Bolivien wartet auf den Wandel

Zehn lange Jahre musste die Fußballmannschaft von The Strongest in La Paz warten, um die bolivianische Meisterschaft überraschend im vorletzten Match für sich zu entscheiden und den „Himmel mit den Händen zu fassen“. 2003 – das Jahr der gelb-schwarzen starken Raubkatze aus dem reichen Stadtviertel Achumani.
Tatsächlich haben sich im Jahr 2003 auch noch andere, wichtigere Ereignisse in Bolivien abgespielt. Im so genannten Jahr des Wandels gab es zwei Mal – im Februar und im Oktober – heftige Unruhen mit Toten. Der seit 2002 regierende Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada von der MNR (Movimiento Nacional Revolucionario) trat zurück und machte dem parteilosen Vizepräsidenten Carlos Mesa Platz, der „Krieg um das Gas“, soziale und politische Probleme stürzten das Land zusätzlich zu den anhaltenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten in eine tiefe Krise. Wird der neue Präsident die Geschicke des Landes als starker Tiger lenken? Oder wird die Katze von den anderen „starken Tieren“ auf dem politischen Spielfeld in die Enge getrieben?

Carlos Mesas Zukunftsplan
Am 4. Januar 2004 hielt Präsident Carlos Mesa eine mit Spannung erwartete Rede an die Nation, in der er die wichtigsten Themen und Herausforderungen aus Sicht der aktuellen Regierung – mit überwiegend parteilosen Ministern – darlegte. Neben der Frage des Gas-Exports beziehungsweise des Gas-Referendums schnitt er als wichtiges Thema die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung an, die während der Unruhen gefordert wurde. Diese soll nach dem Willen Mesas ab dem ersten Halbjahr 2005 zusammen eine Verfassungsreform in die Wege leiten.
Mesas ökonomisches Zukunftsmodell baut auf dem neoliberalen Modell der letzten 20 Jahre auf. Allerdings plädierte der Präsident in der Wirtschaftspolitik für eine aktivere Rolle des Staates: Gemeinsam mit Privatunternehmen sollen Arbeitsplätze und Einkommen geschaffen werden. Es soll eine Wachstums- und Produktivitätsstrategie erarbeitet werden, die sich auf wichtige Sektoren wie Produktion von Fertigwaren, Tourismus, Bau und Agroindustrie konzentriert und gleichzeitig eine Erhöhung der Exporte anstrebt.
Was den im vorletzten Jahrhundert verlorenen Meereszugang des Landes angeht, so appellierte Mesa an Chile, Bolivien wieder einen Meerzugang zuzugestehen. In Sachen Koka soll die von den USA geforderte Koka-Vernichtungspolitik nicht aufgegeben werden.
Der Präsident legte in seiner Rede zudem offen, dass Bolivien theoretisch bankrott ist. 15 Milliarden Bolivianos (= circa 1,8 Milliarden US-Dollar) Ausgaben hätten im Jahr 2003 Einnahmen von 9,6 Milliarden. Bolivianos (= circa 1,15 Milliarden US-Dollar) gegenübergestanden. Das hohe Budgetdefizit könne nur zu einem geringen Teil über ausländische Hilfsgelder gedeckt werden. Bis Ende Januar wolle er daher einen Austeritätsplan vorlegen, das Volk müsse in diesem Falle zu Einschränkungen bereit sein.Erörtert werden momentan eine Einkommenssteuer für Besserverdienende, eine Erhöhung des Benzinpreises sowie der Steuern der Erdölfirmen und höhere Abgaben auf Luxusimmobilien. Zudem will Mesa einen Fiskal- und Sozialpakt mit allen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gruppen schaffen. Eine schwierige Aufgabe angesichts zu erwartender Widerstände gegen unbequeme Maßnahmen seitens der Regierung.

Das umstrittene Thema Gas
Mit den Verteilungsspielraum erhöhenden zusätzlichen Einnahmen aus dem Gasexport kann Mesa nicht mehr rechnen. Zwar würden die Gasvorräte Boliviens sowohl für den Export als auch für den Eigenbedarf sowie die Industrialisierung im Land ausreichen. Mangelnde Information darüber hatte neben dem geringen Betrag, der beim Verkauf im Land bleiben sollte, in den letzten Monaten die Konflikte geschürt. Fatal ist momentan, dass sich die potenziellen Abnehmer – USA und Mexiko – zurückgezogen und andere Lieferanten (zum Beispiel Indonesien) gesucht haben, denn dies bedeutet, dass die zusätzlichen Staatseinnahmen, mit denen in den nächsten Jahren kalkuliert wurde, nicht anfallen werden. Ein Dilemma für Carlos Mesa – er steht mit leeren Händen da. Das Referendum, wie nun mit den Gasvorräten verfahren wird – Export oder nicht, über Chile oder Peru – soll am 28.März 2004 stattfinden, hat aber dadurch an Bedeutung verloren. Vor dem Referendum soll (voraussichtlich Mitte Februar) ein neues Gesetz über Bodenschätze verabschiedet werden, in dem die Höhe der Tantiemen, die staatliche Souveränität über die Gasvorkommen sowie die Stärkung der staatlichen Erdgasfirma festgeschrieben werden sollen.

Das Modell Mallku
Über einen Mangel an politische Gegenspieler braucht sich Carlos Mesa nicht zu beklagen. Felipe Quispe, im Volksmund Mallku (Aymara für König, Kondor) genannt, ehemaliger Guerrillero, jetzt Abgeordneter und Führer des MIP (Movimiento Indígena Pachacuti), schwebt ein indigenes Gesellschaftsmodell vor, eine Aymara-Nation etwa in der Art, wie sie die Inka vor 500 Jahren hatten mit einer Grundversorgung für alle und eher Tausch- als Geldwirtschaft als ökonomischem Prinzip. Die jetzige weiße Oberschicht soll ganz aus den Entscheidungsgremien verschwinden. Felipe Quispes Basis ist überwiegend das Hochland zwischen La Paz und dem Titicaca-See. Am von Mesa skizzierten Modell kritisiert Quispe, dass keine klaren Antworten auf die Probleme des Landes gegeben wurden – wenn dies nicht bis zum 20. Januar 2004 geschehe, gäbe es seitens seiner Gruppierung erneut Blockaden.

Der Plan von Evo Morales
Neben Felipe Quispe war Evo Morales, ehemaliger Minenarbeiter und Kokabauer, heute Abgeordneter und Führer des MAS (Movimiento al Socialismo) sichtbarster politischer Führer und Hauptgewinner der Proteste im Oktober 2003. Evo, wie der Vertreter der Kokabauern hier im Allgemeinen genannt wird, strebt ein sozialistisches Staatsmodell an, in dem die jetzige politische Klasse natürlich nichts mehr verloren hätte. Es gäbe unter Evo Morales keine weitere Koka-Ausrottung beziehungsweise das Zugeständnis einer bestimmten Anbaufläche an Kokabauern in allen Regionen Boliviens. Damit stünden vermutlich die internationalen Gelder der Entwicklungszusammenarbeit in Frage, die in Bolivien mit über 700 Millionen US Dollar momentan zehn bis zwölf Prozent des BIP und rund 30 Prozent des Haushalts ausmachen.
Evo Morales lag bei den Wahlen im Jahr 2002 mit über 20 Prozent der Stimmen knapp hinter Sánchez de Lozada auf Platz zwei. Er scheut keinerlei soziale, ethnische und politische Konflikte und gibt deutlich zum Ausdruck, dass Carlos Mesas Zeit beim kleinsten Fehler, den er sich erlaubt, abgelaufen sein würde. Morales trat in der letzten Zeit zunehmend als Moderator zwischen den verhärteten Fronten auf. Er hält die von Mesa in seiner Rede dargelegten Punkte für zu gemäßigt und zurückhaltend und bedauert, dass es keine konkreteren Vorschläge zur Änderung des Wirtschaftsmodells gebe.
Zwei weitere Protagonisten der Opposition, Roberto de la Cruz, Führer der Gewerkschafter von El Alto sowie Jaime Solares, Chef des Gewerkschaftsdachverbands COB (Central de Obreros Boliviana) haben Carlos Mesa nach seiner Rede den Krieg erklärt. Auf die Forderungen der ärmeren Sektoren sei überhaupt nicht eingegangen worden, ebenso wenig hätte es Vorschläge für eine Bekämpfung der Armut, der Korruption und der exzessiven Ausgaben der öffentlichen Verwaltung gegeben, daher würden in Kürze wieder die ArbeiterInnen zu diversen Aktionen mobilisiert werden.

Wie stabil ist das Land?
Gerüchte kursieren, dass es im Falle eines Funktionsverlustes der bisher existierenden politischen Organe und Institutionen zu einem Militärputsch kommen könnte. Die Militärs wären demnach die „letzte Instanz“, um Recht und Ordnung aufrecht zu erhalten. Unklar ist momentan, ob es innerhalb des Militärs potente Führungspersönlichkeiten gibt, die das Machtvakuum füllen würden. Unklar ist auch, in welcher Form eine Militärregierung agieren und ob sie internationale Unterstützung erhalten würde.
Sicher ist, dass das bisherige Entwicklungsmodell in der stark polarisierten Gesellschaft brüchig ist. Große Teile der Bevölkerung identifizieren sich nicht mit der Nation Bolivien, wie sie 1825 gegründet wurde, geschweige denn mit dem daraus entstandenen – in den Augen vieler – ineffizienten, korrupten, zentralisierten Staat. Sie fühlen sich mit ihren Bedürfnissen und Interessen nicht integriert und verlangen nach einem föderalistischen Modell mit mehr Autonomie für einzelne Regionen und deren Interessen. Tief greifende politische und soziale Umbrüche stehen auf alle Fälle noch bevor.
Das „Jahr des Tigers“ hat nur die schwarz-gelben Kicker im siebten Himmel schweben lassen, alle anderen Spieler in Bolivien, allen voran die diversen Regierungsmitglieder, mussten im Jahr 2003 eher frustriert in die Kabinen zurückkehren. Wer sich 2004 die Oberhand verschafft, wird sich in den nächsten Monaten herausstellen.

“Die Regierung Lula ist die força aliada, die verbündete Kraft der Landlosenbewegung“

Seit fast einem Jahr wird Brasilien von Lula regiert. Wie schätzt MST die bisherige Regierungszeit ein?

Wenn wir auf das letzte Jahr Lulas zurückschauen, sind die effektiven politischen Maßnahmen sehr rar. Lula zeigt leider die Neigung, neoliberale Politik weiterzuführen, anstatt mit ihr zu brechen und ein alternatives Modell zu erarbeiten.
Das ist auch Folge der ökonomischen Krise, die wir von der letzten Regierung unter Fernando Henrique Cardoso geerbt haben. In seiner achtjährigen Regierungszeit hat Cardoso mit seiner neoliberalen Politik das Land an den Rand eines inflationären Kollaps getrieben und eine Steuer- und Wechselkurskrise provoziert. Deswegen muss die aktuelle Regierung viele Zugeständnisse an das Kapital machen und eine Politik der wirtschaftlichen Angleichung betreiben. Das führt zu einer Kürzung der sozialen Ausgaben, auch für die Umsetzung der Agrarreform.
Dabei ist die Regierung Lula das Ergebnis eines Wahlprozesses, in dem die brasilianische Gesellschaft sich eindeutig für eine Veränderung ausgesprochen hat. Sie hat gegen die alten Politmächte und damit gegen das neoliberale Wirtschaftsmodell gestimmt. Doch die Regierung ist nicht einfach eine Links-Regierung, sondern eine Koalition zwischen Links und Rechts, die Kompromisse eingehen muss, eine Regierung im Umbruch sozusagen. Linke Kräfte sind in der Regierung Lula ebenso präsent wie rechtsgerichtete und konservative Kräfte – und wirken gegeneinander. Somit ist der Charakter der Regierung nicht wirklich klar. Sie muss sich noch definieren und es ist nicht eindeutig, welche Position sie beziehen wird.
Lula, der „Metallarbeiter an der Macht“, hat für die Brasilianer eine große Symbolkraft. Doch dies allein reicht nicht, um Lösungen für die Probleme des brasilianischen Volkes zu erarbeiten und vor allem zu konkretisieren. Bisher hat die Regierung nicht viel geleistet, sie hat mehr dem Finanzkapital als dem eigenen Volk gedient.
Wir sind überzeugt: Geht das Volk nicht auf die Straße und werden Alternativen nicht diskutiert, dann findet die Regierung wahrscheinlich nicht den Weg zu linker Politik. Stattdessen wird sie dazu neigen, in der Mitte zu bleiben und ein Recycling der neoliberalen Politik zu betreiben.

Wie lange wird die MST sich dann noch mit der Regierung Lula solidarisch zeigen?

Obwohl in diesem Jahr die Regierung nicht wirklich auf die Bedürfnisse der brasilianischen Bevölkerung, besonders auf die der Landarbeiter eingegangen ist, glauben wir an die Regierung. Wir tragen Verantwortung für sie und unterstützen sie. Sie ist von einer demokratischen Plattform gewählt worden und muss der Verantwortung daraus gerecht werden. Wir sind unabhängig im Bezug auf die PT (Partido dos Trabalhadores), aber trotzdem fühlen wir uns mit ihr verbunden. So sehen wir die Regierung Lula weiterhin als força aliada, als verbündete Kraft der Landlosenbewegung.
Das letzte Jahr ist politisch nicht befriedigend verlaufen, gleichwohl gibt es eine interessante Reaktion von Seiten der Großgrundbesitzer: Diese sind heute besorgt, dass die aktuelle Regierung ihr Versprechen, eine Agrarreform durchzuführen, einlösen wird.

Kannst du die Agrarreform umreißen, die sich die MST vorstellt?

