Zurück auf Los?

Die Revolution in Nicaragua 1979 war eine gemeinsam geteilte Utopie. In Nicaragua selbst mobilisierte sie eine ganze Generation, die mit Pflastersteinen, selbst gebauten Bomben und Molotowcocktails die Nationalgarde Somozas angriff. Nach dem Sieg starteten die SandinistInnen eine groß angelegte Alphabetisierungskampagne. Viele zogen in die Dörfer, um mit den Bauern und Bäuerinnen zu leben, ihnen lesen und schreiben beizubringen. Außerhalb von Nicaragua mobilisierte die Revolution eine Generation von Menschen, die sich auf Hunderte verschiedene Arten mit den Zielen der Revolution identifizierten und solidarisierten, nicht zuletzt durch einen Aufenthalt in Nicaragua, der in den meisten Fällen das eigene Leben nachhaltig prägte und veränderte.
Während 1978 das nicaraguanische Volk gegen die von den USA unterstützte Somoza-Diktatur kämpfte, gründete sich das Informationsbüro Nicaragua in Wuppertal (Infobüro). Es war ein Zusammenschluss von Deutschen, wie dem Verleger Herrmann Schulz, und nicaraguanischen Studierenden, wie Enrique Schmidt Cuadra, der später in der ersten sandinistischen Regierung Polizeichef und Postminister wurde. Unser Projekt war ein politisches Projekt: Mit dem Aufruf „Endet das Schweigen – 46 Jahre Diktatur sind genug” begannen wir, Broschüren über die Situation in Nicaragua zu erstellen. Wir wollten die Menschen hier für die Lage in Nicaragua sensibilisieren und Öffentlichkeit schaffen. Außerdem forderten wir den Abbruch der diplomatischen Beziehungen der BRD mit Nicaragua und wiesen auf die Rolle bundesdeutscher Konzerne wie Siemens, Bayer und Mercedes hin, die weiterhin in Nicaragua tätig waren und den Fortbestand der Diktatur verlängerten. Als Höhepunkt und Zeichen unserer Solidarität mit den RevolutionärInnen gabs 1978 ein öffentlichkeitswirksames „GO-IN“ in die Bonner Nicaraguabotschaft (Eine ähnliche Aktion mit umgekehrten Vorzeichen fand 1983 statt, als wir die Deutsche Botschaft in Managua für mehrere Tage besetzten, um ein deutliches Engagement der Bundesregierung gegen die Hintermänner des Contraterrors zu fordern).
Solidarität mit den Menschen in Nicaragua auf der einen Seite und Empörung über bestehende Machtverhältnisse zwischen Nord und Süd andererseits waren bereits damals die Eckpfeiler unserer Arbeit.
Mit dem Sieg der Revolution begann die Zeit der Projektionen. Die erste Projektion war die sandinistische Befreiungsfront (FSLN). Wir waren völlig davon überzeugt, dass sie die gesellschaftliche und persönliche Emanzipation per se verkörperte. Sie wollte ja den „neuen Menschen“ schaffen, um den wir uns auch in Deutschland schon Jahre vergeblich mühten. Und so überreichten wir den comandantes Spenden in Höhe von einer Million D-Mark „zur freien Verfügung“, ohne uns um den Verwendungszweck zu kümmern.
Das sowohl politisch als auch wirtschaftlich größte Projekt der 1980er Jahre war die Brigadenkampagne Todos juntos venceremos (Gemeinsam werden wir siegen), die die sandinistische Regierung den VertreterInnen der europäischen Solidaritätsbewegungen im November 1983 vorschlug. Wir riefen dazu auf, nach Nicaragua zu reisen, um dort ein menschliches Schutzschild gegen die politische, wirtschaftliche und militärische Intervention der USA zu sein. Dem ersten Aufruf folgten etwa 1.000 BrigadistInnen aus Europa, die während ihres Aufenthaltes in Nicaragua mit Erntearbeit oder dem Häuserbau ihre Solidarität zum Ausdruck brachten. Nach der Rückkehr bereicherten sie zu Hause den linken Diskurs in der bundesdeutschen Öffentlichkeit und brachten neue Impulse in die Debatte ein.
Ich konnte dabei sein, als das erste Flugzeug mit dreihundert deutschen BrigadistInnen in Managua landete. Gemeinsam mit 35 hoch motivierten Menschen arbeitete ich zwei Monate auf der Kaffeeplantage La Lima im Bergland Matagalpas, wo wir in einer Scheune schliefen und mit den KaffeebäuerInnen die Ernte einbrachten. Besonders berührte mich, mit wie viel Begeisterung die politischen, persönlichen und kulturellen Erfahrungen anschließend in unzähligen Veranstaltungen weitergegeben wurden. Viele, vor allem junge Menschen riskierten in den Grenzregionen Nicaraguas ihr Leben und erprobten damit ein Stück sozialrevolutionärer Utopie. Sie hatten zum ersten Mal Armut und Hunger erfahren, ihre Angst bewältigt und ihr Leben zur Verteidigung eines Projekts für eine gerechtere Zukunft eingesetzt.
Diese Erfahrungen standen im Gegensatz zu der im eigenen Land erlebten Ohnmacht und Entfremdung. Gleichzeitig kam es aber auch zu einer Funktionalisierung Nicaraguas und der NicaraguanerInnen als Projektionsfeld für die Ideale und unerreichbaren Ziele in der eigenen Gesellschaft. Die Friedensbewegung kämpfte mühsam und frustriert gegen den NATO-Doppelbeschluss und die Raketenstationierung – um wie viel schöner und erfolgreicher schien da der antiimperialistische Einsatz auf einer nicaraguanischen Kaffeeplantage. Dabei konnten auch noch eigene Entwicklungsvorstellungen auf Nicaragua übertragen werden. Etwas belustigt beobachtete ich einmal, wie ein Brigadist neben der Küche einen kleinen diversifizierten Gemüsegarten für die BewohnerInnen anlegte, die dies staunend und interessiert beobachteten. Am nächsten Tag hatten die Kühe alles zertrampelt. Ähnliches passierte in der Häuserbrigade, die nach eigenen Vorstellungen ein Wasserpumpsystem errichtet hatte, um den Menschen in Pantasma den Weg zum Wasser holen zu verkürzen – allerdings gab es weder eine regelmäßige Treibstoffversorgung noch Ersatzteile für die Anlage.
Nach und nach entstanden überall in Nicaragua kleine, persönliche Projekte, die je kleiner, desto authentischer schienen. Zwischen 1979 und 1989 wurden über 1.000 Projekte allein von der bundesdeutschen Solidaritätsbewegung finanziert. Mitte der 1980er Jahre hatte das Infobüro eine Projektbroschüre, in der örtliche Gruppen wie auf einem Menü unter 50 Projekten ihr „eigenes” aussuchen konnten. Doch das Infobüro sah diese Projektarbeit zunehmend kritisch: Die Projekte waren häufig sehr eurozentrisch ausgerichtet und degradierten die Begünstigten zum Zuschauen. Besonders aus den Städtepartnerschaftsinitiativen wurde eine enorme Menge an Materialcontainern verschickt, wobei häufig Kosten und Aufwand höher waren als der tatsächliche Nutzen.
Daher begannen wir unsere Projektarbeit in Nicaragua neu auszurichten. Statt bürgerlich-romantischen klein-klein-Projekten bevorzugten wir staatlich-revolutionäre, also von der FSLN-Regierung vorgeschlagene, Aufbauprojekte. War es die FSLN gewesen, die uns dazu gebracht hatte, die Brigadekampagne in die entferntesten und gefährdetsten Zonen Nicaraguas zu verlegen, so war sie es auch, deren Prioritäten wir in dieser neuen Phase folgten. Wir unterstützen den Aufbau von Schulen, Gesundheitszentren und Kaffeeverarbeitungsanlagen. Besonders stolz war ich, als ich als Mitarbeiter des Infobüros im Februar 1984 in Matagalpa gemeinsam mit dem Wohnungsbauministerium, der Landarbeitergewerkschaft ATC und der Kleinbauernvereinigung UNAG das Pantasma-Projekt vereinbaren konnte. Über sechs Jahre hinweg entstanden dort durch unsere Spendensammlungen und Brigadeeinsätze zwei Dörfer mit Gesundheitsposten, Schulen und Kindereinrichtungen. Dabei war es uns wichtig, einen politischen Dialog herbeizuführen, statt eingleisige Unterstützung zu leisten. So diskutierten wir in Wuppertal, wie wir die in Briefen und Fotos vermittelte Alltagserfahrung der BrigadistInnen und die Bedrohung durch die Contra in eine Öffentlichkeits- und Pressekampagne gegen die US-Politik einbauen konnten. Die unabhängige Solidaritätsbewegung ging immer davon aus, dass sich die Verhältnisse im Norden ändern müssen, damit Veränderungen im Trikont wirksam werden können. Deshalb machten wir auch in Deutschland Politik. Zum einen gab es Kampagnen gegen Weltwirtschaftsgipfel und Internationalen Währungsfonds und zum anderen wurde der alternative Kaffeehandel eingeführt, der immer betonte, dass auch der Mehrpreis nicht „fair“ war, sondern symbolisch für neue Welthandelsbedingungen stand (siehe Kasten).
So sollten die Brigadeprojekte in Nicaragua keine karitative Hilfe sein, sondern die Praxis des antiimperialistischen Kampfes unterstützen. Von den Besuchten wurde das allerdings nicht so verstanden: Die Meisten glaubten, die AusländerInnen seien mit dem Motiv gekommen, „den Armen zu helfen“. Nur Wenige konnten einen Zusammenhang mit politischer Solidarität erkennen, unsere Kritik an der Politik der Bundesregierung wurde nicht gesehen.
Anfang der 1990er Jahre begann dann eine neue Phase der Zusammenarbeit. Wir hatten schlechte Erfahrungen mit den homogenen, sandinistisch orientierten Verbänden und hierarchisch-patriarchalen Großorganisationen ge‑
macht. Deshalb gingen wir über zur Projektarbeit mit kleinen Initiativen, Organisationen und Gruppen und reagierten damit auch auf die aufkommende Kritik am Entwicklungsdenken. Statt einer von außen aufgedrängten und gesteuerten Entwicklungshilfe, wollten wir den Austausch und die Beziehung zu konkreten Menschen in den Vordergrund stellen und diese dabei unterstützen, gegen jedwede Art von Ungerechtigkeit zu kämpfen.
Mit circa 15 dieser Organisationen aus unterschiedlichen Bereichen arbeiten wir bis heute eng zusammen und tauschen Organisationsmöglichkeiten sowie politische Zielsetzungen und Erfahrungen aus. Dazu gehören Frauen- und Jugendorganisationen ebenso wie selbst organisierte KleinbäuerInnen. In unserer Arbeit achten wir auf größtmögliche Gleichberechtigung in den Beziehungen, erleben Veränderungsprozesse auf beiden Seiten mit und reflektieren diese fortlaufend. Mit den Frauen von der Organisation Fundación entre Mujeres (FEM) haben wir beispielsweise sehr intensiv über unsere gegenseitigen Organisationsformen diskutiert. Dabei stellte sich heraus, dass bei Projektfinanzierungen oftmals diejenigen am meisten begünstigt werden, deren Mitglieder im höchsten Entscheidungsgremium vertreten sind. Jetzt arbeitet die FEM an einer Umstrukturierung, um Begünstigte direkt zu beteiligen, Bevorzugung zu verhindern und demokratische Prozesse zu sichern.
Es gehört zu den schönsten Momenten des Austauschs, wenn wir die Ergebnisse der Projekte nicht nur in den materiellen Bedingungen, sondern auch im Selbstbewusstsein der Landfrauen erleben oder Jugendlichen in armen barrios bei ihrer materiellen und politischen Organisationsarbeit über die Schulter schauen können.
Da es hierzulande unser Anliegen ist, internationale Muster aufzuzeigen und Menschen zu motivieren sich für Veränderungen bestehender Verhältnisse einzusetzen, ist die Projektarbeit mit Nicaragua sehr wichtig. Deshalb unterstützen wir auch die kontinentalen Bewegungen gegen die Freihandelsverträge und Privatisierungsprojekte und machen Öffentlichkeitsarbeit bezüglich der Interessen von USA, EU und internationalen Konzernen an den mittelamerikanischen Märkten. Wir stehen an der Seite von Stadtteil-, Frauen-, Landlosen-, Menschenrechts- und Antikorruptionsbewegungen im Kampf um Selbstorganisation sowie demokratische und partizipative Rechte. Der Anspruch durch unsere Öffentlichkeitsarbeit an einer Veränderung der Verhältnisse mitzuwirken steht damit über unserem Interesse, Menschen in Nicaragua durch Spenden zu unterstützen.

Entwicklung des Alternativen Kaffeehandels
In den 1970er Jahren begannen so genannte Dritte-Welt-Initiativen Waren aus Entwicklungsländern, insbesondere Kaffee, nach Deutschland einzuführen und auf Ständen oder in „Dritte Welt Läden“ zu verkaufen. Der Import und Großhandel wurde in der Gesellschaft zur Förderung der Partnerschaft mit der Dritten Welt (GEPA) gebündelt. Einige Jahre später begannen auch Solidaritätsinitiativen der revolutionären Bewegungen in Mittelamerika mit dem Vertrieb von Kaffee. Der anfänglich eher symbolische Handel bekam zunehmend wirtschaftliche Bedeutung. Die Solidaritätsinitiativen in Deutschland haben sich in der MITKA zusammengeschlossen. Ein wichtiger Einschnitt war 1992 die Gründung des Vereins TransFair e.V. durch karitative Organisationen. Der Verein vergibt in Deutschland das TransFair-Siegel, mit dem Produkte gekennzeichnet werden, die Mindeststandards bei Arbeits- und Produktionsbedingungen erfüllen. Werden diese Bedingungen eingehalten, dann wird ein garantierter, höherer Einkaufspreis bezahlt. Mit diesem Siegel wurde der „Faire Handel“ als Begriff etabliert. Heute lassen sich zwei Grundpositionen des Alternativen Handels unterscheiden:
Beim fairen Handel nach TransFair-Muster ist die Motivation vom Ansatz her eher von der Entwicklungshilfe geprägt. KleinproduzentInnen soll der Marktzugang in Deutschland mit angemessenen Preisen ermöglicht werden. Mit diesem Ansatz wird der Verkauf von TransFair-Produkten in Supermärkten und bei Discountern gerechtfertigt. Der Einstieg von Konzernen ist erwünscht.
Auf der anderen Seite gibt es den fairen Handel nach Weltladen-Muster beziehungsweise den Alternativen Handel. Gemeinsam ist den Weltläden und politischen Solidaritätsinitiativen die Einsicht, dass unser Wirtschaftssystem nicht nur im Süden, sondern auch im Norden zu Problemen führt. Ein Handel, der nur wenige ProduzentInnen von weltmarktfähigen Produkten erreicht, kann nicht fair sein, zumal er von Unternehmen betrieben wird, die auch für unfaire Produkte und ausbeuterische Arbeitsbedingungen verantwortlich gemacht werden. Deshalb wird die Zusammenarbeit mit Konzernen abgelehnt. Das TransFair-Siegel könnte sein Ansehen bei kritischeren Gruppen und KonsumentInnen heben, wenn es auch für den Handel im Norden Mindeststandards einführen würde. Das ist aber nicht zu erwarten, da den KleinbäuerInnen im Süden eine Zertifizierung leichter zuzumuten ist, als den Handelsriesen.
// Eckhard Capell

Das Freihandelsabkommen bedeutet weitere Verarmung

In den 1980er Jahren legte auch die Linke in Zentralamerika auf gute Beziehungen zur Europäischen Union (EU) Wert. Was hat sich geändert?
Die Position der EU hat sich in Bezug auf Zentralamerika grundlegend gewandelt. In den 1980er Jahren unterstützte sie die Friedensprozesse und stellte dadurch eine positive Alternative zu den USA dar.
Heute ist die EU eine imperialistische Macht, die sich im Wettlauf mit anderen Wirtschaftszentren wie den USA befindet. Zentralamerika ist nur eine Schachfigur in diesem Spiel. Das geplante Assoziierungsabkommen ist dafür ein aktuelles Beispiel. Vor drei Jahren wurde, gegen großen Widerstand der sozialen Bewegungen das Freihandelsabkommen zwischen den USA und Zentralamerika (CAFTA) verabschiedet. Im Oktober 2007 begannen die Verhandlungen mit der EU.

Was kritisieren Sie an diesem geplanten Abkommen?
Zunächst kann von Verhandlungen nicht wirklich die Rede sein. Denn grundlegende Änderungen an den von der EU vorgelegten Plänen waren nicht möglich. Zudem bestand die EU darauf, dass alle Staaten Zentralamerikas im Block verhandeln. Dadurch können kritischere Regierungen besser unter Druck gesetzt werden.

Ist das schon geschehen?
Ja, Anfang April zog sich die Regierung Nicaraguas von den Verhandlungen zurück. Zuvor hatte sie die Einrichtung eines Investitionsfonds in Höhe von 60 Milliarden US‑Dollar gefordert, zu dem die EU‑Staaten 90 Prozent beisteuern sollten, um die wirtschaftlichen Ungleichgewichte zu kompensieren. Auf Druck der EU und der Nachbarstaaten nimmt Nicaragua bald wieder an den Verhandlungen teil.

Welche Folgen hätte das Abkommen für die zentralamerikanischen Länder?
Für die EU‑Länder würde es einen ungehinderten Zugang zu den Rohstoffen und Märkten unserer Länder, sowie bessere Niederlassungsrechte für ihre Unternehmen bedeuten. Dadurch würden unsere eigenen Produkte vom Markt verdrängt und die lokale Ökonomie geschwächt. Eine höhere Arbeitslosigkeit und eine weitere Verarmung für große Teile der Bevölkerung, sowohl in den Städten als auch auf dem Land wären die Folge. Dadurch würde wiederum die Migration erhöht. Diese negativen Folgen konnten wir schon beim CAFTA-Vertrag mit den USA feststellen. Das Abkommen mit der EU würde die Migration nur noch verschärfen.

Wer protestiert in Zentralamerika gegen das Abkommen?
Im Bündnis gegen das Abkommen sind Gewerkschaften aber auch Bauern- und Landarbeiterorganisationen wie Via Campesina vertreten. Auch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen beteiligen sich an den Protesten.

Gibt es auch Proteste von lateinamerikanischen Unternehmen, die schließlich auch kein Interesse an der Konkurrenz der EU haben?
Nein, es gibt in den zentralamerikanischen Ländern auf der Kapitalseite keine relevante Interessenvertretung, die sich gegen solche Verträge ausspricht. Das hat mit der historischen Entwicklung in diesen Ländern zu tun. Es handelte sich um einen von Europa oder den USA abhängigen Kapitalismus. Deshalb haben in der Geschichte Zentralamerikas immer die sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und Bauernorganisationen und nicht die abhängige Bourgeoisie gegen den Ausverkauf der Bodenschätze des Landes gekämpft.
Zudem wird das Abkommen zwischen der EU und Zentralamerika in der offiziellen Propaganda als wichtig für die internationalen Beziehungen unserer Länder verkauft. Den Gegnern des Abkommens wird unterstellt, sie würden die Länder in die politische und wirtschaftliche Isolation treiben. Diese Propaganda wird von den zentralamerikanischen Regierungen betrieben und von den Wirtschaftsverbänden geteilt.

Nun wäre ein solcher Rückzug vom Weltmarkt für die Menschen in Zentralamerika sicher keine Lösung. Welche Alternativen haben die sozialen Bewegungen zum Abkommen mit der EU?
Das von Venezuela initiierte Bündnis ALBA (Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerikas), dem sich auch Nicaragua und Honduras angeschlossen haben, hat zu positiven Effekten in vielen Bereichen geführt. In der Kleinindustrie konnten sinnvolle Arbeitsplätze geschaffen werden. Auch die Erwachsenenbildung und die Gesundheitsversorgung wurden durch ALBA verbessert. Das Abkommen zeigt, dass es eine Alternative zum neoliberalen Dogma gibt, das sowohl für das CAFTA- Abkommen als auch für den von der EU favorisierten Vertrag prägend ist. Diese positiven Effekte von ALBA wären durch diesen Vertrag bedroht.

