Mehr Schein als Sein

Wasserstoff-Partnerschaft auf „Augenhöhe”? Gustavo Petro und Olaf Scholz 2023 in Berlin (Foto: Leonard Mikoleit)

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine, infolgedessen das billige Gas aus Russland ausbleibt, ist (fossile) Energie in Deutschland deutlich teurer geworden. Bundeskanzler Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Robert Habeck, aber auch andere Mitglieder der Bundesregierung, haben seitdem verstärkt Lateinamerika besucht, um dort für Energielieferungen nach Deutschland zu werben. Die Importe von Öl aus Venezuela und Brasilien und Kohle aus Kolumbien sind in den vergangenen zwei Jahren signifikant gestiegen. „Milliarden fließen in Raffinerien, Pipelines und LNG-Terminals“, preist die deutsche Außenhandels-^Förderplattform Germany Trade&Invest neue Geschäftschancen in der lateinamerikanischen Fossilindustrie für deutsche Unternehmen an. Argentinien will riesige neue Öl- und Gasvorkommen erschließen und hofft dabei auch auf deutsche Unterstützung. Kolumbien hat den Kohleabbau, den Präsident Petro eigentlich schrittweise herunterfahren wollte, wieder ausgeweitet, um deutsche Kraftwerke zu beliefern. Sogar Venezuela kann auf ausländische Investitionen in seinen maroden Ölsektor hoffen, nachdem die USA die Sanktionen gelockert haben. Betrachtet man die aktuellen Handelsströme, so hat das neue Interesse an Energiepartnerschaften mit Lateinamerika vor allem den fossilen Sektor gestärkt.

Doch Deutschland will sich nicht nur fossile Energieträger sichern. Um die Industrie zu dekarbonisieren, sollen laut der Wasserstoff-Importstrategie bereits im Jahr 2030 zwischen 1,35 und 2,7 Millionen Tonnen Wasserstoff aus dem Ausland importiert werden. Im vergangenen Jahr hat die Bundesregierung dazu neue Energiepartnerschaften mit Argentinien, Uruguay und Kolumbien geschlossen und die bestehenden Abkommen mit Brasilien, Chile und Mexiko erneuert. Überall steht die Lieferung von Wasserstoff nach Deutschland ganz oben auf der Agenda. Daneben soll auch der Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft in den jeweiligen Ländern vorangetrieben werden, die sich eine Dekarbonisierung der eigenen Industrie und neue Einkommenschancen erhoffen. Im Rahmen der Partnerschaften werden gemeinsame Sekretariate eingerichtet, die von der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) besetzt und organisiert werden. Diese Sekretariate geben Studien in Auftrag, veranstalten Seminare, Lobbytreffen und Konferenzen oder informieren über Förderprogramme auf beiden Seiten. Sie arbeiten oftmals eng mit Ministerien und Unternehmensverbänden zusammen.

Dazu kommt die „Wasserstoff-Diplomatie“ des Auswärtigen Amtes, die Wasserstoffproduktion für Deutschland als Hilfestellung für fossile Exportstaaten anpreist, weil dies wegfallende Profite aus Kohle, Öl und Gas ausgleichen könnte. Wasserstoff als Exportgut diene dem „Erreichen der Klimaziele und der Verbesserung der Versorgungssicherheit zugleich“, heißt es auf der Website der Initiative mit dem Titel H2diplo. Kolumbien als größter fossiler Handelspartner Deutschlands in Lateinamerika hat ein eigenes H2diplo-Büro. Auch im Rahmen der Global Gateway-Initiative der EU fühlt sich Deutschland vor allem für den Wasserstoff zuständig und finanziert die Plattform H2lac, die lateinamerikanischen Staaten den Weg in die Wasserstoff­wirtschaft weisen soll.

Wirft man einen Blick in die Wasserstoffstrategien lateinamerikanischer Staaten, so scheinen die Versprechen zumindest dort zu verfangen. Das hoffnungsvolle Narrativ lautet folgendermaßen: In Lateinamerika ist die Sonnen- und Windausbeute um ein Vielfaches höher als in Deutschland. Deshalb könne es sich auszahlen, in besonders begünstigten Regionen riesige Solar- und Windparks zu bauen, mit deren Strom Wasserstoff hergestellt werden kann. Dieser Wasserstoff wird dann nach Deutschland geliefert, wo er aufgrund der geringeren Produktionskosten immer noch konkurrenzfähig wäre zu Wasserstoff, der in Europa hergestellt würde. Die lateinamerikanischen Staaten hätten ein neues begehrtes Exportgut und Deutschland einen klimafreundlichen Energieträger zur Dekarbonisierung der eigenen Industrie. Zusätzlich könnten die Exportstaaten den Wasserstoff auch im Inland nutzen und damit etwa Bergbau, Verkehr und Chemieindustrie „ergrünen“ lassen. Insgesamt würde dieser neue Wirtschaftszweig viele neue Arbeitsplätze schaffen, Umweltverschmutzung reduzieren und den Klimawandel aufhalten.

Die Lieferung von Wasserstoff nach Deutschland steht ganz oben auf der Agenda

Doch so einfach ist es leider nicht. Erstens ist die Wasserstoffproduktion in einem Land erst dann vorteilhaft für das Klima, wenn die Energieversorgung bereits weitgehend auf erneuerbaren Energien beruht. Ist das nicht der Fall, geht die Produktion zulasten des Klimas, wenn etwa Kohlekraftwerke weiterlaufen müssen, weil neue Windparks für den Wasserstoffexport reserviert sind und nicht für die heimische Stromversorgung. Und für die Entwicklungschancen eines Landes ist es nur dann von Vorteil, wenn bereits die gesamte Bevölkerung guten Zugang zu bezahlbarer Energie hat. Sonst geht die Wasserstoffproduktion zulasten der Anwohnenden, die im Zweifel neben riesigen Energieanlagen leben, aber selbst keine gesicherte Stromversorgung haben. Oft genug kommen beide Probleme zusammen – im kolumbianischen Departamento La Guajira etwa oder in der O’Higgins-Region in Chile, um nur zwei Beispiele zu nennen. Solche negativen Erfahrungen haben die Lateinamerikaner*innen zudem bereits mit fossilen und Wasserkraftwerken gemacht. Die Kraftwerke wurden vorrangig zur Stromversorgung für den Bergbau oder andere Exportbranchen gebaut, während die Anrainer*innen von Zwangsumsiedlungen, Umweltzerstörung und weiterhin schlechter Energieversorgung betroffen waren. Da die Wasserstoffproduktion ebenfalls große Mengen an Wasser und Land benötigt, ist die Sorge berechtigt, dass diese Ungerechtigkeiten fortgeschrieben werden.