Das ist ein sehr komplexes Thema und lässt sich schwer in wenigen Sätzen skizzieren.
Ein zentraler Punkt ist die Demokratisierung des Zugangs zu Land: Die Agrarreform kann nur durch Enteignung des Großgrundbesitzes realisiertd werden – nicht über die Vermarktung von Land.
Der zweite zentrale Punkt ist, dass die derzeit vorherrschenden Produktionsmethoden grundlegend verändert werden müssen. Es darf nicht weiter an der Exportmonokultur festgehalten werden, die auf schädlichem Einsatz von Chemikalien und Gentechnik basiert. Stattdessen fordert die MST eine stärkere Diversifizierung der Produktion und eine bessere Umweltverträglichkeit.
Ein anderer wichtiger Punkt hinsichtlich der Agrarreform ist die öffentliche Politik im Bezug auf Kredite, technische Betreuung und Ausstattung. Denn um eine Produktion, wie wir sie uns vorstellen, gewährleisten zu können, muss die nötige Infrastruktur zur Verfügung stehen – und auch den Kleinbauern zugänglich gemacht werden.
Für uns ist klar: Agrobusiness und Kleinstbetriebe können unmöglich nebeneinander existieren. Denn Agrobusiness impliziert immer die Konzentration von Land, Krediten und Erträgen. Und gerade dagegen gehen wir vor: Die politische Macht der Großgrundbesitzer muss eingedämmt werden.

Im September diesen Jahres wurde der Anbau von Gensoja in Brasilien legalisiert. Was bedeutet dies für die MST?

Das genetisch veränderte Soja in Brasilien ist Kern eines speziellen Entwicklungsmodells für die Landwirtschaft. Durch sie wird die Einführung eines auf Export, Agrobusiness und Landkonzentration ausgerichteten Modells symbolisiert.
Die Legalisierung des Gensoja bedeutet für die MST eine politische Niederlage und hat unsere Hoffnungen sehr verringert. Gleichzeitig heißt dies aber nicht, dass wir aufhören, gegen Gentechnik jeder Art und für die Agrarreform und ein autonomes, demokratisches Entwicklungsmodell zu kämpfen. Es werden sich folglich noch viele Konfliktfelder auftun, denen nachgegangen werden muss.

Seit dem Regierungsantritt von Lula hat die Gewalt gegen die Landlosen zugenommen. Kannst du dazu Stellung nehmen?

Die Zahl der mobilisierten Landarbeiter hat seit Regierungsantritt zugenommen, es gibt heute 170.000 Familien in Landbesetzungen. Dementsprechend sind die Landbesetzungen größer und es kommt zu einer Anhäufung von Konfrontationen mit Großgrundbesitzern und ihren bewaffneten Milizen. Doch die Gewalt ist immer noch regional konzentriert, es handelt sich nicht um eine übergreifende Taktik. Hauptsächlich ist die Gewalt im Süden von Pará zu lokalisieren, in Paraíba und Paraná. Das sind Regionen, in denen der Großgrundbesitz historisch gesehen immer sehr konservativ gehandelt und reagiert hat.
Die Gewalt ist aber auch Ergebnis einer Gewissheit, die die Großgrundbesitzer über die Regierung Lula haben: Sie können nicht mehr auf die Bundesregierung zählen, um ihre Interessen verteidigt zu sehen. Kurz gesagt: Sie haben Angst. Sie sehen sich gezwungen, selbst zu handeln und bewaffnet auf die Infragestellung des Eigentums zu reagieren, ohne auf die Bundesregierung zu warten. Die Tendenz ist, dass die Konflikte sich ausweiten und gewalttätiger werden.

Gibt es Neuigkeiten über die inhaftierten Führungsmitglieder der MST, zum Beispiel José Rainha? (vgl. LN 353)

In der vergangenen Woche haben wir erreicht, dass einige Führungsmitglieder, unter anderen die Ehefrau von José Rainha freigesprochen wurden. Er selber ist hingegen mit mehr als einem Prozess belastet und bleibt inhaftiert, auch wenn er in einem oder zwei Fällen freigesprochen wurde.
Derzeit sind insgesamt 17 Führungsmitglieder der Landarbeiter inhaftiert und gegen 23 weitere liegt ein Haftbefehl vor. Die zahlreichen Verhaftungen unter der Regierung Lula, die mit den Landkonflikten einhergehen, sind definitiv nicht zu tolerieren. Sie sind dem immer noch sehr konservativ agierenden Justizsektor zuzuschreiben. Dessen Verhaltensweise wird die Durchsetzung der Agrarreform zusätzlich erschweren.

Wie reagiert die ansässige Bevölkerung auf die Landlosen, wenn es zu Landbesetzungen der MST kommt?

Uns wird sehr viel Solidarität entgegengebracht. Die brasilianische Bevölkerung sieht in der MST eine sehr mutige Bewegung, die Stärke und Autonomie zeigt. Die Brasilianer verstehen die Ungerechtigkeit, in der sich die Landarbeiter befinden und gegen die sie kämpfen. Ein Grund hierfür ist unter anderem, dass sich auch die Generation, die heute in der Stadt lebt, noch stark dem ländlichen Raum verbunden fühlt. Viele sind selbst auf dem Land aufgewachsen und später emigriert. Sie wissen, wie hart das Landleben ist. Und sie wissen auch, dass die städtischen Probleme ihre Wurzeln im ländlichen Raum haben und das Ausmaß der Migration weiter zunehmen wird.
Daher sieht die Gesellschaft die Ziele der MST als gerechtfertigt an. Sklavenarbeit wird ebenso wenig akzeptiert, wie ausgebeutete und unterernährte Arbeiter. Auch ist klar, dass das Problem der Dürre im Nordosten nicht nur ein klimatisches, sondern vorrangig ein politisches Problem ist.
Die brasilianische Bevölkerung kann die vorherrschenden Ungerechtigkeiten im Land nicht mehr akzeptieren und geht dagegen an.

Vielen Dank für das Gespräch

Ich bedanke mich ebenfalls. Ich würde gerne noch eine Anmerkung machen: Für die MST ist internationale Unterstützung sehr wichtig, nicht nur in Form von staatlicher Entwicklungshilfe. Für den Erfolg der MST und letztendlich für die Durchsetzung einer Agrarreform ist es von großer Bedeutung, breite Teile der Gesellschaft – auch im Ausland – über unsere Arbeit und unsere Anliegen zu informieren. Wir begrüßen daher solidarische Unterstützung von Projekten, Nichtregierungsorganisationen und engagierten und interessierten Personen.

Dollars aus der Ferne

Fabiola García nimmt den Einzahlungsbeleg in Empfang und wendet sich zum Gehen. Den Beleg mit der Kontrollnummer des Geldtransfers verwahrt sie sorgsam in ihrer Handtasche und verlässt die Post. 200 Dollar hat sie ihren Eltern in Peru überwiesen. So wie fast jeden Monat. Und wie immer hat die kleingewachsene Frau mit dem runden Gesicht die Gebühren für den Geldtransfer separat bezahlt. 29 Dollar waren es heute. Viel Geld für die 26-Jährige, die ihren Lebensunterhalt in Hamburg mit dem Saubermachen von drei Privatwohnungen und einem Kindergarten verdient.
Fabiola zuckt hilflos mit den Schultern. Eine billigere Alternative den Eltern in der peruanischen Provinzstadt Huancayo Geld zukommen zu lassen, weiß sie derzeit nicht. „Manchmal fahren Freunde oder Bekannte nach Peru, dann spare ich mir die Gebühren.“ Doch meistens muss sie die Dienste der teuren Finanzdienstleister wie Money Gram oder Western Union in Anspruch nehmen. „Meine Eltern sind angewiesen auf die Unterstützung“, sagt sie. Die Eltern haben sich mit den Devisen aus Deutschland zwar selbständig gemacht und ein Restaurant eröffnet, aber aus den Einnahmen können sie gerade einmal einen Teil ihres Lebensunterhalts bestreiten. „Um Kleidung, Medizin und andere Dinge zu kaufen, brauchen meine Eltern die monatliche Unterstützung“, erklärt Fabiola, die mit 19 Jahren ihr Land verlassen hat. Die fehlende Perspektive in Peru hat sie nach Europa geführt. Arbeit ist selbst in der Touristenregion rund um Huancayo rar und auch gut ausgebildete Fachkräfte haben es dort nicht leicht. Fabiolas Eltern sind diplomierte Volkswirtschaftler. „Aussicht auf eine Festanstellung hatten jedoch beide nicht, und so war die Selbständigkeit die einzige Option“, erklärt Fabiola während sie sich eine Haarsträhne aus den Augen streicht.
Regelmäßig unterstützen Millionen von EmigrantInnen aus Lateinamerika ihre Verwandten zu Hause. Zwei- bis dreihundert US-Dollar sind es durchschnittlich, die monatlich in die Heimat geschickt werden, so Donald E. Terry, Direktor des Multilateralen Investment Fond (MIF). 32 Milliarden US-Dollar wurden allein im letzten Jahr von den MigrantInnen aus Lateinamerika in ihre Heimatländer transferiert. Dies entspricht beinahe dem Betrag, der im gleichen Zeitraum von internationalen Unternehmen in Lateinamerika und der Karibik investiert wurde und übersteigt um ein Mehrfaches die Summe, die im Rahmen der Entwicklungshilfe zur Verfügung gestellt wurde. Innerhalb der letzten zehn Jahre hat sich die Summe der Familienüberweisungen, der so genannten remesas, vervierfacht. Und für die laufende Dekade schätzt der MIF den Dollarstrom auf insgesamt 400 Milliarden US-Dollar – ein kaum zu unterschätzendes Entwicklungspotential. Zumal die harten Dollars nicht allein in den Konsum gesteckt werden, wie früher von Wissenschaft und Politik gemeinhin angenommen wurde, sondern auch in landwirtschaftliche Betriebe, Kleinunternehmen oder neue Wohnungen. Sie tragen längst zur gesellschaftlichen Stabilität und Entwicklung der Region bei. Jeder transferierte Dollar bringe drei bis vier Dollar Wachstum, wenn er in der lokalen Ökonomie investiert wird, so Susan Martin von der Georgetown University, Mitarbeiterin an einer Studie im Auftrag des MIF.

Kuba: die remesas halten die Volkswirtschaft über Wasser
Nach Kuba flossen im letzten Jahr laut MIF 1,138 Milliarden US-Dollar. Devisen, auf die die kubanische Regierung dringend angewiesen ist. Über die staatlichen Dollar-Supermärkte und gastronomische Betriebe werden die greenbacks in die öffentlichen Kassen gespült. Ohne diese Deviseneinnahmen hätte die Regierung Castro längst Bankrott anmelden müssen. Die Legalisierung des US-Dollar im Juli 1993 war eine politisch nicht gewollte, ökonomisch aber notwendige Überlebensmaßnahme. Der damalige Finanzminister und heutige Wirtschaftsminister José Luis Rodríguez hätte schlicht nicht die Mittel gehabt, um lebenswichtige Güter, vor allem Erdöl und Lebensmittel, zu importieren – also wurde die Währung der USA schweren Herzens freigegeben. Seitdem ist der US-Dollar de facto die Leitwährung in Kuba. Für Dollar ist in Kuba nahezu alles zu bekommen.
In Baumaterialien, Farben und Klimaanlage hat Sergio Almioaque seine Dollar investiert. Lächelnd schließt der sympathische Mann mit dem schwarzen Schnauzer die Tür zum Dachapartment der kleinen Villa auf und zeigt den TouristInnen die großzügigen Räume mit der prächtigen Dachterrasse. Alles ist frisch gestrichen, das Apartment in bestem Zustand, mit Klimaanlage, Küche und Kühlschrank versehen. Sergio vermietet zwei Zimmer in der Gründerzeitvilla im Zentrum von Havanna an TouristInnen. Alles ganz legal und mit offiziellem Siegel. Ohne die Überweisungen der Familie in Miami wäre es dem diplomierten Meteorologen jedoch unmöglich gewesen, das alte Haus zu renovieren und sich selbständig zu machen. „Werkzeug und Ersatzteile gibt es fast nur gegen Dollar und mein Gehalt habe ich in kubanischen Peso erhalten“, erklärt der Mitvierziger. An die harten Jahre der Período Especial, 1992 bis 1994, erinnert sich Sergio nicht gern. Damals gab es für den kubanischen Peso in Kuba kaum et-was zu kaufen. Nahrungsmittel waren knapp und vieles war nur zu hohen Preisen auf dem Schwarzmarkt zu bekommen. „Ohne die Hilfe der Familie in Miami wären wir in den schlimmsten Jahren der Período Especial nicht über die Runden gekommen“, gibt Sergio unumwunden zu. Anfangs kamen die Banknoten illegal über Kuriere ins Land. Erst mit der Legalisierung des Dollars wurde auch offiziell der Weg für die Dollartransfers aus den Vereinigten Staaten frei.
Heute sind die Dollartransfers nach dem Tourismus die wichtigste Devisenquellen der Insel. Auch neue Arbeitsplätze entstanden durch die remesas. Sergio und seine Familie, die nahezu ausschließlich von der Vermietung der beiden Zimmer leben, sind dafür ein Beispiel. Auch viele der privaten Restaurants, der paladares, der privaten Handwerksbetriebe oder der kleinen Verkaufsstände am Straßenrand wären ohne die Anschubfinanzierung aus Miami wohl kaum zustande gekommen. Die staatlichen Stellen betrachten diese Entwicklung zwar nicht durchgehend positiv, aber zumindest auf dem Papier haben die neuen KleinunternehmerInnen klar definierte Rechte und Pflichten, beispielsweise müssen sie Steuern zahlen.

