// Nicht alles, was grün ist, glänzt

Kohleabbau in El Cesar, Kolumbien Manchmal ist Lithium auch nur das Gleiche in Grün (Foto: Leonard Mikoleit)

Endlich ein Gespräch auf Augenhöhe: Im Juni 2024 empfing der 1 Meter 70 große Bundeskanzler Olaf Scholz den nur wenige Zentimeter größeren argentinischen Präsidenten Javier Milei zur Unterredung abseits der Presse. Ein umstrittenes Treffen, nicht zuletzt, weil der selbsterklärte Anarchokapitalist dem eigenen Land ein Sparprogramm verordnet hat, das seinesgleichen sucht. Was den Sozialdemokraten Scholz mit dem Ultraliberalen Milei verbindet, ist vor allem die Handels- und Wirtschaftspolitik. Scholz will für die deutsche Industrie in Wasserstoff und Lithium investieren und Milei bietet die natürlichen Ressourcen Argentiniens zum Ausverkauf an. „Sie bringen den Kapitalismus aus der Defensive“, lobte der Vorsitzende der Hayek-Gesellschaft Milei wenige Stunden vor dessen Aufwartung bei Scholz.
Seit einigen Jahren stellen sich westliche Staaten auf eine Produktion mit weniger fossilen Energien ein, denn das Verbrennen von Kohle, Gas und Erdöl ist einer der größten Treiber der globalen Klimakatastrophe. In Zukunft sollen fossile Energieträger durch nachhaltige Energiequellen ersetzt werden. Die „grüne Transformation“ wird mit Solar- und Windparks, Elektroautos und anderen Technologien vorangetrieben. Mit dem Umbau der Energieproduktion geht ein erhöhter Bedarf an metallischen Rohstoffen einher. Kupfer und Lithium, Kobalt und Seltene Erden, sie alle sind für den Ausbau der erneuerbaren Energien unverzichtbar.

Grün und erneuerbar soll die Energiewende sein – und gerecht. Deutsche Politiker*innen versprechen ihren Partner*innen aus dem Globalen Süden eine Transformation auf Augenhöhe. Wir erleben insofern eine diskursive Neuaufstellung der globalen Handels- und Wirtschaftspolitik, die deutliche Spuren der ursprünglich linken Nachhaltigkeits- und entwicklungspolitischen Debatten trägt. Umso dringender ist es, eine Kritik zu entwickeln, die die Perspektive der vom Rohstoffabbau betroffenen Bevölkerung ins Verhältnis zu Nachhaltigkeitsdebatten in Deutschland setzt.

In diesem Dossier unternehmen wir den Versuch, verschiedene Facetten der sich neu ausrichtenden deutschen Industriepolitik und ihrer Auswirkungen auf die Länder Lateinamerikas kritisch zu beleuchten. Eine Energiewende, die bei einem Wechsel des Brennstoffs verbleibt und ein „Weiter-So“ propagiert, verschiebt Umweltprobleme – und schafft neue. Das betrifft unter anderem die Frage, woher die Rohstoffe kommen, die für Windräder, Solarpaneele und Elektromobilität benötigt werden. Für die als „strategisch“ oder gar „kritisch“ eingestuften Rohstoffe ist die deutsche Industrie fast vollständig auf Importe angewiesen. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine und dem Ende der russischen Gaslieferungen ist Deutschland weltweit auf der Jagd nach neuen Energiezulieferern. Dabei setzen deutsche und europäische Politikerinnen weiterhin auf heimische, energieintensive Produktion, während sie besorgt den Erneuerbaren-Boom in China verfolgen. Die Entwicklungen dort und in den USA scheinen zu bestätigen: Der Umstieg auf klimaneutrale Energien ist zum Wettlauf um die wirtschaftliche Vorherrschaft geworden.

Die Energiewende verschiebt Umweltprobleme – und schafft neue

Auch Lateinamerika steht dabei zunehmend im Fokus der Investorinnen. Von Feuerland im Süden bis zur Sonora-Wüste im Norden: Der Kontinent verheißt ein enormes Potenzial, was die Erzeugung von Wind-, Solar-, oder Wasserkraft anbelangt. So überrascht es nicht, dass Regionen in Lateinamerika zur Investitionsfläche der immer selben Unternehmen werden, die bisher kaum für ihr „grünes“ und „nachhaltiges“ Wirtschaften bekannt sind: Pan American Energy, Uniper, Glencore, RWE, aber auch Mercedes-Benz, Volkswagen und BMW. Es ist das transnationale Agieren dieser Unternehmen, die die Beiträge dieses Heftes verbinden, ebenso wie der Widerstand gegen sie.

Die Unternehmen werden von Regierungen tatkräftig unterstützt. Auch die deutsche Regierung möchte für die heimischen Konzerne weltweit ein positives Investitionsklima für Projekte erneuerbarer Energien schaffen. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf dem Wasserstoff, das „Gas der Zukunft“, das mithilfe von erneuerbaren Energien erzeugt werden soll und künftig den Flugverkehr oder energieintensive Industrien „ergrünen“ lassen könnte. Milliarden von Euro werden von Deutschland über den H2Global Mechanismus zum Markthochlauf investiert und Energiepartnerschaften mit Brasilien, Argentinien, Chile, Kolumbien und Uruguay abgeschlossen, um sich Zugänge zum Energiemarkt zu sichern. Die Investitionen in Wasserstoff, dessen Transport über den Atlantik ein ungelöstes Problem darstellt, sind ein noch größeres Unternehmerrisiko als auf den Kettensägen-Mann Milei zu setzen. Unabhängig davon werden die Projekte vorangetrieben und deutschen sowie europäischen Unternehmen lukrative neue Investitionsfelder eröffnet, unterstützt von der deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) oder im Rahmen der Global Gateway-Initiative der EU.

Für die betroffenen Gemeinden macht es indes wenig Unterschied, ob ihr Zuhause einem Solarpark zur Gewinnung von grünem Wasserstoff weichen muss oder der Abbau von Kohle oder Kupfer ihre Lebensgrundlagen bedroht. Für viele Menschen wiederholen sich koloniale Ausbeu­tungs­muster, die auf die Aneignung von Territorien und Ausbeutung der Rohstoffe für die Lebensweise der Menschen anderswo abzielen – das Gleiche wie bisher, nur jetzt in grün.

Widerstand vor großen Herausforderungen

Der Widerstand gegen neue extraktivistische Projekte steht vor enormen Herausforderungen. Stellen sich Betroffene doch nun gegen eine Entwicklung, die als „grün“, also vermeintlich gut fürs Kima und die nachhaltige Entwicklung, etikettiert ist. Der Druck durch die Kürzung von Sozialleistungen und der Liberalisierung des Arbeitsmarkts rauben der betroffenen Bevölkerung zudem oft die Zeit, sich über die Großprojekte vor ihrer Haustür auch nur zu informieren.„Wir alle müssen mindestens acht Stunden am Tag arbeiten und trotzdem ist nicht genug Geld da, um die Familie zu ernähren“, sagt Carla Wichmann aus dem argentinischen Feuerland. „Für Fragen, wie ‚Wie sollen wir ohne Gas heizen?‘ braucht es Zeit und Informationen. Doch es wird immer schwieriger einfach mal innezuhalten und zu sagen ‚Nein, ich steige aus diesem Zug aus‘“, so die Aktivistin.

Sozial und ökologisch tragfähige Lösungen für die vielen Herausforderungen der Energiewende zu finden, ist nicht einfach. Es ist aber höchste Zeit, sich auf die Suche zu begeben. Einige davon gibt es in Lateinamerika, in konzeptionellen Überlegungen, in konkreten Widerständen und praktischen Ansätzen: Die Bewegung Parque para Penco in Chile beweist, dass Bergbauprojekte durch die Mobilisierung der lokalen Bevölkerung erfolgreich bekämpft werden können. Sie setzt dem grün angestrichenen Entwicklungsparadigma andere Konzepte wie das buen vivir oder Körper-Territorium entgegen.

Initia­tiven wie Terramar in Brasilien oder Bäuer*innen in Tecomaxtlahuaca, Mexiko zeigen, wie Energiewende breiter gedacht werden kann. Sie besinnen sich auf traditionelle Technologien der Nutzung von Meer und Land mittels Kreislaufwirtschaft. All diese Widerstände haben die Forderung nach einem grundlegenden Umdenken in Wirtschaft und Politik gemeinsam. Statt nur die ausgebeutete Energieform umzustellen und das extraktivistische Kapitalismusmodell beizubehalten, bestehen Aktivist*innen auf dem ganzen Kontinent darauf, dass die Verhältnisse grundlegend verändert werden müssen – mit gerechter Betei­ligung aller Menschen von der Basis aus. In einem ersten Schritt gehört dazu, die von extraktivistischen Projekten betroffenen Gemeinden in Entscheidungsprozesse einzubinden. Doch auch arbeitsrechtlich muss viel erreicht werden, sowohl für jene, deren Arbeitsplätze im Rahmen der Energiewende verschwinden, als auch für die, die in neuen, oftmals schnell aus dem Boden gestampften und unter Preisdruck stehenden Wasserstoffanlagen arbeiten. Ein gerechter Übergang kann, so die Aktivist*innen von Terramar, nur mit Menschlichkeit und Selbst­bestimmung funktionieren.

Jene emanzipatorischen Beispiele sind umso bedeutender, da konservative Kritik an den Erneuerbaren zunehmend Verbreitung findet. Längst popularisieren AfD und Co. die vermeintlich fatalen Auswirkungen der erneuerbaren Energien auf den Lebensstil einiger Weniger im Globalen Norden, um ein „Weiter-So“ der Fossilen zu erreichen. Dieses „Weiter-So“ widerspricht den realen Verhältnissen gleichzeitig weniger, als die gängigen Transformationsversprechen suggerieren. Auch wenn alle Segel auf Erneuerbare gesetzt zu sein scheinen: Die globale Nachfrage nach fossilen Energieträgern ist weiterhin hoch, bei Kohle ist sie laut der International Energy Agency (IEA) in den letzten Jahren sogar noch angestiegen. Solange kein endgültiges Aus für Fossile durchgesetzt wird, werden Unternehmen daher auch die letzten Reserven in den entlegensten Winkeln der Erde fördern. Während andere also den Kapitalismus aus der Defensive holen, muss eine internationalistisch denkende Zivilgesellschaft in die Offensive gehen.


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Das heilige Buch der Energiewende

Auch gegen Wasserkraft Internationale Bewegung gegen Staudämme (Foto: Rondas Campesinas del Perú)

Es ist kein leichter Weg, den heute öffentliche und private Institutionen beschreiten. Sie aber sind nicht bereit, überholte Produktionssysteme radikal zu ändern. Ihr Problem sind ein erhöhter Ressourcenverbrauch und die fehlende Regeneration dessen, was es einmal gab.

Die Veränderung der Energieerzeugung durch erneuerbare Energiequellen reicht nicht aus, wenn der Verbrauch nicht weniger wird. Es reicht nicht, wenn die Länder, deren Wirtschaft die größten Auswirkungen auf die Klimakrise hat, keine Abstriche machen. Es ist jene Wirtschaftsproduktion, die momentan die Temperatur auf der Erde und den Meeresspiegel ansteigen lässt und damit unsere Lebensweise unwiderruflich verändert.