Vor allem der deutsche Fokus auf die Schaffung einer globalen, wettbewerblichen Wasserstoffwirtschaft stellt für potenzielle lateinamerikanische Exporteure ein Problem dar. Denn die Region ist darauf angewiesen, den Wasserstoff auf Schiffen um die halbe Welt zu liefern, und diese Form des Transports ist bei Wasserstoff ein bisher ungelöstes Problem. Bisher kann nur ein Schiff weltweit reinen Wasserstoff transportieren. Das kostet viel Energie, weil der Wasserstoff tiefgekühlt und verflüssigt werden muss, außerdem verdampft ein Teil davon auf dem Weg. Verschiedene Studien kommen zu dem Schluss, dass am Ende nur 50 – 60 Prozent des geladenen Wasserstoffs in Deutschland ankommen würde. Das bedeutet, dass der lateinamerikanische Produzent weniger als die Hälfte für seinen Wasserstoff verlangen könnte als ein Konkurrent, der seinen Wasserstoff per Pipeline liefern kann.

Nicht immer vorteilhaft für das Klima

Deshalb wird aktuell davon ausgegangen, dass der Wasserstoff erst noch zu anderen Produkten weiterverarbeitet wird, bevor er auf ein Schiff gelangt – zu Ammoniak oder Methanol etwa, was in der Chemieindustrie gebraucht wird, oder zu Flüssigkraftstoffen, so genannten e-fuels. Dies hat den Vorteil, dass etwas mehr Wertschöpfung im Produktionsland verbliebe, aber den Nachteil, dass weitere potenziell umweltschädliche Industrien angesiedelt würden, die zudem nur wenige Arbeitsplätze schaffen.

Außerdem haben diese Produkte ein grundsätzliches Problem gemeinsam: Wenn man den Schutz von Klima- und Biodiversität ernst nimmt, müsste ihre Produktion massiv beschränkt werden. Der Klimaschaden des Fliegens, auch mit e-fuels, geht über den reinen CO2-Ausstoß weit hinaus. Auch sind viele Produkte, für die Ammoniak gebraucht wird, etwa Kunstdünger oder Pestizide, für Artensterben, Bodendegradation und Grundwasservergiftung mitverantwortlich (siehe Artikel Seite 63). Für die Stahlindustrie dagegen, wo der Einsatz von Wasserstoff die beste Klimaschutzwirkung erzielt, sind Ammoniak, Methanol oder e-fuels sinnlos, denn sie braucht reinen Wasserstoff. Den könnte man zwar theoretisch aus dem Ammoniak wieder zurückgewinnen, dieser Prozess wäre aber derart aufwändig, dass noch weniger von der ursprünglich gewonnenen Energiemenge übrig bliebe als beim Schiffstransport des reinen Wasserstoffs.

Neue Energien Aber wer zahlt den Preis? (Foto: Presidencia de Colombia, PDM 1.0)

Diese offenen Fragen haben dazu geführt, dass die deutsche Wasserstoff-Importstrategie sich stark auf Nachbarländer fokussiert, die per Pipeline erreichbar sind. Entgegen der Versprechungen, die im Rahmen der Energiepartnerschaften gemacht werden, hat Wasserstoff aus Lateinamerika also für Deutschland keine Priorität. Vielmehr geht es der deutschen Seite um „Diversifizierung“: Nach der Erfahrung mit Russland, durch dessen Krieg innerhalb weniger Wochen mehr als die Hälfte der deutschen Erdgasimporte wegfiel, ist man nun bemüht, möglichst viele Energielieferanten zu finden – gerne auch deutlich mehr, als man am Ende braucht. Und natürlich wäre es im deutschen Interesse, wenn aufgrund sehr zahlreicher Wasserstoffprojekte der Preis für den begehrten Energieträger möglichst schnell möglichst tief sinken würde. Dafür ist sich die Bundesregierung nicht zu schade, zunehmend Wasserstoff aus fossilen Quellen in ihre Überlegungen einzubeziehen. Damit erhöht sie den Rentabilitätsdruck auf grüne Wasserstoff-Projekte zusätzlich – und damit die Gefahr, dass diese Projekte ohne Rücksicht auf die lokale Bevölkerung, lokale Wirtschaftsweisen und Umweltgefahren durchgedrückt werden. Konzepte, die etwa die Energieversorgung der Bevölkerung einbeziehen, sich auf Verhandlungen mit lokalen Gemeinschaften über Größe, Art und Standort der Anlagen einlassen oder auch nur gerechte Steuern zahlen, geraten dadurch ins Hintertreffen.

Ein weiteres wichtiges deutsches Interesse, der Verkauf der Anlagentechnik, verweist ebenfalls auf ein altes Problem der internationalen Handelsströme: den ungleichen Tausch zwischen Industriestaaten, die Maschinen und hochver­arbeitete Produkte liefern, und Staaten, die dafür ihre Rohstoffe verkaufen. Dieses Modell würde sich beim Wasserstoff wiederholen, wenn aus Deutschland die Elektrolyseure und Ammoniaksynthese-Anlagen, aus China die Windräder und Solarmodule kommen, und die lateinamerikanischen Staaten ihr Land, ihr Wasser und ihre Solar- und Windressourcen hergeben.

In ihrer Rhetorik der „Augenhöhe“ haben deutsche Regierungsvertreter*innen wiederholt versprochen, dass es in den neuen Partnerschaften auch darum gehen müsse, die Wertschöpfung in den Partnerländern zu erhöhen. Die „Re-Industrialisierung“, die sich etwa Brasilien und Kolumbien vorgenommen haben, zielt genau darauf ab: mehr und diversere industrielle Produktion im Land, die stärker auf die eigenen Bedürfnisse ausgerichtet ist. Kolumbien etwa hat Vorschläge vorgelegt, wie es sich eine gerechte und inklusive Wasserstoff-Partnerschaft vorstellt: nicht marktförmig, indem internationale Konzerne den Wasserstoff im einen Land produzieren lassen und im anderen verkaufen, sondern als „Partnerschaft zwischen dem kolumbianischen Staat und dem deutschen Staat, mit den Geldern, die wir selbst haben“. Die kolumbianische Regierung schlägt vor, dass der Staatskonzern Ecopetrol „gemeinsam mit dem deutschen Staat Wasserstoff produziert“, und zwar in Projekten, die gemeinsam „mit den indigenen, afrokolumbianischen und anderen Gemeinschaften vor Ort, und nicht allein mit dem Staat“ umgesetzt werden. Ein solches Vorgehen böte die Chance, dass der deutsche Wasserstoff-Hunger nicht einfach einen neuen Boom des Extraktivismus auslöst, sondern die Lebensbedingungen in den Partnerländern tatsächlich verbessert. Dafür müsste die deutsche Energieaußenpolitik sich allerdings wirklich auf Augenhöhe begeben und anerkennen, dass die lateinamerikanischen Partner durchaus eigene Vorstellungen davon haben, wie eine gute Wasserstoff-Partnerschaft aussieht. Und sie müsste die Erkenntnis integrieren, dass Deutschland aufgrund seiner historischen Klimaschuld auch eine globale Verantwortung für die Eindämmung der Klimakrise hat. Ungewisse Verkaufschancen für ein ressourcenintensives Exportgut werden diesem Anspruch nicht gerecht.