Mexiko: Die Migradolares
Anders sieht die Situation in Mexiko aus. Dort werden die so genannten Mexican-Americans mittlerweile hofiert und als potentielle InvestorInnen angesehen. Deren ökonomisches Potential ist beeindruckend, und daher ist eines der wichtigsten Ziele der derzeitigen Regierung von Vincente Fox, dieses zu erschließen. 450 Milliarden US-Dollar erwirtschaften die 23 Millionen Mexican-Americans in den USA. 10,5 Milliarden US-Dollar wurden allein im letzten Jahr in die alte Heimat transferiert, womit Mexiko der wichtigste Empfänger von remesas in der Region ist. Jeder zehnte Haushalt lebt hier von den Dollartransfers, die in der offiziellen Devisenbilanz hinter dem Erdöl und dem Tourismus den dritten Platz einnehmen. In einigen Regionen des Landes übersteigt die Summe der remesas längst die Budgets von Kommunal- und Lokalverwaltungen. Zwei Drittel des gewaltigen Betrages fließen in die ländlichen Regionen von zehn der insgesamt 32 Bundesstaaten.
Dort wird längst nicht mehr jeder Dollar konsumiert, sondern ein beträchtlicher Teil fließt in die lokale Ökonomie. In El Trapiche, im Bundesstaat Oaxaca, sind so erste Gewächshäuser entstanden, in denen Blumen gezogen werden. Arbeitsplätze für die Angehörigen sollen geschaffen und Geld zum Leben soll erwirtschaftet werden, so das Ziel des ehrgeizigen Projekts, das von MexikanerInnen in den USA finanziert wurde. Die SpenderInnen stammen allesamt aus dem kleinen Städtchen und arbeiten in den USA. 900 Migranten sind es, die sich in den USA zu einem Club zusammenschlossen und das Projekt initiierten. Eine Kooperative wurde gegründet, ihr Startkapital von 60.000 US-Dollar stammt von den MigrantInnen, der regionalen Regierung und einer Entwicklungsorganisation.
Mit Projekten wie diesem will die Regierung in Mexiko-Stadt neue Entwicklungspotentiale für das Land erschließen. Auf jeden Dollar, der von MigrantInnen investiert wird, legen die staatlichen Stellen bis zu drei Dollars drauf, so hat es Vincente Fox angekündigt. Für El Trapiche ein guter Deal, denn erstmals haben viele Angehörige der SpenderInnen aus den USA wieder einen Job. Die Löhne in der Kooperative liegen mit sechs Dollar zudem über dem Mindestlohn.
Mit der Initiative geht Mexiko neue Wege. RegierungsvertreterInnen suchen die mexikanischen Clubs in den USA auf, um für Investitionen in ihren Herkunftsgemeinden zu werben. Bei vielen dieser Clubs stoßen sie auf offene Türen. Die Mitglieder haben oft längst Geld für den Bau von Straßen oder Schulen in ihrem Heimatort gespendet. Dass sie nun von der Regierung gefeiert werden, weil sie ihren sauer verdienten Spargroschen im Heimatland investieren, hat auch einen Beigeschmack. Zum einen wurden die Auswanderer jahrelang kaum wahrgenommen, geschweige denn, dass sich der mexikanische Staat für deren Rechte in den USA eingesetzt hätte. Zum anderen zeigt die Initiative auch, dass die staatlichen Stellen in vielen Bundesstaaten, und vor allem den ärmeren, ihren Aufgaben immer seltener gerecht werden, wenn Mexican-Americans für Schul- und Straßenbau spenden sollen.
Vincente Fox gibt sich alle Mühe, das ökonomische Potential der Auswanderer für die Entwicklung Mexikos zu erschließen. So sollen auch Fonds für in den USA lebende MexikanerInnen geschaffen werden, aus denen dann Kapital für den Aufbau ihres Heimatlandes zur Verfügung gestellt wird.

Finanzhilfen
Andere Regierungen sind dem Beispiel Mexikos gefolgt, und langfristig könnten die im Ausland lebenden KolumbianerInnen, NicaraguanerInnen oder PeruanerInnen zu einer umworbenen Klientel der Regierungen ihrer jeweiligen Heimatländer werden. Gerade in den kleineren Ländern, wo die remesas über zehn Prozent der Deviseneinnahmen ausmachen (Ecuador, Haiti, Nicaragua oder Jamaica), könnten derartige Modelle in nächster Zeit en vogue kommen. Den durchschnittlichen EmigrantInnen, die wie Fabiola monatlich zwei- bis dreihundert US-Dollar transferieren, ist ihre wirtschaftliche Bedeutung für ihr Heimatland kaum bewusst. Sie haben vor allem ein Interesse daran, dass die Kosten für die Transaktionen sinken. Statt in die Taschen der Western Union zu fließen, sollten lieber ein paar Dollar mehr bei den EmpfängerInnen ankommen.

Geldtransfers von EmigrantInnen:
Ein Milliardengeschäft

Konservativen Schätzungen zufolge emigrieren Jahr für Jahr rund 200 Millionen Menschen, die in der Regel ihre Angehörigen in der Heimat finanziell unterstützen. 103 Milliarden US-Dollar wurden Schätzungen internationaler Finanzinstitute zufolge im letzten Jahr von MigrantInnen in Industrieländern in ihre Herkunftsländer transferiert.
Mit 32 Milliarden US-Dollar und einem Plus von 17,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr ist Lateinamerika derzeit die Number-One-Destination. Aber auch bei den Kosten für die Überweisungen steht Lateinamerika an der Spitze. Auf rund vier Milliarden US-Dollar schätzt der Multilateral Investment Fund (MIF), eine Tochter der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB), die Transferkosten. Die teilen bisher die international agierenden Finanzdienstleister wie Western Union oder Money Gram unter sich auf. Durchschnittlich 30 US-Dollar werden pro Transfer kassiert, so MIF-Manager Donald E. Terry auf einer Pressekonferenz. Entschieden zuviel nach Ansicht Terrys. Er ist in den letzten Jahren erfolgreich dafür eingetreten, alternative Transfermöglicheiten zu entwickeln. Kontakte zwischen US-Banken und regionalen Banken in den Herkunftsländern der Einwanderer wurden hergestellt, bürokratische Hürden abgebaut und Mittel zur Verfügung gestellt, um die elektronische Vernetzung zwischen Nord- und Südamerika herzustellen. Das System ist denkbar einfach: der oder die Verwandte in den USA eröffnet ein Transferkonto und erhält zwei Kontokarten. Eine für sich und die andere für die Verwandtschaft in der Heimat, die am Bankautomaten Zugriff hat. Aus Sicht der Banken eine interessante Alternative, da keine neuen Filialen eröffnet werden müssen, um den Service durchzuführen.
Doch es gibt noch einen anderen Grund, weshalb die US-Banken kooperationswillig sind. 43 Prozent der etwa 35 Millionen Hispanics haben kein Konto. Sie sind unbanked, wie es im Finanzjargon heißt. Günstige Angebote bei Auslandsüberweisungen sind der Türöffner, um diese Klientel an den Bankschalter zu locken.

Schröder wandelt in Lateinamerika auf Kohls Spuren

Mit dem größer gewordenen Deutschland im Jahre 1990 entstanden Hoffnungen auf ein größeres Engagement Deutschlands in Lateinamerika. Diese Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. Lateinamerika hat in Deutschland keine Konjunktur, weil die Politik andere Prioritäten verfolgt. Das Engagement der Wirtschaft richtete sich in den letzten fünf Jahren noch stärker nach Osteuropa. An den Universitäten wurden Lehrstühle zu Lateinamerika gestrichen oder umgewidmet. Die Medien berichten zu Lateinamerika nur sehr sporadisch. Organisation und Gewerkschaften haben seit der Wende neue Tätigkeitsfelder im Osten Europas entdeckt.
Die Schröder/Fischer-Regierung setzt seit 1998 die Lateinamerika-Politik Kohls ohne große Veränderungen fort. Das am 17. Mai 1995 im Bundestag vom damaligen Außenminister Klaus Kinkel vorgestellte „Lateinamerika konzept der Bundesregierung“ bestimmt auch heute noch die Grundlinien der Beziehungen Deutschlands zu Lateinamerika.
In erster Linie bestünden keine politischen Beziehungen, sondern wirtschaftliche mit ein bisschen Kultur, bewertete im Jahr 2000 der damalige Vorsitzende der Außenpolitischen Kommission des Bundestages Hans-Ulrich Klose die Beziehungen Deutschlands zu Lateinamerika. Es gebe kaum Konsultationen mit den Regierungen Lateinamerikas. Weder in der EU, noch in der UNO und im Sicherheitsrat existiere eine abgestimmte Politik und deshalb keine echte Zusammenarbeit.
Sehr aktiv in Lateinamerika waren dagegen in den letzten 30 Jahren die politischen Stiftungen. Sie sind ein wichtiges Mittel zur Bindung politischer Eliten an Europa. Über die Sozialistische Internationale haben viele demokratische Kräfte in ihrem Kampf gegen die offenen Militärdiktaturen in den 70er und 80er Jahren lebenswichtige Unterstützung erhalten.

Kultur, Umwelt und Entwicklung

Mit einigen Ländern unterhält Deutschland bilaterale Programme in den Bereichen Umwelt, Kultur und Entwicklung. Die Programme leiden unter Kürzungen. Von 1999 bis 2001 sind die Gelder um jährlich rund vier Prozent gekürzt worden. Das erforderte 2002 die Schließung einiger Goethe-Institute in Lateinamerika.
In der ohnehin generell auf niedrigem Niveau dümpelnden Entwicklungszusammenarbeit (2002: 0,26 Prozent des Bruttosozialproduktes) wurden die anteiligen Mittel für Lateinamerika von 18,8 Prozent (1996) auf 12,1 Prozent (1999) gekürzt. Dieser Trend hat sich auch in den letzten Jahren fortgesetzt, obwohl Ende 1999 die Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba mit 1,5 Millionen Euro äußerst zaghaft aufgenommen wurde. Das könnte als Durchbrechen der US-Blockade gewertet werden. Aber es wird nicht verhehlt, dass dies Teil des Konzeptes „Wandel durch Zusammenarbeit“ sei.
Der Umfang der öffentlichen Leistungen Deutschlands an Lateinamerika beläuft sich bei Entwicklung und Umwelt auf circa eine halbe Milliarde Euro jährlich. Etwa 70 Prozent davon entfallen auf die bilaterale Zusammenarbeit mit dem jeweiligen staatlichen Sektor, Nichtregierungsorganisationen oder privaten Akteuren. Beim Umweltschutz unterstützte die Bundesregierung den Aufbau funktionsfähiger Umweltinstitutionen, nachhaltige Landnutzung und Programme zur Bewahrung der brasilianischen Regenwälder mit 250 Millionen Euro.

Wirtschaft und Rüstung

Rückgrat der Beziehungen zwischen Lateinamerika und Deutschland sind die wirtschaftlichen Interessen beider Seiten. Für die MERCOSUR-Staaten ist Europa der wichtigste Handelspartner, aber Lateinamerika ist für die EU und auch für Deutschland im Handelsvolumen relativ unbedeutend.
Im Außenhandel Deutschlands schwankte der Handel mit Lateinamerika in den letzten zehn Jahren jeweils zwischen zwei und drei Prozent. Lateinamerika exportiert nach Europa vorwiegend Produkte der Landwirtschaft und Rohstoffe. Bei den Industrieprodukten handelt es sich zum größten Teil um den Austausch zwischen Teilen von transnationalen Firmen (zum Beispiel Volkswagen oder BASF) über mehrere Grenzen hinweg. In Brasilien sind circa 2000 deutsche Unternehmen tätig, in Mexiko 700.
Während die Warenströme langfristig abnehmen, vergrößern sich die deutschen Investitionen in Lateinamerika. Sie betragen zwar nur fünf bis sechs Prozent der deutschen Direktinvestitionen, sind aber etwa genauso hoch wie in Asien ohne Japan. Sie konzentrieren sich in Lateinamerika konzentrieren zu 80 Prozent auf vier Länder: Brasilien 40 Prozent, Mexiko 25 Prozent, Argentinien 10 Prozent und Chile sechs Prozent.
Beachtlich sind auch die Rüstungsexporte Deutschlands nach Lateinamerika. Sie betrugen 1996 bis 1999 über 200 Millionen US-Dollar. Deutschland liegt an 4. Stelle hinter den USA, Großbritannien und Russland. Klammert man die Exporte Russlands nach Kuba aus, wird die Rolle Deutschlands als Waffenexporteur noch deutlicher.
Die Konzeptionslosigkeit der rot-grünen Bundesregierung unter Schröder in ihrer Lateinamerikapolitik zeigte sich in jüngster Zeit u.a. in der Haltung der Bundesregierung gegenüber dem Bürgerkrieg in Kolumbien und dem Plan Colombia der Bush-Administration, der Hinnahme der Blockadepolitik der USA gegenüber Kuba, oder der Einstufung der Befreiungsbewegungen als Terrororganisationen.
Ein Lateinamerikakonzept für die Beziehungen Deutschlands zu Lateinamerika für die nächsten Jahre sollte folgende Szenarien beachten:
Lateinamerika wird auch künftig Schauplatz heftiger sozialer Auseinandersetzungen sein. Von rund 550 Millionen EinwohnerInnen leben 220 Millionen, sprich 40 Prozent in Armut. Die Rückgewinnung und Verteidigung elementarer Werte wie Leben ohne Diktatur, ausreichende Ernährung, menschenwürdige Wohnung, gesicherte Arbeit, medizinische Grundversorgung, Zugang zur Bildung und Schutz der Umwelt, bekommen für die Völker Lateinamerikas eine immer größere Bedeutung.
Die deutsche Regierung könnte mit konkreten Schritten zur Verbesserung der Beziehungen mit Lateinamerika beitragen. Theoretisch gibt es viele Möglichkeiten: zum Beispiel die Förderung der lateinamerikanischen Integration wie MERCOSUR, Andenpakt, Zentralamerikanischer Markt und der karibischen Gemeinschaft CARICOM. Des weiteren Öffnung des EU-Marktes, Verstärken des Technologie- und Wissenstransfers, Abkommen zur Regulierung ausländischer Direktinvestitionen, Reform der EU-Agrarpolitik und Unterstützung einer politischen Lösung der Auslandsschulden.
Stopp der Umweltzerstörung, Unterstützung der zivilen Konfliktlösungen in Kolumbien, Vertiefung der Kontrolle deutscher Rüstungsexporte, Einbinden des Aspektes der Menschenrechte in alle Kooperationsabkommen. Stopp des Abbaus der Kulturbeziehungen, Verbesserung der Kooperation in den internationalen Organisationen, Förderung jeglicher Positionen des Multilateralismus in den internationalen Beziehungen.
Zusammenarbeit in der Entwicklung mit dem Ziel der Armutsbekämpfung, Alphabetisierung, Berufsbildung, Einkommenssicherung und Gesundheitsschutz; Demokratieförderung im weitesten Sinne, Aufbau guter Beziehungen zu den besonders armen Regionen Lateinamerikas, Entwicklung der Beziehungen zu Kuba und Beendigung der Blockade Kubas durch die USA.
Dass diese Themen in der Praxis mit der gebotenen Ernsthaftigkeit angegangen werden, darf mit Blick auf die letzten Jahre allerdings bezweifelt werden.

