IM SCHATTEN DES AMAZONAS

Methanproduzenten Immer mehr Fläche des Chaco wird für Viehzucht genutzt (Foto: Peer V via wikipedia.org, (CC BY-SA 3.0)

Die Flut an Schreckensmeldungen über Umweltzerstörungen im Amazonasgebiet reißt nicht ab. Auch in den großen Medien finden sich immer mehr Berichte und Reportagen über die katastrophalen Auswirkungen der Umweltpolitik der brasilianischen Regierung von Präsident Jair Bolsonaro auf das größte Regenwaldgebiet der Erde.

Angesichts dieser Medienfülle gerät das zweitgrößte Biom des südamerikanischen Kontinents meist aus dem Blick. Doch auch im Chaco-Trockenwald, der sich von Südostbolivien über Westparaguay nach Nordargentinien erstreckt, veränderte sich in den vergangenen Jahren die Landnutzung immer schneller – mit dramatischen Folgen für die indigene Bevölkerung und die Umwelt.

Der größte Teil des Chaco liegt im westlichen Teil Paraguays. Über 60 Prozent des Staatsgebietes fällt auf diesen Naturraum, allerdings lebt weniger als zehn Prozent der paraguayischen Bevölkerung westlich des Paraguay-Flusses.

Ende des 19. Jahrhundert begannen multinationale Unternehmen – meist von Argentinien aus operierend – riesige Mengen Staatsland im Chaco vom verarmten paraguayischen Staat aufzukaufen. Für die damaligen Transaktionen sind zahlreiche Gesetzesverstöße und Korruptionsfälle belegt. Das wichtigste dieser Unternehmen, Carlos Casado S. A., kaufte über 56.000 Quadratkilometer Staatsland im Chaco, was ungefähr der Fläche Kroatiens entspricht.
Auf den teils gigantischen Ländereien gewannen diese Unternehmen Gerbstoffe aus dem Holz des Quebracho-Baumes für die Lederverarbeitung und betrieben – wo es die Vegetation zuließ – Viehzucht. Dabei kam es zu massiven Menschenrechtsverletzungen an der indigenen Bevölkerung, aber auch an den Arbeiter*innen, die das Holz schlugen oder in den Fabriken arbeiteten.

Eine Kohlenstoffsenke wird zur Quelle für Treibhausgase

Doch der weitaus größte Teil des Chaco galt weiterhin als wirtschaftlich nicht nutzbar und wertlos: Die dornige und dichte Vegetation verhinderte die unbegrenzte Erschließung für den Weltmarkt. Die landwirtschaftliche Nutzung beschränkte sich auf die sogenannten cañones – so werden die Abflussrinnen in der flachen Ebene genannt, in denen der dichte Waldbewuchs von einer savannenartigen Vegetation unterbrochen wird.

So blieb der Chaco eine periphere Region, die kaum in den Weltmarkt integriert war. Genau diese Isolation bot einer Vielzahl indigener Gruppen die Möglichkeit, ihre Lebensweise und relative Autonomie behaupten zu können. Keine andere Region im südlichen Südamerika weist deshalb eine so große ethnische Diversität auf wie der Chaco. Im nördlichen Teil des Gebiets, das mit etwas weniger als 300.000 Quadratkilometern ungefähr so groß wie Italien ist, leben einige indigenen Gruppen der Ayoreo Totobiegosode bis heute in freiwilliger Isolation und ohne jeden Kontakt zur Außenwelt.

Doch seit den 1970er Jahren haben sich die technischen Voraussetzungen für die wirtschaftliche Inwertsetzung des Chaco radikal verändert. Dornenwälder, die zuvor wie unüberwindbare Barrieren für die Rodung schienen, konnten von neu eingeführten schweren Bulldozern mühelos weggeschoben werden. Dazu kommt, dass die Fläche, die der Viehwirtschaft im Osten Parguays zur Verfügung stand, durch den Boom von – meist genmanipuliertem Soja- sank. Neue Flächen fanden die Unternehmen im Chaco.

Seit dem Beginn des neuen Jahrtausends nimmt die Zerstörung des artenreichen und an die harten klimatischen Bedingungen angepassten Trockenwaldes im Chaco massiv zu. In den Jahren 2000 bis 2012 waren es die höchsten Entwaldungsraten für tropische Wälder auf der ganzen Erde. Zahlreiche Tier- und Pflanzenarten drohen auszusterben.

Die Erschließung des Chaco für die Landwirtschaft hat aber auch globale Auswirkungen auf den Klimawandel: Durch die Rodung wird in der Vegetation gebundener Kohlenstoff in die Atmosphäre freigesetzt. Die Rinder, die danach auf den Flächen weiden, stoßen große Mengen Methan aus. Durch die Veränderung der Landnutzung wird eine riesige Kohlenstoffsenke in eine Quelle für Treibhausgase umgewandelt.

Dramatischer sind allerdings die Folgen für die unmittelbar Betroffenen: die indigene Bevölkerung des Chaco. Durch die zunehmende Landnutzung durch die Viehwirtschaft verlieren sie Territorium, dass sie für ihren Lebensunterhalt benötigen.

Insbesondere die Ayoreo Totobiegosode geraten dadurch unter Druck. Für ihre nomadische Lebensweise, die auf der Jagd und ganz besonders auf dem Sammeln von Wildhonig basiert, benötigen sie große Flächen. Doch da sie in freiwilliger Isolation leben und nichts von Gesetzen und Umweltbehörden mitbekommen, können sie sich nicht effektiv wehren, wenn Bulldozer in ihr Land eindringen und es zerstören. Die einzige Möglichkeit, die ihnen bleibt, ist zu fliehen.

In den vergangenen Monaten hat sich die Situation für die Ayoreo Totobiegosode enorm zugespitzt. Das Gebiet, in dem ihre kleinen Gruppen umherziehen, ist durch Rodungen enorm verkleinert worden. Ringsum sehen sie sich von expandierenden Rinderfarmen eingekesselt.

Doch nicht nur die Ayoreo Totobiegosode sind von der zunehmenden wirtschaftlichen Erschließung des Chaco negativ betroffen. Auch wenn andere indigene Gruppen des Chaco, wie etwa die Quom oder die Angaité, zum Teil seit dem 19. Jahrhundert in unterschiedlich engen Kontakt mit der paraguayischen Mehrheitsgesellschaft stehen, spielen für sie die Jagd und das Sammeln von Pflanzen, Früchten und Honig aus dem Trockenwald weiterhin eine große wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung. Diese Aktivitäten werden durch die jüngere Entwicklung zunehmend eingeschränkt.

Das Gebiet der Ayoreo Totobiegosode wurde enorm verkleinert

Dies widerspricht eigentlich der paraguayischen Verfassung. Im Artikel 64 heißt es: „Die indigenen Völker haben das Recht auf den gemeinschaftlichen Besitz ihres Landes, im ausreichenden Ausmaß und der Qualität, um ihre eigene Lebensweise zu bewahren und zu entwickeln.“ Die Frage, die vielen Landkonflikten mit Indigenen zugrunde liegt, lautet: Wie viel Land ist dafür ausreichend?

Der Anthropologe Marcos Glauser hat intensiv zu dieser Frage geforscht und sich dabei auf die indigenen Angaité konzentriert. Er unterscheidet zwischen „Indigenem Land“ und „Indigenen Territorium“: Den ersten Begriff bezieht er auf die Ländereien, die bestimmten indigenen Gruppen unmittelbar gehören und die auch vom paraguayischen Staat anerkannt sind. Den zweiten Begriff bezieht er auf die Gesamtheit des Terri-*toriums, das die Indigenen nutzen: für die Jagd, das Sammeln und für bestimmte Rituale. Das legal anerkannte Land der Angaité ist dabei etwa 22.000 Hektar groß, das von ihnen genutzte indigene Territorium dagegen über 209.000 Hektar.

Dass es Überschneidungen zwischen Rinderfarmen und dem indigenen Territorium gab, spielte für die Angaité lange keine Rolle: In ihrer Weltanschauung teilen sie sich ohnehin den Raum mit einer Vielzahl von nichtmenschlichen Entitäten – Tieren, Pflanzen und Geistern. Und auch viele Rinderfarmer*innen – deren Aktivitäten sich ja historisch auf die weniger dicht bewachsenen Teile des Waldes beschränkten – störten sich lange nicht übermäßig daran, dass gelegentlich indigene Gruppen durch ihren Besitz zogen.

Dies hat sich mit der Aufheizung des Immobilienmarktes und der Veränderung der Landnutzung massiv gewandelt. Dort, wo der Wald gerodet wurde, sind die Sammel- und Jagdaktivitäten der Angaité nicht mehr möglich und selbst dort, wo der Wald noch intakt ist, wird ihnen zunehmend der Zugang verwehrt.

Deutsche Entwicklungshilfe an der Einschränkung indigener Rechte beteiligt?

Der paraguayischen Verfassung zufolge benötigen die Unternehmen für derartige Rodungen eine Studie über die Umweltfolgen (Relatório de Impacto Ambiental – RIMA) und eine Erlaubnis durch das Umweltsekretariat SEAM. Diese müssen auch eventuell betroffene indigene Rechte auf die Landnutzung berücksichtigen. Doch Analysen zeigen, dass in den RIMA die Auswirkungen auf das weitergehende indigene Territorium völlig vernachlässigt werden. Für das indigene Territorium La Patria der Angaité hat der Anthropologe Glauser die RIMA der benachbarten Farmen der letzten zehn Jahre analysiert. In kaum einer wurden indigene Rechte auch nur erwähnt. In den Gesetzen erkennt der paraguayische Staat indigene Rechte an, so Glauser, de facto erkennen die Rechte aber nur die Interessen der Viehfarmer an.

Mutmaßlich an dieser Entwicklung beteiligt ist eine deutsche Entwicklungsbank. Die Deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft mbH DEG, eine hundertprozentige Tochter der staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau KfW, hält derzeit etwa 15 Prozent der Anteile an dem luxemburgischen Unternehmen Paraguay Agricultural Corporation PAYCO, das unter anderem eine Farm besaß, die unmittelbar an das Angaité-Territorium „La Patria“ angrenzt. War die deutsche Entwicklungshilfe an der Einschränkung indigener Rechte in Paraguay beteiligt?

Genaues könne man nicht sagen, erklärt Philipp Mimkes der Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation FIAN Deutschland e. V. Seit mehreren Jahren verfolgt die Organisation die Investitionen der DEG in PAYCO kritisch. Mehrere Anfragen habe FIAN bereits gestellt, doch detailliertere Informationen seien von der DEG nicht zu erhalten. Auch auf Anfrage von LN, was die DEG unternehme, um die Auswirkungen der Geschäfte der PAYCO auf Indigene und die Umwelt zu kontrollieren, antwortet eine Sprecherin der DEG: „Als Kreditinstitut ist die DEG nicht berechtigt, ohne Einwilligung des jeweiligen Kunden interne Informationen, die sie im Rahmen ihrer Geschäftsbeziehung mit diesen erlangt hat, an Dritte weiterzugeben.“

Diese Haltung sei völlig unangemessen, findet Philipp Mimkes: „Über die Bundesrepublik Deutschland sind wir als Bürger*innen praktisch Mitbesitzer*innen von PAYCO und damit haben wir auch eine Verantwortung für die menschenrechtlichen Probleme vor Ort“, erklärt er gegenüber LN und fügt hinzu: „Die Menschenrechte machen vor Staatsgrenzen keinen Halt und die KfW-Bankengruppe hat diese auch extraterritorial zu wahren.“ Was FIAN über die Aktivitäten von PAYCO wisse, habe die internationale Organisation über die Recherche paraguayischer Mitarbeiter*innen erfahren.

„Die DEG verpflichtet von ihr finanzierte Unternehmen vertraglich zur Einhaltung internationaler Umwelt- und Sozialstandards und begleitet sie aktiv bei der Umsetzung. Das gilt auch für PAYCO“, erklärt eine Sprecherin der DEG gegenüber LN. Zudem sehe das Umwelt- und Sozial Managementsystem von PAYCO auch vor, dass „für neue Plantagen Umwelt- und Sozialverträglichkeitsstudien im Einklang mit lokaler Gesetzgebung und internationalen E+S-Standards (IFC Performance Standards) erstellt werden“, so die DEG Sprecherin.

Angesichts der Parteilichkeit der paraguayischen Institutionen zugunsten der Agrarindustrie ist aber fraglich, ob diese Umwelt- und Sozialverträglichkeitsstudien nur auf dem Papier, oder auch in der Realität internationalen Mindeststandards entspricht. Überprüfen kann dies die Öffentlichkeit nicht, solange sensible Daten unter dem Hinweis auf Geschäftsgeheimnisse zurückgehalten werden. Dies wäre aber durchaus wichtig, schließlich besitzt PAYCO 1.460 Quadratkilometer Farmland (etwa die Größe des Bodensees) überall in Paraguay und wiederholt wurden auf PAYCO-Farmen Entwaldung und Landkonflikte mit Indigenen dokumentiert, wie FIAN Deutschland in einer Erklärung schreibt. Um doch mehr über die Aktivitäten der PAYCO herauszubekommen, hat FIAN Deutschland gemeinsam mit dem Europäisches Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte (ECCHR) am 21. Juni vor dem Verwaltungsgericht Köln eine Auskunftsklage gegen die KfW-Bankengruppe bezüglich der PAYCO-Investitionen angestrengt. „Die Projekte von KfW und DEG sind an die Ziele der deutschen Entwicklungspolitik gebunden. Eine Kontrolle durch Abgeordnete, Medien und kritische Öffentlichkeit ist jedoch nur möglich, wenn diese die notwendigen Informationen erhalten”, so Philipp Mimkes zur Klage.

Dann ließe sich auch überprüfen, ob die DEG über PAYCO auch an Rodungen beteiligt ist, die das Territorium der in freiwilliger Isolation lebenden Ayoreo Totobiegosode beteiligt ist. Mit den Farmen „Timboty“ und „Carandayty“ liegen zumindest drei ihrer Farmen potenziell im Einzugsgebiet der Ayoreo Totobiegosode. Genaueres kann man jedoch nicht sagen, ehe die DEG der Öffentlichkeit Zugang zu den Informationen gewährt.


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KUBA WIRD AUSSORTIERT

Fotos: Andreas Knobloch

Noch ist Deutschland entwicklungspolitisch in etwa 85 Ländern direkt aktiv, meist über die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) oder die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) – alles unter dem Dach des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Im Zuge der Neuausrichtung soll unter dem Motto „Weg von der Gießkanne“ die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit in etwa einem Drittel der Länder beendet werden, darunter Kuba, schrieb die FAZ mit Verweis auf eine Ausstiegsliste, die dem Blatt vorliege. Diese Nachricht sorgte vor allem bei Kuba-Unterstützer*innen für Unruhe.

„Wir beenden mit keinem Land die Zusammenarbeit, sondern wir steuern in einer Reihe von Ländern um. Die erwähnte Umsteuerung betrifft vor allem die direkte staatliche, also bilaterale Zusammenarbeit“, erklärt eine Sprecherin des Ministeriums auf Nachfrage. „Die Entscheidung betrifft ausschließlich die direkte Zusammenarbeit von Staat zu Staat über die Durchführungsorganisationen wie die GIZ oder die KfW.“ In Ländern, in denen man nicht mehr direkt staatlich zusammenarbeite, würde weiterhin die Arbeit der Kirchen und der Zivilgesellschaft sowie der EU und multilateraler Institutionen unterstützt, sowie Investitionen der Privatwirtschaft gefördert.

Das klingt beruhigend. Aber bei Investitionsförderung vermittelt der Realitätscheck für Kuba eher ein tristes Bild. Nicht selten bleiben Investitionsprojekte in der Entwicklungsphase stecken. Das hat mit den schwierigen Finanzierungsbedingungen zu tun. Seit fast sechzig Jahren leidet Kuba unter der Wirtschafts-, Finanz- und Handelsblockade durch die USA. Deren Bestimmungen betreffen auch Drittstaaten und lassen potentielle Investor*innen vorsichtig agieren. Derzeit findet sich keine deutsche Bank, die Projekte auf Kuba finanziert. Darüber hinaus fehlt es an öffentlicher Entwicklungsfinanzierung. Kuba selbst steckt in Zahlungsschwierigkeiten.

Schwieriges Pflaster Wegen der US-Blockade bleiben Investitionen deutscher Banken aus

Eine Erhöhung der Hermes-Bürgschaften, mit denen der deutsche Staat private Investitionen absichert, war mehrmals an Zahlungsverzögerungen auf kubanischer Seite gescheitert. Zwar gibt es seit Oktober 2018 in Havanna ein Deutsches Büro zur Förderung von Handel und Investitionen, aber das fehlende Entwicklungshilfeabkommen mit Kuba sei ein „großes Hemmnis“, hört man immer wieder aus dem Kreis deutscher Unternehmer*innen auf der Insel.

Während zwischen Kuba und der DDR enge Beziehungen bestanden, ist das Verhältnis zwischen Berlin und Havanna nach 1990 erheblich abgekühlt. Erst im Jahr 2000 wurde die Frage der kubanischen Altschulden gegenüber der DDR in einem Umschuldungsabkommen geregelt. Die offizielle Entwicklungszusammenarbeit liegt seit 2003 auf Eis, ebenso ein bereits ausgehandeltes deutsch-kubanisches Kulturabkommen – eine Reaktion auf die Verhaftung von 75 Systemoppositionellen in Kuba und deren Verurteilung zu langjährigen Haftstrafen im März 2003.

„In Kuba wurden Maßnahmen der bilateralen staatlichen Zusammenarbeit noch nicht umgesetzt, daher können diese auch nicht beendet werden“, heißt es dazu aus dem Ministerium. „Vom BMZ mitgeförderte Projekte der Zivilgesellschaft und anderer Träger sind [von der Strukturreform, Anm. d. Autors] nicht betroffen und werden auch künftig in Kuba möglich sein.“ Derzeit sind einige deutsche Nichtregierungsorganisationen auf Kuba tätig, vornehmlich im Bereich der Energie- und Wasserversorgung sowie in der Erwachsenenbildung.

Seit 1990 ist das Verhältnis zwischen Berlin und Havanna deutlich abgekühlt

„Obwohl es bislang kein deutsch-kubanisches Kulturabkommen und kein unabhängiges Goethe-Institut gibt, bilden die vielfältige kulturelle Kooperation, die Zusammenarbeit in Wissenschaft und Forschung sowie der durch den Deutschen Akademischen Austausch Dienst (DAAD) geförderte akademische Austausch zentrale Säulen der bilateralen Beziehungen“, heißt es von Seiten des Auswärtigen Amtes.