Bergbauprojekte, in denen Lithium, Nickel, Eisen, Mangan und Kupfer gewonnen werden, dienen vordergründig der Energiewende im Globalen Norden. Es handelt sich um Rohstoffe für die Herstellung von Batterien, Windturbinen, Kabeln und Solarzellen. Wegen ihnen stehen lateinamerikanische Länder im Mittelpunkt des internationalen Drucks für die Energiewende im Globalen Norden. Gleichzeitig wird in der Werbung massiv die Botschaft von Umweltverantwortung, Elektromobilität und erneuerbaren Energien verbreitet.

Die Regionen Antofagasta und Magallanes scheinen weit entfernt von diesen Themen. Antofagasta liegt in der Atacama-Wüste, Magallanes hingegen im südlichsten Teil des chilenischen Patagoniens, am Rande der Meerenge, von der aus Schiffe in die Antarktis fahren. Die beiden Regionen haben kaum Gemeinsamkeiten, außer dass sie in den letzten Jahren zum Zentrum der Industrialisierung des Grünen Wasserstoffs wurden. Benötigt werden große Mengen Wasser, um den trendigen Kraftstoff für die Energiewende anderer Kontinente zu erzeugen. Wasser ist, besonders in den chilenischen Gebieten der Lithium­ausbeutung, besonders knapp.

Auch in Mexiko, Bolivien und Argentinien führt die Lithiumförderung zu Konflikten mit den vom Abbau betroffenen Gemeinden. Die indigenen Gemeinden der argentinischen Region Jujuy im sogenannten „Lithium-Dreieck“ mobilisierten sich im vergangenen Jahr gegen die Reform der politischen Verfassung ihrer Provinz. Die Reform verändert die traditionelle Nutzung des argentinischen Hochlands durch die indigenen Gemeinschaften zugunsten der Privatisierung von Lithiumabbau. Lithium gilt heute als strategischer Rohstoff, mit dem Druck auf lateinamerikanische Länder ausgeübt wird. Es sollen rechtliche, wirtschaftliche und politische Bedingungen entstehen, die eine Ausweitung der Industrie ermöglichen und die angestammten Rechte der Menschen und der Umwelt außer Kraft setzen. „Unser Land trocknet aus und unser Wasser ist verseucht“, sagt Nati Machaca, eine Demonstrantin in Purmamarca. Neben den Umweltauswirkungen kommen in den Ländern noch politische Spannungen um die Kontrolle der Ressource hinzu. Nationale und ausländische Akteure ringen um ein ausgewogenes Verhältnis von Investitionen in den Lithiumabbau.

Rohstoffe für die Energiewende anderer Kontinente

Brasilien dagegen setzt auf den Bau großer Staudämme für seine Wasserkraftwerke und lagert Rohstoffe aus dem Bergbau hinter hohen Mauern giftiger Abfälle. Das führte 2015 in der Kleinstadt Mariana und 2019 in der Kleinstadt Brumadinho zu massiven Dammbrüchen und Schlammlawinen. Die Folgen davon waren Hunderte Tote, Millionen von betroffenen Menschen und Hunderte von Kilometer, die mit Bergbauabfällen überflutet wurden. Bis heute sind die Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und die Gesundheit in Bundesstaat Minas Gerais zu spüren.

Heutige Gesellschaften verfügen über die Kommunikations-, Informations- und Organisationsmöglichkeiten, um die Entwicklung von Großprojekten in ihrem Umfeld zu beeinflussen. Dies kann der erste Schritt im Kampf gegen nicht beteiligungsorientierte und groß angelegte Projekte sein. Es erfordert rechtliche, mediale, politische und soziale Mobilisierung – die wiederum an den Ressourcen und organisatorischen Kapazitäten der Gemeinschaften zehrt. Gelingt sie hingegen, werden organisierte Gemeinschaften zu Instrumenten der politischen Interessensvertretung.

Viele Basisorganisationen, die in den letzten Jahrzehnten überlebt und ihre Fähigkeit zu kollektivem Handeln verbessert haben, machen große Fortschritte auf internationaler Ebene. Es gibt kein wirksameres Rezept als Organisation, Kommunikation und Internationalismus gepaart mit educación popular (dt. Bildung von unten) und strategischer Planung. Mobilisierungen, wie die Via Campesina, die Bewegung der von Staudämmen betroffenen Menschen (MAR) und die jährlichen Teilnahmen an Austauschtreffen, haben sich mittlerweile etabliert. Das sind die Schlüssel für den Widerstand und den Aufbau von Alternativen von unten. Ziel ist ein wirtschaftlich tragfähiges, gerechtes und nachhaltiges Gesellschafts­­modell, das auf Solidarität und kollektivem Reichtum gründet.

Heute sieht es so aus, als ob in den kommenden Jahrzehnten der Druck der Industrieländer auf die Entwicklungsländer zunimmt, ihre strategischen Ressourcen möglichst billig zu verkaufen. Die großen Mengen an Lithium, Wasserstoff und Mineralien, die in die Länder des Globalen Nordens transportiert werden sollen, hinterlassen einen Fußabdruck in den Gemeinschaften und Gebieten des Südens. Doch die Geschichte von Opferung und Plünderung muss sich nicht endlos wiederholen. Vielmehr müssen wir versuchen, gemeinsam für den Planeten und seine Lebewesen einzustehen.

Weiterer Druck auf die Gebiete des Südens

Die Begrenzung des Reichtums ist der Schlüssel zur Bekämpfung von Überausbeutung, irrationalem Extraktivismus und Verschmutzung ohne Regeneration. Empfehlungen und Sanktionen reichen nicht aus, denn das Leben in einigen Regionen des Planeten steht in den kommenden Jahrzehnten auf dem Spiel. In dieser Zeit ist die Suche nach Antworten durch internationale Organisationen und die akademische Gemeinschaft von entscheidender Bedeutung.

Die Weltkonferenz der Völker zum Klimawandel und den Rechten von Mutter Erde 2010 in Bolivien war ein solcher Auftakt, bei dem sich die Bewegungen über Umweltgerechtigkeit, Klimamigration und Energiewende ausgetauscht haben, um die schleppenden Diskussionen auf den COPs zu beeinflussen. Ebenso das Alternative Weltwasserforum 2018 in Brasilien, das parallel zum berühmten Weltwasserforum in Brasilia stattfand. Letzteres ist eine jährliche Veranstaltung, die Industrieunternehmen mit hohem Wasserverbrauch und die Vereinten Nationen organisieren – ohne die Beteiligung von Bewegungen, die um das Recht auf Wasser kämpfen. Die weltweite Wasserproblematik ist mittlerweile so drastisch, dass die UNO im Jahr 2023 erstmals nach 50 Jahren wieder eine Weltwasserkonferenz organisierte. Dieses Mal lud sie einige Nichtregierungsorganisationen und Bewegungen ein.

Neben der internationalen Vernetzung ist neu, dass ein Teil der Organisationen, die vom Rohstoffmodell betroffen sind, an Wahlprozessen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene in mehreren lateinamerikanischen Ländern beteiligt war. Demokratische Entscheidungsträger und die Entwicklung von politischen Programmen unter Bürgerbeteiligung und mit einer transformativen Perspektive auf Grundlage des solidarischen Wirtschaftens sollen zu einer positiven Änderung beitragen. Höhepunkt dieser Entwicklung in Chile war die Wahl unserer Umwelt- und Wasserbewegung Modatima im ersten Verfassungsprozess, der Rat der Maya Bevölkerung (CPO) in Guatemala, die bäuerliche Selbstorganisation der Rondas Campesinas in Peru und die linke Partei Frente Patria Grande in Argentinien.

Dieses Jahrzehnt ist für Lateinamerika und die Karibik von zentraler Bedeutung. Viele neuere Entwicklungen stehen auf dem Prüfstand: die Nutzungsrechte für Projekte wie Häfen, Straßen und der Mega-Infrastruktur. Dagegen endeten viele Grundleistungen wie Trinkwasser, Strom und öffentliche Verkehrsmittel. Nun ist der Moment, die Leistungsfähigkeit der Privatwirtschaft und des öffentlichen Sektors neu zu bewerten.

So sind die Herausforderungen der Gemeinschaften infolge der Energiewende mit neuen Kämpfen für die Wiedergewinnung von Wasser und Strom zu verbinden. Auch müssen sie sich gegen Megaprojekte und den Aufbau einer Industrie des Lithiums oder des grünen Wasserstoffs richten, die nicht für den Verbrauch in Lateinamerika, sondern der USA, Europa und China bestimmt ist.

Ein Moment der Neubewertung

Die Komplexität dieser Kämpfe ist, dass es einen hohen globalen Druck gibt, das Energiemodell zu ändern. Dieser Druck wirkt sich auf Gemeinden aus. Ihr Protest wird in Frage gestellt, weil sie sich gegen die Produktion erneuerbarer Energien in ihren Gebieten wehren. So unterzeichneten in Chile 2023 knapp 70 Umweltorganisationen eine Erklärung gegen die Nationale Strategie für grünen Wasserstoff, weil es am „Schutz der Gebiete vor negativen Umwelteffekten“ mangelt. Die aktuelle Regierung ignorierte ihre Kritik, denn sie wendet sich gegen die gestiegene Nachfrage des Kraftstoffs der nördlichen Hemisphäre.

Vor diesem Hintergrund wird dies eines der Themen sein, die 2025 auf dem Gipfel der Völker in Verbindung mit der COP 30 zum Klimawandel in Brasilien behandelt werden. Der Gipfel ist eine Gelegenheit, Regeln und Kontrollen für die Länder zu erwirken, die am meisten zur Umweltverschmutzung beitragen, aber auch für jene mit einer erhöhten Nachfrage nach erneuerbaren Energien. Der Gipfel soll ein Raum für die Reflexion und strategische Planung für die kommenden Jahrzehnte sein. Betroffene von allen Kontinenten werden anwesend sein, um über die Notwendigkeit zu diskutieren, eine globale Bewegung von Gemeinschaften und Nationen für ein neues Modell einer populären, gerechten und ökologischen Energiewende aufzubauen, die Wasser, Land und Ozeane schützt.

Die Frage, Energie wofür und für wen, bleibt. Gelingt es, durch sie die Energiearmut derjenigen zu überwinden, die bisher keinen Zugang zu Heizung und Strom haben? Gelingt es, die Stromtarife neuzugestalten, um Qualität und Verteilung zu verbessern, Stromausfälle zu verringern und somit letztendlich auch zur öffentlichen Sicherheit beizutragen? Denn nur so kann es gelingen: Energie muss erst den Gemeinschaften und dann der Produktion dienen – in dieser Reihenfolge. Oder wird die Energiewende zum neuen heiligen Buch im Sinne Galeanos? Eine Bibel, die uns mit ihren Lichtern blendet, sodass wir nicht sehen, dass sie uns wieder unsere Ressourcen für die Entwicklung Anderer nehmen – weit weg von unserem Amerika und der Karibik.