“Ein Volk, das hungert, ist ein Volk ohne Frieden“

Neue Töne aus Straßburg: „Das Europäische Parlament fordert die Regierung von Guatemala auf, eine nationale Politik der Ernährungssicherheit und der ländlichen Entwicklung zu formulieren und in Gang zu setzen, die eine der Hauptverpflichtungen der Regierung im Rahmen der Friedensabkommen ist.” Erstmals hat im April diesen Jahres das Parlament in einer Menschenrechtsresolution zu Guatemala das Menschenrecht auf Nahrung und die Landfrage in den Mittelpunkt gestellt.
Die Erklärung resümiert die wesentlichen Ergebnisse einer Konferenz über „Land und Frieden in Guatemala“, die einige Monate zuvor im Brüssler Quartier der Abgeordneten stattgefunden hatte. Bei dieser Gelegenheit sahen sich die vier angereisten Minister der guatemaltekischen Regierung einer breiten und fundierten Kritik ihrer Versäumnisse gegenüber. Wenig konnten sie den Vorwürfen der guatemaltekischen Bauern- und Indígenaorganisationen entgegensetzen. Und so bekundet das Parlament in seiner Erklärung seine „Besorgnis über die Schwächen der zur Beilegung von Landstreitigkeiten geschaffenen Einrichtung CONTIERRA“, und fordert von der Regierung Guatemalas die „Anerkennung, Rückgabe und Gewährleistung der angestammten Rechte der indigenen Bevölkerung auf ihr Land“ sowie das „Recht auf Miteigentum an Land“ und die volle Anerkennung der Arbeitsrechte der indigenen BäuerInnen und LandarbeiterInnen.

Keine Forderung ohne Angebot

Doch es bleibt nicht bei der bilanzierenden Kritik. Neben die Forderungen tritt die Offerte. Das Europäische Parlament „bekräftigt seine Unterstützung für den Friedensprozess in Guatemala und fordert, dass bei der künftigen Zusammenarbeit EU – Guatemala der Ernährungssicherheit, der ländlichen Entwicklung, der Reform von Landbesitz und -nutzung Vorrang eingeräumt wird“. Die Landfrage als Priorität der EU-Entwicklungszusammenarbeit mit Guatemala? Das wäre neu, ist doch das konfliktive Thema im Memorandum der EU mit Guatemala, das bis 2005 gilt, ausgespart. Auch die Europäische Kommission scheint sich auch für das Thema zu erwärmen.
Beim Treffen der Konsultativgruppe der „Geber“ des Friedensprozesses im Mai in Guatemala erklärte die EU-Delegation, dass die Politik für ländliche Entwicklung und die Annahme des vorliegenden Landgesetzes „prioritäre Felder“ der zukünftigen europäischen Kooperation seien. Victor Andrés Maldondado, in der Brüssler Kommission zuständig für Mittelamerika, hatte bereits auf der Guatemala-Konferenz EU-Mittel für ländliche Entwicklung inklusive Agrarreform angeboten und hat dafür mit der Resolution parlamentarische Rückendeckung erhalten. Das Europäische Parlament „stützt die Haltung der Kommission, wirtschaftliche Zusammenarbeit für Programme zur ländlichen Entwicklung und Agrarreform anzubieten, unter der Voraussetzung, dass die Regierung Guatemalas einen mit den Sektoren der Zivilgesellschaft abgestimmten Plan vorlegt und nachweist, dass sie in angemessenem Umfang eigene Mittel für die Durchführung dieses Plans bereitstellt.“ Natürlich hilft es für die Enttabuisierung des Agrarreformthemas in Guatemala, wenn die EU als wichtigster Finanzier des Friedensprozesses davon spricht und Mittel dafür in Aussicht stellt. Sechseinhalb Jahre nach dem Ende des Krieges ist die Lage der Landbevölkerung, verstärkt noch durch die Kaffeekrise, zum Verzweifeln. „Ein Volk, das hungert, ist ein Volk ohne Frieden“, heißt es dazu in Guatemala. In so einem Kontext erfreut schon allein das politische Signal aus Straßburg und Brüssel. Ob und wie die EU die neue Linie umsetzen wird, wird sie in den kommenden Monaten unter Beweis stellen müssen.

Der Autor arbeitet als Referent für Zentralamerika und Mexiko im FIAN-Sekretariat in Heidelberg.

“No dumping, no cry”

Die Ende Juni beschlossene EU-Agrarreform hin oder her – die jamaicanische Milch-Aktivistin Fiona Black hat weiter allen Anlass, ihren Protestsong vor dem Gebäude der EU-Kommission in Brüssel darzubieten. Denn das was von EU-Agrarkommissar Franz Fischler, der deutschen Verbraucherschutzministerin Renate Künast und anderen als Durchbruch in der EU-Agrarpolitik verkauft wird, wird dem Süden dieser Welt nicht helfen.

Die EU-Agrarreform geht gerade mal vorsichtig einen von drei Problembereichen an: die an Produktionsmengen gekoppelten Direktbeihilfen. Das ist zu begrüßen, wird allerdings bestenfalls mittelfristig zu einem Abbau von Getreide- und Milchüberschüssen führen, denn die subventionierten Garantiepreise für diese Produkte bleiben. Die EU-Überschüsse werden auch künftig wie eh und je auf dem Weltmarkt zu Dumpingpreisen abgeladen. Mithilfe von Exportsubventionen, die so wenig Gegenstand der neuen Agrarreform sind wie der Abbau von Einfuhrzöllen. Dieses Recht nimmt sich die EU und verweigert es zusammen mit den USA dem Süden konsequent im Rahmen der Agrarverhandlungen der Welthandelsorganisation (WTO): Das Recht, seine eigene Landwirtschaft, Bauern und Bäuerinnen zu schützen. Nicht einmal die Minimalforderung der Entwicklungsländer, wenigstens die Grundnahrungsmittel von der Liberalisierung auszunehmen, wurde in der derzeit kursierenden Diskussionsvorlage des WTO-Verhandlungsführers Stuart Harbinson berücksichtigt.

Und wohin die Liberalisierung von Grundnahrungsmitteln führt, zeigt exemplarisch der Fall Jamaica. 1992 wurden die Zölle auf Milchpulver reduziert sowie die Subventionen für die heimischen Milchbauern abgeschafft – als Bedingung für einen Weltbankkredit. Die Milchpulverimporte aus der EU verfünffachten sich allein bis zum Jahr 2000 – mithilfe von Milliarden Subventionen, die die EU zum größten Exporteur von Milchprodukten in aller Welt machen. Mehr als drei Viertel aller jamaicanischer Kleinbauern und -bäuerinnen verloren seit 1996 ihre Existenzgrundlage. Für ihre Frischmilch gibt es keinen Markt mehr.

Jamaica ist überall. Während der Süden nahezu flächendeckend im Rahmen von Strukturanpassungsprogrammen des Internationalen Währungsfonds (IWF) zur Liberalisierung seiner Wirtschaft samt für das bloße Überleben neuralgischer Bereiche wie des Agrarsektors gezwungen wurde, spielt der Norden, allen voran die USA und die EU ihr doppeltes Spiel weiter: Schutz der eigenen Märkte und kompromisslose Offensive auf den Märkten des Südens. Ein teures Spiel für den Süden. 100 Milliarden US-Dollar jährlich entgehen den Entwicklungsländern durch den Protektionismus allein an Agrar-Exporteinnahmen, mit einer Milliarde täglich subventionieren die Industrieländer insgesamt ihre Agrarwirtschaft – das Siebenfache der globalen Entwicklungshilfe, besagen Zahlen der Weltbank.

Und wenn die Verbraucherschutzministerin Künast die Agrarreform zusammen mit der seit 2002 gültigen sagenumwobenen EU-Marktöffnungsinitiative „Everthing but arms“ (Alles außer Waffen) als Fortschritte für den Süden bezeichnet, dann ist das lächerlich. So lächerlich wie eine Marktöffnung für die 49 ärmsten Staaten der Welt mit „Alles außer Waffen“ zu bezeichnen, als ob die EU aus Kiribati, Tuvalu oder Eritrea jemals Waffen importiert hätte – oder vielleicht Macheten aus Haiti, dem einzigen amerikanischen Land unter den Hungerleidern?
Für die EU gilt wie für die USA, Staaten haben keine Freunde, sie haben nur Interessen.

Ein roter Faden, der sich durch den folgenden LN-Schwerpunkt über „Freihandel“ der großen Zwei mit Lateinamerika zieht.

Das “Goldkorn” ist zum Fluch geworden

Die Indikatoren der gegenwärtigen Kaffeekrise sind eindeutig: Der Weltmarktpreis hat in den vergangenen Monaten ein Niveau erreicht, das die Produktion für die kleinen und mittelgroßen, über keine Rücklagen verfügenden KaffeeproduzentInnen unrentabel macht. Sie lassen ihre Kaffeepflanzungen besser brach liegen, als dass sie mit Unterstützung familiärer oder genossenschaftlicher Arbeitskraft versuchen, den Anbau aufrechtzuerhalten. Bei dem Preisverfall auf inzwischen etwa 55 US-Cents/Pfund scheint es sich nicht um ein konjunkturelles Phänomen zu handeln. Vielmehr steht dahinter eine bereits Jahrzehnte dauernde Abwärtsbewegung des Weltmarktpreises für Rohkaffee. Betrug dieser in den 50er Jahren im Durchschnitt um die 280 US-Cents, pendelte er mit Schwankungen in den 70er Jahren um die 150 US-Cents und unterschritt in den 90er Jahren die 100 US-Cents-Marke.
Die ökonomische Wissenschaft führt als Erklärung für diesen Preisverfall die These der so genannten strukturellen Überproduktion an. Diese habe sich in den letzten Jahren durch drei Entwicklungen intensiviert: Erstens habe die Suspendierung des Internationalen Kaffeeabkommens zu extremen Preisschwankungen geführt, auf die ProduzentInnen sowohl in Hoch- wie in Niedrigpreisphasen mit der Ausweitung des Kaffeeanbaus reagieren. Zweitens seien neue Hochertragssorten in den Markt eingeführt worden. Drittens habe das globale Paradigma der so genannten Entwicklungshilfe, die Weltmarktintegration, zur Erschließung riesiger neuer Produktionsflächen geführt. Das Beispiel Vietnam ist hier in aller Munde, das sich mit Unterstützung internationaler Entwicklungsorganisationen zum zweitgrößten kaffeeexportierenden Land der Welt aufgeschwungen hat.

Krise ist nicht gleich Krise

Bereits diese Erklärungsangebote lassen erkennen, dass das Etikett „Kaffeekrise” keineswegs nur auf Verlierer verweist: Kaffee ist nach der Suspendierung des Kaffeeabkommens in extremen Maße zu einem lukrativen Spekulationsobjekt geworden, aus dem nicht wenige Finanzdienstleistungsunternehmen gute Gewinne erwirtschaften. Die Einführung neuer Sorten und vor allem die sich abzeichnende gentechnische Veränderung der Kaffeepflanze lässt die Herzen bei Bio-/Agrartechunternehmen wie zum Beispiel Monsanto höher schlagen. Und für die Experten internationaler Entwicklungsorganisationen gilt die Weltmarktintegration Vietnams als Fall weitgehend gelungener Entwicklungspolitik. Zudem sollte nicht verschwiegen werden, dass niedrige Rohkaffee-Einkaufspreise für Kaffeeunternehmen wie Nestlé, Tchibo und Co. die Möglichkeit schaffen, besondere Gewinnmargen zu erzielen, da sich der Einkaufs- und Endverbraucherpreis für Kaffee weitgehend entkoppelt haben. Fakt ist also, dass Kaffeekrise nicht gleich Kaffeekrise ist, sondern sehr unterschiedliche Folgen für die am Kaffeehandel Beteiligten zeitigt.
Bevor der Blick auf die mittelamerikanischen Verlierer in diesem Spiel, das keineswegs ein Spiel ohne Grenzen ist, gelenkt werden soll, noch ein paar Anmerkungen zu unserer Perspektive als politische Kaffeegruppe hier in Deutschland. Wenngleich wir am Ende dieses Beitrages Vorschläge formulieren, die eine pragmatische Reform der Welthandelsstrukturen anvisieren, geht es uns jedoch weder um eine Rückkehr zur keynesianischen Regulierung des Kapitalismus unter protektionistischen Vorzeichen, noch um einen romantisch begründeten „sozialen Artenschutz” für Kaffeekleinbauern und -bäuerinnen sowie -kooperativen. Wenn wir als Ausgangspunkt unserer Kritik vom Kaffee als „soziale Kultur” sprechen, dann meint dies vor allem eine Infragestellung des global durchgesetzten Produktivitätsparadigmas. Eckpfeiler einer solchen Perspektive ist ein Ernährungssouveränismus, wie José Bové die politisch-soziale Überwindung von Agrobusiness und nationaler Subventionspolitik durch ProduzentInnen und KonsumentInnen genannt hat. Basis dieses Souveränismus ist ein anderes Verhältnis zu Produktion und Reproduktion, zu Natur und Kultur.