Was erhoffen Sie sich von der Rundreise in Europa?
Die Menschen sollen für die Problematik sensibilisiert werden. Dabei sollte betont werden, dass der Widerstand gegen das Abkommen ein Kampf gegen den internationalen Kapitalismus ist, der letztlich für die Banken-, Ernährungs- und Klimakrise verantwortlich ist. Wir wenden uns also gegen eine Politik, deren Auswirkungen nicht nur die Menschen in unseren Ländern zu spüren bekommen.
// Interview: Peter Nowak
Weitere Infos: www.stop-assoziierung.de

Ist der Ruf erst ruiniert …
Die EU will Freihandel mit dem wirtschaftlich viel schwächeren Zentralamerika
Der Zeitplan ist ins Stocken geraten. Eigentlich soll das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union (EU) und Zentralamerika noch dieses Jahr in trockene Tücher gebracht werden. Doch am 1. April wurde die siebte Verhandlungsrunde „vorübergehend suspendiert“, wie die EU‑Kommission auf ihrer Homepage verkündete. Die Forderung Nicaraguas, einen regionalen Entwicklungsfonds in Höhe von 60 Milliarden US‑Dollar zu schaffen, der zu 90 Prozent von der EU finanziert werden sollte, war zuvor abgelehnt worden. Kurz darauf zog sich die nicaraguanische Delegation zurück und forderte, die Verhandlungen für sechs Monate zu unterbrechen. Man wolle nicht mit „einer Pistole am Kopf“ weiter diskutieren, ließ der Präsident Nicaraguas, Daniel Ortega, verlauten. Durch den Putsch gegen den demokratisch gewählten honduranischen Präsidenten Manuel Zelaya vom 28. Juni werden die Verhandlungen weiter verkompliziert. Da die EU die De‑Facto Regierung in Honduras genauso wie die übrigen zentralamerikanischen Länder nicht anerkennt, können die Verhandlungen vorerst nicht fortgesetzt werden.
Diese hatten im Oktober 2007 zwischen der EU und den zentralamerikanischen Staaten Costa Rica, Guatemala, El Salvador, Honduras und Nicaragua begonnen. Panama nimmt als Beobachter daran teil. Die EU besteht auf Verhandlungen von Block zu Block.
Durch ein so genanntes Assoziierungsabkommen sollen die drei Bereiche politischer Dialog, Entwicklungszusammenarbeit und Handel zusammen gefasst werden. Die ersten beiden Bereiche sind derzeit durch ein Rahmenabkommen von 2003 reglementiert. Als eigentliche Neuerung würde das Assoziierungsabkommen weitgehenden Freihandel zwischen beiden Wirtschaftsblöcken einführen.
Kritik an den Verhandlungen wird in Zentralamerika vor allem von Gewerkschaften, Kleinbäuerinnen und -bauern und Nichtregierungsorganisationen geübt. Sie werfen der EU und den zentralamerikanischen Regierungen vor, die Verhandlungen intransparent zu führen und die Zivilgesellschaft nicht ausreichend einzubeziehen. Zudem würden die starken Asymmetrien zwischen den Wirtschaftsblöcken nicht berücksichtigt. Während die EU für Zentralamerika nach den USA die zweitwichtigste internationale Handelspartnerin darstellt, ist die Bedeutung umgekehrt marginal. Die Importe der EU aus Zentralamerika belaufen sich auf gerade einmal 0,3 Prozent der gesamten Importe und nur 0,4 Prozent der EU‑Exporte gehen nach Zentralamerika. Über die Hälfte des Handelsvolumens wird zudem mit Costa Rica abgewickelt. Zentralamerika exportiert vorwiegend unverarbeitete Agrarprodukte, während die EU‑Staaten hauptsächlich Industrieprodukte exportieren.
Aufgrund der für die EU insgesamt zu vernachlässigenden wirtschaftlichen Bedeutung Zentralamerikas sind die Verhandlungen vor allem für europäische Unternehmen von Bedeutung. Als interessante Sektoren gelten zum Beispiel Telekommunikation, Energie, Wasser, Tourismus und Finanzdienstleistungen. Laut KritikerInnen geht es der EU vor allem um Themen, wie den Zugang zu staatlichen Ausschreibungen, den Schutz von Investitionen oder die Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Der gewünschte Inhalt des Freihandelsvertrages widerspreche somit teilweise offen den Zielen der anderen Bereiche Dialog sowie Entwicklungszusammenarbeit und biete Zentralamerika keine realen Entwicklungschancen.
Bisher genoss die EU in Zentralamerika einen vergleichsweise guten Ruf. Während der Bürgerkriege in den 1980er Jahren setzten die Europäer auf Dialog, während die USA militärisch intervenierten. Im Bereich Entwicklungszusammenarbeit tritt die EU als mit Abstand größte Geberin der Region auf. Rhetorisch stellt sie immer wieder soziale und humane Aspekte heraus, darunter etwa die Bekämpfung von Armut und sozialer Ungleichheit oder die Förderung von nachhaltiger Entwicklung und Umweltschutz. KritikerInnen der EU‑Außenhandelspolitik sehen jedoch zunehmend kaum mehr Unterschiede zur Strategie der USA. Diese hatten bereits 1994 beziehungsweise 1997 Freihandelsabkommen mit Mexiko und Chile geschlossen. Die EU folgte in den Jahren 2000 und 2002 auf dem Fuß. Auch mit Zentralamerika schlossen die USA bereits 2005 ein Freihandelsabkommen.
In der Praxis verfolgt die EU vor allem das Ziel, bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu avancieren. Darauf hatten sich die Staats- und Regierungschefs im Rahmen der so genannten Lissabon-Strategie im Jahre 2000 geeinigt. 2006 legte das Handelskommissariat der EU das Aktionsprogramm „Ein wettbewerbsfähiges Europa in einer globalen Welt“ vor, in dem die weitere Strategie der EU in Handelsfragen dargelegt wurde. Ziel ist es, vor dem Hintergrund der stockenden Verhandlungen im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) vermehrt auf bilaterale Abkommen zu setzen, die über den Status-Quo in der WTO hinausgehen. Darin inbegriffen sind auch die umstrittenen „Singapur-Themen“ (Investitionen, Wettbewerb, öffentliches Beschaffungswesen und Handelserleichterungen) sowie weitgehende Regelungen zu geistigem Eigentum.
// Tobias Lambert

Nur noch rote Zahlen

Dass die aktuelle Krise Nicaragua besonders hart trifft, ist das Ergebnis des radikalen neoliberalen Umbaus im vergangenen Jahrzehnt. Zur Jahrtausendwende war Nicaragua so hoch verschuldet, dass es nicht mehr in der Lage war, die Schulden zu bedienen. Durch einen großzügigen Erlass und Umschuldungen konnte der Bankrott verhindert und bis zum Jahr 2004 der Staatshaushalt saniert werden. Die Regierung unterwarf sich den strengen Auflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und räumte sogenannte Handelshemmnisse aus dem Weg, um Investitionsanreize zu schaffen. Mit seiner Exportorientierung geriet Nicaragua in eine Konkurrenzspirale, die immer weiter und immer schneller angetrieben wurde. Der Schaffung zollfreier Produktionsenklaven folgte der Versuch durch Zoll- und Freihandelsabkommen Absatzmärkte und Investitionen zu sichern.
Die Einrichtung sogenannter zollfreier Produktionsstätten war vor allem für Verarbeitungs- und Zulieferbetriebe der Textilbranche attraktiv. Nicaragua lockte internationale Investoren an, die hauptsächlich für den US-Markt produzierten. Durch großzügige Steuervorteile, niedrige Investitionskosten und günstige Produktionsbedingungen konnte Nicaragua mit anderen Billigstandorten konkurrieren. Es gelang das Investitionsvolumen zu vervielfachen. Ende 2007 existierten in diesem Bereich 89.000 Arbeitsstellen. Der durchschnittliche ArbeitnehmerInnenlohn war mit 118 US‑Dollar im internationalen Vergleich gering. Die Branche zeigte beeindruckende Wachstumsraten. Trotz geringer Steuereinnahmen, schlecht bezahlter und ungesunder Arbeitsplätze wurde die Textilindustrie zum Zugpferd der Exportwirtschaft. Über 30 Prozent der nicaraguanischen Exporte in die USA kommen aus diesem Bereich. Doch die Fixierung auf den US-Markt und die Tatsache, dass Investoren mit einem sehr geringen Investitionsaufwand produzieren konnten, erwies sich als nicht nachhaltig. Angesichts schlechter Marktbedingungen kehren nun viele ausländische Unternehmen dem Land den Rücken und schließen oder verlagern die Produktion. Dieses Jahr ist selbst bei einer verhältnismäßig günstigen Entwicklung der Konjunkturlage mit einem signifikanten Einbruch der Ausfuhren von circa zehn Prozent zu rechnen. Bis März 2009 haben insgesamt 29 Betriebe mit über 27.000 Beschäftigten die Produktion eingestellt. Über 25 Prozent der in der Textilbranche bestehenden Arbeitsplätze sind bereits verloren gegangen.
Das Zentralamerikanische Freihandelsabkommen CAFTA zwischen den Staaten Mittelamerikas und den USA wurde seitens Nicaraguas vor allem vom exportorientierten Agrarbusiness mit Nachdruck betrieben. In der Agrarindustrie bedeutete die Weltmarktfixierung Nicaraguas eine Umstrukturierung der Nahrungsmittelproduktion. Statt einer breiten und auf die Versorgung der Bevölkerung ausgerichteten Produktpalette, setzte man auf den Ausbau großflächiger Monokulturen einiger gewinnversprechender Produkte wie Erdnüsse und Kaffee oder auf Meeresfrüchte und Viehzucht. Die Agrarindustrie hat nun ebenfalls mit der nicht mehr vorhandenen Nachfrage und den wackligen Preisen in den USA und in Europa zu kämpfen und musste die Produktion zurückfahren. Viele Erntehelfer werden in diesem Jahr keine Arbeit finden. Die Zahlen, die von der Nicaraguanischen Zentralbank für das erste Quartal 2009 vorgelegt wurden, haben es in sich: Die Exporterlöse weisen für alle wichtigen Produkte einen deutlichen Rückgang zu den Vergleichswerten des Vorjahres auf. So sanken die Exporterlöse für Kaffee, Meeresfrüchte und Erdnüsse im ersten Quartal 2009 um durchschnittlich 20 Prozent.
Der gleichzeitige Rückgang der Entwicklungshilfe ist vor dem Hintergrund des ökonomischen Krisenpanoramas fatal. Er ist einerseits Ergebnis innenpolitischer Spannungen, da viele Staaten ihre Entwicklungshilfezahlungen aus Protest gegen den autoritären Kurs der Regierungspartei FSLN und den offensichtlichen Unregelmäßigkeiten bei den Kommunalwahlen im November 2008 einstellten. Auch die EU hat ihre Budgethilfe eingefroren. Das Ergebnis: Die Entwicklungshilfe purzelte von 630 Millionen US‑Dollar im Jahr 2007 auf nur noch 401 Millionen in 2008, der geringste Stand seit 14 Jahren. Hinzu kommt erschwerend hinzu, dass die verfügbaren Mittel spendenabhängiger nichtstaatlicher Hilfsorganisationen durch weniger Einnahmen zurückgefahren werden mussten.
Mehr als eine Million NicaraguanerInnen leben im Ausland. Die meisten von ihnen sind zum Arbeiten in die USA und nach Costa Rica gegangen und überweisen ihren Angehörigen einen Teil des Verdienstes. Offiziell betrugen diese remesas im Jahr 2007 fast 800 Millionen US‑Dollar und entsprachen somit einem Sechstel des Bruttoinlandsproduktes. Angesichts der krisenbedingten steigenden Arbeitslosigkeit unter MigrantInnen, sind auch die remesas stark rückläufig.
Lediglich im Bereich der Direktinvestitionen ist die Stimmung dank der Allianz mit Venezuela besser. 2008 hatte es unter anderem durch venezolanisches Kapital beinahe eine Verdoppelung ausländischer Direktinvestitionen von 335 Millionen US‑Dollar im Jahr 2007 auf 600 Millionen gegeben. Trotz Krise hofft die Regierung Ortega darauf, dass auch 2009 der Rekordwert von 2008 insbesondere durch Investitionen im Energiesektor wieder erreicht wird.
In den letzten fünf Jahren hatte Nicaragua stets ein solides Wirtschaftswachstum von drei bis fünf Prozent vorweisen können. Noch vor einem Jahr wurde auch für 2009 ein Wachstum von über drei Prozent voraus gesagt. Mittlerweile mussten diese Erwartungen deutlich nach unten korrigiert werden. Der IWF geht davon aus, dass sich die Wirtschaftslage im Verlauf des Jahres noch beruhigen und das Wachstum für das Jahr 2009 mit circa einem Prozent leicht positiv ausfallen kann. Dennoch werden bis zu 52.000 Arbeitsplätze verloren gehen, insbesondere in der Exportindustrie. Andere Prognosen sprechen bereits davon, dass das Wirtschaftswachstum 2009 negativ ausfallen wird. So rechnet die Nicaraguanische Stiftung für wirtschaftliche und soziale Entwicklung FUNIDES vor, dass das Bruttoinlandsprodukt um 0,5 bis 1,5 Prozentpunkte fallen und die Zahl der von Armut betroffenen um bis zu 64.000 Personen steigen werde.
Die auf den Weltmarkt fixierte Exportorientierung kann der zerbrechlichen Volkswirtschaft substanziell schaden, weil sie in Krisenzeiten externen Entwicklungen schutzlos ausgeliefert ist. Der Staatshaushalt bietet keinen Spielraum, um durch künstliche Nachfragesteigerung oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen die Folgen der Krise abzudämpfen. Diese verschärft die Probleme, die ohnehin schon existierten. Nicaragua ist bitterarm, die Kleinbauern und -bäuerinnen haben schwer mit den Folgen des Freihandels zu kämpfen. Landflucht, Arbeitslosigkeit und das Fehlen regulärer Arbeit sind schon lange ein Problem. Fast die Hälfte der Bevölkerung muss mit weniger als zwei US‑Dollar am Tag auskommen. Die größte Hoffnung, die mit der Ortega Regierung verbunden war, lag in einem Umdenken weg von der auf die europäischen und nordamerikanischen Märkte fixierten neoliberalen Freihandelslogik hin zu einer verstärkten und solidarischen Südkooperation. Durch eine enge Zusammenarbeit mit Venezuela waren seit 2007 verschiedene Maßnahmen zur Armutsbekämpfung in Gang gekommen. Jedoch fehlt es an Fortschritten und vor allem Erfolgsmeldungen. Wegen des stark gesunkenen Ölpreises reduzieren sich auch die Hilfsleistungen aus Venezuela.
Doch in jeder Krise liegt bekanntlich auch eine Chance. Während der Handelsgespräche zum Assoziierungsabkommen zwischen den VertreterInnen der EU und der Mittelamerikanischen Länder kam es zum Eklat, als Nicaragua einen Antrag für einen Strukturausgleichsfonds in Milliardenhöhe vorstellte. Der Fonds, der die negativen Auswirkungen des angestrebten Freihandelsabkommens ausgleichen sollte, hätte zum Großteil von der EU finanziert werden sollen. Die anderen TeilnehmerInnen lehnten den Vorschlag ab, woraufhin Nicaragua die Verhandlungen platzen ließ. Das Assoziierungsabkommen soll dennoch im laufenden Jahr zum Abschluss gebracht werden. Obwohl sich Protest gegen das Abkommen regt und die FreihandelsgegnerInnen die ausgesetzten Verhandlungen als einen zeitlichen Aufschub nutzen werden, um ihre Kampagne gegen den Freihandelsvertrag in Schwung zu bringen, ist fraglich, ob Nicaragua sich langfristig aus dem Verhandlungsprozess ausklinken wird. BeobachterInnen vermuten, dass es der Regierung nicht darum geht, das Abkommen tatsächlich scheitern zu lassen, weil man sich in der Region nicht isolieren und das einheimische Agrarbusiness nicht gegen sich aufbringen möchte. Vielmehr gehe es Ortega darum, ein Druckmittel gegen die Verweigerung der Entwicklungshilfegelder in der Hand zu haben. Indes hat Nicaragua bereits signalisiert, wieder an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Trotz sozialistischer Reden wagt Ortega den Bruch mit der neoliberalen Handlungsmaxime noch nicht und hofft angesichts der traurigen Haushaltslage auf neue Kredite des IWF. Eine Alternative besteht indes in einer Stärkung der Wirtschaftsgemeinschaft Bolivarianische Alternative für Amerika (ALBA). Eine angestrebte gemeinsame Tauschwährung soll den Handel untereinander stärken und die dramatischen Folgen der Krise durch gegenseitige Solidarität abfedern. Die Staats- und Regierungschefs der ALBA Mitgliedstaaten, zu denen auch Nicaragua zählt, haben in einer gemeinsamen politischen Erklärung „die vom kapitalistischen System verursachten Schäden an Gesellschaft und Natur“ verurteilt und erneut ihre Absicht zum Ausdruck gebracht, eine Alternative zu den falschen Rezepten des Freihandels zu schaffen.

„Eine Versorgungsgarantie für alle besteht nicht“

Herr Nascimento, Brasilien gilt neben Kuba hinsichtlich seiner Aids-Politik in Lateinamerika als vorbildlich. Ist das tatsächlich so?
Richtig ist, dass Brasilien allen Betroffenen eine Versorgung mit antiretroviralen Medikamenten (ARV) garantiert. Die ARV werden zur Behandlung von Aids eingesetzt. Sie unterdrücken die Virusmengen und können das Auftreten von opportunistischen Krankheiten, wie etwa Lungenentzündung, verhindern. Aids ist durch ARV nicht heilbar, die Lebenserwartung der Infizierten steigt aber dadurch. Brasiliens Ruf, eine vorbildliche Aids-Politik zu betreiben, muss jedoch korrigiert werden.

Inwiefern? Immerhin initiierte die Regierung bereits 1985 ein nationales HIV-Präventionsprogramm.
Tatsächlich wurde seit der Erstentdeckung von HIV relativ schnell versucht, eine wirksame Antwort auf die Epidemie zu finden. Falsch ist aber, dass die Initiative zur Bekämpfung von HIV/Aids vom brasilianischen Staat ausging. Vielmehr war es das Engagement der Zivilgesellschaft, das die Regierung zum Handeln zwang – so lautet die These richtig. Bis heute gibt es in Brasilien viele aktive NGO zum Thema Aids. Die Präventionsgruppe GAPA ist die größte davon.

Können Sie das Engagement der Bevölkerung genauer erläutern?
Als HIV Anfang der 1980er Jahre das erste Mal auftrat, wurde diese Tatsache von offizieller Seite zunächst verleugnet. Die tödliche Gefahr, die von dem Virus ausging und die fehlenden Möglichkeiten, HIV zu diagnostizieren und zu behandeln, erzeugten ein Klima der Angst innerhalb der Bevölkerung. Schnell formierten sich Interessenvertretungen. Diese übten Druck auf staatliche Institutionen aus und forderten eine angemessene Lösung – ohne sie hätte die Regierung das Problem vermutlich weiter verdrängt.

Etwa zeitgleich zum Beginn der HIV-Epidemie, nämlich 1985, endete in Brasilien eine 20-jährige Militärdiktatur …
… wenn man so will, trat HIV zum „richtigen“ Zeitpunkt auf, nämlich exakt in der Phase der Redemokratisierung und damit der Erstarkung des zivilgesellschaftlichen Engagements. Die medizinische Versorgung war damals sehr defizitär und hauptsächlich privat organisiert. 1988 wurde die Verfassung reformiert und – auch auf Druck der Zivilbevölkerung – die staatliche Gesundheitsversorgung, das Sistema Único de Sáude, eingeführt. Theoretisch sollen damit alle BrasilianerInnen adäquat medizinisch versorgt werden.

Gesundheitsversorgung wurde also zunehmend als Recht der BürgerInnen und Pflicht des Staates verstanden?
Genau. Und das Recht auf eine angemessene Behandlung HIV-Infizierter und Aids-Erkrankter schloss dieser Paradigmenwechsel mit ein. Anscheinend mit Erfolg. Immerhin konnte in Brasilien die Epidemie eingedämmt werden. Seit Mitte der 1990er Jahre sind die HIV-Neuinfektionen konstant geblieben und die Zahl der Aids-Toten zurückgegangen. Trotzdem sind große Teile der brasilianischen Gesellschaft von einer adäquaten Behandlungsmöglichkeit weiterhin ausgeschlossen.
Warum? Immerhin garantiert Brasilien seit 1997 allen HIV-Infizierten den freien Zugang zu ARV-Medikamenten.
Die Garantie besteht und begründet Brasiliens Ruf, eine vorzeigbare Aids-Politik zu betreiben. Von einer „Garantie für alle“ zu sprechen, ist jedoch nicht haltbar. Denn nicht alle BrasilianerInnen sind gesundheitlich optimal versorgt. Brasilien ist ja riesig, allein Bahia, einer von 27 Bundesstaaten, ist schon größer als Frankreich. Das Land besteht aus äußerst heterogenen Großregionen. So gilt der wirtschaftlich schwache Norden und Nordosten als „Armenhaus“ Brasiliens, hier ist die Gesundheitsversorgung mitunter miserabel. Im hochindustrialisierten Südosten und Süden hat das Gesundheitssystem hingegen eine höhere Qualität.