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Neue Geschäftsmöglichkeiten für europäische Unternehmen

María José Romero im Interview Romero arbeitet bei EURODAD, einem Netzwerk von 60 zivilgesellschaftlichen Organisationen aus 28 europäischen Ländern (Foto: privat)

Was ist die Global Gateway-Initiative und was waren wichtige Schritte der Umsetzung?
Die Global Gateway-Initiative wurde 2021 von der EU-Kommission und dem Hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik vorgestellt. Die Initiative wird als positives Angebot der EU an die Partnerländer im Globalen Süden beworben und im Diskurs als eine Strategie dargestellt, die von Werten, demokratischen Prinzipien, einem hohen Maß an Transparenz und guter Regierungsführung geleitet sei. Sie wird als Alternative zur wachsenden geopolitischen und wirtschaftlichen Präsenz Chinas durch die Initiative Neue Seidenstraße angepriesen.
Die Strategie soll die handels- und entwicklungspolitischen sowie geostrategischen Prioritäten der EU in Einklang bringen. Sie zielt darauf ab, die Auslandsinvestitionen und Entwicklungszusammenarbeit in den Ländern des Globalen Südens zu harmonisieren.

In welchen Bereichen sind Investitionen geplant?
Es geht um Investitionen für Digitalisierung, Verkehr, Gesundheit, Bildung und Forschung sowie Klima und Energie. Der Schwerpunkt liegt aber auf den Bereichen Klima und Energie sowie Verkehr. Das Hauptproblem ist, dass es mit Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit finanziert wird, die eigentlich für die Armutsbekämpfung, die Verringerung der Ungleichheit oder den Kampf gegen den Klimawandel verwendet werden sollten.

Sie sprechen sogar davon, dass mit dieser neuen Strategie ein Paradigmenwechsel in der EU-Entwicklungszusammenarbeit vollzogen wird.
Die Entwicklungszusammenarbeit war auch vorher nicht frei von geopolitischen oder kommerziellen Interessen. Was wir jedoch in den letzten Jahren beobachten, ist ein viel offenerer Diskurs als zuvor, geopolitische und kommerzielle Interessen mit Entwicklungsinteressen zu verbinden. Das bezeichnen wir als Paradigmenwechsel.

Wer sind die Akteure, die die Initiative vorantreiben?
Die Europäische Kommission ist die Hauptakteurin, aber auch die EU-Mitgliedstaaten sind an der Entscheidungsfindung beteiligt. Die Entwicklungsbanken der Mitgliedstaaten und insbesondere die Europäische Investitionsbank sind ebenfalls in die Verwaltungsstruktur eingebunden. Da Investitionen von europäischen Unternehmen im Globalen Süden gefördert werden sollen, werden vor allem Unternehmen aus den EU-Mitgliedsstaaten mit größerem wirtschaftlichen und politischen Gewicht bevorzugt.

Inwiefern sind die Unternehmen und Zivilgesellschaft eingebunden?
Die Europäische Kommission hat zwei externe Stakeholder-Gruppen eingerichtet, die beratend tätig sind. Aber diese Gruppen sind unausgewogen, was ihre Macht angeht und ihren Einfluss auf Entscheidungen darüber, welche Projekte priorisiert werden.
Die eine Gruppe, die von Anfang an vorgesehen war, setzt sich aus 59 großen Unternehmen zusammen. Wir haben überprüft, welche Unternehmen als Mitglieder dieser beratenden Gruppe vertreten sind. Die Namen ihrer Mitglieder tauchen in einigen Global Gateway-Projekten auf, wie im Fall des geplanten Medusa-Unterseekabels, das unter Beteiligung der Unternehmen Orange und Alcatel, das Nokia gehört, entwickelt wurde. Für uns besteht hier eindeutig die Gefahr eines Interessenkonflikts.
In der anderen Gruppe sind Kommunalbehörden und die Zivilgesellschaft vertreten. Sie wurde erst später eingerichtet, hat nicht das gleiche Gewicht und ist unserer Ansicht nach nicht mehr als eine Formalität. Es ist kaum möglich, dass sie Einfluss auf die Projekte nimmt.

Im Rahmen der Strategie spielt der Bereich Klima und Energie eine wichtige Rolle. Welche Relevanz hat insbesondere die Investitions-Säule „Energie“ in Lateinamerika?
In politischer und strategischer Hinsicht und angesichts des Reichtums Lateinamerikas an Natur- und Energieressourcen ist dies einer der wichtigsten Sektoren für die Umsetzung von Global Gateway Projekten in der Region. Es werden Projekte gefördert, die zur Energiewende und zur Dekarbonisierung beitragen sollen.
Aufgrund der Art der Strategie handelt es sich jedoch um Projekte, die dem europäischen Privatsektor Geschäftsmöglichkeiten bieten und der EU zur Diversifizierung der Versorgung mit erneuerbarer Energie dienen sollen. Die eigene Energiesouveränität ist eine der Prioritäten der EU.

Gibt es schon erste Erfahrungen mit Projekten und ihren Auswirkungen?
Die EU hat kürzlich das sogenannte modernisierte Rahmenabkommen mit Chile beschlossen, das sich auf die Liberalisierung von Handel und Investitionen konzentriert und Sektoren wie Wasserstoff und Rohstoffe umfasst. Projekte zur Gewinnung von Grünem Wasserstoff sind einer der Schwerpunkte von Global Gateway in Chile. Sie haben aber einen erheblichen Einfluss auf den Wasserverbrauch und es besteht die Gefahr von Wasserstress in den Regionen, in denen die Projekte durchgeführt werden. Fälle dieser Art gibt es in Chile, aber auch in Namibia und Südafrika.
Allgemein haben Investitionen in grüne Wasserstoffprojekte die Tendenz, einen neokolonialen Ansatz bei der Nutzung und Verteilung natürlicher Ressourcen zu fördern. Das Ziel der EU, die Energiesouveränität zu erlangen, steht oft im Widerspruch zur Nutzung der natürlichen Ressourcen aus den Ländern des Globalen Südens oder geht auf deren Kosten.