Zum Beispiel El Salvador

Die gegenwärtige Kaffeekrise ist nicht die erste Krise in der Kaffeerepublik El Salvador. Die Weltwirtschaftskrise im vergangenen Jahrhundert führte nicht nur zu ganz ähnlichen Existenznöten wie heutzutage, sondern auch zum Aufstand von 1932, den die Kaffeebarone mit der Ermordung von 30.000 Menschen niederschlagen ließen. Auch in den folgenden Jahrzehnten blieb die salvadorianische Wirtschaft vom Weltmarktpreis abhängig. Wie früher schlägt die Kaffeekrise auch heute durch bis zu den kleinen und mittleren ProduzentInnen, die ihre Kosten nicht mehr decken und ihre Kredite nicht mehr zurück zahlen können, und bis zu den SaisonarbeiterInnen, die keine oder nur zu niedrigeren Löhnen und noch schlechteren Arbeitsbedingungen Beschäftigung finden.
Bauer José, 52 Jahre alt, verheiratet, fünf Kinder, von denen drei bis vor kurzem noch zur Schule gingen, hat circa 30 Hektar Kaffeeland, die durchschnittlich 750 Zentner Rohkaffee erbringen. Er gehört also zur kleinen Gruppe der Mittelbauern. Mit Erträgen von 24 Zentner/Hektar gehört er, was die Produktivität betrifft, zur Spitzengruppe. José bringt den Kaffee in eine Verarbeitungsanlage, wo nach Abzug der Verarbeitungskosten Ende Oktober 2001 knapp zehn US-Dollar /Zentner angeboten wurden. Bei Erntearbeitskosten von annähernd 15 US-Dollar/Zentner und der Abgabe für den Kaffee-Notfonds in Höhe von fünf US-Dollar, konnte José ohne Berücksichtigung sonstiger Kosten einen Verlust von circa zehn US-Dollar für jeden seiner erwarteten 750 Zentner vorausberechnen. Was José für den Verkauf von ein paar Zedern und einem Stück Land bekommen hat, reicht auch zusammengenommen mit dem, was er einspart, weil er seine drei jüngeren Kinder von der Schule genommen hat, nicht, um die Lücke zu schließen. Schon jetzt hat er 60.000 US-Dollar Schulden. Der Wert seiner Finca, welche die Banken als Sicherheit wollen, ist nach deren Schätzungen inzwischen von 160.000 auf 86.000 US-Dollar gesunken. Deshalb wollen die Banken für neues Arbeitskapital, das José für die Ernte braucht, zusätzliche Sicherheiten. Da gibt es aber nur noch das Haus der Familie. Jetzt steht er vor dem Dilemma, sich weiter zu verschulden, mit dem Risiko, Finca und Haus zu verlieren, oder die Kaffeekirschen an den Bäumen hängen zu lassen.
Wenn schon ein Mittelbauer wie José am Rande des Ruins steht, um wie viel aussichtsloser ist dann die Lage der Parzellenbauern und -bäuerinnen und der LandarbeiterInnen, die auf Jobs in der Ernte setzen? Nach den Zahlen des Salvadorianischen Kaffeerats ist die Anzahl der Arbeitsplätze in der Kaffeewirtschaft bereits in der Saison 2000/01 gegenüber dem Vorjahr um 60.000 auf etwas mehr als 90.000 gesunken.

Fonds für die Großen

Und wie sieht es mit der staatlichen Kaffeepolitik aus? Zum Wohle der mächtigen Verarbeiter reprivatisierte die erste Regierung der rechtsextremen ARENA-Partei schon 1989/90 den Außenhandel und fing an, die Kaffeeexportsteuer abzuschaffen, was alleine im Jahre 1990 ein Loch von 22 Millionen US-Dollar in den Staatshaushalt riss. 1992 wurde angesichts der total abgesackten Weltmarktpreise der erste Kaffee-Notfonds aufgelegt, in den alle ProduzentInnen einzahlen müssen, aber aus dem nur jene, die nicht allzu hoch verschuldet und bei den Privatbanken noch kreditwürdig sind, etwas abbekommen. Obwohl der Fonds ein Flop wurde, weil viele Kaffeebarone die Stütze nicht in ihre Fincas steckten, sondern in eine ihrer sonstigen Aktivitäten oder dank der günstigen Konditionen der Kaffee-Notfondskredite zinsgewinnträchtig anlegten, wurde er im Jahre 2000, als der Preis wieder dramatisch unter 90 US-Cents/Pfund fiel, neu aufgelegt. Nach den Erdbeben von 2001 zimmerten Staat und Privatbanken einen Treuhandfonds, mit dem die kreditwürdigen Kaffeebetriebe ihre auf 300 Millionen US-Dollar aufgelaufenen Schulden in börsengängige Schuldverpflichtungen mit 20 Jahren Laufzeit und zur Zeit 6,4 Prozent Zinsen verwandeln können. Um die Großen im Kaffeegeschäft El Salvador braucht man sich also keine Sorgen zu machen.

„Auswege“ und Auswege

Auch in und für El Salvador werden die üblichen Experten-Vorschläge zur Behebung der Kaffeekrise diskutiert. Vorübergehende Linderung verspricht unter Verweis auf entsprechende brasilianische Erfahrungen eine Erhöhung der Nachfrage im Lande selbst. Aber wo auf dem Land vielfach noch ein Gebräu aus dem Ausschuss der Kaffeeexportwirtschaft getrunken wird, ist der Verbrauch definitiv keine Frage der Lust am Kaffeegenuss, sondern der zahlungskräftigen Nachfrage. Gut im Rennen sind Vorschläge, mit besseren Qualitäten bessere Preise zu erzielen. Wer aber streicht die ein? Tatsächlich setzen die Konzerne auf den Absatzmärkten auf die Segmente Gourmet und aufgemöbelte Instant-Kaffees (Capuccino, Wiener Melange usw.). Jacobs und Tchibo, die diese Segmente längst bedienen, bleiben nach wiederholten Anbiederungen von TransFair Deutschland dabei, dass sie nicht mit der Aufnahme eines „fairen“ Produktes in ihr Sortiment ihr übriges Kaffee-Angebot als „unfair“ stigmatisieren wollen. Um dennoch an die Extraprofite im Geschäft mit „ethischem Kaffee“ zu kommen, bringt Jacobs jetzt einen „direkt gehandelten“ Sortenkaffee aus Peru auf den Markt – „El Cóndor Orgánico“. Damit schlägt der Konzern zwei Fliegen mit einer Klappe, denn auch der Biokaffee bringt höhere Gewinnmargen.
Für die Kaffeekampagne El Salvador steht die Existenznot von bäuerlichen ProduzentInnen und LandarbeiterInnen im Mittelpunkt der Krise. Wir versuchen deshalb, wie oben kurz erläutert, die Lage aus der Perspektive des Kaffees als einer sozialen Kultur zu betrachten – und dabei fällt unser Blick auf den deregulierten Welt-Kaffeemarkt und auf seine größten Profiteure, die Kaffeekonzerne.
Das Internationale Kaffeeabkommen, das den Markt bis 1989 regulierte, steht zur Zeit nicht auf der Tagesordnung von internationalen Kaffee-Diskussionen. Die VerbraucherInnenländer, die in der Internationalen Kaffeeorganisation (ICO) den Ton angeben und ihrerseits unter dem Lobby-Einfluss der Konzerne stehen, sind mit den Niedrigstpreisen in einer viel zu komfortablen Lage, um so etwas überhaupt wieder ins Auge zu fassen. Und die ErzeugerInnenländer können – untereinander in heftiger Standortkonkurrenz – ihre Interessen in der ICO nicht gemeinsam durchsetzen. Würde man bei einem neuen Abkommen auf die alte Interventionsschwelle zurückgreifen, so läge diese mit 120 US-Cents/Pfund mehr als doppelt so hoch wie der derzeitige Weltmarktpreis. Allerdings folgt die Orientierung an weltweit durchschnittlichen Produktionskosten bei der Berechnung einer solchen Interventionsschwelle dem Gleichgewichts-Paradigma der bürgerlichen Wirtschaftslehre. Der Gleichgewichtspreis, bei dem der Grenzertrag gleich null ist, besagt, dass es sich für alle, deren Kosten unter diesem Preis liegen, lohnt, Kaffee zu verkaufen und für alle anderen auf die Dauer nicht. Für diese Sichtweise ist das menschenwürdige Auskommen der einfachen WarenproduzentInnen im bäuerlichen Betrieb und der LandarbeiterInnen völlig gleichgültig. Stellen wir uns aber auf den Standpunkt der einfachen WarenproduzentInnen und der LandarbeiterInnen, die einen ErzeugerInnenpreis beziehungsweise einen Lohn wollen, der es ihnen erlaubt, anständig zu leben, dann kommen wir zu anderen Kriterien. Der ErzeugerInnenpreis – und dementsprechend die lnterventionsschwelle eines neuen Internationalen Kaffeeabkommens – müsste erheblich höher liegen als beim alten. Denkt man sich des Weiteren den Kaffeepreis als eine vom Einkommen bäuerlicher ProduzentInnen und im Kaffee beschäftigter LohnarbeiterInnen abhängige Variable, dann kann man einem solchen Preis die durchschnittliche Betriebsgröße, Produktivität und mithin die durchschnittlichen Erträge von kleinen und mittleren bäuerlichen Betrieben zuordnen. Der nächste Schritt können dann differenzierte Preis/Mengen-Überlegungen sein. Zum Beispiel: Bis zu einer bestimmten Ertragsmenge, nämlich jener, die dieser Betriebskategorie im Durchschnitt entspricht, gibt es einen Preis, der die gewünschten Einkommen schafft – und wer mehr produziert, bekommt für jeden weiteren Sack Kaffee sukzessive weniger. So käme man auf ein Preissystem, das erstens die Überproduktion in Hightech-Plantagen drosselt, weil größere Produktionsmengen nicht mit höheren Gewinnen honoriert werden, und das zweitens für ein besseres Einkommen der Masse der in der Kaffeeproduktion tätigen Menschen sorgt. Es liegt auf der Hand, dass die mächtigen Kaffeekonzerne an einer solchen Reregulierung nicht interessiert sind, diese also Aufgabe der Regierungen und der mit der Kaffeewirtschaft verbundenen sozialen Organisationen der ProduzentInnen und KonsumentInnen ist.
Die KonsumentInnen können aber auch mit ihrem Kaufverhalten unmittelbaren Druck auf die Kaffeekonzerne ausüben. Machen die Kosten des Rohkaffees zur Zeit 20 Prozent des EndverbraucherInnenpreises für Röstkaffee in den Industrieländern aus, so sind die Erlöse der unmittelbaren ProduzentInnen für das Rohprodukt Kaffeekirschen nur halb so hoch. Der Anteil schließlich, der in Form von Hungerlöhnen bei den LandarbeiterInnen verbleibt, beträgt gerade mal zehn Euro-Cents bei einem Pfund Röstkaffee, das vier Euro kostet. Zwischen die Kaffeekirschen und den Röstkaffee schieben sich etliche GewinnerInnen: von den Schifffahrtsgesellschaften über die Versicherungen und Werbeagenturen bis zu den KaffeerösterInnen und Supermarktketten. Die Gewinnspannen vor allem im Geschäft mit Instant- und Gourmetkaffees geben genügend Spielraum für eine Umverteilung zu Gunsten der unmittelbaren ProduzentInnen.
Am Kaffeegeschäft in der BRD gibt es noch einen besonderen Gewinner: den Staat. Mit 2,20 Euro Kaffeesteuer pro Kilogramm Röstkaffee ist sein Anteil am Endpreis der größte Kostenfaktor. Nur wenn sich die Kaffeekonzerne durch Abstriche an ihren Gewinnen und der Staat durch den zweckgebundenen Einsatz der Kaffeesteuer (weit über eine Milliarde Euro pro Jahr) in der Kaffeeproduktion beziehungsweise durch deren Abschaffung zu Gunsten von höheren ErzeugerInnenpreisen und LandarbeiterInnenlöhnen an der Verbesserung der Einkommensverhältnisse der unmittelbaren ProduzentInnen beteiligen, macht es Sinn, dass die KaffeetrinkerInnen darüber hinaus durch Bezahlen eines höheren Preises das ihrige dazu beitragen.
Schließlich muss bei der Frage nach den Perspektiven der Kaffeewirtschaft die ökologische Situation in Mittelamerika in Betracht gezogen werden. Sieht man einmal vom Chemieeinsatz ab, ist der traditionelle Kaffeeanbau mit Schattenbäumen eine ökologisch sinnvolle Kultur. Kaffeeplantagen sind Dauerkulturen, die in Hanglagen gedeihen, wo Jahreskulturen unweigerlich zu Erosionsschäden führen. In punkto Bodenbedeckung, Kleinklima, Wasserhaushalt im Boden und Biodiversität ersetzen sie den natürlichen Wald. Der Trend zur Produktionssteigerung gefährdet dagegen den traditionellen Anbau: bereits existierende Hochertragssorten werden ohne Schattenbäume angebaut; die in Entwicklung befindlichen Gen-Kaffees werden zur Mechanisierung von Flächen mit den entsprechenden Folgen für den Boden führen; der Kommerzialisierung wegen werden Flächen unter Kaffee gesetzt, die dann dem Anbau von Grundnahrungsmitteln fehlen.
Eine andere Kaffeepolitik muss daher nicht nur auf eine Reregulierung des internationalen Kaffeemarktes und auf eine Umverteilung der mit dem Kaffeeanbau und -handel erzielten Erlöse zu Gunsten der unmittelbaren ProduzentInnen zielen, sondern auch auf nachhaltige, umweltfreundliche Anbaumethoden, das heißt den traditionellen Anbau, vorzugsweise mit organischer Düngung und biologischer Schädlingsbekämpfung.
Im Rahmen des Kyoto-Prozesses ist es darüber hinaus unerlässlich, dafür zu sorgen, dass Einnahmen, die einem Land aus der Existenz von Kaffee-Wäldern als Biodiversitätsreservate und Kohlendioxyd-Senken erwachsen, den unmittelbaren Bewirtschaftern dieser Wälder zugute kommen.

Kontakt: KkES c/o Dritte Welt Haus, Falkstr. 74, 60487 Frankfurt, e-mail: kaffeekampagne@web.de

Subventionen für freie Märkte!