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Bis in den letzten Winkel

Aktivismus im äußersten Süden Die Gemeinschaft der Küstengemeinden Feuerlands, Antarktis und Inseln des Südpazifik (Foto: Comunidad Costera)

„Uns eint die Gewissheit, dass es andere Formen gibt, auf diesem Land zu leben“, sagt Carla Wichmann von der Gemeinschaft der Küstengemeinden Feuerlands, Antarktis und Inseln des Südatlantiks. Seit knapp zwei Jahren engagiert sich die Aktivistin gegen extraktive Unternehmen in Feuerland, der südlichsten Provinz Argentiniens. Hier peitscht der Wind ununterbrochen über das steppenartige Land, in dem bis vor wenigen Jahrzehnten kaum Menschen lebten. Südlich von Feuerland liegt nur noch die Antarktis, auf die Argentinien ebenso wie Chile und Großbritannien seit der Staatsgründung Besitzansprüche anmeldet.

Mit dem Klimawandel rückt der bisher wenig beachtete äußerste Süden des amerikanischen Kontinents in den Fokus internationaler Energie­unternehmen. Während die Regierungen gerne über Projekte für erneuerbare Energien berichten, schielen die Öl- und Gasunternehmen dort auf neue Abbaustätten für fossile Energieträger. Das stellt nicht nur nationale Klimaziele in Frage, sondern birgt auch die Gefahr, alte Territorialkonflikte wiederzubeleben.

Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde im argentinischen und chilenischen Feuerland nach Öl- und Gasvorkommen gesucht. Doch die geringe Ausbeute, der weite Transportweg in die Städte und die harschen Wetterbedingungen machten den Abbau unattraktiv.

Das hat sich geändert: Mittlerweile sind Steuereinnahmen aus dem Abbau fossiler Energieträger die Haupteinnahmequelle für die argentinische Provinz Feuerland, wie die ständige Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) im Jahr 2022 berichtete. Durch den Öl- und Gasboom, den Tourismus und Maßnahmen des argentinischen Zentralstaats zur Förderung seiner entlegensten Provinzen ist Ushuaia, die Hauptstadt der Provinz Feuerland, stark gewachsen: von nur 10.000 Einwohner*innen im Jahr 1980 auf knapp 80.000 in 2022.

Ebenfalls 2022 wurden unter der Regierung Alberto Fernández seismische Explorationen vor den Küsten Feuerlands genehmigt. Umweltorganisationen im ganzen Land kritisierten die Erlaubnis. „Die Organisation gegen die Gasför­derung wurde auch durch das Bevölkerungs­wachstums im Feuerland begünstigt“, erklärt die Aktivistin Wichmann. „Lange Zeit gab es wenig Bewusstsein darüber, was draußen auf dem Meer geschah. Bis heute gibt es die absurde Situation, dass nicht einmal die Regierung über geeignete Hubschrauber verfügt, um die Gasplattformen zu erreichen. Sie müssen auf die der Unternehmen zurückgreifen“, erklärt sie. Es ist diese Schwäche des argentinischen Staates, die es unmöglich macht, das Handeln der internationalen Energieunternehmen zu kontrollieren.

Heute kontrolliert ein Konsortium aus dem französischen Unternehmen TotalEnergies, der deutschen Wintershall und der argentinischen Pan American die gesamte Gasförderung vor Feuerland. Erst im September 2024 eröffnete das Konsortium das größte Offshore-Erdgasfeld Argen­tiniens, das laut Angaben von Wintershall mindestens 15 Jahre lang ausgebeutet werden soll. Die Suche nach neuen Fördergebieten beschränkt sich nicht auf Lateinamerika. Im Schatten der Energiewendestimmung in den Hauptstädten bauen Energiemultis die Förderung fossiler On- und Offshore-Anlagen aus, besonders in Ländern des Globalen Südens. Expert*innen sprechen seit dem Ausbleiben russischer Gaslieferungen von einem regelrechten Boom.

Dieser Trend läuft konträr zum Diskurs der Energiewende und Klimaschutzversprechen. Bereits 2021 stellte die Internationale Energieagentur in ihrem Bericht „Net Zero by 2050“ fest, dass ab 2021 keine neuen Öl- oder Gasfelder mehr zugelassen werden dürften, um das 1,5 Grad Ziel einzuhalten.

„Die argentinische Regierung ist bezüglich Klimaschutz nur bei Worten geblieben“, sagt Wichmann. „Das hatte keine Auswirkungen auf die Genehmigungen zur Erkundung und Ausbeutung von fossilen Energieträgern.“ Auch wenn bereits unter den Vorgängerregierungen Konsens zur Ausbeutung der Gasvorkommen bestand, habe sich die Situation unter dem ultralibertären Präsidenten Javier Milei noch verschlimmert: „Früher gab es zumindest Absichtsbekundungen, die extraktivistischen Tätigkeiten von Unternehmen zu beschränken“, berichtet Wichmann. „Heute wird mit dem neuen Anreizsystem für Großinvestitionen (RIGI, siehe Seite 38) der Weg für Unternehmen vollkommen frei gemacht.“ Um wieder flüssig zu werden, setzt die Regierung allerdings nicht nur auf die argentinischen Gasreserven.

Ausbau der Gasförderung im Schatten der Energiewende

„Wir stehen heute vor dem Paradox, dass die Regierung neue Gasbohrungen genehmigt und gleichzeitig zum Zentrum der grünen Wasserstoffproduktion werden will“, sagt Wichmann. Eine Trendwende hin zu einer Energiewende ist das nicht. „Ich erkläre mir das so: Extraktive Interessen finden immer neue Formen der Legitimation, um Kontrolle über Gebiete zu erlangen. Heute ist die Förderung der Erneuerbaren eine neue Vertiefung des extraktiven Modells und somit des Wachstums der Unternehmen.“

Die Vorgänge in Patagonien verdeutlichen, wie die Öl- und Gaskonzerne diese Gleichzeitigkeit für sich nutzen, denn längst sind sie auf den Zug der Energiewende aufgesprungen. Schon in den 90er Jahren nahmen ihre Führungsköpfe Abstand vom Herunterspielen der Klimakrise und einer PR-Strategie, die jahrzehntelang Zweifel an der Klimaforschung säte. Heute sprechen CEOs von Shell und Co. von der Notwendigkeit der Energiewende und investieren geringe Summen in Pilotprojekte.

Während in Argentinien die Wasserstoffprojekte noch ferne Zukunftsmusik sind, ist das benachbarte chilenische Feuerland bereits zum Zentrum sogenannter grüner Investitionen geworden. TotalEnergies kaufte im vergangenen Jahr den Erneuerbaren-Stromerzeuger Total Eren für 1,5 Milliarden Euro und übernahm damit auch dessen Wasserstoffprojekt H2-Magallanes im Süden Chiles, das 2027 den Betrieb aufnehmen soll. Einige hundert Kilometer weiter westlich hat sich der Ölkonzern ExxonMobil in das vom Bundeswirtschaftsministerium unterstützte Leuchtturm-Projekt Haru Oni eingekauft. Dort produziert ein Konsortium mit Beteiligung von Porsche und Siemens in einer Testanlage sogenanntes E-Fuel, dessen Ausbau vor kurzem angekündigt wurde.

Mit deutschen Geldern finanzierte E-Fuel-Anlage in Chile Präsident Boric zu Besuch bei Haru Oni in Punta Arenas (Foto: Prensa Presidencia)

Chiles linksreformistische Regierung von Präsident Gabriel Boric führt dabei die Wasserstoffpolitik von dessen rechtem Vorgänger Sebastián Piñera fort. Bereits 2021 hatte das Energieministerium in einer Studie berechnet, allein aus der Provinz Magallanes 13 Prozent des weltweiten grünen Wasserstoffbedarfs decken zu können. Die Umsetzung der bereits angekündigten Projekte würde in Magallanes zu einer Landnahme von knapp 13.000 Quadratkilometern führen, kritisieren zivilgesellschaftliche Organisationen in einem offenen Brief an Boric. Dies entspricht in etwa der fünffachen Fläche des Saarlands. Im Brief forderten die Organisationen Boric auf, nicht „dieselben Fehler zu machen, die die Ungleichheit vertiefen, und neue Gebiete für die Industrie zu opfern“.

Laut der Regierung soll Chile in wenigen Jahren zum weltweit größten Produzenten von grünem Wasserstoff aufsteigen – durch Energie aus der Sonne im Norden des Landes und den starken Winden in Magallanes. Ankündigungen wie diese und Erleichterungen ausländischer Investitionen, die im nationalen Aktionsplan für grünen Wasserstoff angelegt sind, sollen Investitionen in den Aufbau der chilenischen Wasserstoffindustrie anheizen. Diese sind bisher eher verhalten gewesen.

Die Geschäftszahlen von TotalEnergies legen nahe, dass das fossile Zeitalter längst nicht vorbei ist. Laut einer Studie von Urgewald hat das Unternehmen 2023 2,5-mal mehr Geld in Öl und Gas als in Stromproduktion und -speicherung investiert. Die Umweltorganisation sieht das Unternehmen klar auf Expansionskurs in der Öl- und Gasförderung. Dabei sollen geringe Summen in erneuerbare Energien, aber auch in die umstrittene Carbon-Capture-and-Storage-Technologie (Abscheidung und Abspeicherung von CO2 im Untergrund, Anm. d. Red.) an Anteilseigner ausstrahlen, dass die Unternehmensleitung die Zeichen der Zeit verstanden hat. Jene werden in der gesamten Öl- und Gasindustrie seit Jahren mit hohen Gewinnausschüttungen bei der Stange gehalten.

Die Spannungen zwischen Argentinien und Chile nehmen zu

Das neue Investitionsinteresse in Chiles und Argentiniens Süden wird von diplomatischen Spannungen zwischen den beiden Ländern begleitet. Seit der Staatsgründung beider Länder Anfang des 19. Jahrhunderts streiten sie sich um die genaue Grenzführung im äußersten Süden. Nachdem in den 1980er Jahren noch der Papst die Konfliktparteien an den Verhandlungstisch rufen musste, schien es in den vergangenen Jahren so, als hätten sich die Streitigkeiten gelegt. Doch Mileis Amtsübernahme hat das Szenario verändert.

Heute geht es bei Bekundungen der Vormachtstellungen längst nicht mehr nur um das lateinamerikanische Festland. Im April weckte ein Manöver der argentinischen Marine im früher umkämpften Beagle-Kanal in Chile Erinnerungen an die argentinischen Eroberungspläne in den 80er Jahren. Die chilenische Regierung dagegen übt sich darin, ihre Position auf der Antarktis auf diplomatischem Weg zu stärken. So reiste im November 2023 der UN-Generalsekretär António Guterres mit Gabriel Boric auf die Antarktis und bekräftigte die Stellung Chiles in der Region.

Aus der Antarktis rief Guterres die Welt dazu auf, mehr gegen die Klimakrise und den Ausstoß von CO2 zu übernehmen. Das schmelzende Eis führe zu einer enormen Umweltkatastrophe auf dem Kontinent, so die Pressemitteilung des UN-Generalsekretärs. Bereits seit 2021 zeigt sich die Klimaforschung besorgt, da die Eisschmelze weltweit den Worst-Case-Szenarien des Weltklimarats entspreche. Allein in der Antarktis könnten bis Ende des Jahrhunderts 17.000 Quadrat­kilometer eisfrei sein.