Was sind Ihre Forderungen als Zivilgesellschaft?
Die erste und strategisch wichtigste Forderung ist für uns eine Neubewertung der Global Gateway-Strategie insgesamt. Die primäre Aufgabe der Entwicklungszusammenarbeit muss die Reduzierung der Armut, der Kampf gegen Ungleichheit und gegen den Klimawandel sein und nicht die Förderung von europäischen Wirtschaftsinteressen im Globalen Süden.
Zweitens fordern wir hohe Standards für die Umsetzung von Projekten. Wir fordern Transparenz darüber, mit welchen Kriterien entschieden wird, warum welche Projekte durchgeführt werden und andere nicht, oder wie sie finanziert sind. Es handelt sich um öffentliche Mittel der europäischen Steuerzahlenden. Wir fordern auch mehr Informationen und vorherige Bewertungen über mögliche Auswirkungen, insbesondere im Hinblick auf Menschenrechte und auf die Rechte von Frauen.
Drittens fordern wir die Einführung öffentlicher Kontrollprozesse und -mechanismen, einschließlich einer größeren Rolle für das Europäische Parlament. Prozesse, die die Zivilgesellschaft wirklich einbeziehen, nicht nur in Europa, sondern auch im Globalen Süden.


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“Eine Erneuerung der neoliberalen Politik”

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Wie blicken Sie aktuell auf Chiles Energiepolitik?

Borics Programm versprach einen sozio-ökologischen Wandel mit der Energiewende, Änderungen in der Umweltgesetzgebung und dem Strukturwandel in der Wirtschaft als Hauptelementen. Nach der Ablehnung des Verfassungstextes im Plebiszit von 2022 gab es jedoch starken Druck von Unternehmen und rechten Parteien, um diese transformativen Reformen zu verhindern. Hierzu zählt auch das Thema Energie. Was einst ein Programm des Wandels in verschiedenen Bereichen war, wurde zu einer Fortführung der Politik, die wir vor der sozialen Revolte und der Pandemie hatten. Die grünen Energien erneuern somit die neoliberale Politik. Nun erklärt die Regierung, Chile habe viel Potential für erneuerbare Energien und könne zum Energieexporteur werden. Diese neue Entwicklungsstrategie sei für das Land von Vorteil und könne viele Arbeitsplätze schaffen. Konkret bedeutet das zum Beispiel, grünen Wasserstoff zu exportieren und große Investitionen in erneuerbare Energien zu fördern. Tatsächlich wurde die Strategie des grünen Wasserstoffs bereits unter der Regierung von Piñera vorgestellt, ohne dass eine Konsultation indigener Gemeinschaften oder eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt worden wären, obwohl dies gesetzlich vorgeschrieben ist. Es ist paradox, dass sich Boric diese Strategie trotz solcher Schwachstellen sofort nach Amtsantritt, also sogar noch vor dem verlorenen Verfassungsplebiszit, auf die Fahnen geschrieben hat.

Welche Rolle spielen internationale Akteur*innen, speziell Deutschland?

Schon im Jahr 2013 hat Deutschland ein Abkommen zur Rohstoffpartnerschaft mit Chile geschlossen, das Nachhaltigkeit als einen Schwerpunkt definiert. Außerdem gibt es eine weitreichendere „Kooperation“ über die GIZ (Anm. d. Red.: deutsche Organisation für Entwicklungszusammenarbeit) mit dem Fokus, erneuerbare Energien und Energieeffizienz voranzutreiben. Die Einflussnahme der GIZ hat eine zentrale Rolle gespielt bei Gesetzesänderungen mit dem Zweck, die Energie­politik Chiles unter dem bisherigen Modell weiterzuführen: ein Modell der Megaprojekte erneuerbarer Energien zugunsten des Unternehmertums statt dezentralisierter Energieversorgung auf Grundlage von kommunalen Initiativen und Energie-Eigenversorgung von Stadtteilen oder Gemeinden.

Was denken Sie über das Handelsabkommen zwischen Chile und der Europäischen Union, das vor kurzem im EU-Parlament verabschiedet wurde?

Zum Glück haben die Linken und die Grünen dagegen gestimmt! Das ist auch ein Signal nach Chile, denn dort rechtfertigen einige die Zustimmung zu dieser Art neokolonialer Instrumente, indem sie Europa als gesellschaftliches Vorbild idealisieren. Das Handelsabkommen ist letztlich ein Freihandelsabkommen, das den Zugang europäischer Wirtschaften zu erneuerbaren Energien sicherstellt: zu grünem Wasserstoff, Kupfer, Lithium und seltenen Erden. Hierdurch entwickeln Firmen, die bisher nicht in Chile präsent waren, nun Megainvestitionen.

Haben Sie ein Beispiel?

Da gibt es nordamerikanische Firmen wie NG Energy, aber vor allem europäische, etwa Enel. Auch RWE aus Deutschland hat mehrere Projekte zu erneuerbaren Energien, sowohl Sonnen- als auch Windenergie. WPD, ein anderes deutsches Unternehmen, legt bei Windparkprojekten ein sehr aggressives, gar mafiöses Verhalten gegenüber den betroffenen bäuerlichen Gemeinschaften an den Tag. Sie haben ausgenutzt, dass in Chile keine Normen existieren, die etwa den Abstand der Windparks zu Wohnhäusern regeln. Der Lärm und die Magnetfelder der Windparks führen auch zu Stress bei den Tieren: Wir haben in einem Fall beobachtet, wie sich die Milchproduktion der Kühe halbiert hat und innerhalb von drei Monaten alle Honigbienen verschwunden sind. Das beeinträchtigt die Ernährungssouveränität der Gemeinschaften.

Wie begründet der Staat diese Strategie gegenüber der Bevölkerung?

Uns wurde gesagt, dass Chile am Rande eines Versorgungsengpasses sei; dass die Energie zu knapp sei, um das erwartete Wirtschaftswachstum zu tragen. Daher haben die Menschen die Maßnahmen akzeptiert. In Wirklichkeit haben wir heute jedoch eine überdimensionierte Stromversorgung. Letztes Jahr wurden nur 36 Prozent der Gesamtkapazität der Stromerzeugung genutzt. Die Ausweitung der erneuerbaren Energien führt nicht zu einer zunehmend sauberen Energieerzeugung, sondern soll der chilenischen Wirtschaft im Einklang mit der Strategie neue Geschäftsfelder eröffnen.

Die Umweltgesetzgebung sieht bei Entscheidungsprozessen eine Bürger*innenbeteiligung vor. Schützt diese Beteiligung die Personen gegenüber den Unternehmen?

Seit geraumer Zeit wird die Ausweitung des Extraktivismus in Chile von sozial-ökologischen Konflikten begleitet. In der Umweltverträglichkeitsprüfung gibt es zwar Bürgerbeteiligung, aber die ist nicht verbindlich. Die Menschen werden aufgefordert, sich zu beteiligen, aber letztendlich ist die Entscheidung eine politische und die Projekte bleiben vor Ort umstritten. Die Unternehmen versuchen, den Widerstand zu brechen oder sich die Zustimmung der Gemeinschaften oder einzelner Personen durch finanzielle oder Sachleistungen zu erkaufen, indem sie die Bedürfnisse der Bevölkerung ausnutzen. Als die Menschen gemerkt haben, dass dies gegen ihre Interessen geht, gingen die Firmen zur Strategie der sogenannten „gemeinsamen Wertschöpfung“ (valor compartido) über. Ihr Ziel ist es, die Gemeinschaften zu Dienstleisterinnen des Unternehmens zu machen. Das schafft Konflikte innerhalb der Gemeinschaften, da dies nur bestimmten Teilen von ihnen zugute kommt. So wird der soziale Zusammenhalt gestört und der mögliche Widerstand gegen das Projekt geschwächt.