Welche Konsequenzen hat das?
Die Konsequenz ist, dass sich die HIV/Aids-Epidemie vom Süden nach Norden ausbreitet. HIV war anfangs ein Problem der großen Metropolen wie Rio und São Paulo. Inzwischen tritt das Virus nun verstärkt im ländlichen Norden und Nordosten Brasiliens auf. Besonders erschreckend ist die rapide Zunahme des Virus unter Frauen, die meist unwissentlich durch ihre Ehemänner angesteckt werden. Von einem Rückgang der Bedrohung kann also nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Die Epidemie wird zum Armutsproblem. Obwohl die Verteilung der ARV-Medikamente auf Bundesebene geregelt ist, kommen diese in schwer zugänglichen Regionen nicht immer an. Zudem fehlt es in den wirtschaftlich schwachen Staaten häufig an medizinischem Know-how und Infrastruktur, um alle Nebenerkrankungen angemessen zu behandeln. Letztlich führt dieses defizitäre Therapieprogramm zu mehr Aids-Toten in den ländlichen Gebieten. Im ersten Jahr nach Ausbruch der Krankheit sterben im Norden über 20 Prozent der PatientInnen, im Süden sind es nur rund 13 Prozent.

Während sich die Aids-Epidemie im Norden ausbreitet, stagniert sie im Süden. Nun ist das Verhältnis der vornehmlich hellhäutigen SüdbrasilianerInnen zu den dunkelhäutigen NordostbrasilianerInnen mitunter von rassistischen Vorurteilen geprägt. Wird die Ausbreitung des HI-Virus diese Vorurteile noch verstärken?
Nein, das wäre zu einfach gedacht. Rassistische Vorurteile existieren zwar. Dass durch die Aids-Epidemie diese Vorurteile unterfüttert oder gar verstärkt werden, glaube ich jedoch nicht.

Und die katholische Kirche? Trägt sie in den ländlichen Gebieten zur Ausbreitung der Epidemie bei? Etwa, indem sie die Verwendung von Kondomen verbietet?
Auch das trifft nicht zu. Es wäre falsch, die Kirche als „Moralapostel“ zu sehen, die ihre AnhängerInnen bewusst dem HI-Virus ausliefert. Die Kirche nimmt keinen maßgeblichen Einfluss auf die Aids-Politik. Im Falle von GAPA wirkt sie sogar unterstützend, wir bekommen Gelder von der katholischen Organisation Misereor. In absoluten Zahlen ist Brasilien zwar nach wie vor das Land mit den weltweit meisten KatholikInnen. Der Katholizismus als Glaubens- und Hörigkeitsnorm hat jedoch an Relevanz verloren.

GAPA existiert seit über 20 Jahren – was sind die wichtigsten Errungenschaften aus zwei Jahrzehnten Engagement gegen Aids?
Die Arbeit von GAPA gliedert sich in drei Segmente: Aufklärungskampagnen, politische Arbeit und juristische und psychologische Beratung für Infizierte. Wir betreuen jährlich etwa 50.000 Personen. Eine medizinische Versorgung bieten wir bewusst nicht an – das ist die Verantwortung des Staates. Unsere wichtigste politische Errungenschaft ist die erfolgreiche Lobbyarbeit zur Patentbrechung. Brasilien war das erste der so genannten „Schwellenländer“, das von seinem Recht auf Zwangslizenzen Gebrauch machte.

Zwangslizenzen?
Sie wurden 2001 auf Druck der afrikanischen Staaten in das Welthandelsrecht integriert und ergänzen das TRIPS-Abkommen über Handelsrechte und geistiges Eigentum. Die WTO-Staaten verabschiedeten eine Erklärung, nach der eine Aufhebung des Patentschutzes aufgrund dringlicher Gesundheitsprobleme erlaubt ist. Konkret heißt das: Generika dürfen im eigenen Land produziert werden, auch wenn die Herstellerfirmen das Patent nicht freigegeben haben.

Generika sind …
Wirkstoffgleiche Kopien von Originalmedikamenten zur Behandlung von Aids. Generika sind wesentlich preisgünstiger als patentierte Medikamente mit Markennamen, die teuer von internationalen Pharmaunternehmen importiert werden müssen. Die Generika senken die Therapiekosten drastisch.

Und diese Generika werden in Brasilien hergestellt?
Bereits 1996 gab es einen Ministerbeschluss zur Produktion, heute werden sieben von 17 weltweit verfügbaren ARV in Brasilien produziert – und damit zu verträglichen Preisen verkauft. Die restlichen Medikamente müssen nach wie vor importiert werden. Auch weil Brasilien, anders als etwa Indien, bisher nicht intensiv in die medizinische Forschung investiert hat. GAPA ist nicht nur im eigenen Land aktiv, sondern berät andere NGO in elf Ländern Lateinamerikas und Afrikas zum Themas Aids. Auf der Welt-Aids-Konferenz 2002 in Barcelona bot Brasilien anderen Entwicklungsländern an, sie im Rahmen einer Süd-Süd-Kooperation zu unterstützen. GAPA bemüht sich konkret, dass NGO mit anderen Inhalten die Aidsaufklärung in ihre bisherige Arbeit wie selbstverständlich integrieren. In Haiti arbeiten wir mit Vereinigungen von LandarbeiterInnen zusammen und in Afrika pflegen wir Beratungs-Kooperationen mit NGO aus Angola und Mozambique. Die Länder gehören wie Brasilien zur Gemeinschaft portugiesischsprachiger Staaten CPLP.

Man könnte also von einer internationalen Entwicklungshilfe Brasiliens sprechen?
Falsch. Man könnte von einer Beratungshilfe der Zivilgesellschaft gemeinsam mit dem brasilianischen Staat sprechen – das ist ein Unterschied.

KASTEN

Nascimento, harley
Die HIV/Aids-Rate in Brasilien liegt laut den Vereinten Nationen bei 0.61 Prozent. Das sind 730.000 infizierte BrasilianerInnen zwischen 15 und 49 Jahren. Laut dem brasilianischen Gesundheitsministerium starben seit 1980 über 192.000 Brasilianer an Aids.

Harley Henriques do Nascimento (40) ist Chefkoordinator von GAPA-Bahia (Grupo de Apoio à Prevenção à Aids da Bahia). Der studierte Betriebswirt gründete die NGO 1988 im Alter von 20 Jahren. GAPA ist heute die größte NGO Brasiliens zum Thema Aids und hat ihren Sitz in Salvador da Bahia. Die NGO tritt für die Umsetzung einer effizienten Aids-Politik im Land ein. Dabei versucht sie, vor allem die Schichten der Bevölkerung mit niedrigem Einkommen und geringer Bildung einzubeziehen.

Traumjob Soldat?

Knappe 90 Kilometer Luftlinie und satte 2.000 Höhenmeter liegen zwischen Kolumbiens Hauptstadt Bogotá und dem 400.000 Einwohner großen Villavicencio. Angeblich soll die Anfahrt auf der preisgekrönten „Autopista al Llano“ gerade mal anderthalb Stunden dauern. Doch dank regelmäßiger Erdrutsche, Bauarbeiten und Konvois von Öltankwagen braucht man oft dreimal so lange. Zumindest an der Straßensperre der Armee geht es zügig voran. Außerdem ist dieser Stopp ja nur zum eigenen Besten, „für die Sicherheit Kolumbiens“, wie ein Banner den wartenden Autofahrern mitteilt. Über dem Schriftzug wachen drei zu allem entschlossene Soldatenkonterfeis. Die Tarnfarbe ist dicker aufgetragen als in einem schlechten Vietnamfilm.
Die Uniformierten an der Straßensperre dagegen wirken wenig bedrohlich, selbst dann, wenn sie versuchen böse zu gucken. Sie sehen einfach zu jung aus für diesen Job, sind sicher nicht viel älter als 18 Jahre. Ernst mustern sie die beiden weißen Geländewagen des Amts für Humanitäre Hilfe der Europäischen Kommission (ECHO) und der Diakonie Katastrophenhilfe. Ein halbes Dutzend JournalistInnen schaut ausdruckslos von den Rücksitzen aus zurück. Dann werden wir durchgewunken, hinab in die Feuchtsavanne der Region Meta, die noch bis vor kurzem zu den wichtigsten Kokaanbaugebieten Kolumbiens gehörte.
Knapp die Hälfte der Menschen hier lebt in der Provinzmetropole Villavicencio, dem künftigen „Zweitwohnsitz der Oberschicht aus Bogotá“. So zumindest wünscht sich das die Lokalzeitung Llano 7 Días die deshalb seitenweise für einen Ausbau der Autobahn wirbt. Der übrige Inhalt des Blatts kreist um sportliche Spitzenleistungen, Familiendramen und halbherzige Korruptionsvorwürfe. Irgendwo dazwischen die Überschrift „Guerilleros in eigenem Minenfeld verwundet“. Bei einer der Verwundeten soll es sich um ein 15-jähriges Mädchen handeln, die jetzt im Militärhospital von Villavicencio liegt. Dann werden weitere Verwundete (3) und vom Militär getötete Guerilleros der FARC (3) aufgeführt – alles verfasst im Duktus der lokalen Fußballergebnisse.
„Immerhin ist ihnen das junge Mädchen überhaupt eine Nachricht wert“, sagt José Luis Campos, Gründer der Nichtregierungsorganisation (NRO) Benposta in Kolumbien, Partnerorganisation von ECHO und der Diakonie. „Noch bis vor kurzem wurde so gut wie gar nicht über die 11.000 Kinder und Jugendlichen informiert, die permanent in den bewaffneten Konflikt Kolumbiens verwickelt sind. Dabei ist die Situation so schlimm wie seit drei Jahren nicht mehr.“ Torjubel unterbricht Campos, er blickt hinüber zum Fußballfeld, wo ein paar Jungen bereits den nächsten Angriff laufen. Die meisten von ihnen kommen aus den Dörfern Metas und sind hier in Villavicencio, um zumindest für ein Jahr vom Krieg zu verschnaufen. In der seit 1982 bestehenden Kinderkommune von Benposta leben heute 63 Kinder und Jugendliche, die vom Dienst bei paramilitärischen Gruppen oder der Guerilla geflüchtet sind oder ihr Zuhause verließen, bevor sie von den bewaffneten Gruppen gewaltsam rekrutiert werden konnten. 400 weitere Kinder und Jugendliche besuchen den regulären Schul- und Förderunterricht in der von Benposta unterhaltenen Schule.
Wir schauen uns auf dem grünen Areal ein bisschen um. Die Schulräume der Kinderkommune sind am späten Nachmittag bereits leer. Reges Treiben herrscht dafür im Speisesaal, wo die jungen BewohnerInnen gerade kochen und Tische decken. „Für uns ist wichtig, dass die Kinder und Jugendlichen das Leben in der Kommune größtenteils selbst organisieren“, spricht uns eine Frau an, die sich als Carmen, Leiterin der Einrichtung vorstellt. „Wir regeln hauptsächlich Schulbetrieb, Workshops, psychologische Betreuung und kümmern uns um die Verwaltung. Die Kinderkommune ist alles, bloß kein Heim für arme Kinder.“
Drei solcher pädagogischen Einrichtungen unterhält Benposta inzwischen in den verschiedenen Regionen Kolumbiens. Befreiungstheologische Ideen treffen sich mit denen einer kollektiven Erziehung, nach Vorbild des russischen Pädagogen Anton Makarenko. Tischgebet und Selbstverwaltung sind an der Tagesordnung. „Sich selbst einzubringen und in zivilen Strukturen auszudrücken fällt vielen anfangs sehr schwer, die unter kriegsähnlichen Bedingungen aufgewachsen sind oder eine zeitlang die Befehlstrukturen der bewaffneten Gruppen gelebt haben“, erzählt Campos beim Abendessen. „Alle die hier sind, haben viel zu früh eine viel zu große Portion Wirklichkeit abbekommen. Frag doch einfach mal jemanden.“
In der nächsten Stunde werden wir, erst zaghaft, dann offen heraus mit Wirklichkeit überschüttet. „Mein Dorf wurde zwei Jahre lang von der FARC kontrolliert und wenn man fünfzehn wurde, entschied die Guerilla ob man mitkommen musste oder nicht“, erzählt ein Junge. „Bei uns wurden schon Kinder ab neun Jahren mitgenommen“, fällt ihm ein älteres Mädchen ins Wort und fügt hinzu: „Meine Eltern leben noch im Dorf und manchmal, wenn sie hier in der Stadt sind, erzählen sie mir, wer von meinen rekrutierten Freunden noch lebt und wer nicht. Viele halten nicht mal die ersten Monate durch.“
In den ländlichen Gemeinden Metas ist es vor allem die von den Militärschlägen der Regierung stark geschwächte FARC-Guerilla, welche Kinder als InformantInnen, Drogenkuriere und MinensucherInnen rekrutiert. Mädchen werden zu Köchinnen und Putzfrauen gemacht, oft zu Sex mit den Kämpfern gezwungen. Doch auch die in den Siedlungen operierenden Paramilitärs sollen solche Praktiken anwenden, erzählt ein anderes Mädchen. Und nicht immer stecke reiner Zwang hinter dem Beitritt zu einer bewaffneten Gruppe. „Eine Freundin, die heute auch in der Kinderkommune ist, erhoffte sich mehr Geld und Freiheit von ihrem Beitritt zu den Paras. Ein junger Kämpfer riet ihr, lieber wieder auszusteigen, denn ein besseres Leben würde sie so nicht finden“, beginnt sie ihren Bericht. „Als sie einem Kommandanten der Paras davon erzählte, erschossen sie anschließend den jungen Kämpfer vor ihren Augen und ließen sie sein Grab schaufeln.“
Am nächsten Tag fahren wir weiter aufs Land. Bis zum Amtsantritt von Álvaro Uribe im Jahr 2002 war die gesamte Gegend eine neutrale Zone für Verhandlungen zwischen Regierung und Guerilla. Die FARC nutzte die Zone jedoch auch für den massiven Anbau von Kokakulturen. Dann eroberten zunächst paramilitärische Gruppen und Militärs die Dörfer und Felder zurück und drängten die Guerilla in die nahen Bergketten ab. Anfang dieses Jahres setzten dann Sprühflugzeuge und Brandrodungen den Kokapflanzungen ein Ende. Seitdem leben viele ehemalige Kokabauern hier vom Anbau von Yams und Bananen für den Eigenbedarf, manchmal auch vom Fischfang und vereinzelten Hilfslieferungen der Regierung.
Am Fenster ziehen jetzt endlose Weideflächen und frische Pflanzungen von kniehohen Ölpalmenstecklingen vorbei. Auch François Duboc, Regionalleiter von ECHO im Bereich Information in Lateinamerika und der Karibik macht Photos. Er ist gespannt darauf zu sehen, wie die Kooperationsprojekte in den Dörfern laufen. „Die Kinderkommunen von Benposta sind nur ein Teil des umfassenden Schutzprogramms, an dem wir und die Diakonie Katastrophenhilfe uns beteiligen“, erzählt Duboc. „Gemeinsam werden wir aber auch in ländlichen Gegenden aktiv, wo der kolumbianische Staat bisher wenig tut.“
Keine leichte Mission, denn die anhaltende Präsenz bewaffneter Gruppen in der Region hat die sozialen Strukturen in den Dörfern aufgelöst, Angst und Misstrauen geschürt. Wöchentliche Nachbarschaftstreffen in den Dörfern anzuregen, offen über Probleme zu reden ist deshalb ein wichtiger erster Schritt. Nur so ist es auch möglich Einblick in konkrete Gefahrensituationen der Kinder und Jugendlichen zu bekommen und zu reagieren. „In jedem Fall sind unsere Projekte aber auf einen kurzen Zeitraum ausgelegt. Früher oder später muss diese Arbeit von kolumbianischen Institutionen übernommen werden“, sagt François. Gerade deshalb ist er auf das anstehende Treffen mit dem Stadtrat der Gemeinde Vista Hermosa gespannt. Die Straßensperre am Ortseingang ist bereits in Sicht.
Noch vor der Ankunft in Vista Hermosa werden wir gewarnt unsere Fragen vorsichtig zu formulieren, weil nicht so ganz klar sei, ob der Bürgermeister ein ehemaliger Kommandant der Paramilitärs ist oder nicht. Im Gespräch erweist sich Hector Montoya dann jedenfalls als sehr umgänglich. Ja, er kenne das Problem der Zwangsrekrutierungen, es sei jedoch sehr schwer etwas zu tun. „Die Leute haben über Jahre nichts anderes getan als Koka anzubauen. Alternativen zu schaffen wird Zeit brauchen. Und die Jugendlichen, die hier die Schule besuchen oder eine Ausbildung machen, müssen später auch wirklich eine Jobaussicht haben, sonst bringen Bildungsprogramme wenig“, sagt Montoya. An gutem Willen scheint es nicht zu fehlen, wohl aber an finanzieller Unterstützung aus Bogotá.
Je länger das Treffen mit dem Stadtrat anhält, umso schwieriger stellt sich die Situation in der Gemeinde dar. Der personero Alejenadro Valdéz, Zuständiger der lokalen Ombudsstelle, erzählt davon, dass die paramilitärischen Gruppen, die offiziell als aufgelöst gelten, unter neuem Namen weiterhin aktiv seien. „Die Rekrutierungen von Kindern und die Geschäfte gehen weiter. Heute versuchen diese Gruppen ein Monopol im Bereich der Ölpalmenkulturen aufzubauen“, meint Valdéz und fügt hinzu: „Die staatlichen Subventionen für nachwachsende Kraftstoffe bringen deshalb wenig, wir brauchen Produktionsinitiativen für die Kleinbauern und -bäuerinnen sowie jugendliche UnternehmerInnen.“
Die örtliche Psychologin Angela Paz wiederum versucht den Blick auf das ländliche Familienleben zu richten, das sie als wenig idyllisch beschreibt. „Insbesondere als Mädchen hier aufzuwachsen ist nicht leicht. Missbrauch innerhalb der Familien kommt häufig vor und ab dem siebten Lebensjahr werden Mädchen auf eine untergeordnete Rolle als Frau vorbereitet“, sagt Paz und resümiert bitter: „Ein Para oder Guerillero erscheint so affektiv betrachtet oft auch als ein Retter.“
Nicht weniger als all diese komplexen Probleme zu lösen, erwarten auch viele der Bewohner Vista Hermosas auf einem anschließenden Nachbarschaftstreffen von den anwesenden Hilfsorganisationen. Schulen, eine Molkerei, ein Kühlhaus, Zugang zu lokalen Märkten, Ausbildungsplätze und ein Ende der Kämpfe: all das zu schaffen traut man ihnen zu. Marta Elena Zapata von der Diakonie Katastrophenhilfe sitzt in der letzten Reihe und macht Notizen. „Die Erwartungshaltung ist riesig, aber unser Arbeitsbereich ist eben nicht Entwicklungshilfe sondern ein schnelles Eingreifen in Notsituationen“, sagt Zapata. „Das zeichnet unsere Arbeit mit gefährdeten Jugendlichen ja auch aus. Und daran halten wir fest. Gerade deshalb weil in diesem Land immer mehr Familien auf der Flucht sind, um ihre Kinder zu schützen.“
Darüber hinaus stehen die Initiatoren des Schutzprogramms für inzwischen über 3.000 Kinder und Jugendliche in ständigem Kontakt mit entwicklungspolitischen Organisationen. Und man sucht emsig nach neuen Partnern, denn das Budget von ECHO beispielsweise wird im kommenden Jahr um ein Sechstel gekürzt werden. Positiv sei deshalb, dass man, was die Entwicklung von Schutzprogrammen angeht, als Experten wahrgenommen wird. „Ab Ende dieses Jahres beispielsweise werden wir ein zweijähriges Kooperationsprojekt mit der Kanadischen Agentur für Internationale Entwicklung beginnen“, freut sich Zapata. „Auf diese Weise werden wir mit 80 weiteren Kindern im Meta arbeiten können.“
Beim Abschied fragen wir die Kinder und Jugendlichen nach ihren späteren Berufswünschen. „Sänger wäre nicht schlecht“, kreischt ein Junge. „Fußballstar“, ein anderer. „Nein, Architektin oder Designerin, das ist ein guter Job“, meint ein Mädchen. Und dann immer wieder Karrierewünsche wie Forensikerin, Kriminologe, Polizistin und Soldat. „Ich gehe zur Schule, weil ich mit 18 in die Polizeiakademie eintreten will“, sagt eine 13-jährige entschlossen. „Dann kann ich meine Familie und unser Land vor dem Krieg beschützen.“
Auf dem Rückweg nach Bogotá konfrontieren wir José Luis Campos mit den gesammelten Berufswünschen. „Ja, das ist ein echtes Problem“, meint Campos. „Leider wird im Fernsehen der Soldat als eine Art Prototyp von Bürger verkauft, mit hehren Werten und Verpflichtungen fürs Vaterland.“ Und außerdem herrsche in Kolumbien Wehrpflicht, Ersatzdienst ausgeschlossen. Einen dauerhaften Ausstieg der kolumbianischen Jugend aus dem bewaffneten Konflikt könne ohnehin nur eines garantieren: ein Ende der Kämpfe und die Rückkehr der Konfliktparteien an den Verhandlungstisch. Dann fährt Campos fort, von Hinweisen zu sprechen, dass auch das Militär Jugendliche als Informanten und Botenjungen beschäftige, dass auch Soldaten in der Grundausbildung bereits in Kampfeinsätze geschickt werden. Und dann stoppt unser Wagen. Straßensperre. Zwei jugendliche Augenpaare mustern uns unterm gelben Scheinwerferlicht. Ich versuche mich in einem Lächeln, die Gesichter unter den Militärmützen lächeln zurück, geben das Zeichen zur Weiterfahrt.
// Nils Brock