DAAD-Projekte gehören zu den wichtigsten Vorhaben in der BMZ-geförderten deutsch-kubanischen Kooperation. Sie betreffen Themen wie Biodiversität, Recycling und Abwassermanagement, unternehmerische Bildung an Hochschulen, Alumni-Netzwerke, Workshops in Hoch­schulmanagement usw. Darüber hinaus fördert das BMZ eine Dreieckskooperation Mexiko-Kuba-Deutschland im Bereich erneuerbarer Energien und Energieeffizienz, zivilgesellschaftliche Kooperationen sowie Vorhaben der politischen Stiftungen, zwei Entwicklungspartnerschaften mit der Wirtschaft sowie ein regionales Sparkassenpartnerschaftsprojekt. Nach Hurrikan Irma im Herbst 2017 flossen über vom BMZ unterstützte UN-Programme Übergangshilfen in Höhe von 750.000 Euro.

Deutschland setze die Zusammenarbeit mit Kuba in der Entwicklungszusammenarbeit auch durch sein europäisches und multilaterales Engagement fort, so die BMZ-Sprecherin. „Zudem finanziert Deutschland durch seinen Beitrag zum EU-Haushalt aktuell mehr als 20 Prozent der EU-Entwicklungsleistungen und unterstützt damit indirekt auch die Entwicklungszusammenarbeit der EU mit Kuba.“

Das künftige Kuba-Engagement des BMZ lässt sich vielleicht auf die Kurzformel bringen: Wo man nie richtig eingestiegen ist, kann man auch nicht aussteigen. Die allgemein auf die Reformstrategie für das BMZ gemünzte Aussage des Verbandes Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO) kann auch auf Kuba angewendet werden: „Eine umfassende Bewertung der Auswirkungen ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich. Viele Fragen stellen sich im Zuge der Umsetzung, von denen dann auch zivilgesellschaftliche Organisationen betroffen sein können.“


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ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT FÜR DIE OLIGARCHIE

Hört man Esteban Binns über Barro Blanco sprechen, dann spürt man die Emotionen, die in ihm wühlen. Dennoch bleibt er ruhig, spricht mit einer klaren Besonnenheit. So, als habe er nichts mehr zu verlieren. Bereits mehr als ein Dutzend Tote hat der Konflikt um den Staudamm die indigene Gemeinschaft Ngäbe-Buglé gekostet, erzählt er, und auch er hätte beinahe nicht überlebt. Vor vier Jahren schlugen ihn Polizisten während einer Demonstration bewusstlos. Er hatte Glück. Und schwor sich, im Namen der Opfer für Gerechtigkeit zu kämpfen. Binns stammt aus Tabasará, der Region im Westen Panamas, durch die der gleichnamige Fluss fließt und die zugunsten eines Wasserkraftwerks geflutet werden soll. Er ist der Arbeit halber in die Hauptstadt gezogen, lehrt dort Mathematik an der Universität. Nun berät er gemeinsam mit sechs anderen Fachleuten die indigenen Repräsentanten, die derzeit am „Runden Tisch“ mit der panamaischen Regierung verhandeln.
Die Situation ist kompliziert: Es geht um ein indigenes Volk, das sich diskriminiert fühlt, ein Unternehmen, dessen Direktor in Honduras der Korruption angeklagt ist, es geht um eine deutsche und eine niederländische Bank – und um eine Regierung, deren Ziele nicht eindeutig sind. Die Bauarbeiten am Barro Blanco Staudamm am Tabasará wurden bereits abgeschlossen, die Flutungen haben begonnen. Die Dörfer, religiösen Stätten und landwirtschaftlich genutzten Flächen von vier Gemeinden sind in Gefahr.
Nachdem der erste Entwurf 1981 an den massiven Protesten der lokalen Bevölkerung gescheitert war, wurde das Projekt Ende der 1990er Jahre wieder aufgegriffen. Noch trug es den Namen Tabasará. 1999 mündeten erste Demonstrationen in Festnahmen, und die Ngäbe-Buglé begannen, sich als Movimiento 10 de Abril (M10) zu organisieren. Damalige Gesetze verhinderten schließlich die Umsetzung.

Damm oder Freiheit: Die Ngäbe-Buglé kündigen an, die Panamericana zu besetzen (Foto: Esteban Binns)

In den darauffolgenden Jahren wurden wesentliche Teile des panamaischen Umweltrechts verändert. Das eigens für diesen Zweck gegründete Unternehmen GENISA erhielt 2007 die Genehmigung für den Bau des Staudamms, nun unter dem Namen Barro Blanco. GENISA führte zwar eine Studie über die Umweltverträglichkeit des Projekts durch und befragte die lokale Bevölkerung – doch wurden die Gemeinden, die entlang des Flusses leben und somit direkt von den Flutungen betroffen wären, niemals in Beratungen einbezogen. „Das Volk der Ngäbe-Buglé wurde zu keinem Zeitpunkt konsultiert. Es hat dieses Projekt nie akzeptiert“, so Binns. Der Congreso General, die höchste Entscheidungsinstanz des lokalen Verwaltungsdistrikts, habe nie über Barro Blanco entscheiden dürfen. Schlimmer noch: In der Umweltverträglichkeitsstudie heißt es, in dem Gebiet gäbe es „keine indigenen Gemeinden von Bedeutung“. Binns fühlt sich nicht nur ignoriert, er fühlt sich verleugnet.
Nach dem Amtsantritt der Regierung unter Ricardo Martinelli im Jahr 2009 spitzte sich die Lage deutlich zu: In einem höchst intransparenten Prozess wurde die ursprünglich geplante Kapazität des Staudamms von 19 Megawatt auf 29 Megawatt angehoben. Das heißt: Der Damm sollte 20 Meter höher, das Wasserreservoir um fast 30 Hektar größer und die umliegenden Gebiete zu einem fünf Meter höheren Level geflutet werden. Eine für solche Änderungen erforderliche neu aufgezogene Studie über mögliche Auswirkungen blieb aus, es wurde sich weiterhin auf die erste Studie bezogen. Anfang 2011 begannen die Bauarbeiten.
Manuel Zárate ist Mathematiker und Hydrologe. Als in den 1990er Jahren eine Bauwelle von Wasserkraftwerken durch das Land ging, war er der erste, der diese wissenschaftlich untersuchte. „Trotz der Wassermassen, die unser Land durchfließen, gibt es in Panama keine Kultur der Wasserwirtschaft. Es mangelt an Expertise“, berichtet er. Dadurch sei es während der Planung solcher Projekte immer wieder zu starken sozialen Konflikten gekommen. Meist mit indigenen Gemeinschaften, die in vielen Gebieten Panamas bis heute sehr traditionell und präkapitalistisch leben. Als technischer Berater am Runden Tisch möchte Zárate zwischen den beiden Visionen vermitteln, die dort aufeinanderprallen. Auf der anderen Seite sitzt eine Regierung, die historisch eng mit den Unternehmern der Region verstrickt ist und deren Mitglieder immer wieder der Korruption bezichtigt werden.
Als Oligarchie bezeichnet Zárate das System. Die Macht des Landes sei in den Händen einiger reicher Unternehmerfamilien konzentriert. Auch die Familie des Ex-Präsidenten Martinelli gehöre dazu. Dieser selbst war Teilhaber der Firma, die das Staudamm-Projekt am Tabasará an GENISA verkaufte. Während seiner Amtszeit von 2009 bis 2014 unterstützte er dann den GENISA-Vorstand: Die Kafie-Familie aus Honduras, deren Name vor allem für Korruption und Vetternwirtschaft steht. Martinelli ließ das Projekt durch die Umweltbehörde genehmigen, obwohl die Umweltfolgenabschätzung grundlegende Mängel aufwies. Als die indigenen Gemeinden dagegen klagten, hätte der Oberste Gerichtshof bloß mit den Schultern gezuckt, erzählt Zárate. „Das war ein Spiel für Martinelli.“ Ein Spiel mit schlimmen Folgen für die Ngäbe-Buglé: Auch Funktionär*innen aus ihren Reihen wurden bestochen, um Barro Blanco zu genehmigen. „In Panama herrscht eben das Gesetz des Geldes“, meint auch Esteban Binns. „Wer bezahlt wird, ist still“. Und es geht um sehr viel Geld.
Geld, dass sich GENISA zunächst einmal aus Deutschland und den Niederlanden geliehen hat: Die holländische FMO und die Deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft (DEG), Tochter der KfW, finanzieren Barro Blanco mit jeweils 25 Millionen Dollar. Sie investieren dadurch in grünen Strom, der bis zu 70.000 Menschen versorgen würde. Auf ihrer Homepage erklärt die DEG, sie trage zu „dauerhaft besseren Lebensbedingungen in Entwicklungsländern“ bei. Was ist mit den Ngäbe-Buglé? Den Informationen der DEG nach hätte es eine Einigung zwischen GENISA und des Verwaltungsdistrikts der Ngäbe-Buglé gegeben. Das Unternehmen hätte Vertreter*innen der indigenen Bevölkerung mehrfach über das Vorhaben informiert. Erst später hätte sich herausgestellt, dass sich nicht alle Indigenen vertreten fühlten und dem Projekt zugestimmt hätten.
Fachreferentin Schrahe-Timera betont, die Bank nehme „Kritik an ihrer Arbeit sehr ernst“. Ein spezieller Beschwerdemechanismus stehe sowohl Organisationen als auch Einzelpersonen offen, die sich beeinträchtigt fühlen. Indigene aus Tabasará nahmen dies 2014 wahr, erzählt auch Esteban Binns. Allerdings kam das unabhängige Gremium, das die Beschwerde prüfte, zu dem Schluss, dass die Banken ihre Kredite im Einklang mit ihren Standards vergeben hätten. Auf diese verweist auch Schrahe-Timera: Umwelt- und Sozialprinzipien der europäischen Entwicklungsfinanzinstitutionen, Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, die Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte der Vereinten Nationen.

Foto: urgewald

Die deutsche Bundesregierung, deren Vertre­ter*innen im Aufsichtsrat der DEG sitzen, äußerte sich bis jetzt kaum zu dieser Angelegenheit. Auf eine Anfrage von Mitgliedern des Bundestages hin erklärte sie, „über eine etwaige Verletzung sozialer und ökologischer Belange“ habe sie keine Kenntnis. Auch sie beruft sich auf die Einhaltung der Standards, die in der Zwischenzeit sogar überarbeitet wurden. Diese Prinzipien würden ja gut und richtig sein, meint Zárate, aber sie könnten nicht einfach von Europa auf Lateinamerika übertragen werden. Der Wettkampf der Banken um neue Märkte für ihr Kapital sei der Grund für die Rückständigkeit dieser Länder. „Sie unterstützen Oligarchen und nennen das dann Entwicklungszusammenarbeit – dabei sehen sie nicht, dass ihr Geld den Korrupten direkt in die Hände fließt.“
Von den Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen urgewald und Rettet den Regenwald angetrieben, protestiert auch die deutsche Zivilgesellschaft. Vor der DEG-Zentrale in Köln fordert sie, die Flutungen sofort zu beenden und die Landrechte der Menschen vor Ort ernst zu nehmen. Die Bank solle eine unabhängige Delegation in das betroffene Gebiet schicken und für einen Neubeginn der Gespräche sorgen. Urgewald ist seit Jahren in der Divestment-Bewegung aktiv und bewegt Investor*innen dazu, ihr Kapital aus riskanten Vorhaben abzuziehen. Nach dem Motto: „Wer das Geld gibt, trägt die Verantwortung“.
Dienstag in Panama: Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen und die Regierung haben zu einer Veranstaltung eingeladen. Präsident Varela scheint sich in den Barro Blanco Gesprächen verheddert zu haben, er lässt sich lieber von Minister Alemán vertreten. Dieser erzählt von den Erfolgen des Varela-Kabinetts und erklärt schwungvoll: „Mit jeder Entscheidung, die wir treffen, beweisen wir unsere Loyalität dem Staat gegenüber. Wir garantieren, dass die panamaische Wirtschaft zu einem Fortschritt für alle Panamaer beiträgt.“ Zum Abschied erhält man einen Informationsatlas: Anhand bunter Grafiken und Diagramme wird darin der Status quo panamaischer Entwicklung zusammengefasst. Spätestens jetzt wird klar: Die indigene Bevölkerung bildet den ärmsten und verletzlichsten Teil der Gesellschaft. Nachzügler in beinahe jeder Kategorie ist der Distrikt der Ngäbe-Buglé. Ihre Einwohner*innen haben die geringste Lebenserwartung, die höchste Arbeitslosenrate, das niedrigste Durchschnittseinkommen und den langsamsten Fortschrittsrhythmus. Sie sind zu weniger als fünf Prozent mit Elektrizität versorgt – die Wasserkraftanlage, die vor ihren Nasen entsteht, wird daran jedoch wahrscheinlich nichts verändern. Oder doch?
Wenn es nach Esteban Binns ginge, würde der Staudamm auf der Stelle abgerissen. „Wir werden alles dafür tun, dass dieses Wasserkraftwerk nicht in Gang kommt“, verspricht er. Das Vertrauen in die Regierung sei längst gebrochen. Kein Wunder, nach jahrelangen Protesten, gewaltsamen Ausschreitungen der Polizei und mehreren erfolglosen Runden Tischen mit den Behörden. Im August vergangenen Jahres einigten sich beide Seiten, die Bauarbeiten zu unterbrechen, bis es eine für alle akzeptable Lösung gäbe – doch die Regierung ließ den Bau wenig später kommentarlos weiterführen. Auch die Flutungen haben mittlerweile begonnen. Die Proteste eskalierten, die Indigenen stellten ein Ultimatum. „Wenn die Regierung in der nächsten Woche nicht darauf eingeht, werden wir die Interamericana, den wichtigsten Verkehrsweg des Landes und Zentralamerikas, blockieren.“
„Die Wut und Enttäuschung ist sehr verständlich“, findet Manuel Zárate, „trotzdem darf man die Situation nicht schwarz-weiß sehen.“ Er möchte die Chance nutzen und Barro Blanco zu einem Motor des Fortschritts für die lokalen Gemeinden machen. Mit Beteiligung der Ngäbe-Buglé soll der Staat GENISA die Anteile am Projekt entziehen. So könnte garantiert werden, dass die lokalen Gemeinden Barro Blanco mitgestalten und selbst vom produzierten grünen Strom profitieren. Allerdings müssten dafür die Banken mitspielen und Druck auf GENISA ausüben. „Wenn sie ihr Kapital retten wollen, bleibt ihnen nichts anderes übrig“, meint Zárate. Denn alle sind sich einig: Bis vor das oberste internationale Gericht werden sie Barro Blanco treiben, sollte nicht bald eine Lösung möglich sein.


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Gefährliche Kriminalisierung

Frau Sibrián, 2012 hat Ihre Organisation gemeinsam mit sieben weiteren Organisationen eine Begriffsbestimmung der Kriminalisierung vorgenommen. Was zählt außer einer illegitimen Verfolgung durch Polizei und Justiz noch zur Kriminalisierung und wer ist davon betroffen?
Grundsätzlich sind diejenigen betroffen, die die Menschenrechte verteidigen und mit der Ausübung ihrer Rechte die Interessen der politisch oder wirtschaftlich Mächtigen bedrohen. Dadurch werden sie Opfer einer Reihe von Aktionen von Seiten der Mächtigen: verbale und physische Aggressionen, öffentliche Stigmatisierung, die Zerstörung ihres Images und ihrer Person, oder eben die Eröffnung juristischer Prozesse.
Wenn wir von kriminalisierten Menschenrechtsverteidigern sprechen, sprechen wir von Menschenrechtsverteidigern, die man versucht, als Personen, die gegen das Gesetz verstoßen, erscheinen zu lassen. Und in vielen Ländern ist das Gesetz auf die Interessen derjenigen zugeschnitten, die die politische und oftmals auch die wirtschaftliche Kontrolle haben. Daher gibt es Länder, in denen die Gesetze sehr ungerecht und undemokratisch sind, und die Menschenrechtsverteidiger geraten in Widerspruch mit diesen Gesetzen.

Was wäre ein konkretes Beispiel dafür?
Es gibt das Beispiel des Widerstands von La Puya, ein Minenprojekt 18 Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Die meisten, die sich im Widerstand organisiert haben, sind einfache Frauen aus der Gemeinde, Mütter, viele von ihnen aktiv in der Kirche. Sie haben einen tiefen Glauben an Gott und an die Gerechtigkeit. Manchmal kann man sie an der Zufahrt zur Mine stehen sehen und religiöse Lieder singen hören. Das ist sehr bewegend, weil es ein absolut friedlicher Protest ist. Trotzdem werden die sichtbaren Anführer juristisch verfolgt, einschließlich einer Frau, der bereits bei einem Attentat vor einigen Jahren in den Rücken geschossen wurde. Es gibt also diese Kombination von juristischen und nichtstaatlichen Angriffen.
Ein anderer Typ von Kriminalisierung betrifft diejenigen, die für das Recht auf Wahrheit und Gerechtigkeit in Guatemala eintreten. Es war ein großer Fortschritt in diesem Land, als 2012 das Verfahren gegen den General Efraín Ríos Montt eröffnet wurde. Aber mit dem Prozess begann auch die öffentliche Diskreditierung der indigenen Frauen, die als Zeuginnen in dem Prozess aussagten, und eine Diskreditierung all derjenigen, die Gerechtigkeit verlangten. Der Kern der Argumentation war, dass der Ruf nach Gerechtigkeit zu einer Spaltung des Landes führen würde, während doch in Wirklichkeit die Gerechtigkeit die beste Art sein kann, wie sich Menschen mit unterschiedlichen Positionen in Bezug auf diese Verbrechen wieder annähern können. Jemand, der keine Gerechtigkeit erfährt, kann sich nicht mit dem anderen an einen Tisch setzen und versuchen, das soziale Gewebe zu reparieren.

Welche Akteur_innen und welche Interessen stehen hinter der Kriminalisierung?
Ich werde ein weiteres Beispiel nennen. Am 10. Mai 2013 wurde ein historisches Urteil gegen den General Efraín Ríos Montt gefällt. Das Urteil betrifft indirekt auch das Militär, da mit dem Urteil explizit die Rolle des Generals und der Armee bei Menschenrechtsverletzungen anerkannt wurde. Zwei Tage nach dem Urteilsspruch organisierte der private Sektor eine Pressekonferenz, auf der die Unternehmer das Verfassungsgericht öffentlich zu einer Korrektur seines Urteils aufforderten. Und eine Woche später entschied das Gericht, den Prozess gegen Ríos Montt zu annullieren. Glücklicherweise traf das Gericht diese Entscheidung nur mit drei zu zwei Stimmen, das heißt, dass zwei Richter erkannten, dass die Entscheidung illegal war. Aber hier wird die starke Allianz zwischen der wirtschaftlichen Macht und der für die schweren Menschenrechtsverletzungen schuldigen, militärischen Macht deutlich.

