Etwas mehr als ein Jahr ist die links-progressive Regierung von Gustavo Petro an der Macht. Eines ihrer großen Ziele ist das Erreichen eines umfassenden Friedens im Land. Wie nah ist die Regierung diesem Ziel?
Nun ja, auch wenn das das Ziel ist, hängt es nicht nur von der Regierung ab. Es gibt verschiedene Herausforderungen, wie die Vielzahl an illegalen bewaffneten Gruppen, mit denen sich die Regierung einigen müsste. Man könnte sie in drei verschiedene Kategorien einteilen: zum einen kleinere kriminelle Gruppen, die vor allem im urbanen Raum aktiv sind, oft im Dienste mächtigerer wirtschaftlicher oder politischer Interessen und mit Verbindungen zu Drogenkartellen oder Paramilitärs. Diese Paramilitärs, die zweite Gruppe, treten unter verschiedensten Namen auf. Seit dem Friedensvertrag mit der rechten Regierung Uribe versuchen sie, sich zu modernisieren. Die Grenzen zwischen Drogenkartellen und Paramilitärs verschwimmen dabei. Sie können aber nicht ohne die Unterstützung oder Billigung staatlicher Kräfte aus dem zivilen, militärischen oder polizeilichen Bereich agieren. Sie haben ein ökonomisches Interesse und sind gegen all das, was einen politischen oder wirtschaftlichen Wandel in Kolumbien bedeuten würde. Sie verfolgen und töten Aktivist*innen aus den sozialen Bewegungen.
Zuletzt gibt es die Guerillas mit drei großen Gruppen: die Segunda Marquetalia und der Estado Mayor Central – beide bestehen aus ehemaligen Kämpfern der FARC-Guerillas, die sich wiederbewaffnet haben – und die „Nationale Befreiungsarmee“ (ELN). Die Verhandlungen mit der ELN sind gut vorangekommen. Es gibt auch erste Vorbereitungen für Friedensverhandlungen mit Delegierten des Estado Mayor Central und der Segunda Marquetalia. Mit einigen regionalen kriminellen Kleingruppen gibt es Kontakte von Seiten der Regierung, insbesondere in Medellín und Buenaventura. Mit den Paramilitärs wiederum gibt es bisher kaum Fortschritte.
Es ist also wegen der Komplexität der Verhandlungen mit unterschiedlichen Gruppen nicht so einfach, das Versprechen für einen totalen Frieden einzuhalten. Außerdem ist der umfassende Frieden ein Projekt der Regierung, aber nicht des gesamten Staates. Einige staatliche Sektoren haben kein Interesse am Friedensprozess. Das sind zum Beispiel korrupte Teile der Polizei und des Militärs, für die die kriminellen Banden Einnahmequellen sind, die bei einem Friedensabkommen versiegen. Dazu kommt eine seit Jahrzehnten dominierende Militärdoktrin, die die Bekämpfung des inneren Feindes – also die Guerillas und alle Andersdenkenden – als Hauptaufgabe des kolumbianischen Militärs sieht. Die Paramilitärs sind hierbei Verbündete. Dem Militär fällt es schwer, sich einer Friedensperspektive zu öffnen.
Sie beraten die ELN bei ihren Friedensverhandlungen mit der Regierung. Was ist hier der aktuelle Stand?
Seit dem 3. August gilt ein Waffenstillstand zwischen der Regierung und ELN. Grundlage für diese Einigung war das Abkommen von Mexiko, bei dem die zentrale Agenda für den weiteren Dialog festgelegt wurde. Sie besteht aus sechs Punkten: Zuerst kommt die Frage nach der Beteiligung der Zivilgesellschaft. Der zweite Punkt sind die politischen Veränderungen und Reformen, die von einer organisierten Zivilgesellschaft erarbeitet werden. Der dritte Punkt legt seinen Fokus auf die sozialen und ökologischen Reformen, die für einen nachhaltigen Frieden notwendig sind, darunter fällt auch eine Reform der Militärdoktrin. Der vierte Punkt soll Gerechtigkeit für die Opfer des bewaffneten Konflikts schaffen. Der fünfte Punkt ist das Abgeben der Waffen und der sechste Punkt der Plan zur Implementierung des Friedensvertrags.