Ist dieses Verhalten der Unternehmen also illegal? Welche Haltung nimmt die Regierung dazu ein?

Momentan versuchen die Firmen, die Strategie der „gemeinsamen Wertschöpfung“ in den staatlichen Institutionen zu verankern – anhand von Reformen der Umweltverträglichkeitsprüfung von Projekten, die die Firmen dazu ermächtigen, in die Territorien hineinzugehen und einen Dialog mit den Bewohnern zu führen, sogar bevor das Projekt öffentlich bekannt gegeben wird. Es wurden Beratungsagenturen geschaffen, um die Mediation zwischen Gemeinschaft und Unternehmen zu übernehmen und Übereinkünfte auszuhandeln. Deswegen nennen wir diesen Prozess die „Privatisierung des Dialogs“ und nehmen ihn als Bedrohung wahr, da er den Staat von seiner Verantwortung als Garant der Menschenrechte und kollektiver Rechte entlastet. Aufgrund der aktuellen politischen Situation ist es möglich, dass eine solche Gesetzgebung durchgesetzt wird.
Die Regierung von Gabriel Boric hat einen Schwerpunkt auf öffentlich-private Partnerschaften gelegt, welche heute die gesamte Investitions- und öffentliche Politik durchziehen. Letztlich öffnen die Strategie der „gemeinsamen Wert­schöpfung“ und öffentlich-private Partner­schaften dem Staat die Möglichkeit, sich weiter zurückzuziehen. Den Firmen gibt sie mehr Rechte und die Legitimation, ohne die Mediation und den Schutz des Staates in den Territorien zu intervenieren.

Können Sie uns einen Fall nennen, in dem die Strategie der „gemeinsamen Wertschöpfung“ angewendet wurde?

Bei der Erweiterung der Zellulosefabrik Forestal Arauco, die eine der größten Lateinamerikas sein wird, hat die Firma Menschen aus der Gemeinschaft zu ihren externen Dienstleistern gemacht. Das Unternehmen Albemarle hat bei der Lithium-Ausbeutung in der Atacamawüste sogar einen Prozentsatz der Jahresgewinne an indigene Gemeinschaften abgegeben. So weit reicht das Spektrum dieser Strategie.

Welcher Widerstand hat sich in Chile gegen die neoliberale Umsetzung der Energiewende gebildet?

Es gab immer Widerstand gegen die Ausbreitung des Neoliberalismus und die Privatisierung der natürlichen Gemeingüter. Aufgrund der mit der neuen Energie- und Bergbaupolitik verbundenen Konflikte bilden sich jedoch neue Akteure wie kleine bäuerliche Gemeinschaften heraus. In der Gemeinde Penco in der Region Biobío möchte eine Tochterfirma des kanadischen Konzerns Aclara seltene Erden ausbeuten, sie hat viel Rückhalt bei Institutionen und Unternehmen. Die Gemeinschaft vor Ort ist sehr organisiert und hat es geschafft, ihren Protest auf eine breite soziale Basis zu stellen: kleine Händler, Fischer, kleine Gastronomie, Bewohner der marginalisierten Viertel, indigene Mapuche, ein Frauen-Netzwerk. All diese Gruppen haben sich zu einer territorialen Versammlung zusammengeschlossen. Ausgehend von den Defiziten des Projektdesigns und der grundlegenden Ablehnung des Bergbaus vor Ort haben sie schon mindestens fünf Mal verhindert, dass die Umweltverträglichkeit des Projekts festgestellt wird, zuletzt im vergangenen Jahr. Dennoch versucht es das Unternehmen weiter.

In Grünheide haben Sie mit Aktivist*innen gesprochen, die gegen Tesla kämpfen, weil das Unternehmen dort den Zugang zu Wasser bedroht. Wie könnten die Kämpfe in Deutschland und Chile verknüpft werden?

Der strategischste Umweltkonflikt in Chile dreht sich ums Wasser. Daher fühlen wir uns dem Kampf der Menschen aus Grünheide und der Waldbesetzung gegen Tesla sehr nahe. Wir führen ähnliche Kämpfe – mit unterschiedlichen Ausprägungen, aber gemeinsamen Problematiken im Konkreten. Daher sollten wir durch Solidarität und den Austausch von Strategien verbunden sein.


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MEXIKOS WIDERSPRÜCHE IM KAMPF GEGEN DEN KLIMAWANDEL

Bei der diesjährigen COP27 präsentierte Mexikos Außenminister Marcelo Ebrard gemeinsam mit dem Sonderbeauftragten des US-Präsidenten für Klimafragen John Kerry die Versprechungen Mexikos im Kampf gegen den Klimawandel für die kommenden Jahre. So will Mexiko seine Treibhausgasemissionen entgegen vorheriger Vereinbarungen über eine Reduktion von 22 Prozent bis 2030 sogar um 35 Prozent senken. Der Ausstoß von Rußemissionen soll weiter reduziert, der Ausbau von regenerativen Energien weiter auf Kapazitäten von 40 Gigawatt verdoppelt werden. Die dafür veranschlagten Gesamtausgaben belaufen sich auf rund 48 Milliarden US-Dollar. Mit diesen Investitionen sei die Hoffnung verbunden, eine Vielzahl an Arbeitsplätzen zu schaffen und ein Wachstum im Bereich des erneuerbaren Energiesektors zu erzielen, so das mexikanische Außenministerium.

Dennoch stehen aktuelle Auseinandersetzungen innerhalb Mexikos konträr zu den erweiterten Versprechen, die im Rahmen der Weltklimakonferenz erarbeitet wurden. Laut Greenpeace Mexiko gibt es im gesamten Land mehrere Hundert dokumentierte sozio-ökologische Konflikte um Bergbau, Waldabholzungen (siehe LN 567 und 548), sowie insbesondere Projekte im fossilen Energiesektor. Die Aktivistin Teresa Aguilar von der sozialistischen Arbeiter*innen-Bewegung MTS berichtet etwa von gebrochenen Verpflichtungen zum Schutz der Mangrovenwälder im Bundesstaat Tabasco, wo die vom staatlichen Erdölkonzern PEMEX betriebene Raffinerie Dos Bocas entsteht. Im Rahmen dieses Projektes wurden rund 300 Hektar Mangrovenwald abgeholzt. Auch im jährlichen Climate Transparency-Bericht der G20-Staaten von 2022 findet sich dieser Widerspruch wieder. Mexiko selbst ist in der Region Mittel- und Südamerika hinter Brasilien für den zweitgrößten CO2-Ausstoß verantwortlich. Dennoch hat das Land seine CO2-pro-Kopf-Emissionen in den Jahren 2014 bis 2019 um 6,4 Prozent gesenkt, was beinahe fünf Prozent Reduzierung über dem Durchschnitt der übrigen G20-Staaten entspricht. Doch die derzeitige Energiepolitik ist weiterhin stark auf Erdöl und Erdgas ausgerichtet.