George W. Bushs Rede im Bundestag hat überrascht. Keiner hat damit gerechnet, dass er Entwicklungspolitik überhaupt erwähnen würde. Er hat. Bildung, Gesundheit und Wohlstand seien wichtige Bausteine im Kampf gegen den Terror, auch wenn Armut nicht ursächlich für ihn sei. Und da er ein Mann der Tat ist, hat er sogleich die Ankündigung von der Entwicklungsfinanzierungskonferenz in Monterrey bekräftigt. Noch mehr, wenn er sich nicht versprochen oder verrechnet hat, hat er die damals getroffene Aussage sogar verstärkt. Im Verlauf der nächsten drei Hauhaltsjahre würden die USA ihren Entwicklungshilfehaushalt um 50 Prozent erhöhen. Das wären dann 15 statt den jetztigen zehn Milliarden US-Dollar. Für viele im Bundestag laut Protokoll Grund zu klatschen. Es kann nur Höflichkeit oder Inkompetenz gewesen sein, die die Abgeordneten zu derlei Tun veranlasst hat. George Bush und Entwicklungspolitik, dass ist eine noch unglaublichere Kombination als bei anderen Staatschefs reicher Länder. America first gilt bei ihm noch mehr als bei den meisten seiner Vorgänger und das ist gar nicht so einfach. Den Beweis brachte seine Regierung wenige Tage vor der Berliner Rede, aber scheinbar lange genug, um dem Gedächtnis der Klatschenden entschwunden zu sein.
In den nächsten zehn Jahren soll das „Sicherheitsnetz für amerikanische Landwirte“, wie es George W. Bush nennt, noch dichter geflochten werden. Das neue Agrargesetz der USA sieht eine 70prozentige Aufstockung der nationalen Agrarsubventionen für die nächsten zehn Jahre auf insgesamt 180 Milliarden US-Dollar vor. Also 18 Milliarden US-Dollar jährlich für die US-Agrarindustrie, um die Dritt-Welt-Konkurrenz nieder zu konkurrieren. Zum Beispiel die Bauern in Burkina Faso, die auf Rat der Weltbank jüngst zur Maisproduktion übergegangen sind. Den Verkauf auf dem Weltmarkt können sie nun getrost vergessen. Wenigstens die Verbraucherschutzministerin Renate Künast und die Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul verurteilten das so genannte Farm Bill in der Öffentlichkeit – vor dem Bush-Besuch. Wenn Bush das überhaupt erfahren haben sollte, dürfte es ihn kalt lassen. Wer ist schon die deutsche Verbraucherschutz- oder Entwicklungshilfeministerin. Die Musik spielt woanders und die USA geben den Ton an, was auch immer das Notenheft vorgibt.
Zum Beispiel bei der Welthandelsorganisation (WTO). Dort haben sich die USA wie auch die Europäische Union verpflichtet, die Agrarsubventionen abzubauen. Damit ist‘s nun Essig, auch wenn die EU bereits mit einer Klage bei der WTO gedroht hat. Bis diese entschieden ist, werden zig Bauern in Asien und Afrika ihre Existenz verloren haben, denn ihre Regierungen sind im Gegensatz zur EU zu schwach, sich gegen den Protektionismus der USA wie auch der EU zu wehren. Viele können sich nicht mal Fachanwälte leisten, um vor der WTO überhaupt Klage einzureichen. Sie sind und bleiben Spielball der Interessenspolitik der Ersten Welt und dort spielt Entwicklungspolitik seit jeher eine Alibirolle. Das gilt für die EU und die USA gleichermaßen. Alle reden in der EU von Armutsbekämpfung, doch gerade mal ein Drittel der Entwicklungshilfe geht in die ärmsten Länder und dort nicht selten in Infrastrukturprojekte, die viel mit Markterschließung und wenig mit Armutsbekämpfung zu tun haben. Sie sollen für den EU-Beitritt fit gemacht werden. Generell werden Absatz- und Rohstoffmärkte entwickelt, aber keinesfalls die Entwicklungsländer. Warum sich auch unnötig Konkurrenten heranzüchten.
Ganz im Gegenteil. Das verschärfte Preisdumping der USA wird insbesondere auch den lateinamerikanischen Campesinos zum Verhängnis werden. Wenn deren Absatzchancen und lokale Marktstrukturen durch die billigen Importe zerstört werden, wird auch das soziale Gefüge der Landbevölkerung leiden. Lebensgrundlagen werden vernichtet wie die Ernte, die es nicht mehr zu ernten lohnt. Die US-amerikanischen Subventionen für ein paar hunderttausend werden dazu beitragen, dass – woanders – Millionen von Menschen verelenden. Bush nennt das Entwicklungspolitik.

Neue Horizonte in El Salvador

Neue Horizonte”, so heißt die diesjährige Operation der US-Militärs in El Salvador. Dieser Name soll wohl auf die Erdbebenkatastrophe bezogen sein, nach der das Land angesichts der Zerstörung von 20 Prozent der Behausungen dringend neuer Horizonte bedarf. Aber vielleicht hat es auch damit zu tun, dass dieses Jahr zum ersten Mal nicht nur salvadorianische und US-SoldatInnen an diesen seit neun Jahren durchgeführten Kampagnen teilnehmen, sondern auch Militärs aus Honduras, Nicaragua, Belice und der Dominikanischen Republik.
Was bei solchen und ähnlichen Maßnahmen pressewirksam als „Militärs mit Pickel und Schaufel“ (El Diario de Hoy, 18.1.2002) verkauft wird, ist allerdings mit Vorsicht zu genießen. Es steht nicht nur die Frage im Raum, warum in den vergangenen Jahren auf dem Gebiet der temporären Kaserne rätselhafte Löcher gegraben und wieder zugebuddelt wurden, wobei der Vorwurf der Giftmüllentsorgung von offizieller Seite nie entkräftet werden konnte. Offen bleibt auch der Grund der scheinbar selbstlosen Präsenz der GI’s in Nicaragua nach Hurrican Mitch, als die 3.000 SoldatInnen in imposanten Fahrzeugkolonnen fernsehtauglich durch das ganze Land kurvten. Was macht es da, dass die aufgebauten Brücken den ersten Regengüssen des kommenden Jahres nicht standhielten? Irrelevant auch die Tatsache, dass diese ganze Operation mit Kosten von 300 Millionen US-Dollar als Teil der offiziellen Mitch-Hilfe von 900 Millionen US-Dollar verbucht wurde.

Volle Kassen

Wenn es ums Gemeinwohl geht, werden keine Kosten gescheut – diese Devise scheinen sich die Militärs, für ihre diesjährige Kampagne auf die Fahnen geschrieben zu haben. Volle 14 Millionen US-Dollar werden für soziale Projekte investiert, versichert man stolz. Dies reicht für 15 Klassenzimmer mit Toiletten, die Reparatur von sechs Kilometern Staubstraße, zwei neue Zimmer in einem Gesundheitsposten und drei Trinkwasserbrunnen, wie den lokalen Medien zu entnehmen ist. Eine Million US-Dollar werde in Materialien investiert, heißt es – ein laut lokalen Sachverständigen mehr als großzügig bemessener Betrag. Ebenfalls großzügig veranschlagt ist eine weitere Million für Arbeitskräfte und Projektorganisation.
Daraus ergibt sich, dass von den 14 Millionen mindestens zwölf für Truppenkosten (Transport, Sold, etc.) ausgegeben werden. Dies erklärt sich dadurch, dass den 1.000 GI’s nur jeweils zwei Wochen tropische Hitze zugemutet werden können und somit in vier Monaten eine stolze Anzahl von 8.000 GringosoldatInnen durch El Salvador geschleust wird. Begleitet werden sie von jeweils 200 salvadorianischen Kollegen. Zusammen mit den Abgeordneten aus anderen Ländern werden somit die ganze Zeit über 1.200 Soldaten im Einsatz stehen, um in vier Monaten 15 Klassenzimmer, zwei Sprechzimmer und drei Brunnen zu bauen und ein paar Kilometer Staubstraße zu planieren.

Militarisierung von Katastrophen- und Entwicklungshilfe

Ob die Truppenkosten von zwölf Millionen US-Dollar, die das Sechsfache der eigentlichen Projektkosten betragen, Teil der Entwicklungshilfe der US-Regierung in El Salvador sind, geht aus den vorliegenden Informationen nicht hervor. Was sich aber klar dokumentieren lässt ist, dass Gemeindeverwaltungen mit demselben Geld und der Basisbeteiligung von zehn mal weniger Leuten nicht nur zehn mal mehr Infrastruktur erstellen, sondern auch die lokale Wirtschaft durch Arbeits- und Transportaufträge stärken würden.
Dass sich diese Operationen nahtlos in die Militarisierung von Katastrophenhilfe einreihen, die schon auf dem Balkan praktiziert wurde, ist offensichtlich. Nach der Katastrophenhilfe kommt der Wiederaufbau. Und wieso sollen die Militärs da plötzlich untätig zuschauen? Seien es ein paar Wege und Schulzimmer, die öffentlichkeitswirksam gebaut werden, seien es die über 100.000 Wellblechhütten, welche die Armee nach den Erdbeben in El Salvador innerhalb von drei Monaten in die Landschaft pflanzte. Die Existenz von vielen wehrhaften Mannen unter Waffen wird dem Publikum damit schmackhaft gemacht. Die Frage nach zivilen (und billigeren) Varianten von Katastrophenprävention, -hilfe und Wiederaufbau wird gleichzeitig in den Hintergrund gedrängt.

Editorial Ausgabe 334 – April 2002

Monterrey ist ein selbst für mexikanische Verhältnisse überdurchschnittlich heißer und trockener Ort. In dieser kargen Industriestadt versuchten sich vom 18. bis 22. März 7.000 TeilnehmerInnen aus 150 Staaten daran, der vom Austrocknen bedrohten Entwicklungshilfe neues Leben einzuflößen – abgeschottet vom benachbarten Elendsviertel durch eine flugs hochgezogene “Mauer der Scham”, wie sie die StadtbewohnerInnen tauften.
Der größte Verdienst der von den Vereinten Nationen ausgerichteten Konferenz zur Finanzierung für Entwicklung liegt darin, dass das Thema Entwicklungspolitik wenigstens für eine Woche aus dem Schattendasein befreit wurde – breiteren Raum nahm dieses Thema in den Medien wohl selten ein. Wie viel davon bei den Bürgern der Mediengesellschaft hängen bleibt, wie viel von den dürftigen Versprechungen Realität wird, bleibt fraglich. Die Erfahrung verspricht wenig.
Mit Entwicklungspolitik lassen sich nun mal keine Wahlen gewinnen, hatte schon Wolfgang Schäuble erkannt. Und auch die auf den 11. September folgenden Diskussionen, dass die Ungerechtigkeit der Welt dem Terror das Feld bereite, fanden nur kurz Gehör. Von dem von Obersparer Oswald Metzger in einer bündnisgrünen Fraktionssitzung angekündigten Paradigmenwechsel in Sachen Entwicklungspolitik ist nichts zu spüren.
Da mag die Europäische Union auf ihrem Barcelona-Gipfel angekündigt haben, dass bis zum Jahr 2006 der Anteil der Entwicklungshilfe am Bruttosozialprodukt pro Land auf mindestens 0,33 Prozent anzusteigen habe und da mag der US-Präsident George W. Bush in selten gesehener Großmut das Füllhorn um fünf Milliarden US-Dollar aufgestockt haben – es sind Muster ohne Wert. In Deutschland steht die Erhöhung ausdrücklich unter dem Vorbehalt der Eichelschen Haushaltskonsolidierung, so der Kanzler in Barcelona. Und selbst wenn der Kongress in den USA den Avancen von Bush folgt, was sind schon fünf Milliarden in drei Jahren im Vergleich zu 48 Milliarden, um die der Präsident den Rüstungshaushalt der USA allein in diesem Jahr anheben will. Eine Summe, die fast 90 Prozent der derzeitigen weltweiten Entwicklungshilfe entspricht und die die Prioritäten und Realitäten zurechtrückt.
Aber ohnehin greift der Ruf nach mehr Entwicklungshilfe zu kurz. 376 Milliarden US-Dollar verlieren die Entwicklungsländer jährlich durch Protektionsmaßnahmen der Industrieländer, rechnet der Chef der Welthandelsorganisation, Michael Moore, vor und fordert weiter erfolglos Zugeständnisse des Nordens. Im Abschlussdokument von Monterrey, dem so genannten Monterrey-Konsens steht kein Wort über eine Liberalisierung der Märkte des Nordens. Im Gegenteil: der Süden müsse liberalisieren, sich für ausländische Direktinvestitionen attraktiv machen und seine eigenen Reserven mobilisieren.
Der Norden spielt sein heuchlerisches Spiel weiter. Da wurde beim Millenniumsgipfel in New York hoch und heilig versprochen, sich für die Halbierung der Armut bis zum Jahr 2015 einzusetzen. Doch nur ein Bruchteil der von der Weltbank vorsichtig auf 50 Milliarden US-Dollar veranschlagten notwendigen zusätzlichen Gelder wird überhaupt zu zahlen in Erwägung gezogen. Die UNO-Empfehlung, 0,7 Prozent des BSP in die Entwicklungshilfe fließen zu lassen, rührt aus dem Jahre 1970. Bis heute wird sie von den Industrieländern als Maßstab akzeptiert und von den meisten mit Füßen getreten.
Derzeit werden im Schnitt 0,22 Prozent erreicht – mit seit zehn Jahren fallender Tendenz. Es sind die nüchternen Fakten, die der Entwicklungspolitik Hohn sprechen. Ideologie kommt von der anderen Seite: “Frieden, Freiheit und Kapitalismus” seien die Grundpfeiler jeglicher Entwicklung. „Regierungen, die diese Verpflichtungen eingehen, haben“, so der US-Delegierte Terry Miller in der Vorbereitung zu Monterrey, „eine Chance zur Entwicklung. Regierungen, die dies nicht tun, haben überhaupt keine Chance“. Dafür sorgt im Zweifelsfall die US-Armee.

Die Gewalt überleben

„Die Tatsache, dass weltweit die Begriffe ‘Psychosoziale Arbeit’ und ‘Trauma’ in der humanitären Hilfe und in der Entwicklungszusammenarbeit bedeutsam geworden sind, deutet einerseits auf einen Fortschritt und andererseits auf eine Krise hin. Der Fortschritt besteht darin, dass man endlich anerkannt zu haben scheint, dass es in Kriegs- und Krisenregionen nicht nur um die Lösung ökonomischer oder politischer Probleme durch technisches Know-how geht, sondern letztendlich um Menschen, um konkrete Subjekte, die in ihrer spezifischen Geschichtlichkeit den jeweiligen sozialen Prozess gestalten, bestimmen und erleiden.“
Mit diesen Worten eröffnete David Becker, Diplompsychologe und ehemaliger Mitarbeiter des chilenischen Instituto Latinoamericano de Salud Mental y Derechos Humanos seinen Vortrag auf der von medico international und dem Konsortium Ziviler Friedensdienst organisierten Tagung „Psychosoziale Arbeit nach Krieg und Diktatur“ im Juni 2000 in Mainz. Fünf Tage lang hatten MitarbeiterInnen von 20 Projekten aus zwölf Ländern ihre unterschiedlichen Erfahrungen ausgetauscht.
Die wichtigsten Beiträge, darunter auch der Vortrag von Becker, sind nunmehr in dem Band medico report 23 zusammengefasst. Sie gehen der Frage nach, wie man Menschen helfen kann, die langjährige Kriege, Diktaturen und damit verbundene Menschenrechtsverletzungen erleiden mussten. Alle verfolgen sie einen Ansatz, der nicht ausschließlich auf den Wiederaufbau des materiellen Daseins ausgerichtet ist, sondern sich vor allem auf die seelischen Nöte der Menschen konzentriert.