Jazz-Effekt sorgt für Missklänge

Der Optimismus von Brasiliens Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva hatte eine kurze Halbwertszeit: „Was für eine Krise? Fragen Sie doch den Bush“, bekundete Lula noch Mitte September auf Fragen nach den Folgen der Finanzkrise für die südamerikanische Regionalmacht. „In den USA ist das ein Tsunami. Hier wird das, wenn es überhaupt ankommt, eine schwache Welle sein.“ Längst zeigen die auch jenseits der Zentren abstürzenden Börsen, dass sich Lula getäuscht hat. In den sogenannten Emerging Markets wie China, Indien, Russland und Brasilien brachen die Börsenwerte seit Jahresbeginn um rund 70 Prozent ein – ein Verfall, der über die Kursstürze an der Wall Street, in London, Frankfurt oder Tokio hinausgeht. Und das, obwohl die Banken der Schwellenländer so gut wie nicht am Handel mit Schrottpapieren beteiligt sind und viele von ihnen Fundamentaldaten aufweisen, die alles andere als eine Krise indizieren. Dazu gehört Brasilien: Seit Jahren fallen hohe Wachstumsraten mit hohen Leistungsbilanz-Überschüssen zusammen, die die Devisenreserven auf die Rekordhöhe von über 200 Milliarden US-Dollar schnellen ließen. All das bietet in normalen Zeiten optimale Rahmenbedingungen: Der Devisenüberschuss reduziert die Abhängigkeit von internationalem Kapital und Zinsdiktat. Die heimische Zentralbank hat so die Möglichkeit, eine stärker an den Bedürfnissen und Gegebenheiten der Binnenwirtschaft ausgerichtete Zinspolitik zu betreiben.
Doch die normalen Zeiten sind auf unabsehbare Zeit vorbei. Erst vor wenigen Monaten hatten die Ratingagenturen das Land am Zuckerhut mit dem Gütesiegel „Investment Grade“ als sichere Anlage ausgezeichnet. Schließlich hatte Brasilien unter Lula alles dafür getan, um seine Wirtschaft und seine Finanzen zu konsolidieren. Jetzt moniert Lula zu Recht, dass der Crash in den Industrieländern Brasilien das Wachstum kaputt mache. Die Frage ist längst nicht mehr, ob die Krise Lateinamerika trifft, sondern wie stark. Die Börsen stehen dabei nur am Anfang. Ausländische FinanzanlegerInnen verkaufen brasilianische Aktien, weil sie Liquidität brauchen, um auf dem heimischen Finanzmarkt Löcher zu stopfen. Dabei realisieren sie noch die Kursgewinne aus den letzten Boomjahren. Ausländische Banken streichen die Kreditlinien für brasilianische Unternehmen, und multinationale Konzerne transferieren ihre Gewinne mehr denn je in die Mutterländer, um den dortigen Liquiditätsengpass zu mildern. Die Folgen für die brasilianische Realwirtschaft zeichnen sich bereits ab: Die Bau- und Konsumfinanzierung trocknet bereits aus und bei Bau und Konsum handelt es sich um tragende Säulen der Binnenkonjunktur. Auch die Exportunternehmen spüren schon die Auswirkungen: Kredite gibt es bestenfalls noch als teure, kurzfristige Handelskredite und die Kreditklemme bremst die Aussaat in der Landwirtschaft. Und die sich im Sinkflug befindlichen Preise für Soja, Zucker und Getreide tun ein Übriges, um die Aussichten für Brasiliens Konjunktur kräftig einzutrüben. Selbst die drei Prozent Wachstum, die Brasilien zuletzt noch für 2009 prognostiziert wurden, scheinen hoch gegriffen.
Auch mit der relativen Stabilität des Real ist es vorbei. Nachdem die Währung in den letzten Jahren dank der anhaltenden Leistungsbilanzüberschüsse gar an Wert gegenüber dem US-Dollar gewinnen konnte, geht die Reise nun unverhofft in die andere Richtung: Der Real verliert an Wert. Einmal, weil die einstige Weltleitwährung Dollar in der Krise trotz der schlechten Fundamentaldaten der US-Ökonomie als sicherer Hafen erachtet wird, und zum anderen, weil Brasilien aufgrund der sinkenden Nachfrage nach seinen Produkten im Zuge der sich ausbreitenden Weltrezession mit einer deutlichen Verschlechterung seiner Handels- und Leistungsbilanz rechnen muss. Was letztere betrifft, auch deswegen, weil der dort erfasste Schuldendienst an Gewicht gewinnt, denn durch die Abwertung des Real steigt die Auslandsverschuldung in US-Dollar automatisch. Die gut 200 Milliarden Dollar Devisenreserven sind für Brasilien jedoch ein gewisser Schutz vor einer Spirale aus Abwertung und Kapitalflucht, die das Land im Extremfall bis in den Staatsbankrott treiben könnte. Davon ist Brasilien allerdings noch weit entfernt.
Wenn im Zuge der Finanzkrise das Wort Staatsbankrott fällt, ist Argentinien nicht weit. Bei Lichte betrachtet hat das mehr mit der jüngeren Geschichte des Landes zu tun als mit seinen Fundamentaldaten, wiewohl diese nach fünf Jahren Boom zweifelsohne einen Abwärtstrend aufweisen. Seit Argentinien zur Jahreswende 2001/2002 einen veritablen Staatsbankrott hingelegt hat, ist das Land ein Paria auf den internationalen Finanzmärkten. Zudem kam der harte Kurs des von 2003 bis 2007 amtierenden Präsidenten Néstor Kirchner gegenüber den privaten Gläubigern nicht gut an. Nach dem sonst nur vom Internationalen Währungsfonds (IWF) bekannten Motto „Friss oder stirb“ bot er den privaten AnlegerInnen an, entweder auf 75 Prozent ihrer sich insgesamt auf 104 Milliarden US-Dollar belaufenden Forderungen zu verzichten oder ganz leer auszugehen. Die Rechnung ging für Argentinien zu 80 Prozent auf, nur Gläubiger in Höhe von insgesamt 20 Milliarden Dollar verweigerten sich der Zwangsumschuldung und versuchen bis heute juristisch ihre Forderungen zu realisieren. Die Paria-Stellung schneidet Argentinien de facto vom internationalen Kapitalmarkt ab. Das war bisher kein größeres Problem, schließlich kam das beträchtliche Wirtschaftswachstum seit 2003 mit jährlichen Raten von über acht Prozent ohne Zufluss ausländischen Kapitals zustande. Allerdings basierte es auf günstigen Agrar-, Erdöl- und Erdgaspreisen, die sich nun durch die Weltrezession im Tiefflug befinden. Allein der Preis für Soja, dem wichtigsten Exportgut Argentiniens, stürzte gegenüber den Höchstständen im April um 45 Prozent ab. Argentiniens Staatshaushalt steht nun mehrfach unter Druck: Sinkende Preise für die Exportgüter senken die bedeutenden Einnahmen durch die Exportabgaben. Das sinkende Wirtschaftswachstum, das 2009 auf gerade noch ein Prozent geschätzt wird, reißt ein weiteres Loch in den Staatshaushalt, der seit 2003 Überschüsse zu verzeichnen hatte. Und zu schlechterletzt führt der Wertverfall der argentinischen Währung wie schon im Falle Brasiliens zu einem Anstieg der Auslandsverschuldung, die allerdings durch die Umschuldung relativ stark gesunken ist. Betrug sie 2003 noch 127 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, so liegt sie inzwischen bei rund 50 Prozent und konnte zuletzt mit rund 15 Prozent der Exporterlöse bedient werden, auch das weit von einem Krisenniveau entfernt. Dennoch führen die absehbar sinkenden Exporterlöse wieder zu einer höheren relativen Belastung und insgesamt wird Argentiniens Bedarf an frischem externen Kapital für 2009 auf mindestens 10 Milliarden Dollar geschätzt. Als Zeichen guten Willens hat die Ehefrau und Nachfolgerin von Néstor Kirchner, Cristina Fernández de Kirchner, vergangenen September den Finanzminister angewiesen, mithilfe der Devisenreserven der Zentralbank die Schulden beim Pariser Club, des gewichtigsten Zusammenschlusses von Gläubigerstaaten, auf einen Schlag zu begleichen. Dabei geht es weniger um die gut sechs Milliarden US-Dollar, die bei Währungsreserven von 45 Milliarden Dollar zu verkraften sind, als vielmehr um die Hoffnung, künftig wieder an internationales Kapital heranzukommen. Zuletzt bekam Argentinien nur noch von Venezuela Kredit, und das zu horrenden Zinsen von 15 Prozent, denn in Zeiten rasant sinkender Ölpreise muss auch Hugo Chávez den Gürtel seiner Spendierhosen enger schnallen.
Und so ist auch der Verdacht nicht unbegründet, dass Fernández de Kirchner mit der geplanten Verstaatlichung der privaten Rentenfonds nicht nur, wie sie sagt, die RentnerInnen schützen, sondern sich den Zugriff auf die dort verwalteten Rücklagen von fast 100 Milliarden Peso (rund 23 Milliarden Euro) sichern will, um bevorstehende Liquiditätsengpässe besser handhaben zu können. Zumal Fernández de Kirchner offenbar in die Gesetzesvorlage nicht explizit als Verwendungszweck der Rücklagen ausschließlich die Altersvorsorge festschreiben will. Fernández de Kirchner weist die Kritik freilich zurück: „Die wichtigsten Staaten beschützen Banken. Wir beschützen die Rentner und Arbeiter.“ Grundsätzlich zeigt nicht zuletzt der Blick in die USA, dass kapitalgedeckte private Rentenversicherungen wegen ihrer Abhängigkeit von der Börsenentwicklung riskanter sind als ein umlagegestützes System: Dort haben die Pensionskassen von Juli 2007 bis Oktober 2008 zwei Billionen US-Dollar (1,47 Billionen Euro) verloren, so Peter Orszag, Leiter der Rechnungsbehörde im Kongress. Auf alle Fälle wird der Jazz-Effekt, wie Fernández de Kirchner die von den USA ausgehende Finanzkrise noch vor wenigen Monaten mit spöttischem Blick auf den ungeliebten Bush bezeichnete, auch in Argentinien weiter für Missklänge sorgen.
Dass die Lage ernst ist, zeigt auch das Verhalten von Hugo Chávez. Normalerweise lässt der venezolanische Präsident keine Gelegenheit aus, um seinem Intimfeind George Bush verbal einen vor den Latz zu knallen. Doch selbst Chávez sprach sich für das 700-Milliarden-Dollar-Rettungspaket aus, mit dem Washington einer Kernschmelze des Finanzsystems gegensteuern will. Mit einem Begraben alter Feindschaft hat das freilich nichts zu tun, vielmehr weiß Chávez, dass der von den USA ausgehende Abwärtssog auch an Venezuela nicht spurlos vorbeigeht. Noch im Juli trieben Spekulationen den Erdölpreis auf über 120 US-Dollar, dass sich die Finanzkrise schnell zur Weltrezession ausweiten würde, mutmaßten damals nur wenige Analysten. In Erwartung der sich ausweitenden Weltrezession sinkt inzwischen der Ölpreis mit ähnlicher spekulativer Übertreibung wie er vorher gestiegen war. Mit realer Nachfrageänderung hat das über den Ursprungsimpuls hinaus nur im Ansatz etwas zu tun. Eben deshalb hat Chávez Grund, mit einiger Besorgnis in die Zukunft zu blicken. Die weltwirtschaftliche Talsohle wird derzeit auf ein bis drei Jahre prognostiziert. Auf alle Fälle wird damit die reale Ölnachfrage weiter sinken und das lässt auch Raum für weitere Spekulationen nach unten. Auch wenn Caracas sinnigerweise seit Jahren den Haushalt mit einem vorsichtigen Ölpreis kalkuliert – so mit 60 US-Dollar jenen für 2009 – könnte selbst diese bewährte Vorgehensweise in Zeiten sinkender Preise nicht aufgehen. Und davon unabhängig: Die Zeit der sogenannten Windfall Profits – Gewinne, durch eine allgemeine Änderung der Marktlage, von denen Venezuela seit Jahren auf dem Weltölmarkt profitieren konnte – ist zumindest solange vorbei, bis die Weltkonjunktur wieder zum Steigflug ansetzt Und das kann dauern. Auch wenn Venezuela genügend Reserven hat, um seine Sozialpolitik auch über eine internationale Durststrecke hinweg zu finanzieren, Kapital für den Revolutionsexport wird knapper werden.
An der Weltwirtschaftskrise kommt in Lateinamerika keiner vorbei, schon gar nicht Mexiko, schließlich ist das Land durch das seit 1994 existierende Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) endgültig zum Wurmfortsatz der US-amerikanischen Volkswirtschaft verkommen. 85 Prozent des mexikanischen Handels wird mit den USA abgewickelt. Wenn die USA hustet, dann bekommt Mexiko eine Lungenentzündung. Und nun befinden sich die USA selbst auf dem Wege zu einer Lungenentzündung. Auch wenn Mexikos Finanzsystem nach dem Zusammenbruch im Zuge der Tequila-Krise 1994/95 auf Vordermann gebracht wurde und als relativ stabil gilt, will das im Zweifel nicht viel heißen. „Nichts ist unmöglich“, sagt Enrique Castillo, der Präsident der mexikanischen Bankenvereinigung ABM und er denkt dabei sicher nicht an die Toyota-Produktion im Lande. Neben dem Rückgang der Exportmöglichkeiten auf den schrumpfenden Markt USA wird vor allem der Rückgang der Überweisungen mexikanischer MigrantInnen aus den USA das mittelamerikanische Land ins Mark treffen. War die Summe 2007 noch auf den Rekord von 25 Milliarden US-Dollar gestiegen, so wird 2008 mit einem deutlichen Rückgang von mehreren Milliarden gerechnet. Was für Mexiko gilt, gilt für viele mittelamerikanische Länder. Bis auf Costa Rica und Panama sind die sogenannten remesas in allen zentralamerikanischen Ländern längst zum unverzichtbaren Wirtschaftsfaktor avanciert, der die Entwicklungshilfe bei weitem übertrifft.
In der aktuellen Krise zeigt sich, dass in den letzten Boomjahren in allen lateinamerikanischen Ländern mehr oder weniger versäumt wurde, die Weichen in Richtung einer langfristigen Entwicklungsstrategie zu stellen, die unter anderem weit mehr als Rohstoffe die Ressource Bildung und Ausbildung in den Vordergrund stellen und versuchen müsste, ökologische mit ökonomischer Nachhaltigkeit zu verbinden. An letztgenannter Herausforderung sind freilich bisher noch alle Staaten gescheitert, allen voran die Industriestaaten, die nun Auslöser für die erste Weltwirtschaftsrezession seit 1945 sind, wie der Internationale Währungsfonds postuliert. Sicher auch im eigenen Interesse, denn Krisenzeiten waren noch allemal Hochzeiten für den IWF, der längst einer Generalüberholung bedürfte wie das gesamte Weltwirtschaftssystem insgesamt.
// Martin Ling

Schöne Gesetze, unfähige Justiz

Man war sich einig. Die Schwierigkeiten bei der Durchsetzung internationaler Arbeitsnormen lägen nicht bei der formellen Anerkennung. Über 30 GewerkschaftsführerInnen und ArbeitsrechtsexpertInnen aus Zentralamerika und der Dominikanischen Republik hatten sich Mitte Juni im nicaraguanischen Montelimar getroffen, um über die Umsetzung internationaler Arbeitsnormen zu diskutieren. „Die Verfassungen und Arbeitsgesetzgebungen sichern die Arbeitsrechte weitgehend ab, und die Arbeitsgerichte verfügen über umfangreiche Kompetenzen und wenige formale Zugangsschranken“, erklärte Rodolfo Piza, Direktor des Projektes „Stärkung der Arbeitsrechte in Zentralamerika und der Dominikanischen Republik“. Dieses wird von der „Stiftung für Frieden und Demokratie“ (FUNPADEM) koordiniert und dem US-Arbeitsministerium finanziert. „Das Problem liegt in fehlender oder unzureichender juristischer Einforderbarkeit, der Schwäche der institutionellen Mechanismen sowie dem Fehlen der materiellen Bedingungen, um die Rechte effektiv durchzusetzen“, erläutert Piza.
Obwohl das Projekt im Zusammenhang mit den Verhandlungen zum viel kritisierten, zwischen Zentralamerika, der Dominikanischen Republik und den USA unterzeichneten Freihandelsabkommen CAFTA ins Leben gerufen wurde, erhält es auch von den GewerkschafterInnen größtenteils gute Noten: „Man muss anerkennen, was das Projekt für die Stärkung der Arbeitsrechte in der Region erreicht hat“, stellt Raúl Moreno vom Gewerkschaftszusammenschluss Coordinadora Nacional Popular y Sindical aus Guatemala fest und erhält die Zustimmung der Mehrheit seiner KollegInnen. In den fünf Jahren seines Bestehens hat das Projekt in enger Zusammenarbeit mit den Arbeitsministerien, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden eine Internetseite (www.leylaboral.com) mit bisher über zweieinhalb Millionen Zugriffen eingerichtet, auf der sie die Arbeitsnormen aller Länder sowie die wichtigsten juristischen Begriffe erklären. Es wurden unter anderem knapp vier Millionen Flugblätter und Arbeitsrechts-Leitfäden produziert und verteilt, zahlreiche Radiospots gesendet, mehrere Call-Center mit auf Arbeitsrecht spezialisierten AnwältInnen eingerichtet und Fortbildungen für über 10.500 Personen organisiert.