Die Frage ist, ob mit dem Eis auch der diplomatische Konsens schmilzt, der den Kontinent bisher als Naturschutzgebiet gesichert hat. Grundlage dafür ist der Antarktisvertrag von 1959, in dem sich ursprünglich zwölf Staaten darauf geeinigt hatten, ihre Gebietsansprüche auf die Region einzufrieren und den Kontinent zu einem Ort der wissenschaftlichen Kooperation zu machen.

Expert*innen warnen seit einigen Jahren davor, dass die sich verschlechternden Beziehungen zwischen Russland und dem Westen langfristig auch Auswirkungen auf die Antarktis haben könnten. Im April dieses Jahres schien die Nachricht um den Fund von Erdöl durch die russische Forschungsmission diese Sorge zu bestätigen. Sollte die Angabe des Forschungsteams der Wahrheit entsprechen, befände sich unter der Antarktis die größte Erdöllagerstätte der Welt. Diese dürfe jedoch laut dem Umweltprotokoll, das die Erkundung und Ausbeutung der Bodenschätze der Antarktis verbietet, nicht angetastet werden. Laut dem Protokoll kann das Verbot ab 2048 theoretisch von jedem Vertragsstaat zur Neuverhandlung auf den Tisch gebracht werden. Doch die Hürden für die Aufhebung sind hoch; erforderlich wäre eine quasi-konsensuale Entscheidung zur Änderung sowie die Einführung eines neuen Rechtsinstruments.
„Ich persönlich denke, es ist wichtig, die Antarktis im Blick zu behalten“, sagt Wichmann. „Nicht nur in Hinblick auf den Massentourismus und die Überfischung, sondern gerade auch die militärischen Operationen.“

Fakt ist: Im Zuge des Klimawandels blicken immer mehr Akteure auf den Süden. Ob die Energiewende dafür sorgt, dass antarktisches Eis erhalten bleibt oder dazu beiträgt, dass extraktive Unternehmen bis in die letzten Winkel der Erde vordringen, ist offen.


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Salinas Grandes unter Druck

„Nein zum Lithium – Ja zu Wasser und Leben“ Protestschilder auf dem Salzsee Salinas Grandes im Norden Argentiniens (Fotos: Sol Izquierdo)

Verónica Chávez öffnet einen kleinen Stoffbeutel. Sorgsam wählt sie Cocablätter aus und wirft sie aus dem Fenster des Beifahrersitzes. Einmal, zweimal, dreimal, bei voller Fahrt. „Für Pachamama, für Mütterchen Salinas”, murmelt sie dabei leise. Die Cocablätter landen auf der schneeweißen Salzkruste von Salinas Grandes. Weitere schiebt sich Chávez langsam in die rechte Backe, kaut auf ihnen herum und saugt schließlich ihren belebenden Saft.

Es ist August, die Indigenen Gemeinschaften des Andenhochlands feiern den Monat von „Mutter Erde“, der Pachamama. So auch die Kolla hier im Norden von Argentinien, die in unmittelbarer Umgebung des auf 3.450 Metern über dem Meeresspiegel liegenden Salzsees Salinas Grandes leben. Viele von ihnen arbeiten im Tourismus, ein Bereich, der in den vergangenen Jahren stark gewachsen ist. Andere bauen Salz in selbstgeführten Kooperativen ab, unter körperlich herausfordernden Bedingungen. Und sie kämpfen dagegen, dass Bergbauunternehmen mit der Produktion von Lithium in den Salzseen Salinas Grandes und Lagune Guayatayoc beginnen. Ihre Sorge: Das könnte ihnen die Lebensgrundlage entziehen.

Seit mehr als zehn Jahren sind die Gemeinden, die zur Senke Salinas Grandes gehören, organisiert, erzählt Verónica Chávez. Die 50-Jährige ist Vorsitzende des Dorfes Santuario Tres Pozos, das nordwestlich des Salzsees liegt. Sie ist klein gewachsen, ihre langen schwarzen Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, auf dem Kopf sitzt ein breiter Strohhut. Ihr rundliches Gesicht ist freundlich, auch wenn ihre Augen angriffslustig blinzeln.

Das mag zwar auch der erbarmungslos brennenden Sonne geschuldet sein, die sich auf der Salzkruste spiegelt. Doch die Angriffslust ist bitter nötig, denn in den vergangenen Jahren ist der Druck auf die Gemeinden der Umgebung stark gestiegen. Unter der Salzkruste von Salinas Grandes liegt Lithium. Der Rohstoff gilt als zentral für die sogenannte Energiewende, also die Anstrengungen des Globalen Nordens, fossile Energiequellen durch vermeintlich ökologische und nachhaltige Alternativen zu ersetzen. Insbesondere für den Bau von Elektrobatterien ist das leichteste Metall der Erde unabdingbar – und damit für die Elektromobilität ebenso wie für Smartphones, Laptops oder auch die Rüstungsindustrie.

Seit mehr als zehn Jahren sind die Gemeinden organisiert

Jujuy gehört zusammen mit den argentinischen Provinzen Salta und Catamarca sowie Teilen von Chile und Bolivien zum sogenannten Lithiumdreieck. Es wird geschätzt, dass dort mehr als die Hälfte der weltweiten Vorkommen des Leichtmetalls liegen. Auf Argentinien sollen die drittgrößten entfallen. Bis vor kurzem konnten die insgesamt 38 Gemeinden, die sich zur Senke von Salinas Grandes und der angrenzenden Lagune Guayatayoc zählen, das Eindringen von Lithiumunternehmen verhindern. Seit diesem Jahr ist es damit vorbei.

Am südlichen Rand von Salinas Grandes herrscht reger Betrieb. An einem Camp, das hier erst vor kurzem aus dem Boden gestampft wurde, rollen schwere Lastwagen vorbei. Pickups mit Angestellten einer privaten Sicherheitsfirma drehen ihre Runden. Die Stimmung ist bedrohlich. In der Ferne ist auf dem Salzsee ein Bohrturm zu sehen. Im März begann Lithos Minerales del Norte hier mit ersten Explorationsarbeiten. Dabei wird untersucht, unter welchen Bedingungen Lithium produziert werden kann. Wann es soweit ist, ist noch unklar.

Lithos gehört zur Gruppe Pan American Energy. Die befindet sich wiederum im Besitz der argentinischen Familie Bulgheroni, dem britischen Ölunternehmen BP und dem chinesischen Konzern CNOOC. Den Arbeiten vorausgegangen war eine vorherige Konsultation (Consulta Previa) in der angrenzenden Gemeinde Lipán, bei der eine Mehrheit der Befragten ihr Einverständnis zu den Arbeiten gab.

„Nie habe ich eine derartige Eskalation erlebt“

Doch das Unternehmen ist keineswegs nur auf dem Teil des Salzsees aktiv, der zu Lipán gehört. Chávez und andere Aktivist*innen beklagen, dass sich die Arbeiten auch auf die angrenzenden Gebiete von Ojo del Salar und Angosto erstrecken. Und auch die Consulta Previa sei unter merkwürdigen Umständen vonstatten gegangen, erzählt Chávez. So sei sie außerordentlich anberaumt worden, weshalb nicht alle Bewohner*innen hätten teilnehmen können. Außerdem seien wichtige Persönlichkeiten von Lipán „gekauft“ worden, darunter auch die frühere Bevollmächtigte der Gemeinde, die nun Abgeordnete sei. „Die anderen Leute hat sie hängen lassen“, zeigt sich die 50-Jährige enttäuscht.

„Ich streite für eine gute Sache” Verónica Chávez denkt nicht ans Aufgeben

Eigentlich haben alle 38 Gemeinden von Salinas Grandes und der Lagune Guayatayoc verabredet, nur gemeinsam Entscheidungen zu möglichen Lithiumprojekten zu treffen. 2015 beschlossen sie das sogenannte Kachi Yupi, ein Protokoll, das konkrete Verfahren für vorherige Konsultationen formuliert. Diese stehen in Übereinstimmung mit der ILO-Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation. Sie gibt Indigenen Gemeinschaften das Recht, vorab befragt zu werden, wenn geplante Projekte zur Rohstoffausbeutung ihre Territorien betreffen. Auch Argentinien hat das Übereinkommen ratifiziert.

Besonders die große Menge an Wasser, die für die Produktion von Lithium benötigt werden, macht den Gemeinschaften von Salinas Grandes Sorgen. Befürworter*innen der Lithiumindustrie erklären zwar, dass vor allem Sole, also extrem salzhaltiges Wasser, für die Gewinnung des Leichtmetalls verwendet würden. Chávez geht jedoch davon aus, dass es sich bei rund 20 Prozent der benötigten Mengen um Süßwasser handeln würde. „Wasser bewegt sich. Es fließt unterirdisch und kennt keine Grenzen“, gibt die Aktivistin zu bedenken. Die Befragung einzelner Gemeinden mache also keinen Sinn, da das Wasser der Senke allen der rund 7.000 Bewohner*innen gehöre, die in unmittelbarer Umgebung von Salinas Grandes und der Lagune Guayatayoc leben. „Wir wollen das Wasser bewahren und in Ruhe gelassen werden, um weiter so leben zu können, wie es schon unsere Großeltern getan haben“, sagt Chávez energisch.

„Denen, die wirklich hier leben, hören sie nicht zu.“

Doch die Unternehmen, die an den Lithiumvorkommen der Region interessiert sind, finden zuletzt immer häufiger Wege, die Gemeinschaft gegeneinander auszuspielen. Lipán war nur die erste Gemeinde, die offiziell einem Projekt zustimmte. Ebenfalls im vergangenen Jahr unterstützten Sauzalito y Quera und Aguas Calientes den Start von Explorationsarbeiten in der Lagune Guayatayoc – noch haben diese nicht begonnen. Ende Juni dieses Jahres stimmten – so die Angaben von Tecpetrol, einem Erdölunternehmen, das zum italienisch-argentinischen Multi Techint gehört – die Bewohner*innen von Rinconadillas einem Projekt in derselben Lagune zu. Für Chávez ist klar: „Sie spalten uns.“ Ebenso wie in Lipán seien bei der Consulta Previa in Rinconadillas nur einige Familien und nicht die gesamte Gemeinschaft befragt worden. Bei diesen habe es sich, zeigt sich die Aktivistin überzeugt, um die gehandelt, die gar nicht in der Gemeinde, sondern beispielsweise in der Provinzhauptstadt San Salvador de Jujuy lebten. „Denen, die wirklich hier leben, hören sie nicht zu.“

Der Parador Santuario Tres Pozos dient als Eingang für Tourist*innen zum Salzsee. Kommt ein Reisebus an, wird die Stille kurz durchbrochen und die Ankommenden werden begrüßt durch ein riesiges Lama aus Salz, Sitzgelegenheiten aus Salzblöcken, Ständen mit Empanadas und den für die Region typischen Mehlfladen Tortillas. Im Hintergrund ragen in großer Zahl Holzschilder aus der schneeweißen Landschaft, auf denen der Schutz des Wassers gefordert und Lithiumprojekten eine Absage erteilt wird. Die Ablehnung gegen den Lithiumabbau scheint hier Konsens zu sein.