Kontextorientierte psychosoziale Arbeit

Die Krise, von der Becker spricht, setzt dann ein, wenn die psychologische Arbeit nicht im Kontext von politischen und sozialen Problemen statt findet, sondern vielmehr den Mustern einer ausschließlich auf das Individuum ausgerichteten Therapie folgt. Dann würden ‘psychosozial’ und ‘Trauma’ zu Schlagwörtern, die nicht produktiv in die Entwicklungszusammenarbeit integriert werden könnten.“ Becker formuliert zentrale Aspekte, die bei einer wirkungsvollen psychosozialen Arbeit berücksichtigt werden müssen. Dazu gehört unter anderem die Verpflichtung, sich einerseits für den einzelnen Menschen und seine Psyche zu interessieren, immer aber auch nach den spezifischen ökonomischen, kulturellen und politischen Bedingungen zu fragen und „die Arbeit grundsätzlich auf die Community hin zu orientieren“.
Die Darstellungen verschiedener Projekte und Arbeitsansätze aus unterschiedlichen Ländern bekräftigen Beckers Überlegungen. Dies gilt zum Beispiel für den Fall Chile, wo das „Trauma der Straflosigkeit“ erkannt wurde und einerseits die Betreuung von Opfern von Menschenrechtsverletzungen immer im Kontext der Forderung stehen musste, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, und andererseits die Verhaftung Pinochets eine psychologische Betreuung von sehr vielen Menschen nötig machte, die bis dato nicht über ihr Leiden gesprochen hatten.
Die Ursprungsidee von Khulumani („sich aussprechen“) in Südafrika war, den Opfern des Apartheidregimes dabei zu helfen, Zugang zur Truth and Reconciliation Commission zu bekommen. Doch auf Grund der Bedürfnisse der Bevölkerung weitete sich ihre Arbeit aus und mündete in Selbsthilfe-Workshops und in die Produktion zweier Videos.

Ganzheitliche Hilfe

Auch Projekte wie das der Exhumierung und Bestattung von Ermordeten in Guatemala, das den Betroffenen ermöglicht, die Ermordeten zu betrauern, gleichzeitig aber auch die Verbrechen der Militärs an die Öffentlichkeit bringt, oder ein Projekt mit Behinderten in Palästina, wo ständig die traditionellen patriarchalen Strukturen berücksichtigt werden müssen, machen deutlich, wie wichtig es ist, den politischen und sozialen Kontext der betreuten Menschen zu berücksichtigen.
Selbst die Betreuung von bosnischen Flüchtlingen in der Bundesrepublik weist auf diesen Zusammenhang hin: So mussten die für die psychologische Betreuung zuständigen Therapeuten sich permanent mit der Abschiebepraxis der deutschen Behörden auseinander setzen und erleben, wie die in regelmäßigen Abständen angedrohte Abschiebung immer wieder neue Angstzustände bei den Flüchtlingen auslöste.
Obwohl die intendierte Trennung zwischen allgemeineren Fragestellungen wie dem Verhältnis von psychischer, politischer und sozialer Aufarbeitung der Vergangenheit anhand verschiedener Fallbeispiele und konkreten Arbeitsansätzen in unterschiedlichen Ländern nicht konsequent durchgehalten wurde, ist es medico mit der vorliegenden Publikation gelungen, die Notwendigkeit einer „ganzheitlichen“ Hilfe, also einer Verbindung zwischen psychologischer, sozialer, politischer und ökonomischen Hilfe für postdiktatorische Gesellschaften heraus zu stellen.

Breites Zielpublikum

Für fachfremde LeserInnen ist die Publikation ebenso interessant wie für SpezialistInnen. Für erstere erschließt sich die Thematik allerdings besser, wenn mit der Lektüre von hinten, sprich mit den Überlegungen David Beckers, begonnen wird. Er macht leichter nachvollziehbare allgemeine Überlegungen zum Thema, während der Einleitungsbeitrag von Usche Merk gerade im Hinblick auf die Entwicklung des Begriffs Trauma und Traumatisierung und den dort zitierten Autoren sich stärker an ein Fachpublikum wendet. Dennoch ist es ein wichtiger Text, der sich nach Kenntnis der vorgestellten Projekte auch besser erschließt.
Eine beigelegte mehrsprachige CD-Rom mit allen während der Tagung gehaltenen Vorträgen und Informationen zu Projekten in zahlreichen Ländern bietet eine gute Möglichkeit, sich intensiver über psychosoziale Arbeit zu informieren.

Viel zu tun

Die allgemeinen „ABERs“, die sich nach Lektüre und Sichtung der CD-Rom ergeben, sind weder der Tagung noch medico international anzulasten. So fällt auf, dass alle Beiträge abschließend auf ihre begrenzten Möglichkeiten oder noch ausstehende Arbeitsgebiete hinweisen, mit denen sich die Organisationen und einzelnen Projekte angesichts der immensen gesamtgesellschaftlichen Probleme konfrontiert sehen.
Dies gilt auch für die Arbeit medicos in Nicaragua, wo bei dem Neuansiedlungsprojekt „El Tanque“ vom Hurrikan Mitch betroffenen Menschen ein neues Zuhause und gleichzeitig psychologische Unterstützung geboten wurde. Der nachvollziehbare Neid der Nachbarsiedlung und die traditionellen Gesellschaftsstrukturen innerhalb der eigenen Siedlung machen noch viele stabilisierende Veranstaltungen und Maßnahmen nötig, um das Projekt langfristig zu sichern.
Oder für Palästina, wo sich bei der Lektüre zwangsläufig die tagtäglichen Nachrichten eines Kriegsgebietes aufdrängen und deutlich wird, dass neben den patriarchalen Strukturen, die die Arbeit erschweren, auch die Situation der israelischen Besetzung zu berücksichtigen ist.
Und so bleibt das Gefühl, dass die von medico unterstützte Projektarbeit sehr wichtig ist, doch eigentlich noch unendlich viel getan werden müsste – was ja auch nicht falsch ist.

Medico International (Hg.): Die Gewalt überleben. Psychosoziale Arbeit im Kontext von Krieg, Diktatur und Armut. (= Medico Report 23) Mabuse Verlag, Frankfurt/M. 2001, 130 Seiten, 31,80 DM.

Die Dezentralisierung des Mangels

Viele Besucher Kubas, die in den ersten Stunden oder Tagen nach ihrer Ankunft auf der Insel durch Havanna schlendern, sind entsetzt über den desolaten Zustand der meisten Straßen, Häuser und Wohnungen. Und in der Tat ist der visuelle Unterschied zu den Herkunftsländern der Besucher, wie Kanada, die Schweiz, Schweden oder Deutschland, dramatisch. Schnell wird der Grund dafür in verfehlter Politik, Misswirtschaft, oder einfach nur in der nationalen ökonomischen Notlage gesucht. Solche Faktoren mögen eine Rolle spielen, aber dennoch sollte man sich einige der Besonderheiten Kubas in Erinnerung rufen, die den ersten Eindruck schnell relativieren.

Havanna ist nicht Kuba

Wie bekannt, optierte die kubanische Regierung nach der Revolution für ein radikales Umlenken der Investitionen in Wirtschaft, Bildung, Kultur und soziale Dienste aus der Hauptstadt in die Provinzen, womit nicht nur landesweit eine größere soziale Gerechtigkeit erzielt, sondern auch der permanente Zuzug von Menschen aus den armen Regionen nach Havanna gestoppt werden sollte. Über eine lange Zeit gelang dies tatsächlich: Kuba dürfte das einzige Entwicklungsland sein, in dem die Bevölkerung in der Hauptstadt in den vergangenen dreißig Jahren weniger schnell gewachsen ist als im übrigen Land. Der Preis für diesen Erfolg war eine allgemeine Verwahrlosung der Bausubsstanz in Havanna mit Folgen bis hin zu zahlreichen Einstürzen morscher und überbelegter Wohnhäuser, die auch Todesopfer forderten. Gewinnerin dieser Politik war die bislang vernachlässigte Bevölkerung in den kleineren Städten des Landes, aber auch – so paradox es klingen mag – das mittlerweile denkmalgeschützte architektonische Kulturerbe aus der Kolonialzeit. Denn ohne Zweifel hätte eine blühende Bauwirtschaft in Havanna die gleichen städtebaulich katastrophalen Folgen gehabt wie sonst fast überall in West wie Ost. In der Tat sah der Masterplan für Havanna aus den 50er Jahren einen Totalabriß der Altstadt zugunsten einer Miniaturversion von Manhatten vor.

Wieviel kostet eine gute Politik?

In den Statistiken wird der Erfolg einer Wohnungspolitik gemeinhin (negativ) an der Zahl der Obdachlosen oder (positiv) der jährlich fertiggestellten Wohnungen gemessen. So auch in Kuba, wo das Defizit nach offiziellen Zahlen bei 600.000 Wohnungen liegt, während gleichzeitig nur rund 50.000 neue Einheiten pro Jahr entstehen. Ungeachtet der unrühmlichen Zahlen ist es sicher eine anzuerkennende Leistung für ein armes Land, dass Straßenkinder oder Obdachlose im Stadtbild nicht anzutreffen sind. Das zeigt, dass andere Parameter der Wohnungsversorgung mindestens genauso wichtig sind, und zudem gemessen an den Kosten eine viel größere Hebelwirkung haben können. Hier geht es zum Beispiel um den Zugang zu Wohnraum, dessen Kosten, und um den Kündigungsschutz.
Es versteht sich eigentlich von selbst, dass in einem sozialistischen Land das wichtigste Kriterium der Wohnungsverteilung die Bedürftigkeit und nicht die Zahlungskräftigkeit sein sollte. Das klassische Instrument dazu, ein Punktesystem in Verbindung mit einer Warteliste, findet auch in Kuba Anwendung. Es scheint logisch und gerecht, leidet aber unter bürokratischer Schwerfälligkeit und Gelegenheitskorruption. Daneben existieren aber noch alternative Verteilungsmechanismen, zum Beispiel Quoten für politische Flüchtlinge oder die Zuteilung über den Arbeitsplatz (insbesondere bei den sogenannten Mikrobrigaden, das heißt Gruppenselbsthilfe auf Betriebs- oder Nachbarschaftsebene) und schließlich die Eigenselektion durch Selbsthilfewohnungsbau. Diese Verteilungsmechanismen jenseits des Geldbeutels sind der Grund, weswegen Wohnungslage und -ausstattung in Kuba nicht gleichzeitig zur Manifestation des sozialen Status der Bewohner herhalten müssen. Daran änderte bisher auch die sehr populäre Praxis des Wohnungstauschs nichts, der permuta genannt wird, ein Vorgang, bei dem Qualitätsunterschiede fast immer durch materielle Transaktionen kompensiert werden. Die Einkommensunterschiede waren schließlich nicht sehr groß. Nachdem allerdings in den letzten Jahren immer mehr Familien durch Zusendungen aus dem Ausland oder halblegale Dollargeschäfte größere Devisenmengen ansparen konnten, droht eine stärker werdende sozial-räumliche Segregation als neues Phänomen.
Eine Wohnung zu bekommen ist eine Sache, aber genauso wichtig ist die Sicherheit, darin so lange bleiben zu können, wie man will, also der Kündigungsschutz. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist Wohnraum in Kuba seit der Revolution unkündbar – eine nachhaltige Verbesserung für die Mieter, die den Staat kein Geld kostet. Doch jede Münze hat zwei Seiten. So wie viele Wohnungen hoffnungslos überbelegt sind, werden manche Großwohnungen nur von ein oder zwei Personen genutzt, und es gibt keine rechtliche Handhabe, um dagegen vorzugehen. Dies trifft sogar für die Luxusvillen der vorrevolutionären Bourgeoisie Havannas in Miramar und Siboney zu, sofern ihre ursprünglichen Eigentümer das Land nicht verlassen haben. Zwar wäre Untervermietung eine sinnvolle Option, sie ist aber gerade wegen des allgemeinen Kündigungsschutzes eine seltene Ausnahme: jeder potentielle Vermieter hat Angst, seine Untermieter nie wieder loszuwerden. Um diese Pattsituation zu entschärfen, wurden Mitte der 90er Jahre die rechtlichen Voraussetzungen für befristete Untermietverträge geschaffen, bei denen Staat, da es sich ja um gewerbliche Einkünfte handelt, über eine spezielle Gebühr mit verdient. Was das Ziel einer gerechteren Wohnraumverteilung angeht, wurden die Erwartungen enttäuscht. Denn die meisten der möglichen Vermieter können bei den notorisch niedrigen Einkünften der Kubaner keine Preise verlangen, die Anreiz genug sind, auf einen Teil ihrer Wohnung zu verzichten und das Risiko einzugehen, bei einer etwaigen Änderung der Rechtslage doch auf den Mietern sitzenzubleiben. Hinsichtlich der für Vermietung fälligen Lizenzgebühren ist das Modell allerdings ein voller Erfolg – zumindest für den Staat: Für die Vermietung von privatem Wohnraum an Ausländer, den einzig interessanten Kunden, fließen hohe Dollarbeträge an das staatliche Wohnungsinstitut. Damit soll die Sanierung des bestehenden Wohnraums durch das Ministerium finanziert werden.
Eine weitere zentrale Variable für eine zufriedenstellende Wohnung ist ihr Preis. Die zu Beginn der Revolution festgelegte Miete von 10 Prozent des Lohns reichte weder für die Amortisation der Baukosten noch für eine ordnungsgemäße Instandhaltung. Noch paradoxer wirkte sich diese soziale Preispolitik für Wohnraum ohne angemessenen Standard für diejenigen Bewohner aus, die bereits 20 Jahre Miete bezahlt und damit die ursprünglichen Baukosten längst an den (privaten oder staatlichen) Vermieter zurückbezahlt haben. In beiden Fällen sieht das Gesetz Mietfreiheit vor; die mit hohem Baualter immer notwendiger werdenden Reparaturen sind nicht mehr bezahlbar. Eine salomonische Lösung für dieses Problem wurde bereits 1984 gefunden: auf einen Schlag wurden allen Mietern die Wohnungen übereignet. Der Staat war so die Sorge um Verwaltung und Instandhaltung eines riesigen Wohnungsbestandes los, und die Bewohner genossen eine wesentlich größere Verfügungsgewalt über ihren Wohnraum bis hin zur Möglichkeit des Verkaufs. Man stelle sich vor, wieviele Probleme wir uns in Deutschland erspart hätten, wenn die DDR vor der Wiedervereinigung das gleiche gewagt hätte! Übrigens wurde in Kuba einer möglichen Spekulation gleichzeitig dadurch vorgebeugt, dass niemand mehr als eine Wohnung besitzen darf. Hinzugefügt werden muss aber noch, dass die Einheitsmiete – genau genommen die Zinszahlung für den Kauf der Eigentumswohnung – schrittweise aufgegeben wird. Dadurch soll gleichzeitig der Subventionsanteil des Staates reduziert werden, eine größere Kongruenz zwischen Wohnraum und konkretem Bedarf erzielt und über das Regulativ des Preises unterschiedlichen Konsumpräferenzen Rechnung getragen werden.