Auch die Botschaften der EU haben die Aufgabe, die Einhaltung der Menschenrechte zu überwachen. Stimmt es, dass die EU-Botschaft in Guatemala dieser Aufgabe nicht nachkommt?
In der Botschaft der EU in Guatemala arbeitet nur eine Diplomatin, die Botschafterin. Der Rest des Personals kommt aus der Entwicklungszusammenarbeit. Das ist in Guatemala anders als in anderen EU-Botschaften. Die EU erreicht auf der diplomatischen Ebene nicht die Stärke, etwa um Besuche bei kriminalisierten Menschenrechtsverteidigern außerhalb der Hauptstadt zu machen. Wenn ich mich nicht irre, haben in den vergangenen zwei Jahren keine Besuche in Gemeinden stattgefunden. Manchmal schicken sie ihr Personal aus der Entwicklungszusammenarbeit, aber dieses hat nicht das gleiche Gewicht, wie wenn die einzige ranghohe Diplomatin, die Botschafterin, die kriminalisierten Gemeinden besuchen- und ein Interesse an ihren Problemen zeigen würde.

Im Jahr 2012 erklärte der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte Guatemalas Regierung für die im Zusammenhang mit dem international finanzierten Staudammprojekt Chixoy begangenen Massaker von Río Negro Anfang der 80er Jahre für schuldig. Ein im Januar in den USA beschlossenes Gesetz sieht nun die Entschädigung der Betroffenen durch die Weltbank und die Interamerikanische Entwicklungsbank vor. Ist dies ein Erfolg im Kampf gegen Staudammprojekte?
Das ist vor allem ein Beispiel für Wiedergutmachung. Ein Erfolg wäre, wenn sich solche Verbrechen verhindern ließen. Die Guatemalteken und die internationale Gemeinschaft hätten jetzt die Möglichkeit, aus diesem Fall zu lernen und Maßnahmen zu ergreifen, damit sich solche Fälle nicht wiederholen. Die Gemeinden und die Anwälte, die den Fall Chixoy begleitet haben, haben einen langen Kampf hinter sich. Es war für sie ein großer Triumph, als die Verantwortung des Staates bewiesen und er zur Entschädigung verpflichtet wurde. Vor einigen Jahren sind dieselben Menschenrechtsverteidiger von Chixoy noch kriminalisiert und verfolgt worden. Leider wurde die Verpflichtung zur Entschädigung bislang nicht umgesetzt. Und hier spielen die USA eine sehr wichtige und bewundernswerte Rolle, indem sie dem guatemaltekischen Staat Bedingungen stellen. Sie sagen, dass die militärische Hilfe nicht einfach als Blankoscheck erfolgen kann. Ich denke, dass sich andere europäische Staaten daran ein Beispiel nehmen könnten und den Ländern des amerikanischen Kontinents sagen: Es gibt Menschenrechtsabkommen und wenn ihr die daraus hervorgehenden Verpflichtungen nicht einhaltet, muss es eine Art von Sanktion geben. Politische Sanktionen haben immer weniger Bedeutung. Sanktionen müssen daher wirtschaftlich sein, und sie dürfen nicht nur Staaten betreffen, sondern auch nichtstaatliche Akteure, die an Menschenrechtsverletzungen beteiligt sind.

Infokasten

Anabella Sibrián arbeitet bei der 2001 gegründeten Holländischen Plattform gegen Straffreiheit, Guatemala, einem Projekt mehrerer internationaler Menschenrechtsorganisationen. Sie begleitet die Arbeit guatemaltekischer Menschenrechtsverteidiger_innen und betreibt in der EU Advocacy für die Menschenrechtsverteidigung in Zentralamerika.


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Einseitige Beziehung

Anfang Juli 2012 protestierten mehrere tausend Menschen friedlich gegen die geplante Kupfer- und Goldmine Conga in der Region Cajamarca. Dort möchte der US-Konzern Newmont Mining über fünf Milliarden US-Dollar investieren. Als die Regierung Polizei und Armee nach Celendín und Bambamarca im Norden Perus schickte, kam es zu Schüssen auf unbewaffnete Demonstrant_innen. Dabei starben mehrere Menschen.
Die Verantwortlichen sind anscheinend bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen worden. Eine Befriedung der Situation ist nicht eingetreten. Als es Mitte September 2013 erneut gewalttätige Übergriffe von Polizist_innen auf Umweltschützer_innen in der Region gab, verwies der peruanische Präsident Ollanta Humala auf ein Dialogforum zwischen dem Unternehmen, der Politik und der Zivilgesellschaft. Das Dialogforum wurde eingerichtet, als Ende des vergangenen Jahres massive Demonstrationen gegen Conga eine Regierungskrise ausgelöst und einen Baustopp bewirkt hatten. Die lokale Bevölkerung lehnt das Projekt ab und fordert politische Mitbestimmung. Nach ministeriellen Umbesetzungen wurde ein Memorandum eingeführt, welches die lokale Bevölkerung mit den Bergbauunternehmen Buenaventura und Newmont zusammenführen sollte.
Während sich an vielen Orten Perus die Anwohner_innen gegen die extraktive Industrie wehren, versucht die peruanische Regierung die Rohstoffexporte zu erhöhen. Ollanta Humala ließ nun zeitgleich bei einem Besuch in New York verlauten, dass „die Entscheidung, das Projekt Conga voranzutreiben, nicht beim Staat, sondern bei dem verantwortlichen Unternehmen“ läge. Dies lässt die lokale Bevölkerung Cajamarcas an der Ernsthaftigkeit des Dialogforums weiter zweifeln. Schon zu Beginn des Jahres registrierte sie Baumaßnahmen bei den Seen El Azul und El Perol. Um die Lagunen zu schützen, organisierte sie Wächter_innen, die Mitte September von bewaffneten Unbekannten attackiert wurden. Die Polizei, die ein Revier in unmittelbarer Nähe des Lagers hat, ging gegen die Angreifer_innen nicht vor. Der Umweltaktivist Marco Arana Zegarra vermutet daher, dass es sich um einen gezielten Einsatz paramilitärischer Einheiten der Minenbetreiber handele.
Peruanische Nichtregierungsorganisationen wie CooperAccion, Peru im Konflikt und das Peruanische Netzwerk für eine Globalisierung mit Gleichheit belegen in Studien, dass aktuell in Peru mindestens 150 soziale Konflikte in Verbindung mit Ressourcenextraktion bestehen. Über 70 Prozent dieser Konflikte sind auf Bergbauprojekte zurückzuführen. Wenngleich offizielle peruanische Stellen diese Zahlen dementieren, kann die Regierung spätestens seit der Krise letzten Jahres die Unzufriedenheit mit ihrer bergbaufreundlichen Politik kaum mehr negieren. Umso erstaunlicher ist es, dass die Regierung Humala an ihrem neoliberalen Kurs festhält und weitere Investoren im Bergbausektor anwerben möchte.
Um auch für Investor_innen aus Deutschland attraktiv zu werden, wird die peruanische Regierung Ende des Jahres eine Rohstoffpartnerschaft mit Deutschland eingehen. Das Instrument Rohstoffpartnerschaft dient in erster Linie der Unterstützung der deutschen Industrie bei der Beschaffung von industrierelevanten Rohstoffen. Im Jahr 2005 hatte der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) mit seinem 1. Rohstoffkongress die Themen „Rohstoffknappheit“ und „Versorgungssicherheit“ platziert. Aufgrund der steigenden Weltmarktpreise für einige Schlüsselrohstoffe sorgte sich der BDI um die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland. Hierauf reagierte die damalige Große Koalition im März 2007 mit den „Elementen einer Rohstoffstrategie der Bundesregierung“, die sich wie die BDI-Forderungen lesen. Im Oktober 2010 verabschiedete das Bundeskabinett aus CDU/CSU und FDP die „Rohstoffstrategie der Bundesregierung“ und präsentierte diese auf dem dritten BDI-Rohstoffkongress. Diese Rohstoffstrategie unterstreicht den Fokus auf freien Handel mit Rohstoffen, unter anderem durch die Forderung nach weiteren Freihandelsabkommen. Ein solches wurde zwischen der EU und Peru in diesem Jahr abgeschlossen. Des Weiteren werden in der Strategie Forderungen nach einer kohärenten Rohstoffdiplomatie und der Nutzung von WTO-Klagemöglichkeiten gegen Staaten, die den Export von Rohstoffen reglementieren, formuliert. Dass es durchaus ökologische, menschenrechtliche oder wirtschaftspolitische Gründe haben kann, Exporte von Rohstoffen zu reglementieren, wird in dieser Argumentation außer Acht gelassen.
Die Rohstoffstrategie der Bundesregierung beinhaltet zudem eine stärkere Unterstützung der Industrie bei der Diversifizierung der Rohstoffquellen, zum Beispiel über staatliche Kredite und Investitionsgarantien, geologische Vorerkundungen und eine verbesserte Datenbereitstellung. Zur Beratung wurde die Deutsche Rohstoffagentur (DERA) gegründet. Die DERA forscht zu „kritischen Rohstoffen“, sprich den Rohstoffen, die für die deutsche Industrie von großer Bedeutung sind, deren Verfügbarkeit aber eingeschränkt ist.
Die verbindliche Verpflichtung zu menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten, ökologischen Standards oder die generelle Notwendigkeit den absoluten Rohstoffkonsum zu reduzieren, werden in der deutschen Rohstoffstrategie kaum thematisiert. Stattdessen werden bilaterale Rohstoffpartnerschaften abgeschlossen. In ihnen werden außen-, wirtschafts- und entwicklungspolitische Zielsetzungen eng miteinander verzahnt. Im Oktober 2011 wurde die erste Rohstoffpartnerschaft zwischen der Bundesregierung und der Mongolei unterzeichnet, weitere mit Kasachstan (Februar 2012) und Chile (Januar 2013) folgten. Die Federführung für die Verhandlungen obliegt dem Wirtschaftsministerium. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit unterstützt mit flankierenden Maßnahmen wie Aus- und Fortbildungsprogrammen.
Die peruanische Regierung begrüßt die deutsche Initiative einer Rohstoffpartnerschaft. Finanzminister Luis Castilla sagte der FAZ im Mai 2013: „Es muss ein anderes Verhältnis zwischen den drei Hauptakteuren geschaffen werden, zwischen den Unternehmen, der Anwohnergemeinschaft und dem Staat auf seinen verschiedenen Ebenen, lokal und national. Das kann durch eine ausgeglichene Entwicklung des Bergbaus und der ihn umgebenden Agrarwirtschaft erreicht werden. Dazu muss es natürlich erstens einen Dialog geben und zweitens die Achtung des Rechtsstaats, insbesondere Rechtssicherheit für Investoren. Und vielleicht am wichtigsten: Die Vorteile dieser Abbauprojekte für die Anwohner müssen erkennbar werden.“ Notwendige, tiefgreifende Verbesserungen für die Mitsprache der lokalen Bevölkerung oder verbindliche Festschreibungen von menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten sind in den bisherigen Rohstoffpartnerschaften kein zentrales Anliegen der deutschen Politik. Auch in dem Abkommen mit Peru wird die Zivilgesellschaft – ebenso wie in Deutschland – nicht in die Prozesse eingebunden. Sie erfahren meistens erst aus der Presse, dass solche Partnerschaften verhandelt werden. Wer mit welchem Mandat verhandelt, worüber gesprochen wird, welcher Art die Einbindung der Industrievertreter_innen ist, werden ihnen nicht mitgeteilt. Daher wächst die Sorge, dass durch die ungleichen Voraussetzungen der verhandelnden Staaten, die Interessen der Bevölkerung übergangen werden. So warnt zum Beispiel Carlos Monge von Revenue Watch in Peru im Interview mit dem Deutschlandradio: „Wenn also Peru an Deutschland solche Rohstoffe liefert, wären wir sehr besorgt, falls von deutscher Seite Druck ausgeübt werden sollte. Das meine ich in dem Sinne, dass Deutschland sagt, wir brauchen eure Rohstoffe und dann darauf hingewirkt würde, dass die Umwelt-, die Menschenrechts- und die Konsultationsstandards in irgendeiner Art und Weise aufgeweicht werden sollten.“
Dabei ist es Deutschland, das in erster Linie die Versorgungssicherheit seiner eigenen Industrie sicherstellt. Statt Wege einzuschlagen, die allen Menschen einen global gerechten Konsum ermöglichen, steigt durch die Rohstoffpartnerschaften der Druck auf Länder wie Peru, neue Minenaktivitäten für den Export zuzulassen. Im Jahr 2012 genehmigten die peruanischen Behörden insgesamt über 4.600 Abbaugebiete, viele davon in der schon heute umstrittenen Region Cajamarca. Dort sind heute nahezu 50 Prozent der Gesamtfläche konzessioniert, was der Größe des Bundeslandes Schleswig-Holstein entspricht.
Die seit den 1990er Jahren zunehmende Konzessionsvergabe hat dazu geführt, dass sich immer mehr peruanische Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen in verschiedenen Bündnissen organisieren. Viele von ihnen stehen in engem Austausch mit indigenen Gemeinschaften und den lokal Betroffenen. Eine zentrale Forderung an die Regierung ist die nach Mitbestimmung der lokalen Bevölkerung bei Abbauprojekten und Konzessionsvergaben. Vom Bergbau betroffene Anwohner_innen sollen frühzeitig informiert und eingebunden werden, um ihre Anliegen zu äußern und verteidigen zu können. Darüber hinaus fordern NGOs sowohl von der peruanischen Regierung als auch von transnationalen Unternehmen die Einhaltung der Menschenrechte und der ILO-Konvention 169, welche die Rechte der indigenen Gemeinschaften garantiert. Das NGO-Bündnis Alternativen zum Extraktivismus fordert diesbezüglich die Einführung von strikten Gesetzen und die Etablierung unabhängiger Kontrollgremien zu ihrer Überwachung. Lokale Anwohner_innen beklagen Vertreibungen im Zusammenhang mit Bergbauprojekten und wünschen sich einen generellen staatlichen Schutz ihrer Wohnsitze. Bisher haben sie nur die Möglichkeit, Vertreibungen im Nachhinein anzuklagen. Eine übergeordnete Forderung, die vor allem von Indigenen vertreten wird, ist die grundsätzliche Hinterfragung des westlichen Entwicklungsmodells. NGOs unterstützen diese Forderungen und betonen, dass Peru seine Rolle als Rohstoffexporteur ablegen und sich für alternative Wirtschaftsstrategien öffnen sollte. Doch nicht nur auf peruanischer Seite fordert die Zivilgesellschaft dringend notwendige Veränderungen. Auch in Deutschland setzt sich ein NGO-Bündnis, der AK Rohstoffe, für eine demokratische und global gerechte Rohstoffpolitik ein. Schon im Jahr 2010 monierte der AK Rohstoffe in dem Papier „Anforderungen an eine zukunftsfähige Rohstoffstrategie“ die Position der Bundesregierung. Im September 2013 erneuerten Umwelt-, Menschenrechts- und Entwicklungsorganisationen ihre Kritik. Anstelle weiterhin die Ziele der deutschen Industrie zu bedienen, fordern sie von der Politik eine absolute Reduktion des Rohstoffverbrauchs in Deutschland und Europa. Zudem verlangen sie verbindliche Regeln für deutsche und europäische Unternehmen im internationalen Rohstoffgeschäft. Solche Regeln würden die verbindliche Einhaltung von menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten, die Einhaltung von sozial-ökologischen Standards, Klagemöglichkeiten für Opfer von Menschenrechtsverletzungen sowie höhere Transparenz festschreiben. Zudem fordern sie eine demokratische Einbindung von Parlamenten und der Zivilgesellschaft anstelle eines privilegierten Zugangs für die Industrie. Für die Verhandlung der aktuellen Rohstoffpartnerschaft zwischen Peru und Deutschland kommen diese Vorschläge zu spät. Doch in der Ausgestaltung gibt es vielleicht noch Spielräume, denn die Unzufriedenheit mit einer Rohstoffpolitik, die sich nur auf die Versorgungssicherheit der Industrie konzentriert, wächst sowohl im globalen Süden als auch im Norden.


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„Das Thema ist Rassismus“

Wie war es möglich, dass der Verfassungsgerichtshof das Urteil gegen Ríos Montt annullieren konnte?
Nach der negativen Entscheidung des Verfassungsgerichts (CC) zum Völkermordurteil ist zu beobachten, dass sich auch innerhalb der Gerichtsbarkeit ein immer deutlicherer Widerstand gegen dieses System der Straflosigkeit entwickelt. Das CC hatte es nicht gewagt, mit seiner Entscheidung das Urteil tatsächlich zu annullieren; es forderte jedoch einen neuen Prozess, um die Annullierung auf ein anderes Gericht abzuschieben. So können wir jetzt zunehmenden Widerstand dagegen beobachten: Wir haben sechzig Jurist_innen, die sich weigern, ein Gericht zu formieren, um über neue Rechtsmittel der Verteidigung Ríos Montts zu entscheiden, das Tribunal A [des Strafgerichtshofs], das sein Mandat für den Prozess niedergelegt hat, und das Tribunal B, das im Völkermordfall weiterverhandeln soll, aber entschieden hat, sich bis zum April 2014 nicht über die Entscheidung des CC zusammenzusetzen. Das heißt, dass das Urteil gegen Ríos Montt formaljuristisch immer noch Geltung besitzt, es ist noch keine Annullierung erfolgt.

Es gibt also durchaus viele Richter_innen, die den Prozess nicht neu aufrollen möchten, weil sie das Urteil gegen Rios Montt für gerechtfertigt halten. Wie sind denn die Chancen, dass es tatsächlich Bestand haben könnte?
Die Chance bestünde, wenn sich ein neu gewähltes CC dafür entscheiden würde, politisch und nicht juristisch motivierte Urteile ihrer Vorgänger_innen, wie das zum Völkermordprozess, aufzuheben. Am Ende dieses Jahres stehen personelle Veränderungen im CC, im Obersten Gerichtshof (CSJ) und der Staatsanwaltschaft an. Der Kampf um die Aufrechterhaltung des Systems der Straflosigkeit wird sich auf diese neuen Ernennungen konzentrieren, und seine Nutznießer_innen haben schon damit begonnen, unterschiedliche Akteure wie Richter_innen und Staatsanwält_innen zu diskreditieren, um den begonnenen Prozess [der Bekämpfung der Korruption] zu unterbrechen. Deswegen ist dieser Widerstand das Mittel, das den Richter_innen bleibt, um die Gültigkeit des Urteils aufrecht zu erhalten. Im Endeffekt wird es von der weiteren politischen Entwicklung abhängen, ob sich das Blatt in die eine oder die andere Richtung wenden wird.

Wie wahrscheinlich ist es, das ein neuer CC tatsächlich aus neuen Richter_innen zusammengesetzt sein wird, die nicht durch das System der Straflosigkeit kompromittiert sind?
Es ist unwahrscheinlich, weil ihre Hintermänner alles tun, damit es keine unabhängige Beobachtung dieser Prozesse gibt. Das ist auch der Grund dafür, dass sie derartig heftig die internationale Gemeinschaft, die Entwicklungszusammenarbeit und die Vertretung des UN-Kommissariats für Menschenrechtsfragen attackieren: sie wollen den Beobachtern ihre Glaubwürdigkeit nehmen. Es sind sowohl die nationalen als auch internationalen Beobachter_innen, die in der Vergangenheit durchgesetzt haben, dass es im CSJ und dem CC unbescholtene und gerechte Richter_innen gibt und dass wir eine über alle Zweifel erhabene Generalstaatsanwältin haben. Mit diesen Attacken wird versucht, die Prozessbeobachtung in der öffentlichen Meinung zu delegitimieren, damit gesagt wird: „Das sind Guerriller@s, das sind Terrorist_innen, die wollen, dass Guatemala kommunistisch wird“.