Viele ArbeiterInnen denken, dass ihr Recht auf Urlaub verfällt, sobald sie
weniger produzieren

Trotz solcher Anstrengungen bestehen jedoch gravierende Mängel schon bei der Kenntnis der grundlegenden Rechte fort. Eine im Rahmen des Projekts im Jahr 2007 durchgeführte Studie stellte fest, dass zum Beispiel zwar 70 bis 90 Prozent der ArbeiterInnen das Recht auf Gewerkschaftsfreiheit kennen, viele glauben aber, zur Gründung sei das Einverständnis aller Beschäftigten (66 Prozent) oder gar des Arbeitgebers (13 Prozent) nötig. Ebenso wissen 93 Prozent über das Recht auf Urlaub Bescheid, 53 Prozent glauben aber, dass dieses Recht bei geringer Arbeitsproduktivität verloren geht. Schwangerschaftstests bei der Einstellung halten 54 Prozent für legal, in der Dominikanischen Republik liegt diese Ziffer sogar bei fast 82 Prozent. Und obwohl die Arbeitsgesetze der gesamten Region festlegen, dass mündliche und schriftliche Übereinkommen gleichwertig sind, sind je nach Land zwischen 56 und 78 Prozent davon überzeugt, dass sie ihre Rechte nur mit einem schriftlichen Vertrag geltend machen können. „Es ist essentiell, die Kenntnisse der Arbeiter und Arbeiterinnen über ihre Rechte und Pflichten zu verbessern“, stellt Narcizo Cabral von der Nationalen Vereinigung dominikanischer Arbeiter (CNTD) dementsprechend fest.
Darüber hinaus leiden die Inspektionsabteilungen in den Ministerien an Problemen wie der Fluktuation von InspekteurInnen aufgrund von Regierungswechseln und Vetternwirtschaft, dem damit verbundenen Know-How-Verlust und der weitgehenden finanziellen Abhängigkeit von Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit. „Die Ministerien haben größtenteils einen so armseligen Etat, dass die Erfüllung ihres verfassungsmäßigen Mandats praktisch unmöglich ist“, so Raúl Moreno.
Während den Arbeitsministerien wenigstens der Wille zu Verbesserungen zugestanden wird, kommen Justiz und Rechtsprechung noch weitaus schlechter weg. „Das Justizsystem ist einen Dreck wert“, moniert Emilio Márquez aus Nicaragua frustriert. Sein costaricanischer Kollege Ólman Chinchilla pflichtet ihm bei: „Die Prozesse dauern bis zu zehn Jahre und am Ende fehlen erstzunehmende Sanktionen. Das hält doch kein Arbeiter durch.“
Das wohl schwerwiegendste Problem für Durchsetzung und Kontrolle der Arbeitsrechte in Zentralamerika dürfte aber im hohen Anteil des informellen Sektors liegen. Laut Rodolfo Piza ist davon auszugehen, dass zwischen 50 und 70 Prozent der ökonomisch aktiven Bevölkerung informell beschäftigt ist. Dabei bestehen große Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern, selbst in Costa Rica und Panama am unteren Ende der Skala liegt die Quote aber immer noch bei 35 bis 45 Prozent. In Nicaragua, Honduras und Guatemala übersteigt sie 70, dazwischen liegen El Salvador und die Dominikanische Republik mit 50 bis 60 Prozent.
Obwohl in diesen Daten unterschiedlichste ökonomische Aktivitäten von der selbständigen Akademikerin bis zum Tagelöhner in der Landwirtschaft inbegriffen sein können, ist die Mehrheit dieser ArbeiterInnen bezüglich der Durchsetzung ihrer Arbeitsrechte besonders verwundbar. Ebenso ist anzunehmen, dass sie größtenteils aus sozioökonomisch marginalisierten Bevölkerungsschichten stammen. Hinzu kommt, dass Frauen häufiger unterschiedlichen Formen der Informalität ausgesetzt sind als Männer. Das ist nur einer von vielen Indikatoren für die anhaltende Aktualität von Fragen der Geschlechtergleichheit in der Arbeitswelt. Das Spektrum reicht von geringerer Entlohnung bis zum Fehlen von Frauen in Führungspositionen. Diese Probleme wiederholen sich sogar in der internen Organisation und Struktur der Gewerkschaftsbewegung.

„Gender ist so etwas wie eine Mode, so ähnlich wie die neueste Levi‘s-Jeans“

So fanden sich bei dem Treffen in Montelimar unter 26 TeilnehmerInnen aus dem Gewerkschaftssektor gerade einmal vier Frauen. Und wie Hilda Chiroy aus Guatemala und die Salvadorianerinnen María del Carmen Molina und Marta Zaldaña betonen, wurde auch diesen der Weg in die Führungspositionen, die sie inzwischen innehaben, nicht leicht gemacht. „Kulturell und historisch sind die Gewerkschaften maskulin geprägt“, führt María del Carmen Molina an. „Gender ist jetzt sowas wie eine Mode, so ähnlich wie eine neue Levi’s-Jeans“, ergänzt Marta Zaldaña. „Warum wird in den Gewerkschaften von Gender geredet? Weil die internationale Entwicklungszusammenarbeit das fordert.“ Außerdem prangern sie die Marginalisierung und herablassende Behandlung von Frauen und sogar Fälle sexueller Belästigung in den Gewerkschaften an. Und solange die Ungleichheit der Geschlechterverhältnisse in Gesellschaft und Kultur sich fortsetzt, bedeutet das politische Engagement für viele Frauen einen „dreifachen Arbeitstag“ zwischen Haushalt, Job und Gewerkschaftsarbeit.
Neben all diesen Herausforderungen sorgen sich die GewerkschafterInnen in Zentralamerika, vor allem nach den jüngsten Morden in Honduras, verstärkt um ihre körperliche Unversehrtheit. Zum Abschluss des Treffens in Montelimar wurde eine Schweigeminute für Rosa Altagracia Fuentes, Virginia García de Sánchez und Juan Bautista Gálvez eingelegt, sowie eine Petition zur lückenlosen Aufklärung der Vorfälle verfasst.

Reflexionen über Rassismus in der Entwicklungskooperation

Schon das Titelbild drückt die Zielsetzung aus: „Schubladen auf“ – Denkschubladen vor allem. Ihr Ziel haben die Herausgeber – die vier entwicklungspolitischen Landesnetzwerke von Berlin, Hessen, Hamburg und Sachsen – mit der Handreichung Von Trommlern und Helfern über das Tabuthema Rassismus in der Entwicklungszusammenarbeit sicherlich erreicht. Insbesondere werden wir eingeladen, genauer hinzuschauen, mit welchen Motivationen und in welchen Traditionen angeblich gemeinsam an der Entwicklung des „Südens“ gearbeitet wird.
Mit 21 Beiträgen in fünf Kapiteln ist die Broschüre eine gute Einführung zum Selbststudium, sprachlich zudem leicht zugänglich. Unter die Lupe genommen werden die Geschichte und Tradition der Entwicklungszusammenarbeit, ihre Sprache und Bildsprache sowie ihre Zielsetzungen. In Kapiteln zu antirassistischen und interkulturellen Trainingsansätzen – unter anderem zum „Anti-Bias-Ansatz“ – werden Möglichkeiten des Bewusstmachens und des Verlernens von Rassismen behandelt.
Die Schwierigkeit, das Thema in der entwicklungspolitischen Szene zu verankern, zeigt das Fazit von Andreas Rosen über die Projekte des Weltfriedensdienstes „Rassismus – (k)ein Thema für die Entwicklungszusammenarbeit“ und „Partnerschaft statt Dominanz“ aus den Jahren 1992 bis 1998: Über die Motivation von einzelnen MitarbeiterInnen von EZ-Organisationen hinaus „ist (es) uns aber nicht gelungen, eine breitere entwicklungspolitische Szene mit dem Projekt anzusprechen, geschweige denn in ihren entwicklungspolitischen Grundüberzeugungen zu erschüttern. Zu groß war die Skepsis im eigenen Verein. Und die großen und etablierten Institutionen haben uns schlichtweg ignoriert.“
Wie wichtig gerade die Selbstwahrnehmung der entwicklungspolitischen Nichtregierungsorganisationen (NRO) bei der Ausblendung des Themas Rassismus ist, zeigen Timo Kiesel und Carolin Philipp in ihrem Beitrag „Schicken Sie Zukunft! Weiß- und Schwarzsein auf Plakaten von Hilfsorganisationen“: „Die NRO haben mit ihren meist weißen deutschen Mitarbeitern die Hoheit über Darstellung und Definition von Schwarzen und PoC (People of Colour) im öffentlichen Raum. Diese Macht ermöglicht, negative Seiten des Selbsts auszublenden. So werden zwar Not und Hunger gezeigt, nicht aber Wohlstand und Reichtum. Die beiden Phänomene werden dadurch in einen falschen Zusammenhang gesetzt, nämlich dass Barmherzigkeit und nicht etwa Ausbeutung die zentrale Verbindung zwischen armen und reichen Menschen sei.“
Ergänzt werden die Artikel durch Übungen sowie zwei Kriterien für die Einladung von Experten aus dem Süden und für entwicklungspolitische Projekte. Auch die Literatur- und Linkliste ist ausführlich und hilfreich beim Weiterstöbern. Bebildert wird die Broschüre durchgängig mit Fotografien eines deutsch-mosambikanischen Fotoprojekts zum Thema „Armut und Reichtum“, welches als eigener Beitrag Wahrnehmungsstereotype hinterfragt und zur Diskussion herausfordert.

Berliner Entwicklungspolitischer Ratschlag u.a. (Hg.) // Von Trommlern und Helfern. Beiträge zu einer nichtrassistischen entwicklungspolitischen Bildungs- und Projektarbeit. // Berlin 2007 // 84 Seiten // 5 Euro

„Wir wollen Beziehungen auf Augenhöhe”

Deutschland engagiert sich vor allem im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit in Bolivien. Nach den USA und Japan ist die BRD der drittgrößte Geldgeber für Hilfsprojekte. Was war der Grund Ihres Berlin-Besuchs, Herr Außenminister?

Natürlich geht es mir auch darum, die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern zu vertiefen. Doch der eigentliche Grund meiner Reise ist ein anderer: Bolivien durchläuft gerade eine historische Phase. Wir sind dabei, uns eine neue Verfassung zu geben, eine komplizierte und risikoreiche Geburt. In meinen Gesprächen mit Regierungsmitgliedern, Vertretern von Parteien, Gewerkschaften und Medien in Deutschland und anderen europäischen Ländern möchte ich von diesem Prozess berichten und um Verständnis für den politischen und ökonomischen Wandel werben, der gerade in Bolivien stattfindet.

Was charakterisiert diesen Wandel?

In Bolivien gab es in den vergangenen fünfhundert Jahren eine systematische Plünderung der natürlichen Ressourcen. Die Mehrzahl der Bevölkerung hat von dem Reichtum des Landes nie profitiert. Die aktuelle Regierung hat entschieden, diese Situation nicht mehr länger hinzunehmen. Unser Präsident Evo Morales ist fest entschlossen, die Interessen der Mehrheit der Bolivianer zu verteidigen. Doch um wirklich etwas zu verändern, genügt es nicht, ein paar Gesetze zu erlassen. Und deshalb haben wir eine Verfassungsgebende Versammlung einberufen. Die Bolivianer gaben ihr 2006 durch Wahlen den Auftrag, eine neue Konstitution auszuarbeiten.

Ein Teil der in der neuen Verfassung verankerten Reformen zielt auf eine Abkehr von der neoliberalen Wirtschaftspolitik der Vorgängerregierungen ab. Bereits am 1. Mai 2006 hatte Morales die Verstaatlichung der Treibstoffindustrie angeordnet – jetzt sollen weitere Schlüsselindustrien wie der Bergbau folgen.

Die »Nationalisierung« – wie wir sie nennen – der Treibstoffreserven, war ein Auftrag, den die Bewegung zum Sozialismus MAS mit ihrer Wahl 2005 vom Volke erhalten hat. Evo Morales hat mit der Nationalisierung also ein Wahlversprechen erfüllt. Wir wollen Beziehungen auf Augenhöhe. Die Investitionen, die bisher in Bolivien getätigt wurden, haben dafür gesorgt, dass der Reichtum aus dem Land abfloss statt der Bevölkerung zugute zu kommen. Wir wollen keine Investitionen mehr, die uns arm machen. Wir wollen Investitionen, die uns helfen, die Armut zu überwinden. Am Anfang hat das zu Spannungen geführt. Doch inzwischen haben alle multinationalen Unternehmen neue Verträge ausgehandelt und sind im Land geblieben.

Was bedeuten die neuen Regelungen für die Unternehmen, die in Bolivien tätig sind?

Für die Unternehmen sind die neuen Regelugen mit höheren Abgaben verbunden. Aber die Nationalisierung ist nicht gegen die Unternehmen gerichtet, sie erlaubt ihnen sogar weiter, Gewinne zu machen. Zudem wird ihnen Rechtssicherheit gewährt. Das ist neu. Unter den vorherigen Regierungen waren die Förderverträge geheim. Sie wurden nicht – wir es die Verfassung vorschreibt – vom Parlament bestätigt. Das haben wir geändert. Die neuen Verträge sind transparent, und der bolivianische Kongress hat ihnen zugestimmt.

Zu den größten Investoren in Bolivien gehört Petrobras, der staatliche Ölkonzern Brasiliens. Haben die Verstaatlichungen zu Spannungen mit dem Nachbarland geführt?

Zuerst war Petrobras wie andere Unternehmen mit den neuen Bedingungen nicht einverstanden. Inzwischen hat sich geändert. Beim letzten Gipfel zwischen beiden Ländern im Dezember, dem Besuch des brasilianischen Präsenten Inácio »Lula« da Silva in der bolivianischen Hauptstadt La Paz, war auch der Präsident von Petrobras dabei. Er hat seine Meinung gewandelt und kündigte bedeutende Neuinvestitionen an: Zwischen 750 Millionen und einer Milliarde US-Dollar will der Konzern ausgeben, um die Gasförderung in Bolivien zu steigern. Mit diesen Investitionen – auch das haben wir vereinbart – muss zuallererst die Versorgung unseres Binnenmarkts garantiert werden. Immer noch sind viele Bolivianer nicht ans Gasnetz angeschlossen. Dann müssen wir die bestehenden Lieferverträge mit Argentinien und Brasilien erfüllen. Und als weiteres Ziel wollen wir in die Etappe der industriellen Weiterverarbeitung dieser Rohstoffe eintreten. Wir werden in Bolivien eine petrochemische Industrie errichten.
Die Industrialisierung wäre auch ein Weg, aus der Abhängigkeit von ausländischen Hilfszahlungen und den schwankenden Rohstoffpreisen herauszukommen. Aber die meisten Projekte, wie die Erschließung neuer Gasfelder und die Weiterverarbeitung der Rohstoffe, befinden sich immer noch im Planungsstadium.
Es gibt viele Firmen aus aller Welt, die gespannt auf Bolivien schauen: Wir sind eines der rohstoffreichsten Länder. Und wir benötigen Investitionen und Technologie, um uns zu entwickeln. Doch zuerst brauchen wir neue Spielregeln – wie sie in der neuen Verfassung festgeschrieben sind. Die alten Verträge waren nicht darauf angelegt, dass wir die Rohstoffe im Land selbst verarbeiten können, sondern es ging nur darum, sie möglichst schnell und billig auszuführen. Wir brauchen Garantien, die verhindern, dass es wieder zu Korruption kommt wie in den vergangenen Jahren: Wir brauchen Investitionen mit Transparenz. In den kommenden fünf Jahren wird zum Beispiel der indische Konzern Jindal Steel umgerechnet 1,5 Milliarden Euro in die Ausbeutung des Eisenerzlagers El Mutún an der bolivianisch-brasilianischen Grenze stecken. Doch das Erz wird dort nicht nur abgebaut, Jindal Steel wird über eine Tochterfirma auch selbst Stahl in Bolivien herstellen. So werden insgesamt 30.000 neue Jobs entstehen.

Auch außenpolitisch hat die Regierung Morales einen neuen Kurs eingeschlagen. Bisher suchten bolivianische Präsidenten oft die Nähe der USA. Jetzt sucht Bolivien seine Bündnispartner vor allem in Lateinamerika und in Europa.
Wir hatten keine normalen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu den USA. Wir standen in einer Beziehung der Abhängigkeit zu ihnen. Doch jetzt wollen wir ein gleichberechtigtes Verhältnis wie es sich für souveräne Staaten gehört. Die USA haben nach anfänglichen Spannungen verstanden, dass sich die bolivianische Außenpolitik verändert hat. Wir sind zwar weiter an guten Beziehungen interessiert, doch sie müssen jetzt unter anderen Vorzeichen gestaltet werden.

An welchen Bündnissen ist Bolivien zur Zeit beteiligt?

Bolivien ist Mitglied mehrerer Bündnisse: der Andengemeinschaft CAN, der Union Südamerikanischer Staaten UNASUR, außerdem wollen wir dem Gemeinsamen Markt des Südens (Mercosur) beitreten. Doch eines der wichtigsten und fortschrittlichsten Bündnisse ist für uns die Bolivarianische Alternative die Amerikas ALBA. Zusammen mit Venezuela, Kuba und Nicaragua wollen wir nicht nur Wirtschaftsprojekte verwirklichen, sondern uns auch politisch integrieren. Es gibt ideologische Übereinstimmungen. ALBA fördert ein harmonisches Leben unter den Menschen und zwischen den verschiedenen Gemeinschaften mit besonderer Rücksicht auf die Umwelt.

Derzeit verhandelt Bolivien über ein Assoziierungsabkommen zwischen der Andengemeinschaft und der Europäischen Gemeinschaft. Was erwartet Bolivien von einem Vertrag mit der Europäischen Union?

Es kommt uns in den Verhandlungen mit der EU darauf an, daß der Assoziierungsvertrag die bestehenden Asymmetrien zwischen den Ländern anerkennt und ihnen Rechnung trägt – damit wir sie überwinden. Die deutsche Regierung könnte uns helfen, indem sie uns in diesem Anliegen unterstützt. Wir haben durchgesetzt, dass die Länder der Andengemeinschaft in den Verhandlungen nicht als ein einheitlicher Block behandelt werden, sondern dass ihre Besonderheiten gesehen werden. Eine spezielle Arbeitsgruppe beschäftigt sich nun mit diesen Asymmetrien. Denn wir haben weder die gleiche Wirtschaftsleistung und Entwicklungsgeschichte noch verfolgen wir alle das gleiche ökonomische Modell.

Mit dem Nachbarn Chile bestehen seit 1978 keine offiziellen diplomatischen Beziehungen. Bolivien beansprucht den im Salpeterkrieg verlorenen Zugang zum Meer. In der neuen Verfassung gibt es einen entsprechend Passus, der diesen Anspruch erneut bekräftigt. Wird es bald einen bolivianischen Pazifikhafen geben?

Es gab in den vergangenen zwei Jahren eine Reihe von Besuchen. Die chilenische Präsidentin Michelle Bachelet war zuletzt Mitte Dezember in La Paz. Durch diese Treffen haben sich unsere beiden Länder angenähert. Bei Bachelets Besuch gab es eine Agenda mit 13 Punkten, die kein Thema ausschloss, auch nicht den Meerzugang. Beide Regierungen haben ihr Interesse bekundet, eine friedliche Lösung des historischen Anspruchs Boliviens zu erreichen. Für Bolivien ist der Meerzugang eine Frage der nationalen Souveränität. Wir sind zum ersten Mal in der Geschichte wieder soweit, dass wir direkt, bilateral verhandeln. Aber es gibt noch viel zu tun. Derzeit arbeiten wir daran, das gegenseitige Vertrauen zu stärken. Wir fördern den Austausch und die Begegnung zwischen Repräsentanten beider Streitkräfte, zwischen Abgeordneten, Journalisten, Künstlern und Studenten. Zudem intensivieren wir die Wirtschaftsbeziehungen und reden über die Wiedereröffnung einer Eisenbahnlinie sowie einen Korridor für Waren, der von Brasilien über Bolivien nach Chile führen soll.

Weiterhin mit kritischem Blick

Ist im Laufe der Zeit Eure Solidaritätsarbeit einfacher oder schwieriger geworden?
Klaus: Erst einmal schwieriger. Unser Traum von klaren Perspektiven wie „Solidarität mit einem Land“ oder der Bezug auf das Avantgardekonzept einer Partei ist ausgeträumt, nicht nur in Nicaragua. Die kapitalistische Globalisierung scheint alternativlos voranzuschreiten. Heute verstehen wir uns weder als Nachlassverwalter der Solidaritätsbewegung noch als Archivare der sandinistischen Revolution.
Doch wir bewahren Erinnerungen an kämpferische Ereignisse, an die anzuknüpfen ist. Angesichts der linken Regierungen in Lateinamerika und der ALBA-Initiative erscheint es uns weiter notwendig, die Chancen und Gefahren dieser nationalstaatlichen Entwicklungen mit kritischem Blick zu verfolgen. Denn daran knüpfen auch basisorientierte Gruppen in ganz Lateinamerika Hoffnungen und Befürchtungen.
Indem wir an unserer spezifischen Ländersolidarität festhalten, ergeben sich auch Vorteile: Kontinuität und Unterstützung auch in den kleinen, wenig sichtbaren Mühen. Unsere persönlichen Bezüge und inhaltlichen Kompetenzen, die aus Diskussionen und Kontakten entstanden sind. Und unsere historisch gewachsenen Beziehungen in der „Entwicklungs- und Projektpolitik“. Nicaragua nimmt für unsere Hoffnungen auf ein besseres Leben und durch die Begegnungen mit den Menschen dort eine besondere Stellung ein.