Vor allem der staatliche Erdölsektor soll vermehrt gefördert werden

So besteht der Energiemix Mexikos zu 86 Prozent aus ebenjenen Rohstoffen. Öffentliche Transportmittel fahren zu rund 99 Prozent mit Benzinantrieben, weil deren Nutzung weiterhin stark subventioniert wird. Dies wirft vor allem in den großen urbanen Ballungsräumen wie Mexiko-Stadt, Tijuana und Monterrey gesundheitliche Fragen in Bezug auf die Qualität der Atemluft auf. Positiven Entwicklungen in Bezug auf den Pro-Kopf-Ausstoß von CO2 stehen allerdings groß angelegte Projekte und Strategien gegenüber, die diese guten Ansätze konterkarieren.

Präsident AMLO legt seinen Fokus vor allem auf staatliche Unternehmungen und den Kampf gegen die 2013 erfolgte Privatisierung des Energiesektors. Dies sollte Mexiko bis 2022 in die Energieunabhängigkeit führen, was allerdings noch nicht abschließend gelungen ist. Der staatliche Erdölkonzern PEMEX soll hier eine Vorreiterrolle einnehmen, was einer 180-Grad-Wende zur Energiepolitik von AMLOs Vorgänger Enrique Peña Nieto entspricht, wie es die französische Zeitung Le Monde formuliert. Ein besonderes Projekt im Rahmen dieses ambitionierten Ziels ist der bereits erwähnte und 2019 angekündigte Bau der neuen Ölraffinerie Dos Bocas in Tabasco. Diese soll laut El Economista ab dem Jahr 2023 Erdöl verarbeiten. Die Zufuhr von Erdgas in die Anlage hat bereits im Dezember 2022 begonnen.

Mexiko sollte bis 2022 unabhängig in der eigenen Energieproduktion sein

Dies verdeutlicht auch den auf der Weltklimakonferenz angekündigten Fokus der Regierung, die eigene Energieunabhängigkeit schnellstmöglich mit fossilen Brennstoffen zu erreichen. Ebenso zeigt dieser sich in der starken staatlichen Subvention von Erdöl und Gas, gerade im Bereich Energie und öffentlicher Transportmittel. Im Bereich fossiler Brennstoffe sind laut der mexikanischen Tageszeitung La Jornada weitere Projekte geplant. Zu nennen wäre die Wiederaufnahme von mehreren Projekten zur Förderung von Erdgas mit einem Volumen von mehreren hundert Millionen Dollar im Golf von Mexiko im Bundesstaat Veracruz. Weitere sechs Raffinerien in Mexiko sollen saniert werden und mit staatlichen Investitionen wieder in die öffentliche Hand gehen. PEMEX kaufte zudem Anteile an einer US-amerikanischen Raffinerie in Houston. Laut López Obrador soll Mexiko in Bezug auf Treibstoffe wie Benzin und Diesel schon Ende 2023 autark sein.

Vor allem der staatliche Erdölsektor soll hier vermehrt gefördert werden, weswegen Mexiko sich im Rahmen des nordamerikanischen Freihandelsabkommens (USMCA) derzeit auch in einem Streit mit seinen Partnern befindet. Der Präsident verlor erst im April im Kongress eine entscheidende Abstimmung über eine geplante Energiereform, die Schlüsselindustrien im Erdöl- und Stromsektor wieder verstärkt zentralisiert hätte. So hätten PEMEX und der nationale Stromkonzern CFE wieder dem Staatshaushalt unterstellt werden sollen. Die Niederlage bei der Abstimmung hat wohl vorerst auch eine größere, gerichtliche Auseinandersetzung mit den USA verhindert. Diese befürchteten im Rahmen der Verträge benachteiligt zu werden. Auf Geheiß des Präsidenten wurden vonseiten seiner Parlamentarier keinerlei Änderungen an seinen Anträgen zu den Reformen des Energiesektors zugelassen und somit jegliche Verhandlungsbereitschaft im Keim erstickt. Doch nicht wenige Expert*innen hätten es durchaus für angebracht gehalten, die Liberalisierungen von 2013 einmal grundlegend zu überarbeiten, denn: Vor allem die Verbraucher*innen würden bisher nicht genügend geschützt, kritisierte Edna Jaime, Leiterin der Nichtregierungsorganisation México Evalúa, in der Deutschen Welle.

Neben der Stärkung des Ölsektors wird aber auch der Ausbau regenerativer Energien immer wieder behindert. Nicht selten versuchen mexikanische Behörden den Anteil von regenerativen Projekten am nationalen Energiesektor zu begrenzen. Die Regierung setzt Lizenzen für erneuerbare Energien aus und blockiert Investitionen in diesen Bereichen. Wo hierdurch auf der einen Seite Chancen ungenutzt bleiben, sind andere Projekte wie ein großer Solarpark in Sonora und weitere Wasserkraftwerke nur Tropfen auf den heißen Stein, was die Erreichung der eigenen Klimaziele angeht. Denn diese vereinzelten Projekte stehen im Kontrast zum Engagement der Regierung zugunsten fossiler Brennstoffe und der wirtschaftlichen Entwicklung durch Extraktivismus und Raubbau. Ebenso wären die zu geringen Budgets im staatlichen Umweltsektor zu nennen. Die hierfür zur Verfügung gestellten Gelder stagnieren seit Jahren und werden dann auch noch zu einem Großteil in den Transport von Erdgas investiert.

AMLOs Pläne, die mexikanische Energiepolitik wieder mehr unter staatliche Kontrolle zu bringen, sind vor dem Hintergrund zu sehen, Mexiko möglichst autark zu machen. Im Rahmen nationaler Energiepolitik scheint dies erst einmal legitim, ist im Kampf gegen den Klimawandel und den nicht abzuschätzenden Folgen für Mexiko aber zu kurz gedacht.


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“DIE REICHEN MUSSTEN ZUR ZISTERNE”

Im Nordwesten Boliviens plant die Regierung die großen Wasserkraftwerke El Bala und Chepete. Indigene Gemeinden kündigten eine Klage gegen den geplanten Stausee El Bala an. Sie arbeiten im städtischen Raum – welche Rolle nimmt das Thema Energie in der Stadt ein?

