützen Proteste, wie für die Entkriminalisierung von Abtreibungen. Wir sind zwar wenige, aber wir arbeiten daran, ein anarchafeministisches Kollektiv aufzubauen, weil ein Großteil der feministischen Organisationen eher wie NGOs organisiert sind oder Verbindungen zur Kirche haben.

Habt ihr keine Probleme dabei, wenn ihr offen als Anarchist*innen auftretet? In Mexiko gibt es ja eine wahre Hexenjagd gegen vermeintliche Anarchist*innen.
Mit dem Radio hatten wir bisher keine Probleme. In El Salvador kennen die Leute Anarchismus nicht. Die Polizei zum Beispiel hat überhaupt keine Vorstellung davon, was Anarchismus sein soll (lacht). Klar, Besetzungen zum Beispiel sind schwierig. Wenn wir versuchen, etwas zu besetzen, geht das nicht, weil es kein Verständnis dafür gibt.

Und habt ihr auch politische Probleme?
Grundsätzlich gibt es weniger politische Organisierung, weil 2009 mit der FMLN eine linke Partei die Wahl gewonnen hat und viele Leute die Erwartung hatten, dass sich mit dieser Regierung etwas ändern würde. Mittlerweile sehen die Leute aber, dass es wenig Unterschiede zwischen der einen und der anderen Seite gibt. Es fängt wieder an, dass sich die Leute organisieren. Wir versuchen eine Diskussionsplattform zu etablieren, die linke Alternativen aufbauen kann. Daran gibt es ein großes Interesse von den Leuten, weil sie sehen, dass die Dinge eben nicht besser werden.

Heißt das also, dass sich die Leute jetzt mehr organisieren?
Im Moment ist das eher am Entstehen, und es gibt vor allem Diskussionen. Bis jetzt wird eher wenig gemacht, aber es wird mehr.

Und was sind die Themen, die diskutiert werden?
Was wir machen, ist die Situation zu analysieren. Eines der Themen ist das Abtreibungsverbot, ein anderes das Rentensystem. Im Moment gibt es ein privates und ein öffentliches Rentensystem. Die Regierung will, dass die Rente hauptsächlich öffentlich wird und man sich zusätzlich privat versichern kann, was die Opposition verhindern will. Ein anderes Problem ist, dass die Regierung gerade die Renten nicht auszahlen kann, weil die rechte Opposition die Regierung unter Druck setzt, damit keine neuen Kredite aufgenommen werden. Im Moment gibt es also keinen Haushalt. Und klar, ein Thema, das man über El Salvador immer wieder hört, ist das der Gewalt, der Banden. Das ist ein sehr schwieriges Thema, unter anderem, weil die Regierung nur auf Repression setzt, bis hin zu extralegalen Hinrichtungen durch die Polizei.

Kannst du etwas genauer auf das Abtreibungsverbot eingehen?
Bis 1998 waren Abtreibungen erlaubt, wenn das Leben der Mutter in Gefahr war, im Fall von Vergewaltigungen oder wenn der Fötus nicht überlebensfähig war. Seit 1998 sind Abtreibungen komplett verboten. Es gab auch schon immer ein religiös motiviertes Vorurteil, dass Abtreibungen nicht erlaubt werden sollten. Das komplette Abtreibungsverbot wurde durch Druck von katholischen Gruppen umgesetzt.

Und wie wirkt sich dieses Abtreibungsverbot aus?
Es gibt Fälle von Frauen, die im Gefängnis sind, wei sie eine Fehlgeburt hatten. Ihnen drohen Haftstrafen von bis zu 30 Jahren. Es gibt eine Kampagne, die „17 y más“ (17 und mehr) heißt, die sich um 17 bekannte Fälle kümmert und sich dafür einsetzt, dass Frauen, die wegen Fehlgeburten im Gefängnis sind, freikommen. Eine Frau, die sechs Jahre im Gefängnis war und mittlerweile freigekommen ist, hat Asyl in Schweden erhalten. Die Kampagne hat mit 17 Frauen angefangen, aber es gibt viel mehr Fälle, in denen Frauen im Gefängnis sitzen.

Und diese Frauen sind im Gefängnis, nur weil sie abgetrieben haben?
Ja, aber eigentlich nein, wegen Fehlgeburten, für die sie aber verurteilt wurden, als hätten sie abgetrieben. Wegen einer Abtreibung kann man bis zu 30 Jahre ins Gefängnis kommen, aber ihnen werden zusätzlich andere Vergehen angehängt, wie Mord. Ein Problem ist, dass das medizinische Personal, das Abtreibungen durchführt, dafür bis zu zwölf Jahre ins Gefängnis kommen kann. Sie rufen dann die Polizei, weil sie keine Probleme haben wollen.