Mehrfach sprachen Zeugen des Prozesses über die Rolle des heutigen Präsidenten Molina als Kommandant der Armee während des Bürgerkriegs in der Ixil-Region. Was hat man von ihm und seiner Regierung bis zur möglichen Wiederaufnahme des Prozesses zu erwarten?
Es gab drei Momente während des Prozesses, in denen heutige politische Akteure genannt wurden. Einer war die Aussage eines ehemaligen Armeemechanikers und ein weiterer die Zeugenaussage des Generals Quilo Ayuso. Sein Gutachten stützt absolut die These der Anklage in Bezug auf die Befehlskette und die Verantwortlichkeit des Generals Ríos Montt für die getroffenen Entscheidungen. Beide Aussagen zeigen die geteilte Verantwortlichkeit sowohl des heutigen Präsidenten als auch der Militärs und gewisser Akteure aus der Oligarchie an den Menschenrechtsverletzungen während des bewaffneten Konflikts. Und es war General Ríos Montt selbst, der über die Befehlskette innerhalb der Streitkräfte sagte: „Ich bin nicht verantwortlich, sehr wohl aber…“ und dann zwar nicht mit Namen, sehr wohl aber mit dessen damaligem Posten Otto Pérez Molina erwähnte.
Die Verantwortlichkeiten von damals lassen sich nicht mehr verbergen, und deswegen ist der heutige Präsident ein weiterer mächtiger Akteur, der ein Interesse an der Annullierung des Prozesses hat. Wenn die neuen Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs gewählt werden, wird eines von ihnen direkt vom Präsidenten ernannt, ebenso wie der oder die Generalstaatsanwält_in. Diese beiden Entscheidungen sind in seinen Händen und er wird mit ihnen seine künftige Strafverfolgung zu verhindern versuchen.

Neben den Befehlshabern im Militär, gab es sicher auch Akteure, die Profit aus den Verbrechen des Krieges zogen, indem sie sich zum Beispiel widerrechtlich Land aneigneten. Sind also weitere Prozesse zu erwarten?
Im Augenblick kann ich das nicht sehen. In Fällen, in denen Land geraubt wurde, handelt sich nicht um Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern um die widerrechtliche Aneignung von Land. Ganz anders sieht das zum Beispiel bei außergerichtlichen Hinrichtungen aus, bei denen das Drängen auf Gerechtigkeit effektive Fortschritte gebracht hat. Damals waren es die Partei der „Bewegung für die Nationale Befreiung“ (MLN) und die geheime antikommunistische Armee, die „Mano Blanca“ (weiße Hand), in denen sich illegale paramilitärische Kräfte sammelten. Gegen diese Akteure wird es Prozesse geben. Das scheint besonders wichtig, weil gerade diese Gruppen wieder erstarken.

In vielen Teilen der guatemaltekischen Bevölkerung ist Widerstand gegen den Prozess zu spüren. Wie kommt es dazu?
Es gibt in der mestizischen und ladinischen Bevölkerung die rassistisch gefärbte Angst davor, dass die Indigenen zurückkehren könnten, um sich ihr Land wieder zu nehmen und alle nicht-Indigenen von ihrem Territorium zu vertreiben. Und genau diese rassistische Ideologie nutzt die kreolische Oligarchie, die sich als „reinrassig“ und nicht-indigen versteht, um ihre politische und ökonomische Macht über das Land und den Staat zu erhalten. Und weil sie den Völkermordprozess stoppen wollen, haben sie den Mythos kreiert, dass ein Urteil gegen Ríos Montt wegen Völkermords eine Verurteilung von uns allen bedeuten würde. Das wichtigste Thema dieses Prozesses ist für mich deshalb nicht der Völkermord – er ist wichtig, aber dahinter steckt Rassismus und die damit zusammenhängende eliminatorische Ideologie. Der Völkermord ist ihr deutlichster Ausdruck, aber er gründet sich auf den Rassismus, und das wird gerade so deutlich wie nie zuvor.

Infokasten:

Claudia Samayoa

ist Master der Philosophie und hat danach Konfliktbearbeitung und Politik studiert. Sie ist Menschenrechtsverteidigerin und Gründerin und Koordinatorin der Vereinigung zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger_innen in Guatemala (UDEFEGUA), die in diesem Jahr 14 Jahre alt wird.


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Langsam wachsen statt schnell entwickeln

Hidroíntag sieht den Bau von zehn kleinen Wasserkraftwerken mit einer Gesamtleistung von 100 Megawatt vor, um die Region mit Strom zu versorgen. Überschüsse sollen verkauft und damit der Bau von Straßen, Schulen und Gesundheitszentren finanziert werden. Dadurch dürfte neben einer autarken Stromversorgung auch mehr Geld in die Kassen der Gemeinden fliessen, zahlreiche Arbeitsplätze würden geschaffen. Letztes Jahr waren Sie optimistisch, dass noch 2012 das erste Kraftwerk gebaut werden kann. Wie steht es jetzt um das Projekt?
Als die Finanzierung der Studie für das Wasserkraftwerk in Nangulví mit Hilfe der finnischen Regierung bewilligt war, gab es eine direkte Intervention der Regierung. Wir erhielten im Oktober 2012, als wir ein Konto eröffnen wollten und eine Administration für das Projekt suchten, ein Schreiben der Regierung mit einem formalen Einspruch des Ministeriums für erneuerbare Energien. Dort werden zwei widersprüchliche Argumente angeführt: Zum einen heißt es, das Projekt sei sehr klein, Investitionen in Ecuador sollten jedoch auf Großprojekte abzielen, die auf nationaler Ebene wiederholbar wären – und dafür sei dieses Projekt zu klein. Zum anderen hieß es: Ein Gemeinderat – das wäre in diesem Fall der Gemeinderat von Peñaherrera – könne ein solch großes Projekt nicht stemmen. Vor kurzem erfuhren wir, dass die Regierung Correa eine Übereinkunft mit Privatfirmen in Höhe von 700 Millionen US-Dollar für den Bau von kleinen Wasserkraftwerken getroffen hat. Und ein gemeindebasiertes Projekt wie unseres wird einfach zur Seite geschoben.

Die Regierung will mit dem Bergbauvorhaben „Llurimagua“ die Kupfervorkommen fördern. Früher hieß die Konzession „Junín“, so wie das Dorf, das ganz unmittelbar betroffen ist. Werden die Leute sich noch einmal gegen den Bergbau stemmen?
Ich weiss nicht, wie die Leute reagieren würden, wenn morgen eine Gruppe von Minenarbeitern in Junín ihr Lager aufschlägt. Sehr wahrscheinlich würden die Bewohner von Junín den Minenarbeitern den Zugang verwehren. Als vor einigen Monaten das staatliche Minenunternehmen ins Intag kam, um sich den Gemeinden anzunähern und zu einer Reihe von Workshops in den Dörfern einlud, sprachen sich die Einwohner in allen Ortschaften einstimmig und öffentlich gegen den Bergbau aus. In Peñaherrera und Junín konnten sie den Workshop nicht einmal durchführen.

Wird es möglich sein, den Kaffeeanbau, den Tourismus und andere Projekte fortzuführen, solange die Explorationsarbeiten laufen?
Genau das ist unser Part: Weitermachen. Aber es gibt eine ganz andere Gefahr: Dass sie beginnen, viele Leute anzustellen, und sei es fürs Nichtstun. Das ist ein Mittel, Leute ruhigzustellen. Dadurch wird jedoch die Arbeitskraft teurer. Das ist auch damals in Junín passiert, als die Bergbaufirma Ascendant Copper viele Leute unter Vertrag nahm. Viele Fincas, Geschäfte und Viehzuchtbetriebe mussten damals aufgeben. In der Nachbarregion Manduriaco, wo ein großes Wasserkraftwerk gebaut wird, geschieht genau das im Moment. Das Kraftwerk gibt mit 25 US-Dollar pro Tag den Preis vor, aber damit können wir nicht konkurrieren. Der Lohn in der Landwirtschaft liegt bei 15 US-Dollar.

Gibt es denn dort für alle Arbeit?
Nein, aber niemand arbeitet dort mehr für einen niedrigeren Lohn. Die Leute gehen dann lieber nach Quito auf Jobsuche, arbeiten als Polizisten, bei Wachdiensten oder als Fahrer. Das ist kein besseres und auch kein ruhigeres Leben, aber sie haben die Sicherheit, am Monatsende einen Lohn zu erhalten. Für Bauern gibt es diese Sicherheit nicht, die Bedingungen in der Landwirtschaft sind prekär: Keine Versicherungen – und die Produktivität ist niedrig. Wir haben hier keine Landwirtschaft, die den Wettbewerb mit der Stadt gewinnen könnte. Laut Zensus ist die Bevölkerung im Intag im Zeitraum von 2000 bis 2010 um fünf Prozent zurückgegangen.

Warum sind die Bedingungen in der Landwirtschaft so prekär?
Die Topographie im Intag ist extrem: 85 Prozent der Fläche liegt an Hängen, die steiler sind als 35 Grad. Deshalb ist Intag eigentlich nicht für die Landwirtschaft bestimmt. Intag wurde vor etwas mehr als 100 Jahren vor allem von Vertriebenen und Landlosen der Haciendas aus der Sierra besiedelt. Armut und Landnot trieben sie her. Hier gab es Land und das nahmen sie sich. Zwei Generationen lang konnten die Siedler eine hohe Produktivität durch Fläche erzielen. Doch jetzt sind die Böden erschöpft. Die Landwirtschaft ist nicht mehr rentabel, die Jugend wandert ab. An diesem Punkt wäre eine Intervention angebracht, die logischerweise vom Staat hätte kommen sollen, um eine Landwirtschaft zu fördern, die an die Steilhänge, die hohen Niederschläge und die starke Sonneneinstrahlung angepasst ist. Das ist jedoch nie geschehen. In diesem Kontext entstehen die sozialen, landwirtschaftlichen und Umweltorganisationen des Intag, denn auf der anderen Seite tauchte der Staat dann doch auf: mit der Anordnung, das Land zu entvölkern, um Platz für Bergbau und Infrastruktur zu machen.

Wann war das?
Etwa vor zwölf bis 15 Jahren. In diesem Kontext tauchen die Initiativen für Agroforst auf. Das ist die „Alternative“ für die landwirtschaftliche Produktion in solchen Regionen, in denen die einzige „Kultur“ mit Potential der Baum ist. Bäume schaffen ihre eigene Biomasse und ihre eigene Fruchtbarkeit, die die Böden hier sofort verlieren, wenn die Bäume gefällt werden. Agroforst ist also die große Herausforderung für die Organisationen. Und ohne finanzielle Ressourcen.

Gab es Unterstützung durch die Behörden?
Nein, in der Geschichte des Intag dürfte die Unterstützung der Organisationen durch die Behörden insgesamt nicht einmal 20 Prozent betragen. Finanzielle Mittel erhielten wir von kleinen Organisationen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. Doch um alternative Modelle zu entwickeln, braucht es auch einen kulturellen Wandel. Die Siedler wissen nicht, dass man mit dem Wald arbeiten, einen neuen Wald schaffen muss. Dafür ist ein Wandel der Mentalität nötig. Ein anderer Faktor, der uns viele Schwierigkeiten bereitet, ist die Bildung.

Weshalb erachten Sie das als schwierig?
Ein Teil jenes „Pakets“, um den Leuten die Souveränität zu nehmen und zu erreichen, dass sie für den Markt arbeiten, war in den 1970er und 1980er Jahren die Bildung. Die Vermittlung von Werten, die von außen kommen: Markt, Fortschritt, Entwicklung. Das nationale Bildungsmodell – und das sage nicht nur ich, das sagen landesweite Untersuchungen und der Präsident selbst erkennt das alle halbe Stunde an, ohne daran etwas zu ändern – ist dazu gemacht, die Menschen vom Land wegzuholen. Die Spezialisierungen hier an den Schulen sind Handel, Verwaltung und Rechnungswesen. Gut, es gibt auch „Landwirtschaft“, aber dort wird die Mentalität der Agroindustrie vermittelt.

Gibt es denn Mikrokredite oder andere Hilfen?
Nein. Ein Kredit für langwierige Prozesse wie den Kaffeeanbau, müsste sieben bis zehn Jahre laufen, damit er abbezahlt werden kann. Auch wenn das System, mit dem wir arbeiten, dir ab dem ersten Jahr ein Einkommen bringt – die Kaffeepflanze liefert erst ab dem fünften Jahr einen guten Ertrag. Keine Bank in Ecuador gibt dir Geld dafür. Unsere Bauern haben aus eigener Tasche investiert. Deshalb geht alles sehr langsam.

Ermüdet das die Leute?
Es bewirkt vor allem, dass die Menschen die neuen Wirtschaftsstränge in der Region kaum sehen. Die Kooperation der Werkstätten des Gran Valle und die Vereinigung der Kaffeebauern bewegen jährlich mehr als 500.000 US-Dollar, die hier in der Region bleiben. Es handelt sich dabei nicht um große Infrastrukturmaßnahmen, aber es könnten neue Einkommensmöglichkeiten für viele Familien sein.

Infokästen:

José Cueva
Der 39-jährige José Cueva lebt seit 1997 im Intag. Seine Frau und er betreiben dort eine Finca und bauen unter anderem Kaffee, Bananen und Zuckerrohr an. Der Agronom ist Mitbegründer der Kaffeebäuer_innenkooperative AACRI und Koordinator des Dachverbandes „Coordinadora Zonal de Intag“, in dem sich Gemeinden, Lokalregierungen und soziale Organisationen zusammengeschlossen haben, um soziale und Umweltprobleme der Region zu lösen.

Der Kampf im Intag
Seit den 1990er Jahren kämpfen Bewohner_innen der tropischen Bergregion Intag im Nordwesten Ecuadors (Provinz Imbabura) gegen die Umsetzung von Bergbaulizenzen. Bisher haben sie 23 Lizenzen abgewehrt und dabei auch schon mal die von Minenunternehmen geschickten Paramilitärs friedlich entwaffnet. Gleichzeitig begannen die Einwohner_innen, nachhaltige Alternativen für die Region zu entwickeln: Kaffeeanbau, Ökotourismus, Ökolandbau, Aufforstung, Bildungsprojekte.
Jetzt will die Regierung Correa den „Kupferschatz“ von geschätzten 2,2 Mio. Tonnen in unmittelbarer Nähe eines der 34 Hotspots mit der höchsten Artenvielfalt weltweit heben. Ecuador brauche dieses Geld, sagte der Präsident jüngst in Berlin auf einer Veranstaltung an der TU Berlin, für die Beseitigung der Armut im Land. Mitglieder des deutschen Solivereins Intag e.V. haben gemeinsam mit der Organisation Rettet den Regenwald e.V. mehr als 61.000 Unterschriften gegen dieses Vorhaben gesammelt und dem ecuadorianischen Minister für Strategische Sektoren, Rafael Poveda Bonilla, in Berlin übergeben. Der nachhaltigere Entwicklungsweg sei ein Weg ohne Bergbau im Intag, fordern die Bergbaugegner_innen.
Weitere Informationen: Intag e.V., Dokumentarfilm Under Rich Earth, Coordinadora Zonal de Intag


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Frischer feministischer Wind in Ecuador

Der feminismo popular besteht seit 30 Jahren – nun hört man, er sei wieder aktuell. Wie ist das zu verstehen?
Die Wurzeln des feminismo popular in Ecuador liegen im Marxismus. Er ist an den Kampf der Arbeiterklasse gebunden, an die weibliche Bevölkerung aus den Armenvierteln, die Landarbeiterinnen und indigenen Frauen. Daher heißt er feminismo popular. Zentral für diesen Feminismus ist der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit. Heute sehen wir aber noch andere Widersprüche. Außerdem sind neue Themen, Forderungen und Organisationsräume dazu gekommen.

Welche Themen sind das?
Neben der Klassenunterdrückung werden die Diskriminierung der Frau, sexuelle Unterdrückung sowie das Thema der Kolonialisierung und des ererbten kolonialen Staats komplex diskutiert.
Ein weiterer Schwerpunkt ist die Analyse des aktuellen Entwicklungsmodells, um es fundiert kritisieren und dagegen ankämpfen zu können. Wir wollen den Neoliberalismus mit seiner Strategie der Territorialisierung und Kolonialisierung verstehen – und auch die Rolle, die den Frauen darin zugedacht ist.
Neu ist auch, dass die Natur im Mittelpunkt steht. Natur wird dabei nicht als Objekt oder abstraktes Symbol verstanden, sondern als Pachamama (Anm. d. Red.: personifizierte Mutter Erde), als ein Subjekt mit Rechten, so wie es in der ecuadorianischen Verfassung festgelegt ist.

Geht diese feministische Strömung von den armen, einfachen und benachteiligten Frauen aus?
Ja, auf jeden Fall. In Ecuador gab es seit den 1980er Jahren bis Anfang der 2000er Jahre eine Gender-Agenda, eingeführt durch die Institutionen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. Bereits bestehende feministische Positionen, selbst die Diskussion über patriarchale Strukturen, wurden nicht berücksichtigt. Ziel dieses liberalen Feminismus war die Durchsetzung von Frauenrechten auf institutioneller Ebene. Die Zielgruppe waren Frauen der städtischen Mittelklasse. Es handelte sich um einen Entwicklungshilfe-Feminismus in einer kolonialen Form, der nicht nur von oben, sondern auch von außen eingeführt wurde.
Im Gegensatz dazu erleben wir jetzt einen Feminismus, der sich als Ausdruck von Diversität versteht. Diversität nicht im postmodernen Sinn, als multikultureller Raum, sondern ausgehend von den historischen strukturellen Ungleichheiten. Hier finden sich die unterschiedlichsten Frauen zusammen: Indigene, Bäuerinnen, Hausfrauen, Arbeiterinnen in den Mangrovenwäldern, Studentinnen, Aktivistinnen gegen den Bergbau und Hausangestellte.
Wichtig ist uns der Bezug auf die Geschichte, denn wir fangen nicht in den 80er Jahren an, sondern wir haben Wurzeln und Vorbilder: Frauen, Indigene, Bäuerinnen aus der Geschichte Mitglieder der kommunistischen Partei der 20er und 30er Jahre. Darunter befinden sich wichtige politisch wegweisende Frauengestalten, die nicht unbedingt Feministinnen waren.

Ein Feminismus also, der sich als links definiert?
Das kommt darauf an. In Venezuela existiert ein klarer marxistischer Feminismus, der sich in der sozialistischen Struktur versteht. In Ecuador ist das nicht so: Für die Indigenen gibt es andere Ansätze der Partizipation und Emanzipation.