Welche Projekte unterstützt Ihr zur Zeit?
Judith: Vor allem Frauenprojekte und einen Zusammenschluss ländlicher Kooperativen. Die Unterstützung ist schon eine vorwiegend finanzielle. Auch wenn unsere Partner immer wieder betonen, dass das Infobüro für sie eine Solidaritätsgruppe ist und kein Geldgeber aus der Entwicklungszusammenarbeit wie jeder andere. Wir wünschen uns schon, auch zu inhaltlichen Themen einen intensiveren Austausch zu haben. Das ist aber schwierig, weil wir – oder Leute vom Büro – immer nur alle paar Jahre nach Nicaragua fahren können. Und per E-Mail sind kontinuierliche Debatten kaum zu führen.
Außerdem ist es eine Frage der Zeit, vor allem bei den Partnerorganisationen: Die meisten machen eben Basisarbeit und schaffen es darüber hinaus nicht mehr, sich irgendwie an Debatten zu beteiligen – und dann noch auf internationaler Ebene. Es gibt natürlich Ausnahmen, zum Beispiel eine Organisation, die sich intensiv und auch wissenschaftlich mit dem Thema Wasser und Privatisierungen befasst. Von deren Know-how und Recherche profitieren auch wir.

Ihr habt Euch Ende der 1970er Jahre im Zuge der Solidaritätsbewegung gegründet. Was waren damals Eure Hoffnungen und Ziele?
Klaus: Der nicaraguanische Diktator Anastasio Somoza und die unter ihm begangenen Menschenrechtsverletzungen erregten damals weltweit Aufmerksamkeit. Auch die Dynamik des Bürgerkrieges trug zum Entstehen einer breiten Solidaritätsbewegung bei. Im Ausland herrschte das Bild, als agiere auf der einen Seite ‘das Volk’ unter Führung der SandinistInnen und auf der anderen Seite die repressive, Menschen verachtende Gewalt des Diktators. Das war eine Konstellation, die zur Identifikation einlud. Nicaragua symbolisierte für uns einen neuen, dritten Weg. Populäre Maßnahmen der ersten Jahre, wie die Alphabetisierungskampagne nach dem Vorbild Kubas, der infrastrukturelle Aufbau mit Schulen und Krankenhäusern, die Landreform und so weiter, vermittelten den Eindruck eines neuen gesellschaftlichen Entwurfs, bei dem der und die Einzelne zählte. Gerade für uns als Teil der Linken, der den „realen Sozialismus“ nicht mit emanzipatorischer Entwicklung in Verbindung bringen konnte, erschien Nicaragua als Modell, von dem wir lernen wollten: mit einem breiten politischen Bündnis und einer Kultur der demokratischen Auseinandersetzung, an der unterschiedliche Parteien, vor allem aber Gewerkschaften, Verbände und Massenorganisationen, teilnahmen. Bewaffnete Bewegungen wie die Sandinistische Befreiungsfront (FSLN) weckten die Hoffnung auf eine gerechte Zukunft. Wir glaubten daran, dass mit der Eroberung der Staatsmacht die Voraussetzung für eine gesellschaftliche Umwälzung gegeben war.

Und wie ist heute Euer Verhältnis bzw. eure Einstellung zur sandinistischen Revolution?
Klaus: Schon bald nach der Regierungsübernahme der SandinistInnen wurde deutlich, dass wir unsere Position gegenüber der FSLN definieren mussten. Die FSLN war nun eine Befreiungsbewegung an der Macht und entwickelte sich später zudem zur Partei. Wir waren eine Solidaritätsbewegung mit multipolarer Zusammensetzung und basisdemokratischen Strukturen, mehr ein Netzwerk denn eine feste Organisation. Grundkonzept unserer Solidaritätsarbeit war die „kritische Solidarität“. Auf gar keinen Fall sahen wir uns als verlängerter Arm der FSLN oder als eine Freundschaftsgesellschaft.
Vielmehr verstanden wir uns als bundesdeutsche politische Kraft, mit eigenen politischen Positionen, die im Bereich des Internationalismus aktiv war. Wir wollten die Revolution unterstützen und zugleich die Strukturen im eigenen Land verändern. „Kritische Solidarität“ bedeutete für uns, mit den grundsätzlichen Zielen der FSLN solidarisch zu sein, uns mit den Bedingungen und Begründungen ihres Handelns auseinanderzusetzen, sie aber nicht unbedingt zu billigen. Wir sahen es als unsere Aufgabe an, parteilich, aber kritisch, über die Revolution zu informieren und sie zu unterstützen. Mit den Jahren wurden die Zweifel stärker, ob wir gemeinsame Ziele mit der Führung der FSLN hatten. Stattdessen haben wir gute Beziehungen zu unabhängigen und feministischen Sandinistinnen geknüpft, mit denen wir in der Kritik am Machismo übereinstimmten und sie darin unterstützen, ihre Forderungen nach Emanzipation auch in Zeiten äußerer Bedrohung zu formulieren. Diese Frauengruppen erschütterten auch unser bis dahin durchweg positives Verhältnis zur revolutionären Gewalt, indem sie zeigten, dass die Zunahme von familiärer Gewalt in direktem Zusammenhang mit dem Krieg stand.

Wie schätzt Ihr eure Möglichkeiten heute ein, die Lage in Nicaragua zu verändern?
Judith: Ich glaube nicht, dass wir die haben, sehe das aber auch nicht als unsere Aufgabe. Wir müssen uns eher hier einmischen und zum Beispiel gegen die Wirtschaftsabkommen zwischen der EU und Mittelamerika arbeiten, die jetzt verhandelt werden. Wir können die Positionen vieler Menschen in Mittelamerika hier hörbar machen. Und außerdem gibt es ja genug, was hier unerträglich ist. Aber die Lage in Nicaragua ändern können nur die Leute dort. Wenn wir durch unsere Spendenpolitik dabei jemandem unter die Arme greifen können, um so besser.

Wie gestaltet sich jetzt Eure Aufklärungs- und Informationsarbeit in Deutschland?
Judith: Das kommt ein bisschen auf die Zielgruppen an. Es gibt noch Gruppen und Leute, die aus den unterschiedlichsten Gründen ganz konkret was zu Politik und Gesellschaft in Nicaragua wissen wollen. Das sind zum Beispiel Städtepartnerschaften oder junge Leute, die ein Praktikum oder ein Projekt dort machen wollen. Aber insgesamt ist das Interesse an Nicaragua als Land natürlich nicht mehr so groß. Und uns ist es auch wichtiger, zu bestimmten Themen zu arbeiten, die nicht länderspezifisch, sondern im globalisierungskritischen Feld anzusiedeln sind: Freihandelsabkommen, Arbeitsbedingungen, Migration. Da nehmen wir dann Nicaragua als ein Beispiel, wie ungerechte Weltwirtschaftsstrukturen auf Menschen in armen Ländern wirken und wie diese damit umgehen. Das könnte aber genauso gut anhand der Elfenbeinküste oder den Philippinen erklärt werden. Insofern ist der Name „Infobüro Nicaragua“ meiner Meinung nach heute etwas irreführend.

Weitere Infos: www.informationsbuero-nicaragua.org

Entwicklungsfaktor Migration

Entwicklung durch Migration? Diese Frage wird heute immer öfter von WissenschaftlerInnen und PolitikberaterInnen aufgeworfen. Meistens handelt es sich dabei um ökonomistische und objektivistische Erklärungsmodelle von Migration. Diese Studien untersuchen vor allem die Auswirkungen der Migration auf Empfängerländer und Herkunftsländer sowie die Interessen der Migrantinnen, welche in einer Kosten-Nutzenbilanz errechnet werden.
In Hinblick auf die Auswirkungen im Empfängerland der MigrantInnen lässt sich eine pessimistische und eine optimistische Linie ausmachen. Die erste unterstreicht das Sicherheitsrisiko der Migration und negative Auswirkungen auf Beschäftigung und soziale Sicherheit im Empfängerland; während die zweite auf das Phänomen der Alterung der Bevölkerung abzielt und in der internationalen Migration eine mögliche Lösung der generationsbedingten demographischen Probleme sieht.
Die Forscher greifen in der Debatte über die Interessen der MigrantInnen vor allem auf neoklassische, das heißt neoliberale Erklärungsmodelle zurück. Sie verstehen Migration als Schaffung neuer Beschäftigungs- und Erwerbsmöglichkeiten für die
MigrantInnen und als deren Eingliederung in den Markt. Die Geldsendungen der MigrantInnen (so genannte remesas) in ihre Heimatländer gelten als Werkzeug für die Finanzierung der Ökonomien des Südens.
Die außergewöhnlichen Dynamiken der Migration haben in den letzten Jahren ein reges Interesse an den Auswirkungen auf die Herkunftsländer geweckt. Wurden früher vor allem die negativen Folgen auf die Herkunftsgemeinden (brain und care drain; psychosoziale Auswirkungen) thematisiert, dominiert heute eine optimistische Perspektive, die das Potenzial der Migration für Entwicklung in den Vordergund stellt. Gemeint sind hier vor allem die Entwicklungspotenziale durch den transnationalen Transfer von Kompetenzen, Wissen und finanziellen Ressourcen.
Die remesas werden als Mittel der Armutsbekämpfung gesehen und als Hilfsmittel zum Erreichen der von den Vereinten Nationen gesetzten Millenniumsziele. Weltbank-Experten rechnen vor, dass eine Lockerung bzw. Flexibilisierung der restriktiven Grenzkontrollen den Anteil von MigrantInnen an der erwerbstätigen Bevölkerung in den hochentwickelten Ländern auf drei Prozent und die Summe der remesas auf 150 Milliarden US-Dollar pro Jahr erhöhen könnte. Zum Vergleich: Die gesamte internationale Entwicklungshilfe belief sich in 2003 (2006) auf 68,5 (ca. 100) Milliarden US-Dollar. Es wird behauptet, dieses „Kapital der MigrantInnen“ hätte einen trickle down-Effekt (Sicker-Effekt), der sich positiv auf die Herkunftsgemeinden auswirke. Damit die remesas in der Lage sind, die Armut dauerhaft zu reduzieren, müssen – so Weltbank und andere internationale Finanzierungsinstitutionen – diese Ressourcen allerdings „produktiv“ genutzt werden.
Dieser soeben skizzierte Diskurs steht in einer alten Tradition des politischen Denkens. Es knüpft an das seit den 1960er Jahren dominante Paradigma der Modernisierung an. Nach diesem Paradigma ist Entwicklung ein Prozess ökonomischen Wachstums, der unausweichlich und
geradlinig auch einen sozialen Fortschritt mit sich bringt. Interpretationsfolie und Modell dieser Perspektive sind die industrialisierten Länder des Nordens.

Eine Lösung für die strukturelle Armut fehlt

Gegenwärtig basiert die herrschende Sozialpolitik in den meisten Ländern Lateinamerikas auf diesem Modell. Demnach solle staatliche Politik sich darauf beschränken, die Armen dazu zu stimulieren, ihre Probleme selber zu lösen. Der Staat sucht zum einen größere Wirksamkeit durch „selektives und fokussiertes Handeln“, so dass gemäß eines festgelegten Kriteriums (zum Beispiel Einkommen) ein Kollektiv der Bedürftigsten definiert wird und alle Anstrengungen in diese Gruppe konzentriert werden. Zum anderen geht es darum, dieses Kollektiv so zu „aktivieren“, dass es die ihm verfügbaren Ressourcen – im Sinne ökonomischen, sozialen und Humankapitals – nutzt, die soziale Problemlage aus eigener Kraft zu überwinden. Die Idee der „Erweiterung der Möglichkeiten der Armen“ und „Ermächtigung“ etwa der Frauen steht in diesem Kontext.
Die ungleiche Verteilung des Reichtums wird in diesem sozialpolitischen Paradigma in keinem Moment hinterfragt. Die weniger bedürftigen Armen und die Mittelklasse werden angehalten, individuell für ihre soziale Absicherung und sozialen Güter zu sorgen, sei es über den Markt oder über das familiäre Umfeld – letzteres de facto auch eine Mehrbelastung der Frauen.
Übertragen auf das Thema Migration und Entwicklung entsteht dabei folgende Argumentationslogik: Die armen Familien, in denen ein Mitglied international migriert ist, besitzen soziales und finanzielles Kapital (remesas), das sie in Humankapital (Bildung) investieren oder in eine andere produktive Aktivität stecken können. Damit können sie mit ihren eigenen Mitteln die Armut überwinden und gleichzeitig zum ökonomischen Wachstum des eigenen Landes beitragen. Dafür ist es jedoch unabkömmlich, die Ressourcen rational zu verausgaben, das heißt, sie im produktiven Sektor zu verausgaben, da nur dieser den notwendigen Reichtum produziert, um die Armut derjenigen mindern zu können, die es nicht geschafft haben, die Möglichkeiten des Marktes zu nutzen. Jedoch hat diese seit den 1990er Jahren in Lateinamerika dominante Form der Sozialpolitik im Kontext des Washington Konsens, das heißt des Dreiklang aus Marktliberalisierung, Privatisierung und Staatsdefizitreduzierung nicht dazu beigetragen hat, eine strukturelle Lösung der Armut zu finden. Im Gegenteil hat diese Politik die Lebensbedingungen der großen Bevölkerungsmehrheit verschlechtert. Sie steht damit in einem direkten Zusammenhang mit der Zunahme der transnationalen Migrationsbewegungen aus dem Süden.
Die gegenwärtigen Migrationsbewegungen und deren Charakteristiken müssen als Produkt der Globalisierung und der neuen internationalen Arbeitsteilung begriffen werden, schreibt die Migrationsforscherin Saskia Sassen. Die Mehrheit der ArbeitsmigrantInnen konzentriere sich dabei auf die großen Städte des Nordens, wo diese meist ohne Papiere in der Illegalität leben müssen und in unsicheren und informellen Beschäftigungsverhältnissen stehen.

Überleben versus Entwicklung?

Die ökonomistisch-strukturalistischen Erklärungsmodelle machen MigrantInnen als aktive und mehrdimensionale Subjekte unsichtbar und reduzieren sie dabei zu rationalen Ausführungsorganen makrökonomischer Strukturen. Doch Migration ist ebenso eine individuelle wie familiäre Strategie. Transnationale soziale Netwerke von MigrantInnen, in denen Solidarität und gegenseitige Hilfe etwas Normales sind, spielen eine große Rolle bei der Entscheidung vieler Menschen, ob und wohin sie ihr Heimatland auf Zeit oder für immer verlassen sollen.
Wenn remesas nicht primär in den produktiven Sektor investiert, sondern dazu genutzt werden, um Schulden abzuzahlen, den Lebensunterhalt zu sichern oder ein Mindestmaß an gesundheitlicher Versorgung der Familie und die Ausbildung der Kinder zu gewährleisten; dann nicht etwa deshalb, weil die Armen nicht rational handeln würden oder unfähig seien, produktiven Nutzen aus ihren Ressourcen zu schlagen.
Vielmehr tragen die Familien der unteren Schichten heute in überproportionaler Weise die Last des Rückzugs aus dem sozialen und öffentlichen Sektor. Es kommt nicht von ungefähr, dass in vielen Ländern Lateinamerikas die remesas dazu geführt haben, dass die MigrantInnen heute im Hinblick auf soziale Investitionen den Staat ersetzen. Ohne Zweifel birgt die Migration positive sozioökonomische Entwicklungsmöglichkeiten – für die MigrantInnen sowie für die Gesellschaften in den Herkunfts- und Empfängerländern. Damit dieses Potenzial ausgeschöpft wird, bedarf es allerdings einer Transformation der Bedingungen, die Ungleichheit und Exklusion
produzieren.
Die Strategien der MigrantInnen stellen in Wirklichkeit einen Entwicklungsansatz dar, in dessen Mittelpunkt die Frage der sozialen Reproduktion steht. Eine Vorstellung von Entwicklung, die nicht auf ökonomisches Wachstum reduziert ist und das Wohlergehen der Mehrheit der Bereicherung der Minderheit unterordnet.

KASTEN:
Nach den Zahlen der Internationalen Organisation für Migration IOM wuchs der Anteil der MigrantInnen an der Weltbevölkerung von 171 Millionen im Jahr 2000 auf 191 Millionen Menschen in 2005 an. Die Hälfte davon sind Frauen, Tendenz steigend.Damit sind rund drei Prozent der Weltbevölkerung internationale MigrantInnen.
Obwohl die Herausbildung neuer Attraktionspole im Süden selbst eine immer bedeutendere interne und intraregionale Migration verursacht, gibt es gegenwärtig ein dominantes Süd-Nord-Muster in den Migrationsflüssen: eine/r von vier MigrantInnen lebt in den USA und Kanada, eine/r von drei in Europa. Das Hauptziel der internationalen Migration bleiben die USA mit 20 Prozent aller MigrantInnen weltweit.

Neue Geber, neue Chancen?

Venezuela leistet Entwicklungshilfe in den USA, hätte die Schlagzeile lauten können: Im Winter 2005/2006 startete der venezolanische Präsident Hugo Chávez ein Hilfsprogramm für arme US-AmerikanerInnen. Was bei den EmpfängerInnen für Freude sorgte, verärgerte das Weiße Haus. Die US-Regierung hatte sich geweigert, die Heizkostenzuschüsse für arme Haushalte wegen der hohen Heizkosten zu erhöhen; US-Konzerne lehnten Preissenkungen ab. Chávez sprang ein, bot armen US-Haushalten um 40 Prozent verbilligtes Heizöl an – und provozierte einmal mehr seinen „Lieblingsfeind“, US-Präsidenten Bush.
So weit, dass ein Land des ehemals globalen Südens „Entwicklungshilfe“ in einem Industrieland leistet, ist es noch nicht. Doch das starre Muster, das dem Diskurs von Entwicklung und Entwicklungshilfe lange Zeit zugrunde lag, ist aufgebrochen. Die Episode von Chávez‘ Hilfsprogramm zeigt: Längst stehen sich nicht mehr wohlhabende Industrieländer und mittellose Dritte-Welt-Staaten gegenüber, längst fließt Hilfe nicht mehr nur vom Norden in den Süden. Die globalisierte Welt zerfällt in ein Mosaik von armen und reichen Blöcken, Staaten, Regionen, in Netzwerke von Konkurrenz und Kooperation. Nicht nur in den USA, auch in den ehemals europäischen Zentren des Wohlstandes bilden sich zunehmend Schichten heraus, auf die die Bezeichnung „arm“ zutrifft – während Staaten wie China, Indien oder Brasilien zu Wirtschaftsmächten aufsteigen, die die ehemals vorherrschenden westlichen Staaten weder ignorieren noch umgehen können.

Entwicklungshilfe für die Geber

Dies wirkt sich auch auf die Entwicklungspolitik aus. Lange Zeit hatten die westlichen Industrienationen freie Hand: Für die technische und finanzielle Hilfe, die sie den ärmeren Staaten des globalen Südens zukommen ließen, konnten sie weitreichende Forderungen stellen. Dabei ging es häufig um wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Vor allem Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IWF) machten seit den 1980er Jahren Strukturanpassungsmaßnahmen zur Bedingung für Kredite. Entsprechend ihrer neoliberalen Doktrin bestanden diese vor allem aus Liberalisierungs- und Privatisierungsmaßnahmen. Seit den 1990ern forderten die traditionellen Geberländer zunehmend Anstrengungen im Bereich der good governance („guter Regierungsführung“) für Entwicklungshilfe: Verringerung der Korruption, Einhaltung der Menschenrechte, Meinungs- und Wahlfreiheit. Beides brachte den Geberländern von verschiedener Seite Kritik ein: Die geforderten Reformen dienten vor allem der eigenen Wirtschaft und erleichterten den Industriestaaten den Zugang zu den Märkten des Südens; sie zwängen anderen Staaten ihre Vorstellungen von Demokratie und freier Marktwirtschaft auf oder machten es manchen diktatorisch regierten Staaten unmöglich, überhaupt noch Hilfe zu bekommen – worunter vor allem die Ärmsten in diesen Ländern zu leiden hätten.
Jetzt ist alles anders, oder zumindest scheint es auf den ersten Blick so: Viele Staaten in Afrika, Asien oder Lateinamerika haben an Wahlfreiheit gewonnen, seit neue Staaten die Entwicklungspolitik für sich entdeckt haben. Für viele afrikanische Staaten ist China inzwischen wichtigster Handelspartner, Investor – und wichtigstes Geberland für Entwicklungshilfe. Für seine Investitionen fordert China nichts als den Zugang zu Rohstoffen, es interessiert sich – wenig verwunderlich – weder für die Lage der Menschenrechte noch für wirtschaftliche Reformen. Um seinen hohen Energiebedarf zu decken, hat China ein weitgefächertes Netz von Rohstofflieferanten geknüpft und dabei gerade die Länder in Asien oder Afrika einbezogen, die der Westen lange Zeit links liegen ließ. Was der SPIEGEL (13/2006) einen „brachialen Expansionskurs“ schimpft, ist gerade für viele afrikanische Staaten eine Alternative zum neoliberalen Programm von Weltbank und IWF. In Angola beispielsweise hat „der chinesische Weg“ die Armut deutlich effektiver bekämpft als die Entwicklungskredite des IWF. Chinas Ignoranz gegenüber Verletzungen der Menschenrechte machen seine Hilfe dennoch zu einer zweischneidigen Sache, wenn es, wie in Burma oder dem Sudan, bedingungslos mit Militärregimen kooperiert.
Anders die Situation in Lateinamerika: Dort avanciert Venezuela zum zentralen Akteur in Sachen Entwicklungspolitik. Im Unterschied zu China geht es dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez nicht (nur) um Wirtschaftspolitik: Er treibt vor allem sein politisches Projekt ALBA voran, eine verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit der Länder Lateinamerikas, die explizit gegen die US-amerikanische Vorherrschaft in der Region gerichtet ist.