Die klare Haltung ist Resultat des langen Kampfes der Indigenen Gemeinschaften. Chávez erzählt: „Im Jahr 2010 tauchten die ersten Unternehmen auf.” Sie und andere hätten damals zunächst in einer Enzyklopädie nachgeschlagen, was es mit dem Lithium auf sich habe. Als sie sich gegen den Bergbau aussprachen, sei versucht worden, sie zu kaufen. „Aber ich habe ihnen gesagt, dass ich die Interessen der zukünftigen Generationen niemals mit Füßen treten werde.“ Heute sei die absolute Mehrheit gegen Lithiumprojekte.

Salzabbau in Salinas Grandes Unter der Salzkruste liegt Lithium

Alicia Chalebe vertritt die Gemeinden von Salinas Grandes und der Lagune Guayatayoc seit ihren ersten Aktionen gegen die Lithiumunternehmen als Anwältin. Neben Straßenblockaden und Demonstrationen setzen sie auch auf rechtliche Schritte, um ihre Interessen durchzusetzen. Eine Klage vor dem Obersten Gerichtshof Argentiniens wurde 2012 abgewiesen und an die Gerichte der Provinzen verwiesen. Daraufhin brachten die Gemeinschaften ihren Fall vor den Interamerikanischen Gerichtshof.

Besonders in den vergangenen Jahren sei „der Druck durch die Bergbauunternehmen enorm gestiegen“, gibt Chalebe zu bedenken. Einen „Wendepunkt“ sieht sie dabei auch in der Änderung der Verfassung der Provinz Jujuy, die Ende Juni 2023 vom damaligen Gouverneur Gerardo Morales durchgesetzt wurde. Sie schränkt das Demonstrationsrecht drastisch ein, indem Straßenblockaden verboten werden und erleichtert die Vertreibung von Gemeinschaften in Gebieten, in denen es Lithium und andere Rohstoffe gibt. Von beiden Neuerungen sind besonders Indigene betroffen. Proteste gegen die Verfassungsänderung, bei denen gerade auch die Indigenen Gemeinschaften eine zentrale Rolle spielten, ließ die Regionalregierung brutal niederschlagen. Unter dem Namen Tercer Malón de la Paz marschierten Indigene Vertreter*innen in die über 1.500 Kilometer entfernte Hauptstadt Buenos Aires.

„Nie in den rund 35 Jahren, die ich meinen Beruf ausübe, habe ich eine derartige Eskalation erlebt“, zeigt sich Chalabe noch heute erschüttert über den Umgang der Provinzregierung mit den Protestierenden. Davon sei das Zeichen ausgegangen: „Wir setzen auf Konfrontation.“ Das könne sich in Zukunft durchaus noch als Problem für die Regierung herausstellen, glaubt die Anwältin. Denn: Lithiumunternehmen investieren lieber in Regionen, in denen es keine Konflikte gibt. „Sie sind nicht dumm. Niemand will sich Probleme kaufen.“

Der Druck dürfte durch neue Gesetze noch zunehmen

In Argentinien gehören die im Untergrund liegenden Rohstoffe seit 1994 den Provinzen und nicht dem Nationalstaat. Trotzdem hat auch die neue argentinische Regierung, die vom Ultralibertären Javier Milei angeführt wird, durchaus Folgen für die Indigenen Gemeinschaften von Jujuy. Milei, der auf eine verstärkte Ausbeutung natürlicher Ressourcen durch ausländische Investoren setzt, brachte im Juni das Gesetzespaket Ley Bases durch das Parlament – der erste Erfolg seit seinem Amtsantritt am 10. Dezember 2023. Teil dessen ist das „Anreizsystem für Großinvestitionen“ (RIGI), mit dem ausländisches Kapital durch erhebliche Steuervorteile, laxe Auflagen für den Umweltschutz und andere Privilegien dazu gebracht werden sollen, in Argentinien zu investieren.

Ziel sei es, so Luis Lucero, Bergbauminister der argentinischen Regierung, im August gegenüber Reuters, Lithium zum „meistexportierten Mineral des Landes“ zu machen. Bereits im vergangenen Jahr steigerte Argentinien die Produktion um 45 Prozent. Obwohl der Weltmarktpreis für Lithium zurückging, wurden Exporte im Wert von fast 850 Millionen US-Dollar getätigt. Für 2024 wird geschätzt, dass rund 70.000 Tonnen produziert werden können, was eine Steigerung von 40 Prozent gegenüber 2023 bedeuten würde.

Der Druck auf die Gemeinden von Salinas Grandes und der Lagune Guayatayoc dürfte also noch zunehmen. Ans Aufgeben denkt Verónica Chávez trotzdem nicht. „Ich habe vor nichts Angst, weil ich für eine gute Sache streite“, sagt sie kämpferisch. Und sie habe weiter die Hoffnung, dass es eine Lösung gebe. „Dabei werde ich von meinen Vorfahren, den Apus, unserer Mutter Erde und der Mutter Salinas unterstützt. Sie geben mir Kraft.“ Ihre Augen blinzeln angriffslustig, während sie sich neue Cocablätter in die Backe schiebt.


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Privatisierung statt gerechter Transformation

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Welche Bedeutung hat der grüne Wasserstoff aktuell in Uruguay?
Aus energiepolitischer Sicht noch gar keine, denn es gibt keine Aussichten darauf, dass er hier genutzt werden könnte. Es ist zwar die Rede von Produktion, aber alles deutet darauf hin, dass diese zu 100 Prozent für den Export sein wird. Aus wirtschaftspolitischer Sicht hat er also eine große Bedeutung und die letzten Regierungen haben sich darum bemüht, Auslandsinvestitionen anzuziehen.

Genau wie andere lateinamerikanische Länder scheint Uruguay gerade sehr attraktiv zu sein, um in Wasserstoff zu investieren. Warum?
In Uruguay gibt es drei Faktoren, die die Projekte anziehen. Erstens ist das die politische Stabilität. Zweitens gibt es einen Regulierungsrahmen für die Produktion elektrischer Energie, wenn auch noch nicht beim Wasserstoff. Und drittens hat Uruguay in den vergangenen zehn Jahren einen großen Sprung bei der Energiewende gemacht. Es gibt erneuerbare Energien, um Projekte ins Rollen zu bringen und auch die Kapazitäten, sich hier anzusiedeln.

Im Juli hat die Regierung einen Fahrplan für die Produktion von grünem Wasserstoff bis 2040 vorgelegt. Was besagt er?
Darin wird vor allem ein exponentielles Wachstum der elektrischen Leistung im Land prognostiziert. Das besorgt uns als Gewerkschaft und Unternehmen sehr. Erstens wissen wir nicht, ob unsere Infrastruktur das technisch aushalten wird. Hier werden ganz sicher Investitionen in Übertragungsleitungen fällig. Es ist die Rede davon, die bestehenden erneuerbaren Energien – vor allem Biomasse, Windkraft und Solarenergie – bis 2040 zu veracht- oder sogar zu verneunfachen.
Daraus ergeben sich Fragen, denn es geht um ausländisches Kapital und private Energieerzeuger, die sich an die bestehende staatliche Infrastruktur anschließen werden. Wie viel wird der Staat geben, damit die Investitionen kommen? Dann wird es natürlich auch Debatten um Land und Boden geben. Die Produktion von Wasserstoff braucht nicht viel Fläche, aber die dafür nötige Stromproduktion schon.

Welche Projektvorhaben für grünen Wasserstoff sind jetzt schon bekannt?
Es gibt keine Pilotprojekte, die schon aktiv sind, stattdessen wird viel spekuliert. Man spricht von Wasserstoff, synthetischen Kraftstoffen und von Ammoniak. Es ist noch nicht einmal entschieden, welches am Ende das Produkt wird. Es gibt auch noch große Unsicherheiten bei der Logistik: Wie soll der Wasserstoff transportiert werden, wie kommt er zu einem Hafen?
Alle Projekte, die es heute in Uruguay gibt, befinden sich in der Machbarkeitsprüfung und in der Beantragung von Umweltgenehmigungen. Dazu zählt ein Vorhaben des Unternehmens HIF, das sich auch schon in Chile angesiedelt hat und hinter dem US-amerikanisches Kapital steckt. Auch ENERTRAG aus Deutschland hat ein Projekt im kleinen Ort Tambores. Dort wissen wir bereits von Problemen mit den Anwohner*innen.

Worum geht es dabei?
Das Projekt in Tambores will Grundwasser aus dem Guaraní-Grundwasserleiter nutzen, eine Süßwasserquelle, die bisher immer geschont wurde. Bei dem Projekt von HIF geht es um Wasser aus dem Río Uruguay, den wir uns mit Argentinien teilen, auch da wird es zu Diskussionen kommen. Die südamerikanischen Regierungen liefern sich ein Rennen: Argentinien, Chile, Brasilien – alle konkurrieren darum, wer die besten Bedingungen für Vertragsabschlüsse stellt und wer die billigste Tonne Wasserstoff verspricht.
Auch deswegen gibt es noch viel Zweifel daran, ob die Projekte am Ende tatsächlich in Uruguay umgesetzt werden. Falls später doch kein Wasserstoff erzeugt werden sollte, bleiben uns private Stromerzeuger, die ihre Ware verkaufen wollen.

Ihre Gewerkschaft kritisiert schon seit Jahren die Privatisierungen im Energiesektor…
Als Gewerkschaft kämpfen wir schon seit 75 Jahren für den Zugang zu Energie und dafür, dass dieser als Recht für alle in der Verfassung verankert wird. Dabei versuchen wir die Privatisierung in der Stromerzeugung zu stoppen. Seit 2010 wird in Uruguay der Wechsel in der Energiematrix vorangetrieben, seit etwa 2015 laufen die ersten Windparks. Damals hatte man Hoffnung, dass Energie bezahlbarer wird. Nach zehn Jahren beobachten wir das Gegenteil: Sie wird immer teurer.
Seit zehn Jahren machen wir in einer Kampagne darauf aufmerksam, dass die Stromtarife ungerecht sind. Denn der, der am meisten hat, bezahlt am wenigsten. Und der, der am wenigsten hat, zahlt am meisten. Eine unserer Forderung ist daher die Kostensenkung der Energie für Privathaushalte. Außerdem fordern wir eine Sozialpolitik, die jedem und jeder Zugang zu Energie garantiert.
Im Kontext der Energiewende sind wir in einem ständigen Streit darüber, wer von der Energie profitiert. Warum erzeugen wir so viel Energie und für wen? Außerdem sehen wir das Problem, dass Kleinkund*innen heute auf dem Markt keine Stimme und keine Wahl haben. Es ist immer der Mehrheitsmarkt der großen Erzeuger und Verbraucher, die die Vorgaben machen.

Beim Diskurs um die Energiewende geht es im Globalen Norden immer um die Nord-Süd-Zusammenarbeit „auf Augenhöhe“. Was Sie erzählen klingt eher danach, dass sich die Nord-Süd-Ungleichheiten weiter verschärfen…
Unter dem Etikett „grün“ und „erneuerbar“ kommen im Krieg der Kommunikation alle Projekte als gute Nachrichten daher: Wir produzieren Wasserstoff, um zu dekarbonisieren. Es geht um Investitionspakete von vier oder sechs Milliarden Dollar und das Versprechen von Arbeitsplätzen.
Alle Projekte, die wir jetzt beobachten, sind aber purer Extraktivismus. Das Kapital kommt, richtet sich im Land ein, produziert mit dem Wasser und den erneuerbaren Energien vor Ort Wasserstoff und exportiert diesen. Was bleibt Uruguay davon? Sehr wenig. Wir haben mit den Papierfabriken und Zellstoffanlagen ähnliche Erfahrungen gemacht. Auf lange Sicht ist klar, dass die Arbeitsplätze nicht bleiben. Wir dekarbonisieren für andere, denn alles geht in den Export und am Ende sehen wir, dass die Unternehmen sogar ihre eigenen Techniker mitbringen.