Mario Rodríguez: Es spielt eine Rolle, aber in Bolivien ist Energie noch kein Thema, das stark diskutiert wird. Die Regierung hat einen Nationalen Plan zur Entwicklung für das Vivir Bien (Gutes Leben) – der Name ist ein Widerspruch, aber so heißt der Plan. Ein zentrales Element ist das Ziel, Bolivien in ein Zentrum der Energieproduktion in Südamerika zu verwandeln, das Energie exportieren kann. Der Energieexport hängt stark mit der steigenden Nachfrage der Agrarindustrie, insbesondere in Brasilien, zusammen. Die größten Staatseinnahmen stammten in den vergangenen Jahren aus dem Gasexport, wobei Brasilien der größte Käufer ist. Brasilien kündigte an, die Importe aus Bolivien zu reduzieren, während Argentinien Anfang Februar Interesse an höheren Gasimporten verkündete. Zuletzt sind die Preise für Erdöl und Mineralien gesunken, was die Staatseinnahmen senkt. Dennoch kreist der Regierungsdiskurs weiter um die Idee, dass der Energieexport sich in eine noch bedeutendere Haupteinnahmequelle des Staates verwandelt. Dafür gibt es die Strategie, Energie im großen Maßstab zu produzieren. Diese Strategie beinhaltet unter anderem erneuerbare Energien aus Sonne und Wind, führt aber auch zwei zentrale Themen ein: den Bau von großen Wasserkraftwerken im Amazonas und zwei Zentren für Kernenergie.

In der Stadt El Alto soll nun ein Forschungszentrum für Kernenergie gebaut werden. Welche Reaktionen gab es auf das Vorhaben?

Die öffentliche Meinung reagierte sofort: Wie kann Bolivien in die Atomenergie eintreten, in einer Welt, die aus der Produktion aussteigt? Die Regierung startete in den vergangenen drei Jahren eine erste Phase und brachte ein Forschungszentrum für Kernenergie auf den Weg. Das Forschungszentrum sollte zunächst in Achocalla, das heißt neben La Paz und El Alto, gebaut werden. Dies ist eine Region, in der Nahrungsmittel produziert werden, insbesondere Gemüse. Die dortige Bevölkerung ist gemischt: Traditionell ist es eine bäuerliche Region, in der es gutes Wasser für die Landwirtschaft gibt. Hinzugekommen ist die Mittelklasse aus La Paz, die aus dem städtischen Raum zieht, um in einem schöneren, wärmeren Tal zu leben. Außerdem ziehen dort viele Ausländer*innen hin, Europäer*innen, die in Nichtregierungsorganisationen, der internationalen Zusammenarbeit usw. arbeiten. Diese bringen einen ökologischen Diskurs mit und Achocalla definiert sich inzwischen in einem Statut als ökologisches, produktives und touristisches Munizip. Gegen das Forschungszentrum für Kernenergie gab es in Achocalla Widerstand und das Munizip lehnte das Forschungszentrum ab. Die Regierung verlegte es also nach El Alto.

Können Sie erklären, wozu in dem Zentrum geforscht werden soll?

Das Forschungszentrum für Kernenergie arbeitet zu drei Themen: Erstens, im Bereich Gesundheit. Es gibt die Kritik, dass es günstiger wäre die Forschung zur Krebsfrüherkennung an ein Krankenhaus anzugliedern. Zweitens, Forschung um Exportobst und -gemüse keimfrei zu machen. Kritiker*innen zweifeln an, ob eine solche Nutzung notwendig ist. Falls sie für exportbestimmte Lebensmittel akzeptiert würde, sollte das ohnehin in der Grenzregion angesiedelt sein und nicht in El Alto. Das dritte Thema ist das Wichtigste: Es gibt einen kleinen Forschungsreaktor, der keine Energie produzieren wird, sondern nur der Forschung dient. Die Mehrheit der Menschen stellt sich jedoch die Frage: Wozu wollen wir zu Kernenergie forschen, wenn wir keine Kernenergie produzieren werden? Das macht keinen Sinn, deshalb wird davon ausgegangen, dass der Forschungsreaktor der erste Schritt in Richtung Atomkraftwerke ist. Mit dem Bau des Forschungszentrums soll dieses Jahr begonnen werden. Gibt es Widerstand? In der Stadt El Alto gab es keinen großen Widerstand. Im Kulturzentrum Wayna Tambo organisierten wir eine Reihe von Veranstaltungen, da wir gegen die Idee sind, in Bolivien Atomenergie zu produzieren.

In der einen Region gibt es also Menschen, die sich als ökologisch bezeichnen und über die Macht verfügen, das Projekt zurückzuweisen. Daraufhin wird das Projekt nach El Alto verlegt, eine Stadt die lange als Randgebiet der Hauptstadt La Paz angesehen wurde. Was glauben Sie, warum es in El Alto keinen Widerstand gab?

Zunächst ist Kernenergie für die Mehrheit der Bolivianer*innen immer noch kein Thema. Es ist weit weg vom Alltag, insbesondere für die ärmeren Sektoren. Die Zone, in der das Zentrum gebaut wird, ist ökonomisch betrachtet eine ziemlich arme Zone von El Alto. Viele Bewohner* innen betrachten das Zentrum mit der Hoffnung, dass es neue Möglichkeiten eröffnet, Einkommen zu generieren. Außerdem besteht bei vielen Menschen zu dem Thema ein großes Informationsdefizit, etwa über mögliche Risiken. Deshalb produzierten wir mit Wayna Tambo Radio- und Fernsehprogramme, um mehr Wissen darüber zu verbreiten, was es bedeutet in eine nukleare Phase einzutreten.

Gibt es gemeinsame Kämpfe zwischen Gruppen, die sich wie bei El Bala gegen Stauseen im Amazonas wehren, und Gruppen, die in der Stadt zum Thema Energie arbeiten?

Als die Regierung von Evo Morales die Pläne für die Wasserkraftwerke El Bala und Chapete wieder aufnahm (der Plan wurde bereits von mehreren Regierungen geprüft und fallen gelassen, d. Red.), reagierte der urbane Raum, zumindesten in den Medien, zuerst. Es handelt sich um kleine Organisationen in der Stadt, die vor allem von einer Mittelklasse mit ökologischem Diskurs getragen werden. Die indigenen Völker aus den betroffenen Territorien reagierten mit einer Diskussion über die Notwendigkeit der Befragung (consulta). Dies wird in den medialen Kampagnen in der Stadt aufgegriffen. Im Fall von El Bala und Chapete wird vermutet, dass die beauftragte Machbarkeitsstudie negativ ausfällt. Die Ergebnisse liegen jedoch noch nicht vor. Aufgrund der Transportwege ist offensichtlich, dass die dort produzierte Energie nicht für die Versorgung bolivianischer Städte gedacht ist. Bei den Wasserkraftwerken wird an die Nachfrage von (agro-)industriellen Zonen in Brasilien gedacht.