Öl gegen Solidarität

Die „Bolivarianische Alternative für Amerika“ soll genau das Gegenteil der gesamtamerikanischen Freihandelszone ALCA sein, mit deren Aufbau die USA in Lateinamerika scheiterten. ALBA statt ALCA – der Wechsel symbolisiert auch den Machtverlust der USA in Lateinamerika. Zwar sind die USA für viele Länder Lateinamerikas weiterhin wichtigster Handelspartner, doch haben sie ihren einstigen „Hinterhof“ in den letzten Jahren vernachlässigt, finanziell wie politisch. Einzig Kolumbien erhält über den Plan Colombia nach wie vor hohe finanzielle Zuschüsse. Der größte Teil des Geldes, mit dem sich die USA den Süden des Kontinents gefügig machten, geht heute in den Irak. So boten sich für Chávez perfekte Bedingungen: Während er in Venezuela den Aufbau des „Sozialismus des 21.Jahrhunderts“ in seinem Sinne vorantreibt, sichern ihm die sprudelnden Öleinnahmen außenpolitisch freie Hand. Linksgerichtete Regierungen wie in Argentinien, Bolivien und Ecuador unterstützt er großzügig und sichert sich im Gegenzug ihre Solidarität in seinem Konfrontationskurs gegenüber den USA.
Zwar hat Venezuelas Großzügigkeit auch wirtschaftliche Gründe: Zum einen geht zurzeit noch ein Großteil seiner Exporte in die USA, und Chávez möchte dem Land neue Absatzmärkte erschließen. Zum anderen erhöhen die vermehrten Öleinnahmen den Druck auf die venezolanische Währung. Um diese nicht aufwerten zu müssen und damit Exporte zu verteuern, sind die Finanzhilfen an befreundete Staaten ein willkommenes Mittel, um Kapital zu exportieren. Seit 2005 hat Venezuela für über drei Milliarden US-Dollar argentinische Staatsanleihen erworben. Auch Argentinien hat davon profitiert. Die argentinische Regierung konnte mit dem venezolanischen Geld auf einen Schlag ihre Schulden beim IWF zurückzahlen – was den Internationalen Währungsfonds politisch wie finanziell in eine Krise stürzte.

Kreative Tauschgeschäfte

Wieviel Venezuela tatsächlich in Entwicklungshilfe investiert, lässt sich nicht sagen – anders als in den Staaten der OECD gibt es weder einen festen Etat für die Hilfe noch ein eigenes Ministerium. Die Hilfe läuft zumeist über den staatlichen Ölkonzern PDVSA. Neben Finanzhilfen bietet Venezuela verschiedene, durchaus kreative Formen der Hilfe an. So zahlt es im Rahmen des Aufbaus von ALBA in Kompensationsfonds ein, mit denen bestehende Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedsstaaten ausgeglichen werden sollen. Es versorgt Länder Zentralamerikas und der Karibik im Rahmen des Petrocaribe-Abkommens mit verbilligtem Öl, was den Anstieg des Ölpreises für diese abmildert und ihre Abhängigkeit vom Weltmarkt verringert. Mit Kuba verbindet Venezuela nicht nur die symbolische Freundschaft zwischen Fidel Castro und dem Aufsteiger Chávez, sondern auch ein besonderer Tausch: Kuba erhält Öl – und schickt im Gegenzug Ärzte in die Armenviertel Venezuelas. Ähnlich funktioniert die Zusammenarbeit mit Bolivien, das gegen Öl Nahrungsmittel liefert, die an Bedürftige in Venezuela verkauft werden.
Gerade an solchen Projekten werden die Besonderheiten der venezolanischen Hilfe deutlich: Venezuela hat auch die Armut im eigenen Land noch nicht vollkommen besiegt und verknüpft so Aufbau in anderen Ländern mit Armutsbekämpfung im Inneren. Zugleich ist die Hilfe – auch aufgrund dieser Tatsache – stärker auf gegenseitige Kooperation angelegt als auf paternalistische Bevormundung, wie das bei der westlichen Entwicklungszusammenarbeit der Fall war. Den Staaten Lateinamerikas haben sich so zumindest Wahlmöglichkeiten ergeben: Sie können sich zwischen verschiedenen Optionen der Kooperation – und damit auch der Richtung der Entwicklung – entscheiden. Und das erhöht wiederum den Druck auf die Geberländer, ihre Formen der Hilfe zu überprüfen: Sie müssen nun nachweisen, wie erfolgreich ihre Hilfsprogramme tatsächlich sind. Die Zeiten sind vorbei, als die westlichen Geberländer den Ländern des Südens neoliberale Reformen aufdrücken konnten, ohne deren katastrophalen Folgen rechtfertigen zu müssen.
Dennoch bewegt sich Entwicklungshilfe weiterhin auf einem schmalen Grat: zwischen neuen Abhängigkeiten und der Eröffnung politischer Spielräume, zwischen freiwilliger Gefolgschaft und erkaufter Loyalität. Was auf der einen Seite Wahlmöglichkeiten bedeutet, bedeutet auf der anderen Seite auch Konkurrenz: Konkurrenz nicht nur zwischen den Geberländern, die durch die Hilfe auch Zugang zu begehrten Rohstoffen oder strategische Allianzen sichern. Sie bedeutet auch Konkurrenz um die Geber, um Investitionen und Handelserleichterungen. Der Wettbewerb der Standorte setzt sich – verschärft – in der Entwicklungshilfe fort. Wo, wie im Fall Venezuelas, politische Strategien eine größere Rolle spielen, mag diese Tatsache vorübergehend abgemildert werden. Auch hier gilt: Hilfe wird weiterhin nicht ohne Hintergedanken gegeben. Auch wenn manche der jetzt in Lateinamerika erprobten Ansätze die Hoffnung wecken, auf Dauer tatsächlich zu mehr Gleichheit zwischen den Partnern zu führen, statt, wie Entwicklungshilfe es bisher oft getan hat, die Ungleichheiten nur zu zementieren.

KASTEN:
Monetäre Emanzipation
Brasilien unterstützt Venezuela beim Aufbau einer „Bank des Südens“
Schon wieder so eine verrückte Idee von Chávez, mag man in den Bankdirektionen des Nordens geseufzt haben, als der venezolanische Präsident letztes Jahr ankündigte, eine „Bank des Südens“ aufbauen zu wollen – ein regionales Gegengewicht zu Internationalem Währungsfonds (IWF), Weltbank und Interamerikanischer Entwicklungsbank. Die bestehenden internationalen Finanzinstitutionen werden von den Staaten Lateinamerikas seit vielen Jahren als zu stark von den USA dominiert kritisiert. Um Kredite zu bekommen, mussten sie neoliberale Reformen durchführen, die manche von ihnen – wie Argentinien – erst recht in die Krise trieben. Damit soll es jetzt vorbei sein – und das meint nicht nur Chávez, der am 30. April gar den Austritt Venezuelas aus IWF und Weltbank verkündete. Bereits im Februar 2007 unterzeichnete er mit dem argentinischen Präsidenten Nestor Kirchner offziell ein Abkommen zur Gründung der Bank, inzwischen haben sich Ecuador, Paraguay und Bolivien angeschlossen. Als kürzlich auch Brasilien zusagte, sich zu beteiligen, horchte man auf einem Mal auch im Ausland auf. Die regionalen Schwergewichte Brasilien und Venezuela sind sich zwar nicht immer einig – arbeiten sie zusammen, könnte es die „Bank des Südens“ aber tatsächlich bald geben. Beide Staaten haben derzeit hohe finanzielle Einnahmen und suchen nach Möglichkeiten, ihr Geld anlegen zu können. Wann die „Bank des Südens“ ihre Arbeit aufnehmen kann und Infrastrukturprojekte sowie kleine und mittlere Betriebe finanziert, ist noch offen; in den kommenden drei Monaten sollen zunächst grundlegende Fragen geklärt werden. Eines lässt sich in jedem Fall sagen: Der IWF verliert in der Region weiter an Einfluss.
Juliane Schumacher

Petrodollar ohne Ölförderung

Die Idee, an Ölvorkommen zu verdienen, ohne sie zu fördern, ist außergewöhnlich. Sie stammt von mehreren Nichtregierungsorganisationen wie der Acción Ecológica (Ökologische Aktion) und wurde von Erdöl- und Bergbau-Minister Alberto Acosta innerhalb der Regierung vorangetrieben. Diese will einen Fonds einrichten, der jährlich eine Dividende in Höhe von 350 Millionen US-Dollar – in etwa die Hälfte der möglichen Erdöleinnahmen – ausschütten soll. Dieses Geld würde dann ausschließlich für soziale und ökologische Projekte verwendet werden.
Mit dieser Vorgabe hofft die Regierung, sowohl Privatpersonen als auch Regierungen der Industrieländer zu motivieren, in den Fonds einzuzahlen. Etwa vier Milliarden US-Dollar müssten zusammenkommen, um die Idee umzusetzen. Die Petrodollars sollen aus dem Verkauf von ungeförderten Barrels Erdöl kommen. Bei einem Verkauf des gesamten Vorkommens ist nach Berechnungen der Gruppe Ökologische Aktion ein Betrag von fünf US-Dollar je (nicht gefördertem) Barrel ausreichend, um den Kapitalstock des Fonds zu bilden. Ecuador will erreichen, dass Privatpersonen in den Industrieländern das von der Steuer absetzen können. So will Ecuador von den Vorkommen profitieren und trotzdem einen Beitrag zu Klima- und Umweltschutz leisten.

Mehr Ölförderung im Nationalpark?

Die Ölquellen, um die es geht, wurden schon bei Bohrungen der staatlichen Ölgesellschaft Petroecuador im Jahr 1992 entdeckt. Sie werden mit dem Kürzel ITT (Ishpingo-Tambococha-Tiputini) bezeichnet, das für ein Regenwaldgebiet im Osten des Landes steht, unweit der Grenze zu Peru. Ex-Präsident Lucio Gutiérrez versuchte während seiner Amtszeit bereits, die Reserven ohne Teilhabe von Petroecuador an private Investoren aus dem Ausland zu vermarkten. Sowohl US-amerikanische, russische, französische und chinesische Konzerne hatten Interesse signalisiert – unter anderem Chevron Texaco und Total-Fina-Elf. Nach dem Ersten Südamerikanischen Energiegipfel im April in Venezuela (siehe LN 395) ist dagegen im Fall einer Ausbeutung eher eine Kooperation mit brasilianischen oder venezolanischen Konzernen vorstellbar.
Das ITT ist Teil des Nationalparks Yasuní, der seit 1989 UNESCO Biosphärenreservat ist. Der Yasuní wird als eine der Zonen mit der weltweit größten biologischen Vielfalt angesehen. Damit ist der Yasuní sowohl für die Wissenschaft, als auch für den wachsenden Wirtschaftszweig des nachhaltigen Tourismus interessant. Im Yasuní leben Huaorani-Indigene und weitere Gruppen wie die Tagaeri und die Taromenane, die bisher keinen Kontakt zur Außenwelt unterhalten. 1999 wurden 71 Prozent des Gebietes zur „unantastbaren Zone“ erklärt. Das Dekret wurde von UmweltschützerInnen und Indigenen-Organisationen jedoch nie als wirklicher Schutz von menschlichen und natürlichen Lebensräumen angesehen, weil es die Möglichkeiten der Erdölgewinnung offen ließ.
Die Regierung ist sich indes uneins über die Frage, was mit den Ölvorkommen passieren soll, wenn die Idee des internationalen Fonds scheitert. Präsident Correa betont immer wieder, die bevorzugte Option der Regierung sei, das Öl nicht zu fördern. Sollte es jedoch von Seiten der „Internationalen Gemeinschaft“ keinen finanziellen Ausgleich geben, werde man im Interesse der Entwicklung des Landes auf möglichst umweltverträgliche Art und Weise mit der Ausbeutung beginnen. Man könne in diesem Falle verstehen, wenn einzelne Minister die Regierung verließen.

Wechselnde Allianzen

Überraschende Neuigkeiten gab es auch bei einem anderem Thema. Nach der erfolgreichen Volksabstimmung über die Verfassungsgebende Versammlung (siehe LN 394 und 395) wird intensiv über die Bildung von Allianzen debattiert. Bisher wurde erwartet, dass das Regierungsbündnis Alianza PAÍS zusammen mit möglichst vielen Parteien und Gruppierungen des linken Spektrums eine strategische Koalition bilden würde, um eine Mehrheit bei der Wahl zur verfassunggebenden Versammlung am 30. September dieses Jahres zu erreichen. Das Bündnis verkündete kürzlich jedoch entgegen bisherigen Ankündigungen, es werde nicht als Teil einer Einheitsliste zu den Wahlen antreten. Die Alianza PAÍS beschränkte sich darauf, mit den regierungsnahen Gruppierungen Demokratische Alternative und Neues Land (Alternativa Democrática und Nuevo País) ein Kooperationsabkommen für eine gemeinsame Wahlliste zu unterzeichnen. In dem Abkommen werden für die Arbeit in der verfassunggebenden Versammlung acht Leitlinien beschrieben. Sie reichen vom Respekt der Menschenrechte über die Entwicklung einer partizipativen Demokratie bis hin zur Stärkung des Naturschutzes.
Die bisher verbündeten Sozialisten (Partido Socialista – Frente Amplio) zeigten sich von der Entscheidung der Alianza PAÍS überrascht. Sie verhandeln jetzt mit der Indigenen-Partei Pachakutik und dem Netzwerk Ethik und Demokratie des Ex-Präsidentschaftskandidaten León Roldós über eine gemeinsame, inhaltlich regierungsnahe Liste.
Dankbar nahm die eher Correa-kritisch eingestellte ecuadorianische Presse ein Treffen Correas mit den Botschaftern verschiedener Mitgliedsländer der Europäischen Union in der zweiten Maiwoche auf. Themen waren das Länderstrategiepapier Ecuador 2007-2013 der Europäischen Kommission, die Zusammenarbeit zwischen Andengemeinschaft (CAN) und Europäischer Union – und vor allem die innenpolitische Situation der vergangenen Monate.

Botschafter der EU zeigen sich „besorgt“

Mit Blick auf die Entwicklungen während der letzten Monate erklärte der deutsche Botschafter in Quito, Bernd Sproedt: „Für uns als wahre Freunde Ecuadors wäre es nicht ehrlich, die Besorgnis
unserer Länder zu verhehlen.“ Gleichwohl unterstütze man die Regierung in ihren Bemühungen, eine stabile Rechtsordnung zu schaffen und hoffe, dass der Prozess der verfassunggebenden
Versammlung ein demokratischer und gesellschaftsumfassender sein werde.
Bezüglich der Entwicklungszusammenarbeit wies der deutsche Botschafter darauf hin, dass die Europäische Gemeinschaft in den kommenden fünf Jahren 137 Millionen Euro an Mitteln für das Andenland bereit stellen werde. Im zugehörigen Strategiepapier der Kommission wird betont, dass diese Mittel im wesentlichen zwei Zielen dienen sollten: Erstens der Steigerung von Umfang und Wirksamkeit der staatlichen Sozialausgaben und zweitens der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und der Erleichterung des Marktzugangs für kleine und mittlere Unternehmen. Hervorgehoben wird in dem Papier der EU-Kommission, dass beides auch wesentliche Themen der Agenda der Regierung Correa seien.
Bei dem Treffen erklärte Correa, er könne die Aufregung nicht nachvollziehen und forderte Europa und die Welt auf, den derzeitigen demokratischen Prozess Ecuadors „zu respektieren und zu unterstützen“. In die gleiche Richtung gingen nach dem Treffen
Mitteilungen von lokalen Nichtregierungsorganisationen, die Äußerungen der EU-Botschafter in Teilen als Einmischung in innere Angelegenheiten werteten.
Während des Treffens im Präsidentenpalast Carondolet signalisierte Correa dann noch das Interesse Ecuadors an dem schon länger diskutierten Assoziationsabkommen zwischen der Andengemeinschaft (CAN) und der Europäischen Union. Dieses Interesse knüpfte er jedoch an die Bedingung, dass ein Abkommen mehr als nur purer Marktlogik folgen müsse, da diese für ihn den „größten Feind der Entwicklung“ darstelle. In diesem Sinne warb Correa ebenfalls für das ITT-Projekt um Unterstützung. Tatsächlich könnten europäische Staaten damit auch eine Vision für ein Ecuador nach den Petrodollars unterstützen.

Alte Ungleichheiten, in Grün fortgeschrieben

Unruhe macht sich breit. Die fossilen Rohstoffe neigen sich ihrem Ende entgegen, die Klimakatastrophe rückt näher. Auch weite Teile von Politik und Wirtschaft werden offensichtlich von Unbehagen ergriffen, von Bildzeitung bis zur G8 fordern Akteure auf allen Ebenen „neue Ansätze und Wege“ – eine historische Chance, das herrschende Produktionssystem und die bestehenden Ungleichheiten zu überwinden?
Dem ist nicht so. Die Debatte um eine nötige „Umkehr“ findet innerhalb des bestehenden Analyserahmens statt, zugrunde liegende Muster werden nicht hinterfragt. Es scheint im Gegenteil, dass die aufgeregten Forderungen nach Klimaschutz nur die tatsächlichen Interessen verschleiern, die den Maßnahmen zugrunde liegen. Der Klimawandel ist zum neuen „Hauptwiderspruch“ geworden – der freilich in der öffentlichen Debatte keinen Widerspruch darstellt zum herrschenden Wirtschaftssystem, sondern, im Gegenteil, innerhalb desselben bearbeitet und nutzbar gemacht wird.
Die aufgeregte Debatte um Klimaschutz, die nun hektisch Maßnahmen fordert, macht auch entwicklungspolitisch vieles wieder machbar, was zuvor bereits in die Kritik geraten war. Nun werden sie auf einmal als Chance gefeiert: gewaltige Infrastrukturprojekte, die in Monokultur „Bio“-Rohstoffe für den Weltmarkt produzieren; das ökologisch und sozial äußerst zweifelhafte Greenwashing durch Zertifizierung vermeintlich „nachhaltiger“ Produkte; die Einführung von Gentechnik, deren Hemmschwelle in der öffentlichen Wahrnehmung sinkt, wenn es doch „nur“ um Produkte geht, die ohnehin dem Verbrennungsmotor zugefügt werden.