Welche Handlungsspielräume hat AUTE?
Dieses Jahr gibt es in Uruguay Wahlen. Es ist möglich, dass es einen Regierungswechsel gibt und sich uns ein Fenster für Diskussionen über die geplanten Projekte öffnet. Aber wir wissen, dass es sehr schwierig ist, solche Projekte zu stoppen, wenn das Kapital einmal da ist – unabhängig davon, wer an der Regierung ist.
Was wir vor allem kritisieren ist, dass diese Projekte nicht mit der Gesellschaft diskutiert wurden und die Regierung übereilt und hinter verschlossenen Türen Verträge abgeschlossen hat. In den betroffenen Ortschaften organisieren sich die Einwohner*innen, veranstalten Demonstrationen und stellen Forderungen an die Unternehmen und den Staat nach mehr Informationen. Aber diese Diskussion hat sich noch nicht überall verbreitet. Wir als AUTE reden schon lange darüber. Nun bringen wir das Thema aber auch vor die PIT-CNT, die landesweite Vereinigung von Arbeiter*innen. Wir werden es auch mit Arbeiter*innen von ANCAP, des staatlichen Kraftstoffunternehmens und von OSE, dem staatlichen Wasserunternehmen, besprechen, um unsere Kräfte zu bündeln und im Landesinneren stärker zu werden – denn dort sollen die Projekte angesiedelt werden. Im November werden wir versuchen, mit Nachbar*innen aus Paysandú ins Gespräch zu kommen, denn dort ist das Projekt des Unternehmens HIF geplant. Wir wollen unseren Blick auf das Thema vermitteln, Ideen austauschen und über die möglichen mittel- und langfristigen Auswirkungen dieser Projekte diskutieren. Wir wissen, dass diese Projekte kurzfristig und während des Baus keine großen Auswirkungen haben werden. Aber schon in fünf Jahren könnte sich das auf verschiedene Arten und Weisen zeigen. Wir wissen, dass es schwierig wird, die Projekte zu stoppen, denn es gibt bereits unterschriebene Verträge. Wir müssen aber versuchen, wenigstens die Bedingungen zu verbessern und dafür sorgen, dass diese Projekte auch einen Vorteil für Land und Leute mit sich bringen.

Was braucht es aus Ihrer Perspektive für eine gerechte Transformation?
Früher wurde bei uns fast der Strom abgestellt, weil wir so wenig Energie hatten. Heute sind wir zwar nicht mehr so abhängig vom Erdöl, dafür aber von privaten Energieerzeugern. Der Staat erzeugt nicht einmal mehr 40 Prozent der Energie im Land, es gibt also einen bedeutenden Souveränitätsverlust. Deswegen sagen wir, dass zur gerechten Transformation auch eine Energie­souveränität auf Landesebene gehören muss.
Damit die Transformation gerecht wird und diese Projekte zu sozialer Gerechtigkeit im Land beitragen, muss sich der Staat viel mehr einbringen. Das Geschäft darf nicht in der Hand von Privaten bleiben, denn dann bleibt es 100 Prozent reiner Extraktivismus. Wir kämpfen also dafür, dass sich der Staat beteiligt und das Geschäft reguliert, dass Teile der Gewinne in die Sozialpolitik oder sonstige nötige gesellschaftliche Maßnahmen fließen, um etwas Gerechtigkeit zu schaffen. Gleichzeitig sprechen wir hier von natürlichen Gütern, die endlich sind. Der Grundwasserleiter Guaraní ist endlich und wir müssen ihn schonen. Aber damit der Staat sich mehr einmischt, damit es einen gerechten Wandel gibt, damit Energie keine Ware mehr ist, braucht es den entsprechenden politischen Willen. Und den sehen wir heute in Uruguay nicht.


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// Fonds, Fracking & Fuck Trump

Jedes Jahr produzieren wir zusammen mit dem FDCL zusätzlich zur Monatsausgabe ein thematisches Dossier, um tiefer einen Themenkomplex vorzudringen. Dieses Mal haben wir uns mit bekannten Dilemma der Ressourcenextraktion beschäftigt: Ungeachtet der schwerwiegenden Folgen für Menschen, Natur und Klima wird die „grüne Energiewende“ von Entscheidungsträger*innen im Globalen Norden als Lösung für die Umweltsünden, die fossile Energieträger mit sich bringen, vorangetrieben. Daraus ergeben sich vielfältige Probleme, die sich auf die Lebensbedingungen der betroffenen Gesellschaften in Lateinamerika auswirken, von sklavereiähnlichen Arbeitsbedingungen bis hin zu Landvertreibungen. Im beiliegenden Dossier thematisieren wir die internationale Politik sowie die Beteiligung nationaler und transnationaler Unternehmen und lokalen Widerstand gegen diese machtvollen Akteure.

Auf der Weltnaturkonferenz COP16 in Cali haben sich die zugrundelgienden, ungleichen Machtverhältnisse der globalen Umwelt- und Klimapolitik wieder gezeigt: Der Konferenzbeschluss, einen „Cali-Fonds“ einzurichten, in den unter anderem Pharma-, Kosmetik-, Saatgutkonzerne und Biotechnologieindustrie einen Anteil ihrer Profite einzahlen sollen, wenn sie mit der DNS von Tieren, Pflanzen und Mikroorganismen oder dem abgeschöpften Wissen Indigener Völker Geschäfte machen, blieb freiwillig und damit unverbindlich. Auch der Forderung, einen neuen Fonds zum Schutz der Regenwälder und Savannen einzurichten und die eingezahlten Gelder unter dem Dach der UN zu verwalten, erteilte der Globale Norden eine Absage. Entsprechend endete die COP16 chaotisch: „Wir sind nicht mehr beschlussfähig. Ich setze die Konferenz aus“, so bereitete die kolumbianische Konferenzpräsidentin Susana Muhamad der COP16 am 2. November abrupt ein Ende. Viele Delegierte hatten den Konferenzort bereits verlassen, da in wesentlichen Streitfragen keine Einigung zu erzielen war.

Den Ländern des Globalen Südens bleibt nur ein Wermutstropfen: Die Anerkennung Indigener und traditioneller lokaler Dorfgemeinschaften als Bewahrer*innen der Natur und Artenvielfalt verschafft ihnen die Möglichkeit, künftig bei der Weiterentwicklung des Weltnaturvertrags mitzureden. Damit hatte es sich aber auch schon mit den Zugeständnissen.

Der Kampf gegen klimaschädliche Kräfte geht weiter. Mit der Wiederwahl von Trump steht in den USA bald wieder ein Präsident an der Spitze, der kontinuierlich verdeutlicht, wie weit unten der Klimaschutz oder gar die Anerkennung einer Klimakrise auf der Liste seiner Prioritäten steht. Eines seiner Ziele für die kommenden vier Jahre ist es, so schnell wie möglich Fracking und den Abbau US-amerikanischer Kohle weiter zu fördern, um die USA energiepolitisch wieder unabhängig zu machen – all das auf Kosten der Umwelt. In Deutschland hat der nun ehemalige Finanzminister Christian Lindner Anfang November gefordert, die nationalen Klimaziele aufzugeben. Nach dem Bruch der Ampel-Koalition kann er das vorerst nicht umsetzen. Doch bei anstehenden Neuwahlen besteht die Gefahr, dass Union und AfD an Sitzen im Parlament zugewinnen: Parteien, die Klimaschutz ebenfalls mehr als vernachlässigen.

Sowohl das gänzliche Ignorieren von Klimaschutz als auch „grüner” Kapitalismus verunmöglichen die Erhaltung funktionierender, lebenswichtiger Ökosysteme und die Garantie von Menschenrechten an den Orten des Rohstoffabbaus. An vielen Fronten leiden und kämpfen die betroffenen Menschen für den Erhalt ihrer Lebensgrundlagen und Lebensweisen. Hiesigen Aktivist*innen fällt die Aufgabe zu, den Blick in die eigene Sphäre zu richten, um wirksamere Strategien gegen die Rohstoffgier und die Folgen einer verfehlten „ökologischen” Transformation zu entwickeln.


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Yasunísierung oder Extraktivismus?

Ein Jahr nach dem Volksabstimmungen Feier und Protest im Parque La Carolina in Quito 2023 ( Foto: Mateo Oleas)

Am 20. August 2023 schrieb Ecuador Geschichte. Die Bevölkerung des kleinen Andenstaats stimmte in zwei historischen Volksabstimmungen gegen die Ausbeutung der Natur. Der erste Volksentscheid entschied den Stopp der Erdölförderung im Yasuní-Nationalpark, ein UNESCO-Reservat, Heimat verschiedener (teilweise kontaktierter) indigener Nationalitäten und einer der artenreichsten Flecken dieser Erde. Dieses Referendum war der Höhepunkt eines jahrzehntelangen Kampfes zum Schutz des Yasuní. 2013 hatte der ehemalige Präsident Rafael Correa die Yasuní-ITT Initiative und damit den Versuch, das Öl des Nationalparks im Gegenzug für internationale Finanzhilfen nicht zu fördern, überraschend beendet. Als Antwort gründeten Umweltschützer*innen das Kollektiv Yasunidos und organisierten eine landesweite Kampagne für einen Volksentscheid zu den geplanten Ölbohrungen im Yasuní Park. Das Referendum wurde jedoch wiederholt vom Nationalen Wahlrat blockiert, bis es im Mai 2023 überraschend doch genehmigt wurde – zehn Jahre nach der Gründung von Yasunidos und sieben Jahre nach Beginn der Ölbohrungen im Nationalpark. Mit einer dezentralisierten nationalen Kampagne gelang es Yasunidos, die öffentliche Unterstützung für den Yasuní und die allgemeine Enttäuschung über leere Entwicklungsversprechen durch Erdölforderung erfolgreich zu mobilisieren. Als Konsequenz stimmten am 20. August 2023 insgesamt 58 Prozent der ecuadorianischen Bevölkerung für den Schutz des Yasuní. Dies zwang die Regierung theoretisch über den Rechtsweg, die Erdölproduktion zu stoppen und die Ölfelder innerhalb des letzten Jahres zu verlassen. Für ein Land, das stark von Erdöleinnahmen abhängig ist, war dies ein bahnbrechendes Ergebnis.