Und warum rufen die Leute die Polizei?
Das hat viel mit dem Einfluss der Religion und Unwissen zu tun. Weil die Leute denken, dass das Absicht gewesen sei, dass diese Person keine Fehlgeburt hatte, sondern abtreiben wollte. Es ist bekannt, dass das als Verbrechen gilt, also rufen sie die Polizei.

Und was ist die Position der Regierungspartei FMLN?
Aktuell hat die Regierung einen Gesetzesentwurf eingebracht, der Abtreibungen entkriminalisieren soll. Es gibt viele Organisationen, die diesen Vorschlag unterstützen. Ziel ist es, wieder auf den Stand von vor 1998 zu kommen, es geht also um die Frage, ob Abtreibungen in bestimmten Fällen legalisiert werden können. Wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist, wenn der Fötus keine Überlebenschance hat, nach Vergewaltigungen. Das Problem ist, dass die FMLN keine Mehrheit hat und sich, um das Gesetz umzusetzen, mit kleineren Parteien zusammentun müsste. Das versuchen sie, aber auf der anderen Seite ist dann der Vorschlag von ARENA (der rechten Oppositionspartei, Anm. d. Red.), die Strafen für Abtreibung auf bis zu 50 Jahre zu erhöhen.

Abgetrieben wird immer. Wie wird das gemacht? Und vor allem, wer macht das?
In vielen Fällen wird das im Geheimen gemacht. In Privatkliniken gibt es einige Ärzte, die das machen und als Fehlgeburt registrieren. Dass hat viel damit zu tun, dass in Privatkliniken die Patienten wie Kunden betrachtet werden, die dafür zahlen können, Zugang zu einer Privatklinik zu haben. Arme Frauen, die in öffentliche Krankenhäuser gehen, haben das Problem, dass dann dort im Zweifel die Polizei gerufen wird. Frauen, die die ökonomischen Mittel haben, gehen zum Beispiel nach Mexiko und lassen die Abtreibung dort durchführen. Diejenigen Frauen, die ins Gefängnis kommen, sind arme Frauen. Das ist also eine Klassenfrage.

 

SIEG ÜBER BERGBAUINDUSTRIE IN EL SALVADOR

Jahrelang haben soziale Bewegungen in El Salvador erbittert dafür gekämpft: für das Verbot des umweltschädlichen Bergbaus. Bis vor kurzem hat kaum einer erwartet, dass das Parlament das Anti-Bergbaugesetz noch verabschieden würde. Dann ging aber alles sehr schnell: Vor einigen Wochen hatte die Kommission für Umwelt und Klimawandel des Parlaments einen Gesetzentwurf erarbeitet. Am 29. März verabschiedete dann das Plenum einstimmig das elf Artikel umfassende Gesetz. Einen kurzen Moment lang unterbrachen die linke Regierungsbank der FMLN und die rechte Oppositionspartei ARENA ihre Streitigkeiten, um „eine einstimmige Entscheidung für den Schutz der Wasservorkommen zu treffen“, laut dem Twitter-Account des Parlaments. Im Gesetz wird das Verbot der Erkundung und des Abbaus von Metallen im Tage- und Untertagebau sowie die Nutzung der im Goldbergbau verwendeten Chemikalien Zyanid und Quecksilber unter anderem folgendermaßen begründet: “Der metallische Bergbau stellt ein Attentat gegen die Gesundheit der Einwohner El Salvadors dar und birgt ernsthafte Risiken für die Umwelt, indem er durch die Auswaschung von Schwermetallen und hochgiftigen Abfällen (…) Wälder, Böden und Wasservorkommen gefährdet.”

Es gab Freudentränen nach der Verabschiedung des Gesetzes.

Für viele Umwelt- und Menschenrechtsaktivist*innen hat die Verabschiedung eine hohe Bedeutung. Viele von ihnen haben die Abstimmung live im Parlament verfolgt: „Als wir heute hinter den Glasscheiben des Parlaments standen, haben sich viele von uns umarmt und Tränen der Freude vergossen. Das Gesetz ehrt all jene, die unzählige schlaflose Nächte in Angst verbrachten oder aufgrund ihres Widerstandes ermordet wurden“, schreibt Pedro Cabezas, Mitarbeiter von CRIPDES, einer Partnerorganisation der Christlichen Initiative Romeros (CIR), auf seiner Facebook-Seite. Die Partner*innen von CRIPDES haben die Menschen in den betroffenen Gemeinden mobilisiert und lokale Volksbefragungen gegen Bergbau organisiert.