Welche politischen Ursachen gibt es Ihrer Meinung nach für die Entwicklung dieser neuen feministischen Strömung?
Vorbereitet wurde dies durch Frauenorganisationen wie Luna Creciente, die seit den 80er Jahren landesweit eine Organisationsstruktur für Frauengruppen, Indigene, Afrofrauen, Bäuerinnen und städtische Frauen aufgebaut haben.
Heute sind Aktivistinnen oft Teil diverser, gemischter Strukturen. Man kann die indigenen Frauen nicht aus der gemischten Struktur des Dachverbandes der Indigenen Ecuadors (CONAIE) herausnehmen, damit sie ausschließlich einer feministischen Gruppe angehören. Sie benötigen den Kontext, aus dem sie kommen, wollen ihre Themen aber gleichzeitig aus feministischer Sicht diskutieren.
Allein dadurch, dass Correa Präsident ist, gibt es noch keinen Feminismus, wie manche meinen. Im Gegenteil: Völlig unabhängig von Correa sind die Frauenorganisationen in den letzten zehn Jahren gewachsen.
Unter Correas Regierung wurde hingegen wieder ein Entwicklungshilfe-Feminismus eingeführt, der liberale Forderungen wie eine Frauenquote für politische Ämter in den Mittelpunkt stellt. Es gibt nun 36 Prozent Frauen in Führungspositionen in den Ministerien, 33 Prozent der Parlamentsabgeordneten sind Frauen. Da kann man sagen: Da hat sich etwas getan!
Aber für uns ist dieser Ansatz nicht vollständig. Das aktuelle Entwicklungsmodell bringt eine Steigerung des Reichtums mit sich, der gerecht, auch geschlechtergerecht, verteilt werden sollte.
Teil der Verteilungsstrategie der Regierung sind die stark gestiegenen Sozialleistungen für Bedürftige, ohne eine Änderung der grundlegenden Ordnungsmuster in den Armenvierteln herbeizuführen. Diese Politik schafft Ungleichheit, Armut und Gewalt in den weiterbestehenden patriarchalen Sozialgefügen.

Welche Rolle spielt die feministische Nationalversammlung Asamblea Nacional de Mujeres Populares y Diversas del Ecuador AMPDE?
Als Organisation existiert sie seit vier Jahren. Sie ist ein diverser politischer Raum, eine Art Sammelbecken, im positiven Sinn, für die Kämpfe und Forderungen lokaler Frauenorganisationen aus dem ganzen Land.
Vor Ort bearbeiten sie Themen wie Geschlechtergewalt und Abschaffung patriarchaler Strukturen. Sie sehen sich jedoch nicht unbedingt als Feministinnen.
Es begann mit der Verfassungsdebatte, gemeinsam mit anderen Gruppen diskutierten und erarbeiteten wir Vorschläge. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, einen gemeinsamen Raum, eine gemeinsame Struktur zu finden.
Im vergangenen Jahr haben wir mit Organisationen zusammengearbeitet, die in anderen politischen Räumen engagiert sind. Thematisch standen dabei im Mittelpunkt: Chancengleichheit, Gewalt an Frauen im Hinblick auf das neue Strafgesetz, Gesetz über soziale und solidarische Ökonomie, Recht auf Trinkwasser, Ernährungssouveränität. Faszinierend ist, wie es bei aller Unterschiedlichkeit gelingt, gemeinsame politische Positionen zu finden.

Die Themen sind also sehr unterschiedlich, je nachdem, was die Frauen in ihrem Lebensbereich bewegt…
Nein, eigentlich nicht. Wir untersuchten die Themen, die die Frauen in die Asamblea einbringen, und stellten fest, dass sich diese wiederholen. Meistens sind es Konflikte um Naturressourcen – Energie, Wasser, Land, Ernährungssouveränität. Ein anderer Schwerpunkt ist Arbeit: würdige Arbeit, gerechte Entlohnung, Hausarbeiterinnen, soziale Sicherheit. Gewalt und die Debatte über eine soziale und solidarische Wirtschaftsordnung sind weitere Themenbereiche.

Wie können Sie ihre politischen Vorschläge und Forderungen in die aktuelle politische Agenda einbringen?
Bei den Gesetzesdebatten mobilisierten wir rund 1.000 Frauen, zu drei landesweiten Treffen kamen jeweils ca. 700 Teilnehmerinnen. Bei Veranstaltungen mit anderen Organisationen und politischen Autoritäten wurden gemeinsame Erklärungen aufgesetzt. Wichtig sind auch die Ergebnisse der Protestmärsche. Aus den Diskussionen im Umfeld der Demonstration vom 22. März ergab sich ein 16-Punkte-Katalog.
Darüber hinaus engagieren wir uns aber auch in anderen Räumen, zum Beispiel in akademischen Zusammenhängen und anderen Foren.

Welche Bedeutung hatte die Demonstration am 22. März für die AMPDE?
Es begann sehr konfliktreich, bereits am 8. März. Die linken Frauen schlugen den Frauentag als Beginn der Aktionen vor, die in der Demonstration des 22. März „für das Wasser, das Land und die Würde“ gipfeln sollten. Die Regierung jedoch organisierte eine Gegenveranstaltung zum 8. März: Regierungsfreundliche Frauen wurden mobilisiert, um in Quito zur Schau zu stellen, dass Frauen die Bürger_innenrevolution unterstützen.
Am 10. März fand der internationale Marsch der Huren (putas) statt, ein wahrhaft historisches Ereignis, mit dem der Begriff der Hure sprachlich angeeignet und von verschiedenen Frauenorganisationen positiv besetzt wurde. Dem folgte am 20. März der Marsch der landwirtschaftlichen Organisationen zu Gesetzen über Agrodiversität und Ernährungssouveränität. Hier bot sich durch Unterschriftensammlungen eine der seltenen Gelegenheiten zur unmittelbaren politischen Partizipation der Bevölkerung, die die Verfassung zulässt.
Und schließlich der Marsch vom 22. März, an dem wir als Asamblea de Mujeres teilgenommen haben. Es gelang uns, gemeinsam mit anderen Organisationen viele Teilnehmerinnen zu mobilisieren und es gab interessante Debatten.

Wie ist das Verhältnis der verschiedenen feministischen Strömungen und Organisationen untereinander? Gibt es Kooperationen?
Die Regierung hat hier viel zerstört…

Zerstört?
Ja, zerstört – aber nicht, weil sie bewusst zerstören wollten. Dadurch, dass die Regierung selber als Akteur auftritt, verlangt sie den Aktivistinnen ab, Position zu beziehen. Die Frauenorganisationen fragen sich nun, ob sie auf Regierungsseite stehen oder sich in einer sozialen Bewegung engagieren. Das ist eine komplexe Situation.
Beim Marsch der Huren am 10. März warf man uns als Asamblea vor, wir kritisierten die Regierung. Diesen Vorwurf hören wir oft, denn wir hinterfragen und begnügen uns nicht mit Vorschlägen der Regierung.
Andere Organisationen wie die transsexuellen und lesbischen Genoss_innen sehen das anders. Sie haben durch diese Regierung nun endlich eine Anerkennung erfahren, eine Ministerin ist Mitglied der Organisation lesbischer Frauen, und das ist wichtig für sie.
Für uns ist ihre Anerkennung auch wichtig, aber das ändert nichts daran, dass es immer noch Gewalt und Ungerechtigkeit gibt.
Wo bleibt die Verbesserung der sozialen Rechte? Wo bleibt die Umsetzung der Land- und Wassergesetze?
Dafür kämpfen wir weiter.

Kasten:

Alejandra Santillana
ist Aktivistin der Asamblea Nacional de Mujeres Populares y Diversas del Ecuador (AMPDE) und Projektkoordinatorin im Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Quito.


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Widersprüchliche Bilanz

René Ramirez, früherer Planungsminister, schrieb im Jahr 2010 im Hinblick auf Ecuadors Entwicklungsstrategie, dass „das größte Alleinstellungsmerkmal Ecuadors seine Biodiversität ist, und sein größter Wettbewerbsvorteil darin liegt, sie durch ihren Erhalt und den Aufbau von Bio- und Nanotechnologie zu nutzen.” Der derzeit gültige Entwicklungsplan 2009-2013 sieht als Hauptziele eine umverteilende Politik und den Umbau der Wirtschaft zu einem neuen Modell vor.
Wie weit ist dieser Umbau heute, im sechsten Jahr der Regierung von Präsident Rafael Correa, gediehen? Die Förderung und der Export von Öl haben heute wirtschaftlich dasselbe Gewicht wie in der Ära des Erdölbooms der 1970er Jahre. Der Staatshaushalt ist in hohem Maße von diesem Wirtschaftszweig abhängig. 2010 machten Rohstoffe mit etwa 77 Prozent immer noch über drei Viertel des Exportvolumens aus, gegenüber lediglich 23 Prozent exportierter Produkte aus der verarbeitenden Industrie. Tourismus, Dienstleistungen und Landwirtschaft befinden sich, anstatt zu expandieren, eher in einer leichten Rezession. Die Agrarpolitik setzt auf industrielle Produktion für den Export oder für Supermarktketten, und benachteiligt die Kleinbauern und -bäuerinnen.
Anstatt ein neues Wirtschaftsmodell zu entwickeln, weitet die Regierung das alte Akkumulationsmodell aus. Obwohl Ecuador kein Land ist, in dem Bergbau traditionell eine relevante Rolle gespielt hätte, setzt die Regierung Correa nun auf industriellen Tagebau als weitere Einkommensquelle für den Staat. So unterschrieb er Anfang März 2012 den ersten großen Vertrag mit einem kanadisch-chinesischen Konzern. Regierungsmedien wie El Telegrafo feierten den Beginn der Ära des „verantwortlichen Tagebaus”, in dem der Staat eine größere Kontrolle über die Branche ausübe.
Bergbauexperten wie William Sacher oder Alberto Acosta bezweifeln jedoch, dass es einen verantwortlichen Tagebau geben kann. Die Erfahrungen aus ähnlichen Projekten in Lateinamerika sprechen jedenfalls dagegen. Es erscheint fraglich, ob die Regierung eines kleinen Staates wie Ecuador die konkrete Praxis transnationaler Bergbau-Konzerne in Bezug auf Umwelt- und Sozialstandards effektiv kontrollieren kann. Diese wechseln nämlich innerhalb eines hochdynamischen und -spekulativen Markts extrem häufig ihren Sitz und damit ihre Rechtsform, und sind deshalb juristisch kaum haftbar zu machen. So bleibt die Verantwortung für die entstandenen Schäden an der Umwelt und der lokalen Bevölkerung, die nach 25 bis 30 Jahren Tagebau ihre Subsistenzgrundlage verloren haben wird, bei der ecuadorianischen Regierung. Dies macht die Rentabilität des Tagebaus auf lange Sicht zweifelhaft.
Vierzehn weitere Tagebau-Großprojekte stehen auf der Prioritätenliste von Ressourcenminister Wilson Pastor, vier davon sind bereits fortgeschritten. Ebenso vorgesehen ist die Ausweitung der Ölförderung auf den Südosten des ecuadorianischen Amazonasgebiets, der einzigen relativ intakten Regenwaldfläche des Landes außerhalb des Yasuní Nationalparks. Wird dies umgesetzt, würde das statt der Umwandlung des extraktiven Akkumulationsmodells seine Intensivierung und flächenmäßige Ausweitung bedeuten, mit dem entsprechenden Verlust an Biodiversität und an Möglichkeiten für einen nachhaltigen Tourismus als alternative Einnahmequelle. Die Überwindung des Extraktivismus wird innerhalb der politisch recht heterogenen Regierung heute tatsächlich nur noch von einer Minderheitenströmung politisch gewollt. Präsident Correa, die einzige Figur, die diese von links bis rechts reichenden Strömungen zusammenhalten kann, sagte in einer Bilanz der ersten fünf Jahre „Bürgerrevolution“: „Im Grunde machen wir innerhalb desselben Akkumulationsmodells die Dinge einfach nur besser, denn es ist nicht unser Wunsch, den Reichen zu schaden; aber wir haben die Absicht, eine gerechtere und gleichberechtigtere Gesellschaft zu schaffen.” Immer wieder betont der Staatschef, dass es unverantwortlich wäre, „wie Bettler auf einem Sack Gold zu sitzen”, indem man Ölfelder oder Kupfervorkommen nicht ausbeute, und bezeichnet die Gegner des Extraktivismus als „infantil”, „fundamentalistisch” oder gar als „Steinzeitmenschen”.
Die in der Verfassung verankerten Rechte der Natur, ebenfalls Teil der visionären Konzepte, mit denen Ecuador seit Rafael Correa international bekannt geworden war, erfahren eine recht dürftige und höchst widersprüchliche Umsetzung. Zwar sind, wie in allen anderen Bereichen des Staates auch, die Mittel für den Umweltschutz aufgestockt worden, doch funktioniert das größte Waldschutzprogramm Socio Bosque in sehr konventionellen Bahnen. Es bietet Waldbesitzer_innen Kompensationszahlungen gegen vermiedene Entwaldung, ganz in der Logik des grünen Kapitalismus und der Merkantisilierung der Natur, gegen die Correa sich erst kürzlich im Rahmen von Río +20 ausgesprochen hatte. Auch der Erhalt des Yasuní-Nationalparks ist inzwischen weitgehend ein REDD+-Projekt (siehe Kasten).
Deutlichere Erfolge als in der Überwindung des Extraktivismus wurden bezüglich der umverteilenden Rolle des Staates erzielt. Die durch neue Konditionen in der Ölförderung, aber auch durch die hohen Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt erzielten Einnahmen werden in einer Kombination neoliberaler und sozialdemokratischer Instrumente unter die Leute gebracht: Zum einen handelt es sich um an die Ärmsten gerichtete, konditionierte Transferleistungen (der bono de desarrollo humano beträgt beispielsweise 36 US-Dollar pro Monat), die eine Fortsetzung neoliberaler Abfederungsmaßnahmen bedeuten, allerdings in größerem Maßstab. Zum anderen werden aber auch klassisch sozialdemokratische Politiken umgesetzt, wie die Einführung progressiver Steuern und die Erhöhung der Sozialausgaben mit dem universalistischen Anspruch, kostenlose Gesundheitsversorgung und Bildung für alle verfügbar zu machen.
Doch wenn auch in der Sozialpolitik ein Wille zu mehr Gleichheit zu erkennen ist, wirft der Umgang der Regierung mit den teils heftigen Konflikten, die sowohl die Vertiefung des Extraktivismus als auch der Bau von großen Wasserkraftwerken nach sich ziehen, ernsthafte Zweifel an ihrem Willen auf, auch mehr Freiheit für die ecuadorianische Bevölkerung zuzulassen.
Ein im ersten Halbjahr 2012 von Amnesty International veröffentlichter Bericht wirft der Regierung Correa die systematische Kriminalisierung des Rechts auf Protest vor. Die Organisation kritisiert, dass Strafrechtsparagraphen zu extrem interpretierbaren Delikten wie “Terrorismus” und “Sabotage” angewendet werden, die während der Militärdiktatur der 1970er Jahre eingeführt wurden. Zehn Personen sitzen aufgrund von Verurteilungen wegen Terrorismus oder Sabotage bereits Haftstrafen von bis zu 8 Jahren ab, einige sind abgetaucht, und gegen etwa 210 weitere Menschen wird derzeit noch ermittelt. Auch wenn viele dieser Ermittlungsverfahren aus Mangel an Beweisen letztlich eingestellt werden, wirken sie doch einschüchternd und verhindern durch den damit verbundenen hohen Zeit- und Geldaufwand, dass indigene und ländliche Aktivist_innen ihr demokratisches Recht auf Protest wahrnehmen können. Darüber hinaus bemängelt Amnesty, dass Protestierende in aufwendigen Werbekampagnen von der Regierung als undemokratische Destabilisierer und Putschisten diffamiert werden, wie es anlässlich einer großen Demonstration im März 2012 geschehen war (siehe LN 455).
Amnesty International konstatiert weiter: „Der Staat hat das Recht auf Vorabbefragung [der indigenen Gruppen] systematisch missachtet und den Gemeinden wenig andere Auswege als den Protest gelassen”. Analysiert werden vor allem die Verabschiedung des umstrittenen Bergbaugesetzes 2009 und die versuchte Verabschiedung des Wassergesetzes 2010, die beide zu indigenen Aufständen und Demonstrationen, Dutzenden schwer Verletzten und einem Toten führten.
In diesem Zusammenhang hat die indigene Bewegung vor kurzem einen international bedeutsamen Erfolg errungen: Nach zehn Jahren Widerstand verurteilte am 23. Juni der interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof den ecuadorianischen Staat wegen einer Reihe von Rechtsverletzungen an der amazonischen Kichwa-Gemeinde Sarayaku. Dort hatte der argentinische Ölkonzern CGC in den 1990er Jahren Probebohrungen durchgeführt. Die entsprechende Lizenz wurde erteilt, ohne dass die Bevölkerung vorher befragt wurde. Der Konzern hatte die Bewohner_innen schikaniert und vertrieben, und schließlich bei seinem Rückzug erhebliche Mengen von Sprengstoff im Boden hinterlassen. Der ecuadorianische Staat wurde nun zu Reparationszahlungen und zur Entfernung des Sprengstoffs verurteilt.
Für die Zukunft wichtig ist, dass das Urteil die Verpflichtung zur Vorabbefragung indigener Völker betont und Ecuador auffordert, entsprechend gesetzgeberisch aktiv zu werden, was ihm eine Relevanz weit über Ecuador hinaus verleiht. Der Justiziar von Rafael Correa, Alexis Mera, verlautbarte nach dem Urteil, der ecuadorianische Staat werde die Entschädigung zwar zahlen, sich das Geld jedoch von Expräsident Lucio Gutiérrez zurückholen. Die Regelung der künftigen Durchführung von Vorab-Befragungen liegt seit vielen Monaten beim ecuadorianischen Parlament.