Mit direkter Demokratie gegen Ölbohrungen und Bergbau

Zur gleichen Zeit fand ein weiterer Volksentscheid auf regionaler Ebene statt. Ein Kollektiv städtischer und ländlicher Umweltschützer*innen gründete die Kampagne Quito sin Minería („Quito ohne Bergbau“) und organisierte ein Referendum gegen die Ausweitung von Bergbaukonzessionen im Chocó Andino. Dieser subtropische Wald nordwestlich von Ecuadors Hauptstadt Quito ist ebenfalls ein UNESCO-Reservat und beheimatet viele endemische Tier- und Pflanzenarten. Innerhalb eines Monats organisierte Quito sin Minería Aktionen in Quitos Randbezirken, malte Wandbilder in der ganzen Stadt und lud die Einwohner*innen ein, den Chocó Andino kennenzulernen. Sie zeigten, wie der angehende Bergbau die lokalen Gemeinschaften spaltet, die Ökosysteme irreparabel beeinträchtigt und die Abhängigkeit von natürlichen Ressourcen fortsetzt. Daraufhin stimmten beim Referendum am Abend des 20. August 68 Prozent der Bevölkerung Quitos in einer weiteren historischen Entscheidung für den Schutz des Chocó Andino und das Verbot weiterer Bergbaukonzessionen.

Es ist einer der seltenen Fälle, in denen sich die Bevölkerung eines Landes mittels direkter Demokratie gegen Ölbohrungen und Bergbau ausspricht. Was ist nun, ein Jahr später, daraus geworden? Esteban Barriga, Mitglied von Quito sin Minería, erläutert gegenüber LN, dass „der Sieg des Referendums einen Quantensprung in Richtung Post-Extraktivismus bedeutet“ und betont, dass seither viele neue Finanzierungsmöglichkeiten, Investitionen und organisatorische Projekte in den Chocó Andino gekommen sind. Infolgedessen forme sich dort „ein Modell, das viel Hoffnung macht, Hoffnung auf neue Arten, das Leben zu verstehen und zu leben, auf eine neue Beziehung zwischen Land und Stadt.“ Allerdings betont David Cañas von Scientist Rebellion Abya Yala gegenüber LN, dass die Bergbaukonzerne im Chocó Andino auch weiterhin den Ausbeutungsprozess fortsetzen würden, vor allem mit den Projekten die bereits eine Lizenz hätten. Die Unternehmen würden ausnutzen wollen, dass das Referendum frühere Konzessionen nicht rückgängig machen kann und das, „obwohl der Bergbau in diesem Gebiet nicht akzeptiert wird, wie sich bei der Befragung gezeigt hat.”

Kämpferisch Indigene Nationalitäten und Umweltschutzaktivist*innen halten den Druck aufrecht (Foto: Mateo Oleas)

In der Tat hat Ecuadors Regierung die Ergebnisse der Referenden wiederholt missachtet. Der im Oktober 2023 gewählte Präsident Daniel Noboa setzt die rechtsgerichtete Neoliberalisierung des Landes unbeirrt fort. Unter seiner Präsidentschaft organisierte das Ministerium für Umwelt, Wasser und ökologischen Wandel eine öffentliche Informationsveranstaltung für die Bewohner*innen des Chocó. Ein notwendiger Schritt für eine Umweltlizenz – aber nach dem rechtsverbindlichen Ergebnis des Volksentscheids im Chocó Andino eigentlich verboten. Genauso hat die Regierung auch die Umsetzung des Yasuní-Referendums verzögert. Der Volksentscheid sprach von einem Verlassen der ITT-Ölfelder innerhalb eines Jahres. Dies beinhaltet die Schließung von 246 Bohrlöchern, den Abbau aller oberirdischen Pipelines und die Wiederherstellung der Vegetation. Eine technische Herausforderung, aber nicht unmöglich. Dennoch ist die Regierung die Schließung des Feldes mit Blick auf die Wahlen im nächsten Jahr mit Vorsicht angegangen. Im August 2024 legte sie dem Verfassungsgericht einen allgemeinen Bericht vor, in dem sie angibt, dass die Schließung aller Bohrlöcher zwar in diesem Jahr beginnen, aber insgesamt fünf Jahre dauern wird. Wissenschaftler*innen und Umweltschützer*innen kritisieren diese unklaren Angaben und fordern mehr Einsatz von der ecuadorianischen Regierung, das Ergebnis des Volksentscheids umzusetzen.

Allerdings erschwert auch die sich dramatisch verschlechternde Sicherheitslage im Land, dass das Thema mit Priorität behandelt wird. Durch den wachsenden Einfluss von internationalen Drogenkartellen, die den Rückzug des ecuadorianischen Staates ausnutzen, ist die Frage der Sicherheit für die ecuadorianische Bevölkerung in den Mittelpunkt gerückt. Trotzdem organisierten Umweltschützer*innen und indigene Nationalitäten mehrere Aktionen wie den Yasuní-Gipfel im August 2024, um den Jahrestag der Volksabstimmungen zu feiern und den Druck auf die Regierung aufrechtzuerhalten. Auch ein Jahr später setzen die Ergebnisse der Befragungen dringende Fragen zu Ecuadors Zukunft auf die politische Tagesordnung. In der Tat befindet sich das Land an einem Schnittpunkt multipler, sich überlappender Krisen: die ökologische und soziale Zerstörung durch den Extraktivismus, die Klimakrise, die Waldbrände im Amazonasgebiet in einem noch nie dagewesenen Ausmaß verursacht, und die aktuelle Energiekrise. Als Folge der anhaltenden Dürre und jahrelang ausbleibender Investitionen der letzten Regierungen leiden Quito und andere Städte seit Monaten unter Stromausfällen von bis zu sechs Stunden täglich, da die Wasserkraftwerke nur eingeschränkt operieren. Außerdem wird Ecuador mittelfristig aufgrund der Erschöpfung seiner Ölreserven von einem Erdölexportland zu einem Nettoimporteur von Erdöl werden.

Gleichzeitig versucht die neoliberale Regierung Noboas, den Energiesektor weiter zu privatisieren. Für soziale Bewegungen ist dies ein entscheidender Moment, um die Diskussionen um Extraktivismus und Energie zu verknüpfen und eine Debatte über eine gerechte Transformation zu ermöglichen. Beide Volksabstimmungen haben Möglichkeiten eröffnet, die Zukunft Ecuadors neu zu gestalten. Gegenwärtig zeichnen sich zwei gegensätzliche Visionen ab, die gänzlich unterschiedliche Weltanschauungen repräsentieren: Strebt Ecuador nach mehr Extraktivismus oder setzt es eine gerechte ökologische Transformation um?

Die Erdölreserven werden durch Ausbeutung anderer Rohstoffe ersetzt

Auf der einen Seite wollen ecuadorianische Regierung und Handelskammern den Bergbau in Ecuador ausweiten, um den Bedarf an Rohstoffen für die Energiewende zu decken. Diese Agenda ist geprägt von der internationalen Energiepolitik, die große Mengen an kritischen Mineralien (seltene Rohstoffe wie Lithium für E-Autos, von deren Import die meisten Industrieländer abhängig sind) benötigt, um sogenannte Klimaneutralität zu realisieren. Wissenschaftler*innen sprechen vor diesem Hintergrund von einem sich formenden „Konsens der Dekarbonisierung“, der die Ausbeutung von Rohstoffen im Globalen Süden für die Energiewende im Norden legitimiert. Während die Konzessionen im Chocó Andino hauptsächlich Silber und Gold umfassen, bewegt sich Quitos Volksentscheid im Kontext einer zunehmenden Ausweitung des Bergbaus durch die ecuadorianische Regierung. Im Jahr 2019 begannen die beiden ersten Großminen Mirador und Fruta del Norte mit dem Export von Rohstoffen, darunter Kupfer, das als kritisches Mineral für die Energiewende benötigt wird. Als Konsequenz unterdrückt die Regierung jeglichen Protest in Bergbauregionen. Beispielsweise wurden im März 2024 Umweltschützer*innen in Los Sigchos gewaltvoll von Polizei und Armee daran gehindert, ihre Wälder vor der Eröffnung der Kupfermine Loma Larga durch das kanadische Kupferunternehmen Atico Mining zu schützen. Gleichzeitig ist Ecuador unter US-Aufsicht im August 2024, ein Jahr nach den Volksbefragungen, dem Minerals Security Partnership Forum (MSPF) beigetreten. Das MSPF ist ein neuer Pakt zwischen Ländern wie Australien, Kanada, dem Vereinigten Königreich, Indien, den Vereinigten Staaten sowie der Europäischen Union um die Versorgungskette für wichtige Mineralien zu sichern. Somit ging es bei den Volksbefragungen nicht nur um den Yasuní oder Chocó Andino, sondern auch um die Verlagerung von Erdölförderung zu Bergbau: Während die Erdölreserven zunehmend zur Neige gehen, werden sie durch die Ausbeutung anderer Rohstoffe für die Dekarbonisierung ersetzt. Was bleibt, sind gravierende soziale und ökologische Folgen sowie die Abhängigkeit von internationalen Märkten und Institutionen.

Ecuadors Regierung missachtet die Ergebnisse der Referenden

Aber es gibt auch Alternativen zu dieser Vision. Beispielsweise hat Yasunidos als Teil der Wahlkampagne für das Referendum einen Zehn-Punkte-Plan vorgelegt, der Ideen wie Bioindustrie, nachhaltigen Tourismus und das Recycling von Rohstoffen diskutiert. Allerdings gehen diese Alternativen bis jetzt kaum auf Fragen der Energiewende ein. Wie sieht eine gerechte Transition in einem Land aus, das stark abhängig von der Ausbeutung von Rohstoffen ist? Eine Idee wäre, das auf den derzeitigen Feldern geförderte Öl zu nutzen, um Kapazitäten und Einnahmen für eine gerechte Energiewende aufzubauen. Um dies zu gewährleisten, müssten allerdings die Beschäftigten des Energiesektors miteinbezogen werden. Dies erfordert ein Bündnis zwischen Umweltbewegungen und Arbeiter*innen, wie z.B. der landesweiten Vereinigung der Arbeiter*innen der Energie- und Erdölgesellschaften (ANTEP), die sich gegen die neoliberale Politik der letzten Regierungen und die Privatisierung der staatlichen Erdölgesellschaft wehrt. Außerdem muss der Globale Norden seiner Verantwortung als historisch größter Verursacher von Treibhausgasen nachgehen, und Länder wie Ecuador in einer gerechten Transformation finanziell unterstützen. Dafür braucht es starke Allianzen zwischen sozialen Bewegungen aus dem Norden und dem Süden, die auf dem Bewusstsein basieren, dass Extraktivismus und Klimakrise die bisherige Marginalisierung jenseits von Nord-Süd-Binaritäten vertiefen. Daher ist es wichtig, Kämpfe wie die der Volksentscheide mit anderen lokalen Ansätzen zu verbinden. Nicht umsonst rief der ecuadorianische Wirtschaftswissenschafter Alberto Acosta nach dem erfolgreichen Ergebnis der Referenden auf, die Welt zu „yasunisieren”. Dies könnte nicht nur bedeuten, fossile Brennstoffe unter der Erde zu halten, sondern auch, die Entscheidungsfindung über eine gerechte Transformation in demokratische Gremien und Hände zu legen.

Ökologische Bewegungen müssen diese Fragen diskutieren – besonders in einem Land wie Ecuador, dessen Erdölreserven ausgehen. Im Hinblick auf die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen im Februar 2025 ist es von entscheidender Bedeutung, die Verbindungen von Extraktivismus und Energie tiefergehend zu untersuchen. Dies ist nicht nur notwendig, um die Ergebnisse der Volksentscheide erfolgreich umzusetzen, sondern auch, um Ecuadors vielen Krisen zu begegnen.