Zu Beginn erwähnten Sie die erneuerbaren Energien. Welche Bedeutung haben diese?

Seit den 1970ern gibt es Studien, die zeigen, dass eine Strategie mit kleinen Wasserkraftwerken, keine großen wie El Bala, reichen würde, um die Nachfrage nach Energie in Bolivien zu decken. Außerdem verfügt Bolivien über zwei sehr wichtige Elemente: Das Altiplano und der Salar de Uyuni sind zwei Regionen mit einer hohen Sonnenkonzentration. Das würde eine große Produktion von Solarenergie ermöglichen. Außerdem gibt es im Altiplano Zonen mit viel Wind, wo wir Windenergie erzeugen könnten. Die zurzeit verfolgte Strategie ist für die interne Versorgung also nicht notwendig.

Mit der Stromversorgung gibt es in den Städten offenbar kein Problem. Momentan gibt es in den Städten jedoch Wasserknappheit. Liegt das Problem beim Wassermanagement oder bei der ungewöhnlichen Dürre?

Das Ganze ist viel komplexer. Beim Thema Wasser gibt es drei Probleme: Zum einen die Auswirkungen des Klimawandels. Wir haben immer kürzere, aber stärkere Perioden der Regenzeit. Das heißt, es regnet sehr viel, aber in kurzer Zeit. Für die Wasserversorgung in den Städten hat dies negative Folgen. Es gibt Städte wie Cochabamba und Tarija, die historisch an Wasserknappheit leiden. La Paz leidet wegen der geografischen Lage hingegen eigentlich nicht darunter. Außerdem wirkt sich der globale Klimawandel sehr negativ auf die bolivianischen Gletscher aus. Zweitens verlieren Flüsse durch Übernutzung an Wassermenge. Das Problem ist, dass es keine Politik gibt, die die integrale Nutzung von Flüssen garantiert. Drittens gibt es ein Problem mit dem Wassermanagement. Die Frage des Umgangs mit der Wasserknappheit wird in den nächsten Jahren an Schärfe zunehmen. Es wird zu einem Thema der öffentlichen Agenda werden. Die Menschen diskutieren über Wasser, weil es sie in ihrem Alltag direkt betrifft.

Wie betrifft es die Menschen im Alltag?

In La Paz gibt es Viertel, die nur in bestimmten Stunden mit Wasser versorgt werden und nicht den ganzen Tag. Jetzt haben wir Februar und im März endet die Regenzeit.Trotzdem haben wir es nicht geschafft, eine normale Wasserversorgung zu erreichen. Die Menschen fragen sich, was erst in der Trockenzeit im Juni passieren wird. Dieses Problem hat zu ernsthaften Debatten über die Beziehung zwischen der urbanen und ruralen Welt geführt. Um die Wasserknappheit in La Paz zu mildern, wird Wasser aus einem Stauwerk in La Paz genutzt, aus dem historisch ein nahegelegenes Tal für die Gemüseproduktion versorgt wird. Die Bauern und Bäuerinnen beschweren sich, dass sie ihre Produktion verlieren werden wegen des Verbrauchs in der Stadt. Zum ersten Mal wird die Rolle der Stadt beim Wasserverbrauch diskutiert. Dadurch entwickelt sich auch eine Kritik an der imperialen Lebensweise.

Was meinen Sie damit?

Die mit dem Lebensstil verknüpfte, verschwenderische Wassernutzung in der Stadt wird in Frage gestellt. Es wird debattiert, ob im öffentlichen Raum wirklich wasserintensive Zierblumen gepflanzt werden sollen statt der lokalen, ans Klima angepassten Pflanzen. Oder die Wassernutzung zur Autowäsche, was mit unserem Lebensstil zusammenhängt. So wurde auch die Debatte angestoßen, ob das Wasser in besagtem Stauwerk tatsächlich für die Stadt genutzt werden soll oder lieber für die Produktion von gesundem lokalem Gemüse.

Ist Ihre Organisation Red de la Diversidad auch in dem Bereich aktiv?

Ja, für uns sind das zentrale Themen. Wir arbeiten für die Reziprozität zwischen dem ländlichen und städtischen Raum mit dem Horizont des Vivir Bien. Gerade in Bezug auf Wasser haben wir es geschafft, mit verschiedenen Organisationen Diskussionen anzustoßen. Wir haben Wissen über Wassersysteme verbreitet und zu der Frage gearbeitet, wie die Städte in Wassersysteme integriert sind. Die Stadt El Alto verschmutzt den Titicacasee beispielsweise enorm. Wir stoßen eine Diskussion darüber an, wie Wasser in die Stadt gelangt, und wie die Stadt dieses verschmutzt wieder ans Land zurückgibt. Deshalb diskutieren wir unseren Wasserverbrauch in der Stadt. Wir arbeiten seit etwa zehn Jahren dazu und seit etwa vier Jahren verzeichnen wir in kleinen Sektoren Erfolge. Durch die Wasserknappheit wurde eine Diskussion angeregt und das Interesse an dem Thema ist gewachsen.

Das Bewusstsein um das Wasserproblem wächst. Kann das mit einer Kritik an Staudämmen verknüpft werden?

Ja! Mehr noch als zur Energie ist das Bewusstsein für unsere natürlichen Ressourcen gewachsen. Wasser brauchen wir im Alltag immer und durch die Wasserknappheit der vergangenen Monate ist den Menschen ihre Verletzlichkeit bewusst geworden. Wer leidet unter der Wasserknappheit? Nicht alle Viertel in La Paz und El Alto litten unter Wasserknappheit, nur einige Stadtteile. Es gab deshalb so eine große Medienaufmerksamkeit, weil die Viertel, in denen die Reichen wohnen, von der Wasserknappheit betroffen waren. Viele ärmere Viertel hatten hingegen kein Problem. Dadurch, dass es privilegierte Personen betraf, ist die mediale Aufmerksamkeit gestiegen. Es waren die Reichen, die zu einer Zisterne mussten – etwas, was sie in ihrem Leben noch nie erfahren haben. Das hatte einen starken Effekt auf die Gesellschaft. Es wurde eine Debatte über unsere natürlichen Reichtümer und Gemeingüter angestoßen. Die Themen Wasser, Energie und Staudämme werden diskutiert. Die Menschen in der Stadt sind in ihrem Alltag von Projekten wie Mega-Wasserkraftwerken nicht betroffen. Sie wissen nichts über die betroffenen Regionen und die Menschen. Die Erfahrung mit dem Wasser schafft ein Bewusstsein, dass diese Themen das Leben der Menschen stark beeinflussen. In diesem Moment entsteht die Möglichkeit, wieder über diese Wasserkraftwerke zu sprechen. Das Thema ist nicht mehr weit weg.


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