Kasten:

Visionäre Idee mit holpriger Umsetzung

Die Idee hat das Potential, die Logik des Extraktivismus grundlegend in Frage zu stellen: Im Nationalpark Yasuní im ecuadorianischen Amazonastiefland lagern in den drei Ölfeldern Ishpingo, Tiputini und Tambococha 846 Millionen Barrel (1 Barrel = 159 Liter) Erdöl – etwa 20 Prozent der gesamten Reserven des Landes. Auf Vorschlag des früheren Erdölministers Alberto Acosta will Ecuador das Erdöl im Boden lassen, sofern von internationaler Seite 3,6 Milliarden US-Dollar aufgebracht werden. Dies entspricht der Hälfte der erwarteten Einnahmen, würde Ecuador das Öl fördern. Das Geld soll nicht in die Staatskasse, sondern in einen Treuhandfonds fließen, welcher der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) unterstellt ist und aus dem unter anderem alternative Energien und Aufforstungsprojekte gefördert werden sollen. Bliebe das Öl wirklich unter der Erde, hätte das positive Auswirkungen für die in dem Gebiet lebenden Indigenen, die Erhaltung der Biodiversität der Region und das Klima. International hat die Yasuní-ITT-Initiative viel Lob erfahren, das finanzielle Engagement potentieller Geber_innen fällt jedoch bescheiden aus. Laut offiziellen Angaben hat Ecuador sein Ziel, bis Ende 2011 100 Millionen US-Dollar einzusammeln, zwar erreicht. In den UN-Treuhandfonds wurden bisher allerdings erst wenige Millionen eingezahlt. Der Rest besteht etwa aus einem Schuldenerlass über 50 Millionen US-Dollar seitens Italien sowie einem Beitrag Deutschlands von gut 45 Millionen US-Dollar (35 Millionen Euro), der aber ausdrücklich nicht für den Fonds vorgesehen ist. Denn die deutsche Bundesregierung torpediert die ursprüngliche Ausrichtung des Projektes. Während der Bundestag der Yasuní-Initiative im Jahr 2008 die Unterstützung zugesichert hat, lehnt der aktuelle Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel, eine Beteiligung an dem UN-Treuhandfonds vehement ab. Er setzt stattdessen darauf, den Yasuní-Nationalpark durch klassische Projekte der deutschen Entwicklungszusammenarbeit und den auf Marktmechanismen basierenden Emissionshandel REDD (Reducing Emissions from Deforestation and Forest Degregation) zu schützen. Niebel will nicht für das „Unterlassen” einer Handlung bezahlen und spricht offen davon, einen „Präzedenzfall” verhindern zu wollen. Genau diesen wollen die Befürworter_innen des Projektes jedoch schaffen. Die Idee ließe sich potentiell auch auf geplante Bergbau-Projekte anwenden, die als besonders schädlich eingestuft werden.
// Tobias Lambert


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Mit kolonialen Grüßen …

Sich mit den eigenen Privilegien auseinanderzusetzen, mit Weißsein und den eigenen Rassismen, ist für keine_n leicht. Das Weiterwirken kolonialistischer und rassistischer Strukturen, nicht nur in Politiken, sondern auch in Sprache, Medien und Alltagswelt fällt meist denen nicht auf, die dadurch (bewusst oder unbewusst) etwas gewinnen. Dies gilt selbstredend auch für hier sozialisierte Jugendliche oder Studierende, die in Auslandsaufenthalten den Globalen Süden kennen lernen wollen. In Zeiten von „weltwärts“-Aufenthalten, Praktika und Soli-Reisen, wird das Erlebte tausendfach in E-Mails, Bildern oder Blogs wiedergegeben. Zu oft geschieht dies, ohne dass über den eigenen Standort reflektiert wird, ohne dass die eigene Verstricktheit in globale Wirtschafts- und Machtbeziehungen bewusst wird. Die im März veröffentliche Broschüre Mit kolonialen Grüßen … Berichte und Erzählungen von Auslandsaufenthalten rassismuskritisch betrachtet versucht hier, ein Angebot zur Auseinandersetzung zu geben. Sie lenkt den Blick auf „subtilere“ Formen von Rassismus – die für Betroffene das Subtile sicher oft verlieren. Wie bereits bei der 2008 veröffentlichten Publikation Von Trommlern und Helfern (siehe LN 409/410), die sich strukturellem Rassismus in der Entwicklungszusammenarbeit annähert, wird hier der Diskurs des Helfen-Wollens an sich in Frage gestellt und in einem ersten Schritt für die Aufarbeitung des eigenen kolonialen Erbes plädiert. Um sich im zweiten Schritt trotz oder gerade wegen dieser Verantwortung an die gemeinsame und bewusstere Bewältigung der Folgen zu machen. Dabei, so die Autor_innen, geht es nicht darum, die anderen „entwickeln“ zu wollen. Vielmehr halten sie es für unabdingbar, die eigene Definitionsmacht abzugeben und, vor allem, die Ursachen der Probleme dort anzupacken, wo sie wurzeln – nämlich hier. Allzu oft kommt es vor, dass wir unsere Privilegien für selbstverständlich halten, dass wir die Lebenswelt der anderen exotisieren, gar die fremde Armut romantisieren.
Anstatt sich selbst in der Anklage zu gefallen, gestehen die Verfasser_innen offen ein, selbst die Verunsicherung erlebt zu haben, das Abwehrverhalten und die Schuldgefühle zu kennen, die mit einer wirklich kritischen Selbstreflexion untrennbar verbunden sind. In der Broschüre werden auch die allgegenwärtigen Stereotype von „den Lateinamerikaner_innen“ wirkungsvoll dekonstruiert.
Die Broschüre bietet Einsatzmöglichkeiten in der Bildungsarbeit, vor allem als Begleitmaterial für die Vorbereitung auf Auslandsaufenthalte, ist jedoch auch so erhellend für alle, die schon mal Urlaubsfotos in Ecuador geschossen oder Dörfer in Chiapas gesehen haben. Die Erläuterung von Fachbegriffen sowie eine bewusst verständliche Sprache erleichtern den Zugang auch für Jugendliche. Eine Liste relevanter Bücher und Filme zum „Weiterdenken“ und „Weiterhandeln“ runden das Heft ab.

glokal e.V. (Hg.) // Mit kolonialen Grüßen … Berichte und Erzählungen von Auslandsaufenthalten rassismuskritisch betrachtet // Berlin 2012 // 40 Seiten // 2,00 Euro // www.glokal.org


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Wirtschaftsförderung auf Kosten der Menschenrechte

„Mit einem Land, das Gewerkschaftsrechte mit Füßen tritt, in dem ein bewaffneter Konflikt herrscht, enge Verstrickungen zwischen Paramilitärs und der Regierung bestehen und Vertreibungen in großem Stil an der Tagesordnung sind, darf kein Freihandelsabkommen geschlossen werden.“ In diesem Punkt sind María del Pilar Silva, Mitglied des Anwaltskollektivs José Alvear Restrepo, und Nohora Tovar, Vizepräsidentin der Metaller-Gewerkschaft Fetramecol, unmissverständlich. Die beiden Kolumbianerinnen waren im März im Rahmen einer europaweiten Speakers Tour auch in Deutschland, um Politik und Zivilgesellschaft auf die befürchteten sozialen, wirtschaftlichen und menschenrechtlichen Folgen des Abkommens aufmerksam zu machen.
María del Pilar Silva ist überzeugt, dass nur die multinationalen Unternehmen und Eliten aus Politik und Wirtschaft von der Umsetzung des Abkommens profitieren werden. „Die Bevölkerung hingegen wird darunter zu leiden haben. Wir gehen davon aus, dass es zu einer weiteren Zerschlagung der Gewerkschaften und einem zunehmenden Verlust der Rechte von indigenen und afrokolumbianischen Gemeinden kommt“, betont sie. Die Anwältin befürchtet außerdem, dass der soziale und bewaffnete Konflikt verschärft wird.
Durch den Abbau von Handelsbeschränkungen und die Verbesserung der Rechtslage für InvestorInnen sollen vor allem Investitionen im Bergbau, Agrar- und Energiesektor gefördert werden – Wirtschaftszweige, die bereits in der Vergangenheit vielfach zu sozialen und Landkonflikten geführt haben. „In Kolumbien existieren bereits jetzt mehr als fünf Millionen von Paramilitärs und Armee vertriebene Binnenflüchtlinge, das heißt neun Prozent der KolumbianerInnen sind Opfer von Vertreibungen. Ein Großteil von ihnen lebte zuvor auf Gebieten, die von wirtschaftlichem Interesse für die genannten Industriezweige sind“, so María del Pilar Silva. Die Konkurrenz um Besitz und Bewirtschaftung von Land war seit jeher ein Faktor, der den Konflikt angeheizt hat. Regionen von strategischem wirtschaftlichen Interesse sind vom bewaffneten Konflikt und massiven Menschenrechtsverletzungen am stärksten betroffen. Die für eine Ausweitung der Bergbau- und Exportlandwirtschaft benötigten Flächen liegen häufig auf den Territorien indigener und afrokolumbianischer Gemeinschaften. „Von den derzeit 33 Bergbaudistrikten befinden sich 16 auf indigenen Territorien“, so María del Pilar Silva. Sie befürchtet, dass das Freihandelsabkommen daher zu einer Zunahme der Vertreibungen und der bewaffneten Konflikte führen wird.
Doch nicht nur um die Situation der ländlichen Gemeinschaften machen die Kolumbianerinnen sich Sorgen. Nohora Tovar geht davon aus, dass mit dem Inkrafttreten des Freihandelsabkommens auch die Lage der Gewerkschafts- und Arbeitsrechte weiter verschärft wird. Kolumbien ist für GewerkschafterInnen das gefährlichste Land der Welt. Alleine im letzten Jahr wurden 51 GewerkschafterInnen getötet. In den ersten drei Monaten diesen Jahres sind bereits elf Gewerkschaftsmorde zu verzeichnen. 98 Prozent dieser Verbrechen blieben straflos. „In Kolumbien herrscht auch unter dem neuen Präsidenten Santos eine antigewerkschaftliche Politik”, betont Nohora Tovar. Streikrecht und Versammlungsrecht würden systematisch missachtet. „Wer sich gewerkschaftlich betätigt, wird oft umgehend entlassen”, erklärt die Gewerkschafterin. Streiks und Proteste würden von den Streitkräften mit Repression beantwortet. Auf die inzwischen 39 Verwarnungen durch die Internationale Arbeitsorganisation ILO habe die Regierung nicht reagiert.
Nohora Tovar befürchtet außerdem eine weitere Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen durch das Inkrafttreten des Freihandelsabkommens. Bereits jetzt seien knapp 60 Prozent der arbeitenden Bevölkerung im informellen Sektor tätig, nur 39 Prozent der Beschäftigten krankenversichert. „Viele ausländische Investoren lagern Jobs in sog. Cooperativas de Trabajo Asociado, also Pseudo-Kooperativen aus, in denen die Bezahlung unter dem Mindestlohn liegt”, erklärt sie. Arbeitskleidung, Werkzeug und Sozialversicherungsbeiträge müssten von den Beschäftigten selbst bezahlt werden. Zudem fördere das Freihandelsabkommen die Ausweitung von Wirtschaftsbereichen, in denen ohnehin prekäre Arbeitsbedingungen herrschen, wie Bergbau, der Anbau von Palmöl, Bananen oder Zuckerrohr.
Auf die von der EU-Kommission viel beschworenen Menschenrechts- und Sozialklauseln des Abkommens geben María del Pilar Silva und Nohora Tovar nicht viel. Diese stellen keine verbindlichen Regeln auf und sind mit keinerlei effektiven Sanktionsmechanismen versehen. Dass das Abkommen wegen Menschenrechtsverstößen ausgesetzt werden könnte, hält Nohora Tovar für utopisch. Dazu kam es bislang auch nicht, obwohl das derzeit noch geltende Zollpräferenzabkommen GSP+ stärkere Menschenrechts- und Arbeitsstandards enthält.
In den bestehenden wirtschaftlichen Asymmetrien zwischen der EU und Kolumbien sehen María del Pilar Silva und Nohora Tovar eine große Gefahr. „Die kolumbianische Industrie und Landwirtschaft sind schlicht nicht wettbewerbsfähig gegenüber der EU“, so Nohora Tovar. Kleine und mittelständische Unternehmen würden durch das Abkommen in den Ruin getrieben. Viele Menschen wären somit vom Verlust ihrer Arbeit bedroht, ob neue Arbeitsplätze entstünden und wenn ja, zu welchen Bedingungen, sei fragwürdig.
Auch mit der hochsubventionierten Landwirtschaft der EU können kolumbianische Kleinbäuerinnen und -bauern nicht mithalten. María del Pilar Silva führt als Beispiel den Milchsektor an: „Laut der FAO stellt Milch eines der wichtigsten landwirtschaftlichen Produkte in Kolumbien dar“. Dieser Sektor laufe nun jedoch Gefahr, durch das Freihandelsabkommen ruiniert zu werden. Milch werde im Gegensatz zur EU nämlich hauptsächlich in kleinbäuerlicher Landwirtschaft produziert. Staatliche Subventionen existieren nicht. Mehr als 400.000 kolumbianische Familien, die Milch produzieren, würden durch Freihandelsabkommen in ihrer wirtschaftlichen Existenz gefährdet.
So sind die beiden Kolumbianerinnen davon überzeugt, dass durch das Inkrafttreten des Abkommens Armut und Ungleichheit zunehmen werden. „Die soziale Kluft wird sich weiter vergrößern, in einem Land, das bereits jetzt durch enorme Ungleichheit gekennzeichnet ist. Kolumbien verfügt über eine enorme Ressourcenvielfalt, dennoch lebt über die Hälfte der Menschen in Armut“, betont María del Pilar Silva. Durch das Abkommen würden multinationale Unternehmen und Großgrundbesitzer profitieren und weiter an Einfluss gewinnen, während die Bevölkerung das Nachsehen hat, ist auch Nohora Tovar überzeugt.
Vom kolumbianischen Kongress sei nicht zu erwarten, dass er gegen das Handelsabkommen mit der EU votiert. „Er besteht zu einem Großteil aus Abgeordneten, die aus Unternehmerfamilien stammen und zu der kleinen Elite gehören, die von einem Freihandelsabkommen profitieren werden“, erklärt María del Pilar Silva. Auch wenn die Proteste der kolumbianische Zivilgesellschaft immer stärker werden, sind sie noch eher verhalten, verglichen mit dem Widerstand, der gegen das geplante Freihandelsabkommen mit den USA geleistet wurde. Das mag daran liegen, dass die EU in Kolumbien ein positiveres Bild besitzt und eher mit Entwicklungszusammenarbeit und Menschenrechten als mit knallharten Wirtschaftsinteressen in Verbindung gebracht wird.
Daher richten María del Pilar Silva und Nohora Tovar ihre Hoffnung auf die Unterstützung der Politik und Zivilgesellschaft in Europa, um die Ratifizierung des Abkommens zu verhindern.

KASTEN: Das EU-Freihandelsabkommen mit Kolumbien und Peru, das im Mai 2010 unterzeichnet wurde, enthält Regelungen über weitreichende Liberalisierungen in vielen Bereichen wie Investitionen, öffentliche Beschaffungsmärkte, Industriegüter und Landwirtschaft. Von vielen Organisationen wird, neben der mangelnden Berücksichtigung der wirtschaftlichen Asymmetrien im Abkommen, kritisiert, dass soziale Konflikte geschürt und die regionale Integration der Andenländer gefährdet werden. Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf die Einschränkung der Möglichkeiten für Kolumbien oder Peru in Zukunft nachhaltigere Entwicklungsstrategien zu fördern sowie Umwelt- oder Sozialstandards zu erhöhen. Dies wird durch die Investitionsschutzbestimmungen deutlich erschwert. Schließlich wird in Zusammenhang mit den weit reichenden Regelungen zum geistigen Eigentum befürchtet, dass diese den freien Zugang zu Medikamenten und Saatgut erschweren und Biopiraterie Vorschub leisten könnten. Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen (NRO) aus den Andenländern und Europa (über 200 Organisationen) gaben deshalb eine gemeinsame Erklärung heraus, in der sie die Nichtratifizierung der ausgehandelten Vereinbarungen fordern: www2.weed-online.org/uploads/nein_zur_ratifizierung_ftas_la_februar2011.pdf
Damit es in Kraft treten kann, muss das Abkommen in alle Amtssprachen der EU übersetzt und anschließend vom EU-Parlament sowie dem kolumbianischen und peruanischen Kongress ratifiziert werden. Ob auch die 27 EU-Mitgliedsstaaten das Abkommen ratifizieren müssen, ist indes noch nicht endgültig entschieden. Verschiedene Rechtsgutachten deuten jedoch darauf hin. Die EU-Kommission hat allerdings noch nicht offiziell bekanntgegeben, ob sie das Abkommen als gemischtes (was die Zustimmung der EU Mitgliedsstaaten erforderlich machen würde) oder als reines Handelsabkommen (was lediglich die Ratifizierung durch das EU-Parlament voraussetzen würde) einschätzt. Sollte das Abkommen die Ratifizierung aller Mitgliedsstaaten erfordern, würde dies vermutlich mehrere Jahre dauern. Es ist jedoch damit zu rechnen, dass die EU-Kommission vorschlagen wird, das Abkommen vorläufig umzusetzen. Mit einem (vorläufigen oder endgültigen) Inkrafttreten wird frühestens in der ersten Jahreshälfte 2012 gerechnet.