Neue Herausforderungen, alte Strategien

Die Entwicklungspolitik, keine Frage, hat die neuen Herausforderungen angenommen: Klimawandel und Ressourcensicherheit sind wichtige Themen in der aktuellen Debatte. Und auch die Verschiebungen im globalen Machtgefüge geraten zunehmend in den Blick. Länder wie China, Indien und Brasilien sind längst selbst zu bedeutsamen Akteuren geworden – auch in der Entwicklungszusammenarbeit.
Doch bei ihrer Bearbeitung wird auf die Strategien zurückgegriffen, die sich bereits in der Vergangenheit als wenig effektiv erwiesen haben: auf Privatisierung und Regulierung durch den Markt. Bis 2015 sollten die Milleniumsziele umgesetzt sein, die unter anderem vorsehen, die Zahl der in Armut lebenden Menschen zu halbieren und allen Kindern weltweit eine Grundschulausbildung zu ermöglichen. Bis 2015 bleiben noch acht Jahre – es zeichnet sich bereits ab, dass die Ziele um ein weites verfehlt werden.
Die Ausrichtung der Entwicklungspolitik und ihre Effekte werden angesichts dieser Entwicklung nicht hinterfragt. Stattdessen werden der Diskurs von win-win-Situationen fortgeführt und die Inwertsetzungpolitik auf neue Bereiche ausgedehnt.
So geraten auf der Suche nach Finanzquellen für Entwicklung auch neue „private“ Akteure in den Blick, wie z.B. MigrantInnen (s. Beitrag von Karen Bähr Caballero). Als auf der Weltkonferenz für Entwicklungsfinanzierung in Monterrey im Jahr 2002 Finanzierungsmöglichkeiten für Entwicklung zusammengetragen wurden, tauchten die remesas, die Geldsendungen der MigrantInnen in ihre Herkunftsländer, noch nicht auf.
Inzwischen haben die Entwicklungsinstitutionen sie als lohnenden Kapitalfluss in die Länder des Südens entdeckt, den es nun zu kanalisieren gilt. Die EmpfängerInnen sollen das vorhandene Kapital effektiv umsetzen und in ihre „Zukunft“ investieren – die Verantwortung für die eigene soziale Situation wird einmal mehr dem Individuum übertragen.

Chancen durch Biotreibstoff?

Auch was die Inhalte von Entwicklungspolitik betrifft, werden bekannte Pfade beschritten. So setzt die deutsche Entwicklungspolitik weiterhin einen Schwerpunkt auf Infrastruktur und die Förderung von Rohstoffen. Vor dem Hintergrund der zuletzt stark gestiegenen Ölpreise und der Debatte um Klimawandel spielen dabei zunehmend neue „Rohstoffe“ eine Rolle: so beispielsweise Treibstoff aus nachwachsenden Rohstoffen.
Biokraftstoffe werden von der EU im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit massiv gefördert. Die Europäische Union beabsichtigt laut ihrer Biokraftstoff-Richtlinie, bis 2020 zehn Prozent der konventionellen Kraftstoffe durch alternativen Treibstoff zu ersetzen. Diese Zielmarken können beim derzeitigen Verbrauch an Energie allein über Eigenproduktion nicht erreicht werden – so dass die EU-Staaten auf Importe angewiesen sind. Und hierfür kommen aus klimatischen und finanziellen Gründen vor allem Länder des Südens in Frage. Die alte Arbeitsteilung zwischen Nord und Süd – zwischen Verarbeitung und Export von Rohstoffen, zwischen Konsumenten und Primärproduzenten – setzt sich ungebrochen fort.
Zwar spielt die hiesige Entwicklungszusammenarbeit bei der Ausgestaltung des globalen Bioenergiemarktes derzeit nur eine Nebenrolle, doch ist das Bemühen offensichtlich, sich bei diesem Thema als Partner ins Spiel zu bringen. Dem Credo folgend, Innovation brauche Partnerschaft, wird der Anbau und Handel mit Biokraftstoffen als große Chance für Entwicklungs- und Schwellenländer bejubelt.

Doppelt getroffen

Diesen Optimismus zu teilen fällt schwer, wenn man die Augen nicht verschließt vor der aktuellen Entwicklung und den Hintergründen des „Booms“ um Bioenergie. Die Ausweitung der Biokraftstoffproduktion verschärft bereits existierende Landnutzungskonflikte und wirft zahlreiche ökologische, soziale und ökonomische Probleme auf: die schädlichen Folgen der Monokulturen und der hochtechnologisierten Landwirtschaft für die Umwelt; die verstärkte Rodung von Regenwald; die Gefährdung der Ernährungssicherheit des großen Teils der Bevölkerung, der vom Export des Biosprits ins Ausland nicht profitiert (siehe Interview mit Klemens Laschefski).
Nicht nur gefährdet die direkte Flächenkonkurrenz zwischen Kraftstoffen und Nahrungsmitteln die kleinbäuerliche Landwirtschaft im globalen Süden, die verstärkte Nachfrage nach pflanzlichen Produkten zur Energieproduktion treibt auch die Nahrungsmittelpreise in die Höhe. Beispiele dafür sind nicht nur die „Tortilla“-Krise in Mexiko (siehe LN 393), sondern auch die infolge erhöhter Ethanol-Nachfrage aus Mais gestiegenen Preise für andere Grundnahrungsmittel wie Weizen oder Reis.
Gerade jene Länder, die auf Nahrungsmittelimporte zur Ernährung ihrer Einwohner angewiesen sind, sind meist zugleich von Ölimporten abhängig: so werden diese Länder von den Preisanstiegen von Nahrung und des sich verknappenden Öls doppelt getroffen. Die Milleniumsziele können angesichts solcher Entwicklungen nicht einmal annähernd erreicht werden. Und allein eine genaue Betrachtung derjenigen Akteure, die den Anbau von Biokraftstoffen vorantreiben, zeigt, wem er vor allem nützt: Den großen Akteuren der Energiebranche ebenso wie den Agrar- und Biotechnologie-Konzernen, die sich darüber den Durchbruch von gentechnisch verändertem Saatgut erhoffen (s. Beitrag zum Thema von Juliane Schumacher).
Auch Teile der Umweltbewegung reihen sich in die neue Allianz zur „Rettung der Erde“ ein. Drei bekannte große NRO aus Deutschland starteten gemeinsam mit der größten Zeitung der Bundesrepublik eine Kampagne „Rettet unsere Erde“. Mit Politik und Wirtschaft wird eifrig über Zertifizierungskriterien für den wachsenden Handel mit Biotreibstoffen diskutiert (s. Beitrag von Thomas Fritz).
Das Argument von Seiten der NRO ist dabei stets, Schlimmeres verhindern zu müssen. Noch vor wenigen Jahren war der Diskussionsstand ein anderer: Da wurden zum Schutz des Regenwaldes gerade nicht industrie-kompatible Kriterien, sondern ein genereller Boykott gefordert. Und den Handel mit Emissionszertifikaten kritisierten viele NRO in den 1990ern noch als Inwertsetzung der Atmosphäre, als die absurde Möglichkeit, sich das Recht auf Luftverschmutzung gegen Geld zu kaufen.
Inzwischen haben sie es sich gut eingerichtet im herrschenden Diskurs von Effizienzsteigerung und Marktregulation. Mit dem Verweis auf die Alternativlosigkeit von Biotreibstoffen helfen sie mit, die tatsächlichen Interessen zu verdecken: Es ist die „Energiesicherheit des Nordens“, die hinter dem Boom der Bioenergie steckt.

Kampf um Rohstoffe

Diese wird nicht nur durch das knapper werdende Öl bedroht – auch in den globalen Machtverhältnissen hat es Verschiebungen gegeben, die die westlichen Staaten nicht mehr ignorieren können. Große Schwellenländer wie China, Indien oder Brasilien sind zu bedeutenden Wirtschaftsmächten aufgestiegen – auch wenn ein großer Teil ihrer Bevölkerungen davon kaum profitiert.
Die USA, Europa und Japan sehen ihre Vorherrschaft schwinden; im Kampf um Investitionen, Arbeitsplätze und Rohstoffzugänge sehen sie sich Konkurrenten gegenüber, die sie noch vor kurzer Zeit väterlich belächelt haben. Seit sich China in Afrika als neuer „Entwick­lungshelfer“ hervortut, diskutieren die bisherigen Geber alarmiert, was das für die Ent­wicklungspolitik bedeutet. Sicher ist: Die bisherigen großen Akteure auf diesem Feld haben an Einfluss verloren.
Das zeigt sich gerade in Lateinamerika: Der Internationale Währungsfonds steckt in einer finanziellen Krise, seit Schuldner wie Brasilien und Argentinien vorzeitig ihre Schulden tilgten; kaum noch ein Land in der Region ist bereit, sich seinen neoliberalen Vorgaben zu fügen. Venezuela ist in der Region zum zentralen Akteur in Sachen Entwicklungspolitik aufgestiegen, mit Hilfe seiner Öleinnahmen baut es ein Gegenprojekt zur Freihandelszone ALCA auf, die die USA ursprünglich in Lateinamerika durchsetzen wollten (s. Beitrag zum Thema von Juliane Schumacher).
Die Zeiten, in denen die GeberInnen aus dem Norden ihre politischen und wirtschaftlichen Vorstellungen widerspruchslos durchsetzen konnten, sind vorbei. Folgt dem die Konkurrenz der unterschiedlichen Modelle, der freien Wahl der Länder des Südens für die Form der Entwicklung, die sie vorziehen?
Zumindest setzen die Veränderungen die Geberländer unter Druck, stärker als bisher nachzuweisen, welche Effekte die bisherige Entwicklungshilfe hat – und wem sie tatsächlich nützt. Die grundsätzlichen Probleme werden damit nicht überwunden: Entwicklung ist nötig, wo Ungleichheiten herrschen, und was darunter verstanden wird, bestimmt die GeberIn. Ob die Ungleichheiten schwinden, wenn mehrere große Blöcke um Entwicklungsprojekte, Investitionen und Rohstoffe konkurrieren, ist mehr als fraglich.

Vom Widerstand zur Macht

Die Messlatte lag von Anbeginn sehr hoch. „Vom Widerstand zur Macht“ lautete das Motto und begleitete die fünftägige Tagung in den Maya-Ruinen von Iximché. 1.500 VertreterInnen aus 24 Ländern Amerikas waren angereist, um über eine Vielzahl von Themen zu sprechen. Die Spanne reichte von „Identität und Kosmovision“ über „Indígena-Jugend“ bis hin zu „Strategien und Allianzen der Machtübernahme“. Doch der gemeinsame Nenner war vor allem das gespaltene Verhältnis der indigenen Völker zu den Nationalstaaten: Auf der einen Seite möglichst weit reichende Autonomie, auf der anderen Seite die Teilhabe an der Regierungsgewalt.
Gemeinsam wollte man über einen Erfahrungsaustausch hinaus zu Strategien gelangen und Aktionspläne entwerfen, um zu einer größeren Einheit, einer organisierten Bewegung beizutragen. Außerdem sollten „Antworten auf die von Kolonialismus und neoliberalen Regierungen verursachten Probleme“ gefunden werden. Und dieses Anliegen sollte in konkreten umsetzbaren Resolutionen zum Ausdruck kommen. Ein anspruchsvolles Unternehmen.
Dabei wurde die Machtfrage, die die OrganisatorInnen in den Mittelpunkt des Kongresses gerückt hatten, auf sehr unterschiedliche Art und Weise verstanden. Für zahlreiche Delegierte ging es darum, auf lokaler und regionaler Ebene entsprechende Positionen zu besetzen, um eine Politik aus der Perspektive und im Interesse der Indígena-Völker zu entwickeln. Dazu sollen die Instrumente der Selbstverwaltung genutzt und gestärkt werden, wie etwa die Praxis eines eigenen Rechtssystems oder eigener Organisationsformen. Einen Schritt weiter gingen diejenigen, die sich für die Selbstverwaltung in autonomen Gebieten stark machen, die von den nationalen Regierungen unabhängig sind, und die Errichtung eigener Wirtschaftssysteme und -kreisläufe propagieren. Und schließlich gab es nicht wenige TeilnehmerInnen, die das Kongressmotto sehr wörtlich verstehen: Ihnen geht es um die Übernahme der Regierungsgewalt im Staat.

Evo, der Heilige

Großes Vorbild und Projektionsfläche vieler Erwartungen war und ist daher Evo Morales, der nicht nur als erster indigener Präsident eines lateinamerikanischen Staates gefeiert wurde, sondern auch als „Präsident der indigenen Nationalitäten Lateinamerikas“ schlechthin. Entsprechend hoch waren die Erwartungen an die bolivianische Delegation um Außenminister David Choquehuanca. Dieser erhielt dann auch frenetischen Beifall für seinen Beitrag, in dem er der Zuversicht Ausdruck verlieh, dass es „dank der Weisheit der Vorväter und -mütter gelingen wird, die Sonne für uns wieder aufgehen zu lassen.“ Über die fünf Tage hinweg wurde spekuliert, ob Evo selbst noch auf dem Kongress erscheinen werde – die Fixierung auf den bolivianischen Präsidenten trug mitunter Züge einer Heiligenverehrung: So erschien er auf dem Plakat zur Abschlussdemo als Figur eines Übervaters, der sich aus der Masse der Demonstrierenden erhebt und über ihr schwebt. Aber auch inhaltlich wurde er oft kritiklos gefeiert: So versicherte eine Delegierte Boliviens, die zudem Parlamentsmitglied ist, dass mit der Regierung Morales nun der Machismo in Bolivien überwunden sei. Zwar liegt die Partizipation der Frauen in den Gemeindeverwaltungen dort weit über dem Schnitt der anderen Länder – dennoch setzte sich auch die Delegation Boliviens auf diesem Kongress mehrheitlich aus Männern zusammen.

Fehlende Antworten

So hell der Stern Evos scheint, so dunkel ist die Gegenseite: In den 15 thematischen Arbeitsgruppen und besonders in der Abschlusserklärung von Iximché kam ein grundsätzlicher Antiimperialismus zum Ausdruck, der zwar inhaltlich begründet ist, aber gerade die Antworten nicht liefert, die der Kongress seinem Selbstverständnis zufolge hatte geben wollen. So scheint der immer wiederkehrende Verweis auf die verheerenden Auswirkungen der Globalisierung und der neoliberalen Politik in den Ländern „Abya Yalas“ zugleich auch Ausdruck einer gewissen Hilflosigkeit zu sein.
Als wesentliche Problemfelder in nahezu allen Ländern wurden immer wieder der Landraub sowie die Kapitalisierung und gnadenlose Ausbeutung des natürlichen Reichtums der Territorien der Indígenas benannt, die kapitalistische Verwertung indigener Kulturen und die Zerstörung durch transnationale Konzerne. Auch die globalisierungsförderliche Politik internationaler Finanzorganisationen, besonders der Interamerikanischen Entwicklungsbank und der Weltbank, stand im Zentrum der Kritik. Gefordert wurde die „Beendigung der Zusammenarbeit mit internationalen Finanzorganisationen, die sich in die Belange der indigenen Völker einmischen.“ Eine tiefere Auseinandersetzung darüber, auf welchem Wege dies gelingen könnte, blieb jedoch aus.

Ende der Unterwerfung

Die Hoffnung ist auf die Bildung neuer „plurinationaler“ Staaten gerichtet, die über Verfassunggebende Versammlungen geschaffen werden sollen. Auch hier ist Bolivien Vorbild.
Während einerseits politische Grundsatzstatements hochgehalten wurden, fanden sich andererseits immer wieder Räume für eine konstruktive Auseinandersetzung mit der konkreten Realität der indigenen Völker und Organisationen in den verschiedenen Ländern. Selbstkritischer Ausgangspunkt war für viele die Problematik des „kolonisierten Denkens“ und der „Mentalität der Unterwerfung“, die zur Ausbeutung der Indígenas beitrage und die Entwicklung eigener Alternativen blockiere. Im Gegenzug wurde vereinzelt die Rückbesinnung auf traditionelle Werte und Prinzipien gefordert. Im Wesentlichen liegen die Hoffnungen aber auf der Stärkung und Weiterentwicklung eigener sozialer Organisationsformen sowie der politischen Einflussnahme zur Umsetzung der Rechte der Indígena-Völker. So wurden konkrete rechtliche Mechanismen eingefordert, die die Einhaltung dieser Rechte und die Umsetzung des Abkommens 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sicherstellen sollen.
Besondere Aufmerksamkeit galt den Maßnahmen, die auf eine Stärkung der Indígena-Bewegung selbst gerichtet sind. So werden gesetzliche Regelungen gefordert, um den indigenen Völkern den Zugang zu den bestehenden Medien und den Aufbau eigener Kommunikationsmittel zu ermöglichen. „Comunicadores Indígenas“ sollen ausgebildet und geschult werden. Durch interne Kommunikationsmittel und eigene Organisationsstrukturen soll außerdem verhindert werden, dass die Forderungen des Kongresses folgenlos bleiben. In diesem Sinne wurde die Bildung einer „Kontinentalen Koordination“ der indigenen Organisationen beschlossen, die national und regional agieren soll. Zudem wurden jährliche landesweite Treffen der Medienschaffenden angeregt. Und nicht zuletzt soll dem nächsten Kongress ein eigener Kongress der indigenen Frauen vorgeschaltet werden.

Grenzenloser Zusammenhalt

Das Ergebnis dieses fünftägigen Kongresses ist sicherlich positiv. Nicht allein aufgrund der kritischen und mitunter konfrontativ geführten Diskussionen, sondern auch weil das Zusammentreffen von VertreterInnen der Indígenas aus dem gesamten Kontinent das Engagement vieler TeilnehmerInnen bestätigt und unterstützt. Für viele Mayas stellte etwa die Begegnung mit Indígenas aus Kanada oder dem Andenraum eine Erfahrung des Zusammenhalts und der Bestärkung dar, die weit über das trockene Wissen um andere Indígena-Völker hinausgeht.
Angesichts dieser positiven Erfahrung bleibt aber der Wermutstropfen nicht aus: So sehr die Einheit der Indígena-Bewegung beschworen wurde, so brüchig erscheint sie im Konkreten. Der Unmut zahlreicher TeilnehmerInnen galt der Vorbereitungsgruppe. Ihr wurde Willkür, Anmaßung und fehlende Mitbestimmung vorgeworfen. Tatsache ist, dass diverse InteressentInnen aus Guatemala aus wenig nachvollziehbaren Gründen nicht als Delegierte zugelassen wurden und andere – etwa aus der Ixil-Region – gar nicht erst vom Kongress erfuhren. Dies sei, so einige Delegierte, bezeichnend für das von Partikularinteressen und Zersplitterung geprägte Panorama der indigenen Organisationen in Guatemala.

Rigoberta, die Umstrittene

Mit keinem Wort erwähnt wurde Rigoberta Menchú, die im September als Präsidentschaftskandidatin in Guatemala antritt. Dabei kann sie auf die Unterstützung von Evo Morales zählen. Viele guatemaltekische Indígena-Organisationen, speziell jene, die für die Kongressvorbereitung zuständige waren, sprachen sich gegen ihre Teilnahme aus. Auch wenn Menchú außerhalb dieser Organisationen als die Indígena-Vertreterin gilt – innerhalb ist sie nicht gern gesehen. Spätestens seit sie als „Botschafterin des guten Willens“ Teil der aktuellen unternehmernahen Regierung von Oscar Berger ist. Bezeichnend ist jedoch die Art und Weise, in der diese Differenzen auf dem Kongress ausgetragen wurden: Als bei der Formulierung der Abschlusserklärung ein Delegierter dem Plenum vortrug, der Kongress solle Rigoberta Menchú seine Solidarität aussprechen, gab sich der Moderator alle Mühe, den Antragstellenden nicht zu Wort kommen zu lassen. Als er seinen Antrag schließlich formuliert hatte, ging dieser dann im Pfeifkonzert der Anwesenden unter. Die Abschlusskundgebung fand letztlich ohne Eva Morales und ohne Rigoberto Menchú statt.

KASTEN:
Bundestag verweigert Ratifizierung der ILO-Konvention 169

Der deutsche Bundestag hat es in einer Debatte am 29. März abgelehnt, die Bundesregierung zur Ratifizierung der ILO-Konvention 169 aufzufordern. Diese Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ist die einzige internationale Rechtsnorm, welche die besonderen Belange von indigenen Völkern schützt und ihnen die Möglichkeit bietet, ihre Rechte vor internationalen Gerichten einzuklagen. Sie sieht unter anderem vor, dass nationale Regierungen Indigene konsultieren müssen, bevor sie auf ihrem Territorium Bildungs- oder Entwicklungsprojekte durchführen. Bisher haben 18 Staaten die Konvention 169 ratifiziert und in nationales Recht überführt, darunter Dänemark und Spanien. Auf Antrag von Bündnis90/Die Grünen diskutierte der Bundestag am 29. März über die Konvention. Mit den Stimmen von CDU, FDP und SPD lehnte der Bundestag die Ratifizierung ab. Diese könnte Auswirkungen auf Projekte haben, die unter Beteiligung deutscher Firmen oder von der deutschen Entwicklungszusammenarbeit durchgeführt werden. Daneben fürchtet die Bunderegierung mögliche Ansprüche von Sinti und Roma, die nach den Kriterien der Konvention ebenfalls als indigenes Volk gelten können.

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