Die sozialen Konflikte rund um den Bergbau in El Salvador haben sich in den vergangenen Jahren verschärft. Der kanadische Konzern Pacific Rim (später OceanaGold) reichte 2009 eine Klage auf 301 Millionen US-Dollar Schadensersatz beim Schiedsgericht der Weltbank (ICSID) ein. Die Regierung hatte dem Unternehmen aufgrund von Umweltbedenken und fehlender Landrechte nach einer Erkundungsphase keine Abbaulizenz erteilt. Gleichzeitig versuchte das Unternehmen, die Bevölkerung im Verwaltungsbezirk Cabañas für das Projekt zu gewinnen beziehungsweise sie zu spalten. Mit dem Versprechen, zahlreiche Arbeitsplätze und vermeintlich wohltätige Projekte zu schaffen, brachte das Unternehmen viele in den Gemeinden auf seine Seite. Die Spaltung der Gemeinden gipfelte in der Ermordung von fünf Umweltaktivist*innen, die sich für den Schutz des Gebiets vor dem hochgiftigen Goldbergbau einsetzten.

Aufwind bekam das Gesetzesprojekt erst, nachdem das ICSID im Oktober 2016 die Klage des Unternehmens ablehnte und die Rückzahlung von acht Millionen US-Dollar Prozesskosten an die Regierung El Salvadors forderte. Der Erzbischof Escobar Alas von El Salvador schloss sich der Antibergbau-Bewegung an und reichte Anfang März eine erneute Gesetzesinitiative beim Parlament ein. Es folgten zahlreiche Demonstrationen vor dem Parlament. Am 29. März stimmten dann 69 Abgeordnete (drei enthielten sich, drei waren abwesend) für die Verabschiedung und wiesen damit 16 Anträge transnationaler Konzerne auf Konzessionen zurück. Das Gesetz spiegelt die Mehrheit in der Bevölkerung wider. Laut einer Umfrage von 2015 der Zentralamerikanischen Universität in San Salvador lehnen 77 Prozent der Bevölkerung den metallischen Bergbau ab.

Das Schiedsgericht der Weltbank lehnte die Klage des Unternehmens ab.

Mit der Verabschiedung des Gesetzes ist das Thema für die Zivilgesellschaft aber noch nicht vom Tisch. Die in der Region Cabañas ansässige Stiftung El Dorado von OceanaGold hat ihre PR-Arbeit in den vergangenen Monaten intensiviert, indem sie zahlreiche vermeintlich gemeinnützige Projekte in den Gemeinden förderte oder Protestmärsche organisierte. Dabei sprach sie stets von „verantwortungsvollem Bergbau“. Kurz vor der Abstimmung veröffentlichte OceanaGold noch eine Stellungnahme und forderte die Parlamentarier*innen auf, die Modernität und Vorteile des Projekts für die Region zu bedenken. Vor einigen Tagen hat OceanaGold Arbeiter*innen nach San Salvador geschickt, um vor dem Parlament gegen das Bergbauverbot zu demonstrieren. „Wir verfolgen diese Aktivitäten mit Sorge, da es wieder zu Gewalt gegen Menschenrechts- und Umweltaktivist*innen kommen könnte“, sagt Pedro Cabezas von CRIPDES. Die sozialen Bewegungen fordern nun vom Konzern, die Prozesskosten des Schiedsgerichtsverfahrens zu erstatten und sein Tochterunternehmen Minerales Torogoz sowie die Stiftung El Dorado aus dem Land abzuziehen.

Auch ein neuer Konflikt beschäftigt Organisationen wie CRIPDES. Das Gesetz sieht ein vollständiges Verbot des metallischen Bergbaus in El Salvadors vor und somit nicht nur des industriellen sondern auch des sogenannten kleinen Bergbaus. Im Verwaltungsbezirk La Unión suchen einige Hundert Kleinschürfer*innen in selbst gegrabenen Tunneln informell nach Gold. Sie befürchten nun eine Kriminalisierung und den Verlust ihrer Einkommensquelle. Es kam bereits zu ersten Streitigkeiten zwischen Aktivist*innen und Kleinschürfer*innen in der Region. Das Gesetz sieht für Kleinschüfer*innen einen Übergangszeitraum nach Inkrafttreten von zwei Jahren vor, in denen sie sich einer neuen Einkommensquelle widmen können. Der Staat will ihnen dafür Beratung sowie finanzielle und technische Unterstützung anbieten.