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Kontinuität auch mit Putschisten

Nur wenige Monate nach dem Putsch gegen die letzte demokratisch gewählte Regierung von Honduras unter Präsident Manuel Zelaya Ende Juni 2009 setzte die Europäische Union bereits wieder auf eine „Normalisierung“ der Beziehungen. Nach außen hin zeigten sich VertreterInnen Brüssels zwar besorgt über die prekäre Menschenrechtslage in dem mittelamerikanischen Land nach dem Staatsstreich. Doch schon im November 2009 kündigten EU-DiplomatInnen eine Begleitung der Wahlen Ende desselben Monats an. Eine solche Wahlbeobachtungsmission traf vor allem in Lateinamerika auf Ablehnung, weil sie die Abstimmung unter dem Putschregime zu legitimieren drohte. Die Sorge war nicht unbegründet, wie sich seither gezeigt hat.
Kurz vor dem Urnengang, der von den PutschistInnen organisiert wurde und aus denen mit dem rechtsgerichteten Unternehmer Porfirio Lobo ein Unterstützer des Umsturzes als Sieger hervorging, hatten die VertreterInnen der EU-Mitgliedsstaaten in einer Sitzung der Brüsseler Ratsarbeitsgruppe Lateinamerika (COLAT) auf die Entsendung von EU-BeobachterInnen gedrängt. Eine solche Präsenz sei neben VertreterInnen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und des US-amerikanischen Carter-Zentrums wichtig, gab ein beteiligter spanischer Diplomat die Debatte hinter vorgehaltener Hand wieder. Auch der US-Botschafter in Tegucigalpa, Hugo Llorens, soll nach Angaben der EU-Präsidentschaft auf eine solche Entsendung gedrängt haben. Die Forderung nach der Entsendung von WahlbeobachterInnen wurde im Rahmen der COLAT-Beratungen vor allem auch von Deutschland unterstützt. „Weisungsgemäß“, wie es in einer Depesche hieß.
Gegenüber der mexikanischen Nachrichtenagentur Notimex hatte der Zentralamerika-Beauftragte der EU, Petro Mavromichalis, eine solche Beobachtermission kurz zuvor zwar noch ausgeschlossen. Der griechische EU-Funktionär stützte sich dabei aber lediglich auf technische Gründe. Nach Angaben aus Brüssel war die Frist für die Entsendung einer vollwertigen Wahlbeobachtungsmission Mitte September 2009 abgelaufen. So blieb den Brüsseler Fachgremien nichts anderes übrig, als wenige VertreterInnen im Rahmen einer „technischen Delegation“ zu entsenden. Zudem sei aber eine „finanzielle Unterstützung von nationalen Institutionen“ möglich, sagte ein spanischer EU-Diplomat, der anonym bleiben wollte.
Bei einem Blick auf die damaligen internen Debatten in der EU zeigt sich: Die größte Sorge der Mittelamerika-Verantwortlichen nach dem Putsch gegen Zelaya war nicht die Ermordung von AktivistInnen der Demokratiebewegung und die allgemeine Zunahme von Menschenrechtsverletzungen. Im Zentrum der Debatten stand die erzwungene Aussetzung der Gespräche über ein Assoziierungsabkommen, mit dem die Durchsetzung einer neoliberalen Handelspolitik erleichtert werden soll.
Bereits im September 2009 drängten die VertreterInnen der EU-Mitgliedsstaaten im COLAT daher darauf, dass die Europäische Union die Gespräche über ein Assoziierungsabkommen mit Honduras auch unter dem Putschistenregime fortsetzt. Das Fachgremium lehnte damit die Forderung der spanischen Regierung ab, Honduras bis auf weiteres aus den Beratungen über einen Kooperationsvertrag zwischen der EU und den Staaten Zentralamerikas auszuschließen. Diese Position Spaniens wurde auch von anderen beteiligten Staatsführungen in Lateinamerika unterstützt.
Die EU und Staaten Zentralamerikas sowie der Karibik hatten im Oktober 2007 in Costa Rica Gespräche über ein Assoziierungsabkommen begonnen. Ein Vertrag zwischen beiden Regionen sollte im Jahr 2010 unterzeichnet werden und drei Bereiche umfassen: politische Themen, wirtschaftliche Kontakte und allgemeine Kooperation. Nach dem Staatsstreich gegen die Zelaya-Regierung hatte vor allem Spanien für einen Ausschluss des mittelamerikanischen Landes plädiert. Ein Dialog mit Honduras sei erst wieder möglich, wenn das Land zur demokratischen und verfassungsmäßigen Ordnung zurückgekehrt sei, hieß es von Seiten der sozialdemokratischen PSOE-Regierung. Ausdrücklich unterstützt wurde Madrid dabei von der Dominikanischen Republik, deren Staatsführung an den Gesprächen beteiligt war.
Nach damaligen Berichten der spanischen Nachrichtenagentur EFE hatten sich die COLAT-Mitglieder und auch die damalige schwedische EU-Ratspräsidentschaft früh gegen eine solche Option ausgesprochen. Laut diplomatischen Quellen sei ein Ausschluss von Honduras selbst unter dem Gewaltregime als „nicht sinnvoll“ zu erachten, berichtete die Agentur. In der Folge wurden technische Beratungen über das Assoziierungsabkommen in der Hoffnung fortgeführt, dass Honduras zur „politischen Normalität zurückkehrt“. Daran wirkte die EU zugleich nach Kräften mit: An den Beratungen zum Assoziierungsabkommen waren schon wenige Monate nach dem Putsch wieder FunktionärInnen des international isolierten Regimes von Diktator Roberto Micheletti beteiligt.
In Berlin protestierte der Grünen-Bundestagsabgeordnete Thilo Hoppe damals gegen diese Entscheidung. „Die Putschisten dürfen nicht anerkannt werden, schon gar nicht als Verhandlungspartner“, erklärte der Vorsitzende des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ende 2009. Auch entwicklungspolitische Organisationen begegneten der Entscheidung mit Unverständnis. Vor der COLAT-Tagung hatten die Kopenhagen-Initiative für Zentralamerika CIFCA und der kirchliche Zusammenschluss von Entwicklungsorganisationen APRODEV sogar einen Stopp der gesamten Verhandlungen gefordert. Geändert hat es wenig.
Eine der treibenden Kräfte für eine „Normalisierung“ der Beziehungen mit den PutschistInnen in Honduras war von Beginn an die rechtsliberale deutsche Bundesregierung. In offiziellen Stellungnahmen gibt sich das Auswärtige Amt besorgt über die Menschenrechtslage nach dem Putsch. So heißt es noch zu Beginn dieses Jahres in der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag, die Union-FDP-Regierung habe in den Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen mit den Staaten Zentralamerikas „die Einfügung einer Menschenrechtsklausel unterstützt“. In Honduras werde die Menschenrechtslage zudem durch die deutsche Botschaft in Tegucigalpa beobachtet, schrieb der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Martin Biesel. Auch erkenne die Bundesregierung das zentrale Bündnis der Demokratiebewegung, FNRP, als „gesellschaftlich und politisch relevante Kraft“ an.
In der EU agieren die Berliner VertreterInnen auf Weisung Berlins jedoch deutlich parteiischer. Bei einer Sitzung der COLAT habe Deutschland zu Beginn der zweiten Novemberwoche 2010 erneut entschieden auf eine Unterstützung der international nicht anerkannten de-facto-Regierung unter Führung Lobos gedrängt, bestätigte ein EU-Diplomat Ende Januar. So hätten Berlins VertreterInnen konkret auf eine finanzielle Unterstützung von honduranischen Ministerien durch Brüssel bestanden. Bei einem Folgetreffen der Regionalarbeitsgruppe AMLAT Mitte November drängten die deutschen EU-Verhandlungsführer auf eine Reintegration von Honduras in wirtschaftspolitische Institutionen. „Bei dieser letzten eingehenden Beratung zum Thema haben die Deutschen vor allem den Ausschluss von Honduras aus dem EU-Investitionsinstrument LAIF moniert“, sagte der Brüssler Diplomat gegenüber dem Nachrichtenportal amerika21. Dieses Instrument war im Mai vergangenen Jahres von der EU geschaffen worden, um zusätzliche Finanzmittel für die Wirtschaftsförderung in Lateinamerika zu kanalisieren.
Bei Nichtregierungsorganisationen und Oppositionsparteien trifft diese Linie auf zunehmende Kritik. Vor allem die Wiederaufnahme von Honduras in das EU-Programm zur Unterstützung des Sicherheits- und Justizsektors (PASS) im Februar wird mit Unbehagen gesehen. Die EU hatte Honduras in diesem Zusammenhang Gelder in Höhe von 44 Millionen Euro zugesagt – unter anderem zur Stärkung der „Sicherheitskräfte“. Entwicklungs- und Menschenrechtsorganisationen reagierten schockiert. Die geförderten Institutionen würden ihren Funktionen nicht gerecht werden, merkten mehrere europäische Netzwerke schon im Oktober vergangenen Jahres an. Wenn die EU an der Hilfe festhalte, laufe sie Gefahr, diejenigen zu unterstützen, die für anhaltende Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind.
Doch auch an diesem sensiblen Punkt haben die Brüsseler DiplomatInnen über den Putsch hinaus an ihrer Politik festgehalten. Das 2008 gestartete PASS-Programm soll weiterhin in drei Phasen durchgeführt werden. Nach Angaben von Vanessa Valladares, der EU-Beauftragten für Entwicklungszusammenarbeit und zivilen Dialog in Tegucigalpa, wurden in den ersten drei Jahren des umstrittenen Programms von den in der ersten Phase eingeplanten neun Millionen Euro 800.000 Euro gezahlt. Allerdings, so Valladares, seien nur Laborausrüstung und Kameras für die Sicherheitskräfte bezahlt worden. Doch selbst wenn diese Angaben stimmen, entlasten sie den Haushalt der PutschistInnen, die so mehr Geld für den Ausbau des Repressionsapparates haben. Menschenrechtsorganisationen haben weiter Grund zur Sorge.


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Im Interesse der Unternehmen

Mit Dirk Niebel steht erstmals seit 1964 ein Politiker der FDP an der Spitze der staatlichen „Entwicklungspolitik“. Zwar forderte Niebel vor einigen Jahren noch die Abschaffung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), doch seitdem er 2009 von der SPD dessen Leitung übernahm, nutzt er sein Amt vielmehr zur Realisierung neoliberaler Entwicklungsvorstellungen.
Es sei jedoch gerechterweise betont, dass die in den 1990er Jahren intensiv diskutierte sozialverträgliche „Wende“ in der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) nach dem Scheitern der „großen Theorien“ nie eingetreten war. Gerade die SPD hatte diese „Wende“ bei ihrem Regierungsantritt 1998 angekündigt: Nichtsdestotrotz muss die staatliche Entwicklungshilfe heute stärker denn je als spezifischer Prozess von Globalisierung im Kontext zunehmender Neoliberalisierung verstanden werden. Sie bettet sich nahtlos ein in die vorherrschenden Vorstellungen von Globalisierung. Entsprechend bescheinigen Entwicklungstheoretiker wie Aram Ziai der SPD ein schlechtes Zeugnis für das Erreichen ihrer Kernziele: erträgliche Strukturpolitik und Armutsbekämpfung. Vielmehr nahm sie mit Programmen wie dem Public-Private-Partnership privatwirtschaftliche Ansätze der Vorgängerregierung auf und baute diese noch aus.
War bei der SPD zumindest noch der Anspruch auf armutsreduzierende Politik vorhanden, kommt der jetzige Entwicklungsminister ohne einen solchen aus. Niebel hat von Anfang an klar gestellt, dass er Entwicklungspolitik schwerpunktmäßig als spezifische Interessenpolitik deutscher Exportförderung und somit als Handelspolitik versteht. Damit verbunden ist die Stärkung bilateraler Abkommen, die speziell deutsche Wirtschaftsbeteiligungen in den Vordergrund stellen sollen. Die multilaterale Zusammenarbeit wird abgeschwächt – insbesondere solche Projekte, bei denen das ökonomische Profil nicht hervorsticht. Das BMZ wird neuausgerichtet zum verlängerten Arm von Wirtschaftsministerium und Auswärtigem Amt. Gemäß dem Koalitionsvertrag soll dementsprechend der staatliche EZ-Sektor von Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), InWent und Deutschem Entwicklungsdienst (DED) um das BMZ herum nach „unternehmensorientierten Synergieeffekten“ einheitlich gesund geschrumpft werden. Ziel sei ein „dynamisches, kreatives und flexibles“ Unternehmen mit 14.000 Mitarbeitern in 130 Ländern und einem Jahresumsatz von mehr als 1,5 Milliarden Euro ,das dem liberalen Verständnis eines Global Players entspricht. So äußerte sich Tom Pätz, Leiter der „Projektgruppe Vorfeldre­form“ beim BMZ, im März 2010. Das sind eindeutige und klare, wenn auch in jeder Hinsicht kritikwürdige Vorgaben gegenüber der Vorgängerin.
Tragischerweise ist das Yasuní-ITT-Projekt in Ecuador eines der ersten Opfer der strukturellen Neuorientierung: die innovativen und progressiven Elemente des Projekts vertragen sich mit dem neoliberalen Entwicklungsparadigma des Herrn Niebel so gar nicht (siehe LN 437). Erinnert sei kurz daran, dass Ecuador vorgeschlagen hat, über 800 Millionen Barrel Öl in einem Nationalpark nicht zu fördern, sondern indigene BewohnerInnen und die regionale Biodiversität zu schützen. Dafür fordert die Regierung von den Industriestaaten einen Ausgleich für entgangene Einnahmen. Die Gelder sollen in einen Fonds eingezahlt und zur Umsetzung von Entwicklungsvorhaben genutzt werden.
Das Yasuní-Projekt ist also in einem „Empfängerland“ konzipiert worden und konterkariert damit die angebotsorientierte Vorstellung der Liberalen: Projektvorschläge haben von den „ExpertInnen“ des Geberlands auszugehen. Das Projekt kommt dadurch trotz des finanziellen Umfangs von ca. 3,6 Milliarden Dollar auf internationaler Ebene eher „von unten“ als „top-down“. Projektinhalte und Förderziele sind nicht maßgeblich durch Vorgaben von der GeberInnenseite definiert worden, sondern inklusive Bedingungen und Möglichkeiten vor Ort erdacht.
So sind natürlich auch die Gewinnspannen für deutsche Unternehmen, an die das BMZ Aufträge vergibt, nur noch schwer berechenbar. Zudem sollen aus den Zinsen, die der Fonds einbringt, über Absprachen mit dem Entwicklungsprogramm der UN (UNDP) Sozial- und Umweltprogramme bezahlt werden – und damit nicht primär in der Entscheidungsgewalt deutscher Interessenpolitik liegen. Ecuador hat in dem UNDP-Gremium, das über die Förderprojekte im Rahmen des Fonds entscheidet, die Entscheidungshoheit, wenn es darum geht, auszuloten, welche Maßnahmen welchen Betroffenen in der Region zugute kommen sollen. Schließlich deckt der Einzahlungsbetrag nur die Hälfte der Gewinne ab, die bei einer Ausbeutung der Ölvorräte erwartet würden, und Ecuador erbringt durch Verzicht der gleichen Summe somit den Hauptanteil.
Tatsächlich könnte Yasuní als Modell für zukünftige alternative Projekte in anderen schützenswerten Regionen dienen. Zum einen ist eine Abkehr von der auf Rohstoffexporten basierenden Abhängigkeit und es hat keinen reinen marktorientierten Charakter, der einen Ressourcentransfer nach Deutschland erkennen ließe.
Zum anderen hat Yasuni auch Signalcharakter für ein ernst gemeintes Bremsen des Klimawandels, indem fossile Brennstoffe nicht mehr gefördert werden, und für den Schutz von Artenvielfalt. Zudem wäre es das erste große Projekt seiner Art, welches weniger auf technisch-wirtschaftliche Konvergenz (etwa auf „effizientere“ Energiegewinnung) hinarbeiten würde und eher prozess- denn ergebnisorientiert konzipiert wurde. Das könnte weitere Länder erfassen und zur Überwindung der üblichen Vorstellungen von Handel zwischen Industrie- und Entwicklungsländern führen. So gibt es in Brasilien, wenn auch nicht von Regierungsseite, schon seit 2008 Überlegungen, die noch 10-mal größeren Erdöl-Vorräte im Pré-Sal-Gebiet im Boden zu belassen und nach dem Vorbild in Ecuador auf Ausgleichszahlungen zu drängen (siehe LN 426). Die steigende Nachfrage auf dem Energiesektor zahlreicher lateinamerikanischer Staaten kann in Zeiten des Klimawandels nur durch einen Paradigmenwechsel in der Energiegewinnung verändert werden. Fortschrittliche Technologien in Großprojekten alleine reichen nicht aus. Bei der entwicklungspolitischen Ausrichtung von Projekten im Umweltbereich geht es insbesondere um eine Veränderung in den Investitionsstrukturen. Das bedeutet auch den Verzicht auf die Ressourcenausbeutung, wie sie Grundlage ist für konservative Vorstellungen der Energiegewinnung.
Minister Niebel persönlich hat das Yasuní-Projekt im September fallen lassen und rechtfertigt das damit, dass es keine Garantien dafür gäbe, dass eine spätere Regierung Ecuadors nicht doch das Öl fördern würde. Es gäbe nur die Vereinbarungen mit den Vereinten Nationen und den Geberländern (z.B. Spanien, Großbritannien oder Belgien) über Rückzahlungen im Fall der Fälle. Das ist zum einen ein Affront gegenüber der Souveränität des Staates Ecuador und zum anderen gegenüber den Vereinten Nationen – immerhin wurden in langen und sorgfältigen Verhandlungen verbindliche Zusagen gemacht, ein internationales Vertragswerk, allseits anerkannte Garantiezertifikate und ein Treuhandmechanismus erarbeitet, um eben solche Bedenken wie die von Niebel geäußerten schon im Vorfeld auszuräumen.
Ergo wird hier absichtlich auf Zeit gespielt, wie die Anfrage der LINKEN-Abgeordneten Sabine Stüber im Bundestag Anfang Oktober belegt. Stüber wollte vom BMZ die immer noch offenen Fragen in Bezug auf die fehlende Unterstützung für das Yasuní-Projekt in Erfahrung bringen. In der Antwort verlangte Gudrun Kopp, Parlamentarische Staatssekretärin beim BMZ, ernsthaft, Ecuador müsse u.a. „die Präzedenzwirkung für andere Länder“ einschätzen und beantworten können. Ein Ding der Unmöglichkeit und eine unmögliche Bedingung. Auf eine zweite Anfrage der Grünen Abgeordneten Bärbel Höhn wurde sogar von einem Prüfungsverfahren für „Negativpräzedenzfälle“ in Hinblick auf dreizehn weitere Bewerber für ähnliche Projekte gesprochen. Ein neutrales Prüfungsverfahren gibt es wohl kaum, wenn von vornherein negative Auswirkungen unterstellt werden.
Der Versuch, das Yasuní-Projekt durch bürokratische Hürden ins Leere laufen zu lassen, spiegelt den eingeleiteten Ressortumbau sehr gut wider. Entsprechend lesen sich auch Niebels Aussagen auf dem EU-Lateinamerika-Gipfel in Madrid im Mai über die Ausrichtung deutscher Entwicklungszusammenarbeit mit Lateinamerika: am Beispiel der Umwelt- und Klimapolitik nannte er Stichwörter wie „Nachhaltiges Wirtschaftswachstum zur Wohlstandsförderung“, „Länderkooperation durch neue Technologien auf dem Energiesektor“, „Umbau der Energiesysteme zu mehr Energieeffizienz“, „Schaffung neuer Arbeitsplätze“ – im großen und Ganzen Schlüsselreize durch Private-Public-Partnership. Das sind jene Entwicklungshilfe-Konzepte, die ohne „schmückendes Gerede“ hervorragend neoliberale Wirtschaftsausrichtung widerspiegeln: Wirtschaftswachstum, Wohlstand, neue Technologien, Effizienz, Privatisierung, Arbeitsplätze, „made in Germany“ – made for Germany.
Schon im Januar 2010 betonte Niebel, dass er im Gegensatz zu Heidemarie Wieczorek-Zeul im BMZ nun endlich mit der Förderung der Privatwirtschaft „ernst mache“, um deutsche Produkte (vor allem Umwelttechnik) in Entwicklungsländern durch noch mehr staatliche Investitionsmittel nutzbar zu machen, für „schnell erkennbare Dividenden“. Da passt ein Projekt wie Yasuní-ITT nun wirklich nicht ins Konzept. Der Industrie- und Handelskammer (IHK) geht die Umsetzung der ministeriellen Versprechen derweil noch nicht schnell genug. Das BMZ solle endlich „mehr Wirtschaft wagen“. Sie forderte im September, die Interessen deutscher Unternehmen noch stärker wahrzunehmen und diese am besten schon im Vorfeld von Projektentwicklungen ins Boot zu holen. Der IHK macht Niebel offensichtlich noch nicht ernst genug.