Für die ELN war immer wichtig, dass es nicht nur Verhandlungen mit der Regierung, sondern auch mit der Zivilgesellschaft gibt. Doch wie soll deren Beteiligung konkret aussehen?
Es wird ein Komitee gebildet, in dem 81 Personen die Zivilgesellschaft repräsentieren sollen. Für eine wirkliche Repräsentanz müsste das Komitee aber viel größer sein. Die Regierung und ELN legten fest, welche Gruppen im Komitee vertreten sind. Dabei gingen sie davon aus, dass marginalisierte Sektoren in Kolumbien sich bisher kaum in einem fairen Maße politisch beteiligen oder aufgrund von Unterdrückung und Verfolgung nicht frei äußern konnten. Dem steht ein Sektor gegenüber, der den wirtschaftlichen und politischen Eliten historisch näher steht und dadurch stets stark an politischen Entscheidungen in Kolumbien beteiligt war. Dieses Ungleichgewicht soll sich nicht wiederholen, weshalb 80 Prozent der Vertreter*innen aus marginalisierten Gruppen stammen, wie Bauern, Indigene, Afrokolumbianer*innen, Studierende, Kinder und Jugendliche. Nur 20 Prozent, wie rechte Thinktanks oder Wirtschaftsverbände, gehören zu privilegierten Teilen der Gesellschaft.
Anfang August nahm das Komitee seine Arbeit auf. Was genau ist seine Aufgabe?
Das Komitee soll in den nächsten sechs Monaten einen Plan erarbeiten, wie genau sich die Zivilgesellschaft beim zukünftigen Friedensprozess beteiligt. Es geht noch nicht um die Erarbeitung von politischen Reformvorschlägen. Stattdessen soll es Gesprächsrunden und Workshops auf nationaler Ebene mit marginalisierten Gemeinschaften, wie zum Beispiel LGBTQ+, geben. Auf regionalen Treffen soll sichergestellt werden, dass auch die Menschen in den ländlichen Regionen an der Ausarbeitung dieses Beteiligungsplans mitwirken können.
Wenn es irgendeinen weiteren Sektor gibt, der nicht im Komitee vertreten ist, aber eine Veranstaltung oder ein Treffen mit dem Komitee organisieren will, dann ist das möglich. Es soll auch noch eine weitere Anlaufstelle geben, an die sich Menschen individuell, auch virtuell, wenden können und um Vorschläge einzubringen. Das ist eine ziemlich große Aufgabe in ziemlich kurzer Zeit, denn ab Januar werden weitere Punkte bearbeitet: Welche Veränderungen auf demokratischer und wirtschaftlicher Ebene muss es geben? Ausgehend von dem Beteiligungsmodell entsteht dann die inhaltliche Agenda für den Friedensprozess bis Mai 2025. Die sozialen Allianzen sollen das Rückgrat dieses Friedensprozesses sein und ihn an den Wahlurnen, auf der Straße und vor Gericht verteidigen. Die ELN will die Waffen erst dann abgeben, wenn sichergestellt ist, dass all diese Punkte auch umgesetzt werden.
Das klingt, als habe die ELN aus dem – zumindest teilweisen – Scheitern des Friedensprozesses mit den FARC gelernt?
Nur auf die FARC zu schauen, wäre zu kurz gegriffen. Die ELN hat sich auch die früheren Friedensprozesse, zum Beispiel mit den Guerillas der M19 oder dem „Volksbefreiungsheer“ (EPL) angeschaut und es wurde klar, dass der Konflikt nicht nur als militärischer, sondern auch als sozialer und politischer verstanden werden muss.