Das Gesetz ist nicht zuletzt ein beispielloser Erfolg internationaler Solidarität. Die “International Allies against Mining in El Salvador” mit Mitgliedsorganisationen unter anderem in Kanada, den USA, Australien und Deutschland haben die Zivilgesellschaft in El Salvador durch Delegationsreisen, Petitionen und offene Briefe an Entscheidungsträger*innen unterstützt. Die CIR hat sich aktiv an diesen Solidaritätsaktionen beteiligt.
Der „Runde Tisch gegen Bergbau“ in El Salvador hat auch immer wieder den Austausch mit betroffenen Gemeinden in anderen Ländern – auch in entlegenen Erdteilen – gesucht. Zuletzt besuchte der Gouverneur der philippinischen Provinz Nueva Vizcaya das mittelamerikanische Land. Die Regierung der Philippinen suspendierte kürzlich ein Bergbauprojekt von OceanaGold. Der Gouverneur fand bei seinem Besuch deutliche Worte: „Die Realität des sogenannten ‘verantwortungsvollen Bergbaus’ von OceanaGold auf den Philippinen ist ein Desaster. Urteilt nach dem Verhalten von OceanGold in meinem Land, nicht nach ihren Versprechen!“

Das Gesetz könnte auch den Antibergbaubewegungen in den mittelamerikanischen Nachbarländern, in Lateinamerika und weltweit Rückenwind verleihen. Auch Protestbewegungen, die sich für eine faire Handels- und Investitionspolitik weltweit einsetzen, sollten sich auf den Fall berufen: Schließlich zeigt er, dass internationale Schiedsgerichtsverfahren zu Investitionsstreitigkeiten nicht nur Konflikte anheizen, sondern auch demokratische Prozesse behindern. Das Gesetz konnte nämlich erst verabschiedet werden, nachdem eine hohe Strafzahlung wegen einer vermeintlich investitionsfeindlichen Politik El Salvadors abgewendet werden konnte.

 

Gesundheit im Befreiungskampf

Metzi beschreibt in 15 Kapiteln sehr eindrucksvoll seine Erfahrungen, die er in den 3 Jahren als Gesundheitshelfer in den, von der FMLN kontrollierten Gebieten machte. Seine Intention ist es, die Menschen dort zu Wort kommen zu lassen, den abstrakten Informationen über Hunger, Tod und Leid Gesichter zu geben. Es werden “Alltagsprobleme” beim Aufbau eines Gesundheitswesens in einem Kriegsgebiet geschildert, das nicht “um Personen und technische Strukturen herum” aufgebaut werden soll, und “das genau deshalb für die meisten uner­reichbar sein würde.” Vielmehr soll ein Gesundheitswesen eingerichtet, das den unmittelbaren Bedürfnissen der Bevölkerung entsprechen und gleichzeitig ihr Vertrauen in sich selbst stärken soll.
Metzi beschreibt jedoch nicht nur den Mangel an den elementarsten Voraus­setzungen zur Heilung Leicht- und Schwerverletzter, wozu medizinische Instrumente, Medikamente und entsprechend geschultes Personal, aber auch Zeit, Ruhe und hygienische Verhältnisse gehören. Er läßt vor allem teilnehmen an den Versuchen und der Kraft der Bevölkerung, Wege aus dieser Situation zu finden. Daß er “abenteuerlich anmutende Notoperationen unter freiem Himmel am Rande militärischer Konfrontationen” schildert, wie es im Umschlagtext heißt, stimmt so nicht. Seine Perspektive bleiben die dortigen Menschen. Den Hauch von Abenteuer empfindet allenfalls der europäische Leser; zu oft endet das “Abenteuer” einer solchen Notoperation tödlich.
Wirklich miserabel ist der Einband bzw. das Titelbild des Buches. Es wird eine schwarze Gruppe von Frauen und Kindern gezeigt, die anscheinend Wäsche waschen. Daneben steht eine vermummte Frau, die ein Maschinengewehr in die Luft hält. Von oben prasseln riesige rote Bomben auf die Gruppe, die teilweise schon explodiert sind, den Frauen scheinbar aber nichts anhaben können. Die Entmystifizierung des Befreiungskampfes, die Metzi durch seine präzise Schilde­rung vornimmt, wird durch solch ein Titelbild konterkariert.
Ralf Syring, der das Vorwort schrieb, schließt mit dem Satz: “In seinem Gespräch mit Renarto Camarda sagt der Autor, daß er dieses Buch als “Ausdruck der Liebe zur Bevölkerung von Chalatenango” geschrieben habe. Liebe hat mit Kennen­lernen zu tun. Die folgenden Seiten ermöglichen den Fernen eine Annäherung.” Dies kann nur bekräftigt werden – aber auch denen, die mit der Problematik schon vertraut sind, ist das Buch sehr zu empfehlen!

Francisco Metzi, Aus eigenen Füßen stehen; Wege zur Gesundheit in El Salva­dors Befreiungskampf
Rotpunktverlag, Zürich 1990, 238 Seiten

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