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Niebels „Dolchstoß“

Zwei auf einen Schlag: Entwicklungsminister Dirk Niebel hat seinen Botschafter in Quito, Peter Linder, ebenso vor den Kopf gestoßen wie Ecuador. Linder hatte noch im August erklärt, beide Regierungen würden im September Verhandlungen über einen deutschen Beitrag zum Treuhandfonds der Yasuní-ITT-Initiative aufnehmen, dessen Vertragswerk von Ecuador und dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen am 3. August verabschiedet wurde. Nun musste Linder Ecuadors Regierung einen Brief zukommen lassen, in dem Niebel verschiedene Fragen zu der Initiative stellt. Sein Ansinnen: Deutschlands angedachte Zahlungen von 40 Millionen Euro jährlich zurückzuziehen.
Ob sich Niebel damit gegen den Willen sämtlicher Parteien im Bundestag, die bereits im Juni 2008 einschließlich der FDP die Yasuní-ITT begrüßten und die Bundesregierung zur Unterstützung aufforderten, durchsetzen kann, ist noch offen. Eine hochrangige Delegation aus Ecuador, mit der Ministerin für das Kultur- und Naturerbe, Maria Fernanda Espinoza, einem Vertreter der Vereinten Nationen sowie WissenschaftlerInnen des Verhandlungsteams, war Ende September zu einem länger geplanten Berlin-Besuch angereist. Eigentlich wollten sie über die Konkretisierung des deutschen Beitrags sprechen. Stattdessen mussten sie Informationsarbeit leisten. Dem Entwicklungsministerium wurde ein Schreiben überreicht, in dem die Fragen und Unklarheiten, die in Niebels Ressort offenbar bestehen, beantwortet werden. Mut konnte Maria Fernanda Espinoza daraus ziehen, dass beim Treffen mit Abgeordneten aller fünf im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen ihr weiterhin die uneingeschränkte Unterstützung für die Yasuní-ITT-Initiative zugesagt wurde. Eine Antwort des Entwicklungsministeriums steht noch aus. Ob sie bis zum Berlin-Besuch des ecuadorianischen Präsidenten Rafael Correa Anfang November kommt, bleibt abzuwarten.
Yasuní-ITT steht für ein unter Naturschutz stehendes Gebiet im ecuadorianischen Amazonas-Regenwald, das eine der höchsten Biodiversitäten des Planeten aufweist und zudem bisher nicht kontaktierte indigene Völker beherbergt. Dort wurden erhebliche Rohölreserven entdeckt, die Rede ist von 850 Millionen Barrel. 2007 hatte das kleine südamerikanische Land die Weltöffentlichkeit mit dem Vorschlag überrascht, dass es das Öl gern im Boden belassen würde, unter der Voraussetzung, dass der globale Norden seine umweltpolitische Mitverantwortung zeige und insgesamt die Hälfte der vom Öl zu erwartenden Einnahmen, rund 2,7 Milliarden Dollar, in einen Fonds einzahle.
In der ecuadorianischen Politik durchlitt die Yasuní-ITT-Initiative seitdem ein bewegtes Schicksal. Parallel zum Klimagipfel in Kopenhagen im Dezember 2009 ließ die Regierung die Verhandlungen mit der UNO um den einzurichtenden Treuhandfonds plötzlich platzen, ein ganzes Verhandlungsteam trat zurück, ein neues musste eingesetzt werden. Obwohl Präsident Correa immer wieder verlautbarte, er lasse sich von niemandem unter Druck setzen, ist es in Ecuador ein offenes Geheimnis, dass die Erdöllobby und ihre rechten Verbündeten in der Regierung zu keinem Zeitpunkt aufgehört hatten, intensiv am so genannten Plan B zu arbeiten: Der Ausbeutung des Öls aus dem Yasuní-Gebiet, falls das Geld nicht zusammenkommt oder der politische Wind umschlägt.
Da wirkte die im Juni 2008 fraktionsübergreifend vom Bundestag getroffene und später wiederholt bekräftigte deutsche Zusage, Haushaltsmittel für den Treuhandfonds bereitzustellen, wie ein Fels in der Brandung. Nach und nach folgten eine Reihe anderer Staaten dem deutschen Beispiel und signalisierten Interesse an der Unterstützung des Projekts: Spanien, Belgien, Frankreich, Italien und Chile.
Als im August endlich der Treuhandfonds mit dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen unterschrieben wurde, atmete Ecuador auf. Das Dokument beinhaltete endlich auch die von den Gebern geforderte Klausel, dass Ecuador alle Einlagen zu hundert Prozent zurückzahlen würde, sollte man sich in Zukunft doch noch zu einer Förderung des Öls im Amazonas-Regenwald entscheiden. Die Verhandlungen mit den Gebern konnten endlich in die nächste Runde gehen.
Der ehemalige Energieminister und Präsident der Verfassunggebenden Versammlung Ecuadors, Alberto Acosta, zeigt sich empört über Niebels Rückzieher und spricht von „einem Dolchstoß für die Initiative Yasuní-ITT“. Der deutsche Minister hingegen führt einerseits bürokratische und andererseits offensichtlich unrichtige Argumente an, um seine Entscheidung zu unterfüttern: Der ecuadorianischen Initiative fehlten ein „einheitlicher Begründungszusammenhang, eine klare Zielstruktur und konkrete Aussagen darüber, welche Garantien für einen dauerhaften Verzicht auf die Ölförderung im Yasuní-Gebiet gegeben werden“.
Während die Garantien mit der Unterzeichnung des Treuhandfonds eindeutig gegeben waren, konnten die Ziele klarer nicht sein: Der Erhalt einer weltweit einzigartigen Artenvielfalt, die Vermeidung von Kohlendioxid-Emissionen nicht nur durch Nichtentwaldung, sondern durch die Nichtförderung und Nichtverarbeitung fossiler Brennstoffe sowie die Beachtung der Rechte der in dem Gebiet lebenden indigenen Völker, welche durch die Ölförderung unweigerlich verletzt würden.
Ferner führt Niebel an, es erscheine „zweifelhaft, ob dieser Ansatz gegenüber den derzeit diskutierten Alternativlösungen (zum Beispiel Reduktion der Emissionen von Entwaldung und Degradierung, REDD) tatsächlich komparative Vorteile aufweise“. Konkret kündigte er an, im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit weiterhin den zentralen von der ecuadorianischen Regierung eingeführten REDD-Mechanismus, das Programm Socio Bosque, zu unterstützen. Socio Bosque sieht im Rahmen der Einführung bezahlter „Umweltdienstleistungen“ die Zahlung von ökonomischen Anreizen an private Waldbesitzer oder indigene Gemeinden für jeden Hektar „freiwillig geschützten Waldes“ vor.
Acosta seinerseits nennt diese Alternative einen Hohn, „da ein Beitrag, der mit dem Leben verantwortungsvoll umgeht, ersetzt wird durch einen Beitrag, der von merkantilen Interessen geleitet wird“. In der Tat ist die Bezahlung für Umweltdienstleistungen sehr umstritten, da sie die Kommodifizierung, also die Transformation von Natur, und damit der Grundlage allen Lebens, in Waren, und damit ihre Einbindung in von kapitalistischen Interessen geleitetes Handeln bedeutet.
REDD ist auch international in die Kritik geraten, da das Programm – ebenso wie die UN-Rahmenkonvention über Klimawandel – faktisch keinen Unterschied macht zwischen industriellen Monokulturen, den Boden auslaugenden Plantagen und biodiversem Urwald. Wie UmweltschützerInnen im Juni 2010 auf der in Accra abgehaltenen Tagung „Realising Rights, Protecting Forests“ (Verwirklichung von Rechten, Schutz der Wälder) feststellten, existiert auf Grund dieser weit gefassten Definition von Wald „ein Risiko, dass REDD zur Ersetzung von natürlichen Wäldern durch exotische Plantagen führt“ und die Abholzung natürlicher Waldflächen zugunsten kommerzialisierbarer Produkte geradezu fördert.
Ecuador scheint hier keine Ausnahme darzustellen: Mitte August kritisierten indigene Frauen auf einem Forum über Socio Bosque in der Stadt Tena, das Programm befördere die Einführung fremder, plantagentauglicher Arten wie Teak, afrikanische Ölpalme und Pinie im Amazonasbecken.
Dieselben Frauen gaben Befürchtungen Ausdruck, der Staat werde in diesem Zusammenhang Maßnahmen befördern, welche die indigene Bevölkerung letztlich ihrer Landrechte beraube. In der Tat ist dies ein weiterer Kritikpunkt an REDD-Mechanismen wie Socio Bosque. Im Amazonasgebiet gibt es dort, wo der Wald noch intakt ist, kaum Möglichkeiten für die Waldbewohner, die Einkünfte aus den staatlichen „finanziellen Anreizen“ auszugeben. Die Indigenen leben dort von der Jagd, vom Fischen und von der Landwirtschaft auf kleinen Bauernhöfen. In die nächste Ortschaft gelangt man nur per Kleinflugzeug, und allenfalls gibt es in zu Fuß erreichbarer Nähe ein von einer Öl- oder Holzfirma eingerichtetes Bordell oder einen Alkoholausschank – nicht unbedingt Etablissements, die zum Erhalt der indigenen Kulturen beitragen. Andererseits ist die einzige Garantie, die die Gemeinden in die Verträge über den Waldschutz einbringen können, ihr Land – das gleichzeitig auch ihre Lebensgrundlage darstellt.
ExpertenInnen weisen darauf hin, dass die Kommodifizierung von Kohlendioxid über Mechanismen wie REDD zu unklaren Besitzverhältnissen über die Waldgebiete führt, da das Kohlendioxid vom Staat als öffentliches Gut verkauft wird, während Landbesitz individuell oder, in Ländern mit indigener Bevölkerung und fortschrittlicher Gesetzgebung, kollektiv geregelt ist. Hierdurch entsteht ein neuer Widerspruch zwischen staatlichen ökonomischen Interessen – da die REDD-Gelder in die Staatskasse fließen – und den kollektiven Landrechten indigener Völker. Um finanzielle Verluste zu vermeiden, wird die zentralstaatliche Kontrolle über Waldgebiete zunehmen und die schwer erkämpfte Autonomie indigener Kulturen untergraben werden.
Schließlich tragen REDD-Programme wie Socio Bosque auch nicht zur Vermeidung von Bergbau oder der Förderung fossiler Brennstoffe in den entsprechenden Gebieten bei. Die komparativen Vorteile von Yasuní-ITT gegenüber Socio Bosque springen also geradezu ins Auge. Bundestagsabgeordnete von der Linken, SPD, Grünen und selbst der FDP haben die jüngsten Äußerungen von Minister Niebel bereits hart kritisiert und ihre Unterstützung der ecuadorianischen Initiative bekräftigt, während der Unionsabgeordnete Christian Ruck und der FDP-Abgeordnete Harald Leibrecht ankündigten, mit dem Minister reden zu wollen.
Angesichts der Realitäten von Programmen wie Socio Bosque würde es der Glaubwürdigkeit des Schwerpunkts Umwelt- und Ressourcenschutz, den die Bundesrepublik in der Entwicklungszusammenarbeit mit Ecuador gesetzt hat, nur gut tun, wenn die Unterstützung der Yasuní-ITT-Initiative aufrechterhalten würde.


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Nicaragua von der Revolution bis heute

1979 // Unter Führung der 1961 gegründeten FSLN (Sandinistische Front der Nationalen Befreiung) wird im Juli die jahrzehntelange Diktatur der Somozas in einem Volksaufstand gestürzt. Am 17. Juli flieht Anastasio Somoza Debayle ins Ausland. Ein breites Bündnis von konservativen Kräften bis zur FSLN übernimmt die Regierung, wobei die FSLN bald tonangebend ist und sich die wichtigsten Machtpositionen sichert. // Zu den ersten Maßnahmen der neuen Regierung gehören die Enteignung des Besitzes der Familie Somoza, die Verstaatlichung der Banken und Minen, die Abschaffung der Todesstrafe, die Etablierung der Meinungsfreiheit, umfangreiche Reformen im Gesundheits- und Bildungswesen sowie eine Agrarreform zu Gunsten landloser Bauern.

1980 // Der „Nationale Kreuzzug der Alphabetisierung” (CNA) startet. Durch diese und weitere Kampagnen wird die Analphabetenrate bis 1985 von 50 auf 13 Prozent gesenkt. // Anastasio Somoza wird im September in Paraguay von einem Kommando der argentinischen Guerilla ERP getötet.

1981 // US-Präsident Ronald Reagan sperrt Darlehen Nicaraguas. Die CIA beginnt mit dem Aufbau der sogenannten Contra.

1982 // Mit logistischer und finanzieller Unterstützung durch die USA beginnt die Contra von Honduras und Costa Rica aus den bewaffneten Kampf gegen die sandinistische Regierung. Der Contra-Krieg kostet rund 30.000 Menschenleben und richtet die nicaraguanische Wirtschaft bis zum Jahr 1988 fast vollständig zu Grunde. // Wegen der wachsenden Zahl der Contra-Anschläge verhängt die Revolutionsregierung den Ausnahmezustand und führt die allgemeine Wehrpflicht ein. // Zwangsumsiedlung von 8.500 Miskito-Indianern durch die sandinistische Regierung. Sie müssen die atlantische Küstenregion verlassen und werden im Landesinneren neu angesiedelt.
1983 // Die erste westdeutsche Solidaritätsbrigade fliegt im Dezember nach Nicaragua, um bei der Kaffeeernte zu helfen. In den folgenden Jahren kommen zehntausende BrigadistInnen nach Nicaragua.

1984 // Erste Wahlen nach der Revolution. Mit 67 Prozent der Stimmen gewinnt der sandinistische Präsidentschaftskandidat Daniel Ortega die Wahlen. // Die CIA vermint die wichtigsten Häfen Nicaraguas. // Die Bundesrepublik Deutschland friert ihre Entwicklungshilfe für Nicaragua ein.

1985 // Die USA verhängen ein vollständiges Handelsembargo. // Die DDR baut in Managua das Krankenhaus „Carlos Marx” und kommt in der Folge für den Betrieb auf.

1986 // Die USA werden vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu Schadensersatz in Milliardenhöhe verurteilt, den sie allerdings niemals zahlen.

1988 // Die Wirtschaft gerät immer stärker in die Krise. Die Inflationsrate steigt auf bis zu 36.000 Prozent. // Die sandinistische Regierung nimmt Verhandlungen mit der Contra auf. Das Abkommen von Sapoa bringt schließlich einen Waffenstillstand zwischen Regierung und Contra.

1990 // Die FSLN verliert überraschend die Wahlen im Februar. Die Kandidatin der „Unión Nacional Opositora“ (UNO), Violeta Barrios de Chamorro, wird mit 55 Prozent der Stimmen zur Präsidentin gewählt. Sie steht einem äußerst heterogenen Bündnis von 14 konservativen und antisandinistischen Parteien vor. // In der sogenannten Piñata sichern sandinistische Kader ihre eigenen sowie die Pfründe der FSLN. // Der Sandinist Humberto Ortega, bis zu den Wahlen Verteidigungsminister, wird Oberster Befehlshaber der Armee, womit sich Präsidentin Chamorro deren Loyalität sichert. // Die neue Regierung beschließt ein umfassendes Stabilisierungs- und Sparprogramm: Die Währung wird abgewertet, der Staatsapparat verkleinert, soziale Einrichtungen werden geschlossen, das Gesundheitssystem privatisiert, Schulgeld erhoben, die Agrarreform teilweise rückgängig gemacht und in den 1980er Jahren verstaatlichte Betriebe größtenteils wieder privatisiert.

1991 // Die Entwaffnung der Contra ist offiziell beendet. // Es gibt zahlreiche Streiks gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung. Sandinisten und Regierung lähmen sich gegenseitig.

1993 // Kredite der OPEC und des IWF helfen, eine drohende wirtschaftliche Krise abzuwenden.

1994 // Beim Kongress der FSLN zeigt sich deutlich die interne Zerstrittenheit der Partei. Die „demokratische Linke” um Daniel Ortega und Tomás Borge setzt sich klar gegen die sogenannten „Erneuerer” um Sergio Ramírez durch.

1995 // Die „Sandinistische Erneuerungsbewegung“ (MRS) unter Führung des ehemaligen Vizepräsidenten Sergio Ramírez und der Comandante Dora María Tellez entsteht.

1996 // Der Liberale Arnoldo Alemán wird Präsident. // Auf Kosten der innerparteilichen Demokratie baut Daniel Ortega seine Vormachtstellung in der FSLN immer weiter aus.

1998 // Zoilamérica Narváez, die Stieftochter von Daniel Ortega, beschuldigt diesen öffentlich, sie jahrelang sexuell missbraucht zu haben. Ortega genießt Immunität, es werden keine Ermittlungen gegen ihn aufgenommen. // Der Hurrikan Mitch richtet in Nicaragua schwere Zerstörungen an. Präsident Alemán bereichert sich an internationalen Hilfsgeldern.

1999 // Daniel Ortega schließt mit dem Parteichef der Liberalen Partei PLC, Arnoldo Alemán, einen Pakt, der FSLN und PLC langfristig die Macht in Nicaragua sichern soll. Alle wichtigen staatlichen Institutionen werden zwischen den beiden Parteien aufgeteilt.

2001 // Der Liberale Enrique Bolaños wird zum Präsidenten gewählt.

2003 // Die Immunität des ehemaligen Präsidenten Alemán wird aufgehoben. Er wird wegen massiver Korruption inhaftiert und zu einer 20-jährigen Haftstrafe verurteilt, die allerdings nach 20 Tagen Haft in einen Hausarrest umgewandelt wird.
2006 // Im April tritt das Zentralamerikanische Freihandelsabkommen mit den USA (CAFTA) für Nicaragua in Kraft. Vorher hat im Parlament auch die FSLN dem Abkommen zugestimmt. // Mit Unterstützung der FSLN wird das Abtreibungsrecht verschärft. Nun ist Abtreibung unter allen Umständen, also auch im Falle der Bedrohung des Lebens der Mutter, verboten. // Daniel Ortega von der FSLN wird im November zum Präsidenten gewählt.

2007 // Unter der Regierung Ortega werden die politischen Kontakte zu Venezuela und Kuba wichtiger. Der venezolanische Präsident Hugo Chávez gewährt umfangreiche Wirtschaftshilfe in Höhe von 520 Millionen US-Dollar jährlich. Damit werden unter anderem ambitionierte Sozialprogramme wie „Cero hambre“ (Null Hunger) bezahlt. Das Geld wird jedoch intransparent und am Parlament vorbei ausgegeben, obwohl es sich bei diesen Hilfen zur Hälfte um einen Kredit handelt, der in 25 Jahren aus dem Staatshaushalt zurückgezahlt werden muss.

2008 // Der von FSLN und Liberalen dominierte Oberste Wahlrat schließt die Sandinistische Erneuerungsbewegung (MRS) und die Konservative Partei von den Kommunalwahlen aus. // Der Streit zwischen Frauenbewegung sowie weiteren zivilgesellschaftlichen Organisationen und der FSLN-Regierung nimmt an Schärfe zu. // Bei den Kommunalwahlen im November kommt es zu massiven Manipulationen. Unabhängige WahlbeobachterInnen sind nicht zugelassen. Zahlreiche BeobachterInnen sprechen von Wahlfälschung seitens der FSLN, die offiziell in etwa 70 Prozent der Gemeinden gewinnt. Nach den Wahlen kommt es zu teils gewaltätigen Auseinandersetzungen zwischen AnhängerInnen der FSLN und der Opposition.

2009 // Das Oberste Verfassungsgericht, dessen RichterInnen allesamt von PLC und FSLN nominiert wurden, hebt im Januar die Verurteilung Arnoldo Alemáns wegen Korruption “aus Mangel an Beweisen” auf.


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