Die ELN hat analysiert, dass die Friedensprozesse, nicht nur in Kolumbien, sondern weltweit, den Fokus auf die Entwaffnung gelegt haben. Sie haben versucht, die Symptome, aber nicht die Krankheit anzugehen. Deswegen sagt die ELN: Wir müssen uns um die Armut und ihre Ursachen kümmern, um die Gründe für Exklusion und Marginalisierung. Die Demobilisierung der Kämpfer*innen ist zweitrangig.
Eine weitere Beobachtung: Viele der Gruppen, die die Waffen abgeben, gründen danach eine Partei und erhalten einige Sitze im Parlament. Die ELN sagt, dass sie kein Interesse an Sitzen im Parlament hat, sondern an strukturellen Veränderungen wie die der Militärdoktrin oder auf politischer oder umweltlicher Ebene.
Und es sollten nicht nur Verhandlungen zwischen der Regierung und einer bewaffneten Gruppe sein, sondern die Bevölkerung muss direkt beteiligt werden. Sonst passiert wieder das, was wir schon öfter gesehen haben: Es werden Dinge vereinbart, die Gruppe gibt ihre Waffen ab und niemand kümmert sich mehr darum, dass die Vereinbarungen auch eingehalten werden.
Nun gab es in Chile einen verfassungsgebenden Prozess, der auch stark auf die Beteiligung marginalisierter Bevölkerungsgruppen gesetzt hat. Dann scheiterte er allerdings beim Referendum. Ist nicht davon auszugehen, dass in Kolumbien das Gleiche passieren könnte?
Es soll zunächst kein Referendum geben. Bei uns gibt es einen anderen Kontext als in Chile. Hier wird nicht auf Wahlen gesetzt, weil wir wissen, wie viel Korruption es bei Wahlen in Kolumbien gibt. Ein weiterer wichtiger Unterschied ist, dass die Rechte hier nicht die gleiche ist wie die in Chile. Es gibt hier einen Teil der Rechten, der sogar Interesse an einem Friedensprozess hat, weil sich daraus auch neue Profitmöglichkeiten ergeben. In allen Verhandlungen mit Guerillas sitzt auch ein Vertreter von Unternehmensverbänden mit am Tisch. Bei der ELN ist das der Präsident eines großen Verbandes im Sektor der Großgrundbesitzer und Rinderzüchter José Félix Lafaurie, der sich bisher positiv über die Verhandlungen äußert. Auch im Beteiligungskomitee sind Teile der Rechten vertreten.
Über die ELN wird oft gesagt, dass sie nicht besonders hierarchisch organisiert ist, sondern eine eher horizontale Struktur mit größerer Unabhängigkeit einiger Kommandanten hat. Ist das ein Vor- oder ein Nachteil für einen solchen Friedensprozess?
Als Berater der ELN bei den Friedensverhandlungen kann ich sagen: Die Entscheidung zu verhandeln, wird von der gesamten ELN getragen. Die ELN-Delegation berät sich intern auf verschiedenen Ebenen. Wenn wir an eine Guerilla denken, dann oft an eine militärische Organisation. Dabei vergessen wir manchmal das starke politische Selbstverständnis. Die ELN, die sich nach dem kubanischen Modell organisiert hat, versteht sich als bewaffnete politische Partei, die nicht nur ein bewaffneter Arm ist, sondern selbst Politik macht. Nicht über das Wahlsystem, aber als Machtpolitik in der Gesellschaft. Es entsteht nach außen für viele der Eindruck, dass die ELN keine geschlossene Gruppe ist und dass es schwierig wird, mit ihnen zu verhandeln. Ich sehe die ELN als eine Gruppe, die viel intern debattiert, mit einer inneren demokratischen Struktur, in der alles im Konsens entschieden wird. Ich glaube, dass das positiv für die Zukunft der Verhandlungen ist.