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TATSÄCHLICH NEUE IMPULSE?

Gedenken an die Verbrechen der Colonia Dignidad Ramelow appelliert an deutsche Mitverantwortung (Foto: Jorge Soto)

Der Schwerpunkt von Ramelows Reise zwischen dem 10. und 15. Oktober lag auf möglichen zukünftigen Handelsbeziehungen im Zuge der ökologischen Transformation und der Energiewende, etwa dem Export von Lithium und Wasserstoff nach Deutschland. Dementsprechend wurde Ramelow von einer rund 30-köpfigen Wirtschaftsdelegation aus Thüringen begleitet. Das chile­­nische Unternehmen RJR und die deutsche LiVERDE AG unterzeichneten einen Kooperationsvertrag über „Grünes Lithium für Europa aus chilenischen Ressourcen“. Dabei geht es um die Förderung von Lithium aus dem Salzsee Salar de Maricunga in der Atacamawüste im Norden Chiles. Es findet später Verwendung in Energiespeichertechnologien für Elektrofahrzeuge.

Der Geologe Luciano Travella von der Umweltschutzinitiative CODEMAA befürchtet dadurch jedoch eine Schädigung des gesamten Ökosystems der Atacamaregion, die als die weltweit trockenste Wüste gilt. Grundwasser solle aus dem Boden in Becken gepumpt werden, in denen Lithium durch Verdunstung gewonnen werden soll. „Es wird wahrscheinlich keine zwei Jahrzehnte dauern, bis die Region des Salzsees zerstört ist. Die lokale Bevölkerung und die Biodiversität sind bedroht“, erklärte er in der Zeitschrift Resumen. Außerdem kritisierte er das extraktivistische Modell, nach dem Rohstoffe aus dem Globalen Süden in unbearbeiteter Form in den Globalen Norden exportiert und dort gewinnbringend weiterverarbeitet werden.

Noch während des Besuchs von Bodo Ramelow sprach sich nach dem chilenischen Abgeordnetenhaus auch der Senat für das Freihandelsabkommen TPP11 aus. Das Trans-Pazifik-Abkommen zwischen elf Pazifikanrainerstaaten steht bei sozialen Bewegungen wegen laxer Umwelt- und Menschenrechtsstandards in der Kritik. Dazu kommt, dass es Schiedsgerichte etabliert, vor denen Unternehmen gegen staatliche Regulierungen etwa bei Umwelt- oder Produktionsbedingungen klagen können.

Der zweite Aspekt von Ramelows Reise war sein Besuch in der 350 Kilometer südlich von Santiago gelegenen ehemaligen Colonia Dignidad. Dort sprach er mit Bewohner*innen der 1961 von dem deutschen Laienprediger Paul Schäfer und rund 300 Gefolgsleuten gegründeten sogenannten „Kolonie der Würde“ über Zwangsarbeit und sexualisierte Gewalt, der viele von ihnen jahrzehntelang unterworfen waren. In der Villa Baviera (zu Deutsch Bayerisches Dorf), denn so nennt sich die Siedlung seit 1988 offiziell, leben heute noch rund 100 Personen. Sie betreiben Immobilienunternehmen, Landwirtschaft und Tourismus sowie einen Hotel-Restaurant-Betrieb im bayerischen Stil.

Am sogenannten Kartoffelkeller legten Bodo Ramelow und seine Delegation zusammen mit Angehörigen von Verschwundenen Blumen nieder. In dem Gebäude wurden Oppositionelle gefoltert, denn der chilenische Geheimdienst DINA kooperierte eng mit der Sektenführung und richtete nach dem Putsch 1973 ein Gefangenenlager auf dem Gelände ein.

„Seit über 40 Jahren kämpfen wir darum zu erfahren, was mit unseren Angehörigen geschehen ist“, berichtet Cristina Escanilla, deren Bruder Claudio im Oktober 1973 mutmaßlich in der Colonia Dignidad verschwunden ist. Im Kartoffelkeller erzählt sie der Delegation: „Mein Bruder war 16 Jahre alt, als er festgenommen wurde. Zwei Wochen später erfuhren wir, dass er mit anderen Gefangenen zusammen in die Colonia Dignidad gebracht wurde“. Obwohl der Keller unter Denkmalschutz steht, hätten die Bewohner*innen der Villa Baviera ihn in den letzten Jahren eigenmächtig verändert, kritisiert Escanilla: „Als wir diesen Raum zum ersten Mal betreten konnten, sah es hier anders aus. An der Decke waren Blut- und Kratzspuren und Striemen von Schlägen zu sehen.“ Nach der Besichtigung des Kartoffelkellers sagt Ramelow: „Man spürt die Gewalt, die dort angewendet worden ist“. Der Ort sei ein erschütternder Beleg für die Folterungen auf dem Gelände.

Hunderte Oppositionelle wurden in der Colonia Dignidad gefoltert, Dutzende ermordet. Ihre Leichen wurden in Massengräbern verscharrt, später wieder ausgegraben, verbrannt, ihre Asche in den Fluss Perquilauquén geworfen. Da ihre Leichen nie gefunden wurden, gelten sie bis heute als Verschwundene.

Begleitet wurde der Bundesratspräsident von Prof. Dr. Jens-Christian Wagner, dem Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Der Historiker gehört einem deutsch-chilenischen Team von Gedenkstättenexpert*innen an, die im Auftrag beider Regierungen ein Konzept für eine Gedenkstätte zur Colonia Dignidad entwickelt haben. Dazu gehören außer Wagner Prof. Elizabeth Lira, Dekanin der psychologischen Fakultät an der Universidad Alberto Hurtado; Diego Matte, Rechtsanwalt und Leiter der Kulturabteilung der Universidad de Chile, sowie die Leiter­in der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten und der Gedenkstätte Bergen-Belsen, Dr. Elke Gryglewski.

Mit einer Gedenk- und Bildungsstätte in der Ex Colonia Dignidad sollen die Verbrechen dokumentiert und eine Bildungsfunktion ausgefüllt werden, so Wagner. „Wir sehen ein Konzept von dezentralen Ausstellungen vor, in denen an die unterschiedlichen Opfergruppen an jeweils relevanten historischen Orten erinnert wird“. Gemeint sind damit die Gruppe der Siedlungs­bewohner*innen; dann die Chilen*innen aus der Umgebung, die sexualisierter Gewalt, Zwangsadoptionen oder Vertreibung ausgesetzt waren, sowie die Opfer der Diktatur, also Folterüberlebende oder Angehörige von Verschwundenen.

„Unser Konzept sieht vor, dass der Kern der historischen Colonia Dignidad freigeräumt wird, um ihn als Bildungs- und Gedenkstätte zu nutzen und, dass im Umfeld ein neues Dorf entsteht“, erklärt Wagner. Es solle ermöglicht werden, dass Chilen*innen aus der Umgebung sich dort ebenfalls ansiedeln. „So soll die Villa Baviera aus der abgeschlossenen Enklave, die sie zurzeit leider immer noch ist, im Laufe der Zeit ein mehr oder weniger normales chilenisches Dorf werden“.

„Es ist wichtig, dass wir diesen Ort gemeinsam wandeln zu einem Gedenkort und zu einem Lebensort“, erklärt auch Ramelow nach dem Besuch in der Villa Baviera. Er appelliert an die deutsche Mitverantwortung.

Ramelow und Expert*innen wollen Schwung in die Debatte um eine Gedenkstätte bringen

Denn der deutschen Botschaft und mehreren bundesdeutschen Regierungen waren die Verhältnisse in der Colonia Dignidad bekannt. Doch sie verhinderten die Taten nicht, gaben Bewohner*innen, denen es gelang, aus der streng abgeriegelten Siedlung zu fliehen, teils keinen Schutz. Erst nach Anzeigen chilenischer Familien, deren Kinder in den 1990er Jahren in der Siedlung festgehalten und vergewaltigt wurden, floh Paul Schäfer 1997 nach Argentinien. Er wurde 2005 verhaftet und starb 2010 im Gefängnis. 2016 schließlich räumte Frank-Walter Steinmeier, damals als Außenminister, in einer selbstkritischen Rede eine moralische Mitverantwortung der deutschen Re­gier­ung ein. 2017 beschloss der Deutsche Bundes­­tag einstimmig, die Bundesregierung solle die Verbrechen der Colonia Dignidad aufklären – und die gemeinsame Errichtung einer nach wissenschaftlichen Kriterien gestalteten Begegnungs- und Gedenkstätte voranbringen (siehe LN 519/520).

Wagner und Ramelow wollen nun neuen „Schwung“ in die Debatte um eine Gedenkstätte bringen und hoffen auf einen symbolischen Spatenstich vor dem 50. Jahrestag des Putsches am 11. September 2023. Zuerst müsse aber eine Trägerin für eine gemeinsame deutsch-chilenische Gedenk- und Bildungsstätte gefunden und aus Regierungsgeldern finanziert werden, so Wagner. Zwar seien die politischen Voraussetzungen momentan gut, die chilenische Regierung fordere die Auseinandersetzung mit den während der Pinochet-Diktatur begangenen Verbrechen explizit ein. „Allerdings sind die Signale sowohl aus der deutschen als auch aus der chilenischen Regierung im Augenblick eher schwach ausgeprägt“, erklärt der Historiker.

Medienberichten zufolge war das von der Grünen Partei geführte Auswärtige Amt gegen den Besuch des Bundesratspräsidenten in der ehemaligen Colonia Dignidad. Ramelow wollte trotzdem in die deutsche Siedlung reisen und tat es. Schon 2016 besuchten Bundestagsabgeordnete im Rahmen einer Chilereise die Villa Baviera, auch damals riet die deutsche Botschaft von der Reise ab. Heute dürften Annalena Baerbock und die Grünen in der Leitung des Auswärtigen Amtes keine geschichtlich vorbelasteten Beziehungen zur Siedlung haben.

Aus dem Auswärtigen Amt hieß es dazu, die chilenische Regierung habe sich gegen einen Besuch von Bundesratspräsident Ramelow in der ehemaligen Colonia Dignidad ausgesprochen. Das chilenische Außenministerium bezieht dazu keine Stellung. Die Staatssekretärin für Menschenrechte im Justizministerium, Haydee Oberreuter hofft jedoch auf Fortschritte in der Zusammenarbeit zwischen der „chilenischen Regierung, für die das Thema der Menschenrechte zentrale Bedeutung hat, und der fortschrittlichen deutschen Regierung“. Chile werde die Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad im Rahmen des Nationalen Plans zur Suche nach Verschwundenen vorantreiben und dazu verschiedene Opferverbände einbeziehen, so Oberreuter.

Eine von beiden Regierungen 2017 eingerichtete „Gemischte Kommission“, die unter anderem die Errichtung eines Gedenk-, Dokumentations- und Lernortes in der Colonia Dignidad umsetzen soll, tagte zuletzt im Februar 2022. Die Verhandlungen verlaufen schleppend, kaum etwas dringt an die Öffentlichkeit. Das nächste Treffen soll Mitte November in Chile stattfinden. Dann wird sich zeigen, ob die Regierungen Deutschlands und Chiles tatsächlich positive Impulse der Kooperation bei der Aufarbeitung setzen werden.


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