Vom Umgang mit der Krise

Niemanden verwundert es, dass nach Zusammenbruch der Beziehungen zu den ehemaligen Ländern des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) die Zahl der fertiggestellten Neubauten von einer ohnehin unbefriedigenden Zahl auf nahezu Null abbrach. Der Einbruch wurde noch verstärkt durch die Verwendung fast allen noch disponiblen Zements für fragwürdige Bunkerbauten, welche die Bevölkerung im Falle eines militärischen Angriffs auf das Land schützen sollten. Zynisch kann man diese Krise auch positiv auslegen: Denn nach jedem Tiefpunkt kann es nur wieder bergauf gehen, und das weckt neue Hoffnungen in der Bevölkerung. So sahen auch die Neubaustatistiken Ende der Neunziger Jahre besser aus als vor der Periodo Especial – allerdings wurden die Standards sichtbar reduziert. Noch bemerkenswerter ist, dass außer dem Bauministerium jetzt andere Bauträger stärker aktiv werden. Damit können die typischen Engpässe der früheren monopolistischen Struktur leichter umschifft werden. So haben mehrere Ministerien eigene Bauprogramme für ihre Angestellten aufgelegt. Kommunen und Stadtteilbüros schließen im Wohnungssektor direkte Kooperationsverträge mit dem Ausland. Weiter gibt es spezielle und quasi autonome Entwicklungsbüros für die Altstadtsanierung in Havanna, Santiago de Cuba und Trinidad mit eigenen Bauvorhaben, und eine beschränkte Anzahl von Nicht-Regierungs-Organisationen kanalisiert Spenden aus dem Ausland für den Wohnungsbau.
Aus Gründen, über die man nur spekulieren kann, wurde der erfolgreichsten und einfallsreichsten dieser Nicht-Regierungs-Organisationen, Habitat Cuba, im Sommer 2001 die Lizenz entzogen, wodurch viele ausländische Geber den Empfänger für bereits zugesagte Fördermittel verloren. Diese Entwicklung ist symptomatisch für den politischen Zick-Zack-Kurs nicht nur in der kubanischen Wohnungspolitik. Positiv ließe sich diese Strategie bestenfalls dahingehend interpretieren, dass die ständigen Wechselbäder in Kombination mit einer politischen Bereitschaft zum Experimentieren mit alternativen Ansätzen in der Öffentlichkeit den Eindruck einer kontinuierlichen Veränderung hinterlassen und Hoffnungen für die Zukunft nähren. Zudem weiß jeder, dass auch unpopuläre Maßnahmen in Kuba irgendwann passé sind. Diese bei Latinos so erfreuliche Flexibilität hat vermutlich Kuba bislang vor dem Schicksal Osteuropas bewahrt.
Ein anderes Beispiel für Kubas politisches Geschick, in bestimmten Situationen flexibel auf veränderte Rahmenbedingungen zu reagieren, zeigt sich in der Öffnung für mehr Mitbestimmung in Stadtentwicklungsfragen an der Basis. Ziemlich schnell nach Einsetzen der Wirtschaftskrise wurde deutlich, dass Kuba auf absehbare Zeit nicht in der Lage sein würde, die Erfüllung der Grundbedürfnisse aus dem Staatshaushalt zu garantieren. Die Versorgung wurde schrittweise auf dezentrale Problemlösungen umgestellt. Dadurch wurde eine bessere Nutzung lokaler Ressourcen und eine bessere Beteiligung der Bewohner bei der Lösung von Problemen erforderlich und auch möglich. Bürgerräte (Concejos populares) wurden für die Selbstverwaltung auf Stadtteilebene eingerichtet, und in Vierteln mit erhöhtem Krisenpotential Initiativgruppen (Talleres de Desarrollo Integral) ins Leben gerufen, die sich Sanierungsaufgaben, Kulturprojekten oder Umweltproblemen widmeten. Seit Beginn der wirtschaftlichen Erholung erhalten beide Einrichtungen für ihre Projekte auch öffentliche Mittel. Fast immer bringen direkte ausländische Patenschaften zusätzlich Devisen für selbstbestimmte Entwicklungsprojekte, und zwar ohne die nervigen Reibungsverluste einer Kanalisation durch die Ministerien. Natürlich kennt man heute vergleichbare Entwicklungen auch in anderen Ländern, wie zum Beispiel die dezentralen Gemeindebudgets in Porto Alegre/ Brasilien oder das Quartiersmanagement in deutschen Großstädten, aber im planwirtschaftlichen Kuba waren solche Reformen vor der Krise undenkbar.

Geben und Nehmen in der Entwicklungshilfe

Die Förderung der Stadtentwicklung durch Entwicklungshilfe trägt insbesondere in Havanna dazu bei, den Nachholbedarf auf Grund jahrzehntelanger Investitionssperren abzubauen. Die Abhängigkeit vom Ausland zeigt aber eine paradoxe Situation auf: In der Sozialpolitik ist Kuba, mit seinem hohen Bildungsstand und einer geringeren Säuglingssterblichkeit als in vielen Industrienationen kein Entwicklungsland. Im medizinischen sowie in einigen anderen Sektoren zählt Kuba sogar zu den Geberländern in der Entwicklungshilfe. Als Empfängerland dagegen benötigt die unter chronischer Liquiditätsschwäche leidende Wirtschaft in erster Linie Mittel für neue Investitionen, aber fast kaum Experten, wie sie in anderen Ländern sinnvoll erscheinen mögen. Deshalb werden Spenden zum Wiederaufbau beispielsweise des Malecón, der Uferstraße in Havanna, gerne angenommen.

Plattenbau à la cubana

Dabei tut sich der ehemalige Kolonialherr Spanien als Geberland besonders hervor und sichert sich nebenbei architektonische Perlen für eigene Kulturinstitute oder andere nationale Vertretungen. Im Tourismussektor führen die Joint- Ventures zu städtebaulich und architektonisch katastrophalen Hotelneubauten, denen auch die kubanische Fachwelt mit ihrer jahrzehntelang auf Plattenbau getrimmten Ingenieurausbildung wenig entgegenzusetzen hat. Überhaupt ist zu bedauern, dass in einem Land mit einem so reichen architektonischen Erbe nach der ersten Euphoriephase direkt nach dem Sieg der Revolution keine architektonisch bemerkenswerten Baudenkmäler mehr entstanden. Hier wäre ein Anstoß durch ausländisches Know-how, zum Beispiel in Form internationaler Wettbewerbe, eine positive Bereicherung und ein gewisser Ausgleich für den Exodus der begabtesten Jungarchitekten ins Ausland notwendig.
Keine Regel ohne Ausnahme. Die eingangs erwähnte Sanierung der Altstadt von Havanna ist in vieler Hinsicht einfalls- und erfolgreicher als der Umgang mit historischen Stadtkernen im Ausland. Die Finanzierung der Arbeiten erfolgt fast ausschließlich mit eigenen Mitteln, die aus einer Steuer stammen, die auf jeden in der Altstadt getätigten Handel in Devisen erhoben wird. Die autonome Sanierungsgesellschaft unter der Leitung des Stadthistorikers Eusebio Leal betreibt sogar eigene Gewerbebetriebe wie Hotels und ein Reisebüro zur Finanzierung der Stadterneuerung. Ein beachtlicher Prozentsatz dieser Einkünfte ist für soziale Einrichtungen und die Verbesserung der Wohnbedingungen der ansässigen Bevölkerung reserviert. Das Tourismusgeschäft wird absichtlich in bestimmten Straßenzügen konzentriert, um der Verdrängung der angestammten Bevölkerung in den übrigen Zonen vorzubeugen.
Die verstärkte Anwesenheit von Ausländern in Kuba erzeugte auch eine Nachfrage von diesem Personenkreis nach eigenen Wohnungen. Doch solange nicht genügend Wohnraum zur Deckung des nationalen Bedarfs besteht, ist der Verkauf von Wohnungen an Ausländer tabu. Allerdings werden mit Devisen zusätzliche Einheiten zum Verkauf an diese Zielgruppe zu Preisen um die 1000,- US$ pro Quadratmeter gebaut. Den Käufern wird allerdings kein automatisches Bleiberecht auf der Insel garantiert.
Die Krise hat also die ohnehin kritische Lage der Wohnungsversorgung in Kuba weiter verschlechtert, aber gleichzeitig den Weg für neue Initiativen und einen sichtbaren Aufschwung in der Wohnungsproduktion und in der Pflege des Stadtbildes freigemacht. Wechselhafte politische Entscheidungen beeinträchtigen allerdings die Kontinuität dieses Trends.

Asien und Lateinamerika

Die europäische Entdeckung Amerikas ist ein Nebenprodukt der Weltgeschichte. Kolumbus suchte im Jahre 1492 den westlichen Seeweg nach Asien, um die islamischen Reiche zu umgehen, die den Weg zu den indischen Spezereien seit jeher blockierten. Dass ihm die heutigen Amerikas und die karibischen Inseln in die Quere kamen, konnte damals niemand ahnen, und es hat auch so schnell keiner gemerkt: Christoph K. ist bekanntlich in der Annahme gestorben, in Indien gewesen zu sein.

Dass die Erde eine Scheibe ist, beweist noch heute der Blick auf die gängigen europäischen Weltkarten: Links der amerikanische Doppelkontinent, rechts der asiatisch-pazifische Raum. Auch unser gedanklicher Blick nach Asien wandert in der Regel über den Nahen und Mittleren zum Fernen Osten. Und in Richtung Westen denken wir EuropäerInnen selten über die Pazifikküste der beiden Amerikas hinaus.

Aber: Jede Scheibe auf der Welt hat zwei Seiten. In dieser Ausgabe soll diese andere Seite betrachtet werden: Was verbindet Lateinamerika und den asiatisch-pazifischen Raum? Sicherlich mehr als der Stille Ozean. Asiatische und lateinamerikanische Länder führen beispielsweise die Rangliste der am höchsten verschuldeten Länder der Welt: Auf Brasilien, Argentinien und Mexiko folgen China, Südkorea und Indonesien. Eine weitere Gemeinsamkeit beider Subkontinente ist, dass im Laufe der letzten Jahrzehnten in autoritär-diktatorischen Regimes wie Singapur oder Chile ein hohes Wirtschaftswachstum zu verzeichnen war, das zeitweise als Modell angepriesen wurde. Die Schwachstellen wurden dabei gern verschwiegen.

Der Schwerpunkt dieser Ausgabe stellt die lateinamerikanisch-asiatischen Beziehungen in vor. Sven Hansen beschreibt die politischen Bemühungen von China und Taiwan um den Einfluss auf den lateinamerikanischen Kontinent und die Karibik. Beiträge über die Textilfirma Chentex in einer Freihandelszone in Nicaragua und über die Besitzverhältnisse am Panama-Kanal illustrieren konkrete Beispiele für die wirtschaftlichen Verflechtungen der beiden chinesischen Staaten mit Zentralamerika.

Den asiatisch-pazifischen Raum skizziert Dirk Messner. Hier werden neben China, Taiwan und Japan auch die Beziehungen der asiatischen Staaten Südkorea, Singapur und Thailand untereinander betrachtet. Der Vergleich der ökonomischen und politischen Entwicklung der so genannten asiatischen Tigerstaaten mit den Ländern Lateinamerikas zeichnet nach, warum die einen am Ende ruiniert in der Verschuldungsfalle sitzen und die anderen ökonomische Erfolge verbuchen konnten.

Damit rückt auch der japanische Einfluss auf Lateinamerika ins Blickfeld. Im Bericht über die Entwicklungszusammenarbeit Japans, das dem Betrag nach weltweit die meisten Gelder eines Einzellandes aufbringt, werden dessen Motive vorgestellt. Vom japanischen Leben in Brasilien erzählt Gerhard Dilger. Welche Rolle JapanerInnen und ChinesInnen in Peru spielen, erläutert Rolf Schröder. Dass es Chinatowns nicht nur in New York und London gibt, zeigt Knut Henkel in seinem Beitrag über das Chinesenviertel in der kubanischen Hauptstadt Havanna

Ein ganz anderes Kapitel der asiatisch-lateinamerikanischen Verflechtung schlägt der trinidadische Musiker Brother Resistance auf. Trinidadische Zuckerrohrfarmer hatten im 18. Jahrhundert Arbeitskräfte aus Indien angeworben, deren Nachfahren heute 40 Prozent der Bevölkerung auf der karibischen Insel ausmachen. Über das Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft und den Einfluss der indischen Kultur auf die karibische erzählt er im Interview.

Partner oder Notreserve?

Als einziger Industriestaat des ostpazifischen Raums leistet sich Japan eine teure weltweite Entwicklungszusammenarbeit (EZ) mit und in der so genannten Dritten Welt. Japanische EntwicklungshelferInnen finden sich weit verstreut über den ganzen lateinamerikanischen Kontinent. In 22 Büros koordinieren und steuern sie Projekte, die meist im ländlichen Raum angesiedelt sind. Von einer Verbesserung des Fischfangs bis hin zur Ertragssteigerung bei Kulturpflanzen waren die primären Förderinteressen bisher im – wörtlich zu verstehen! – land-wirtschaftlichen Bereich. Das Ei-Land der roten Sonne ist seit 1990 noch vor den USA der größte Einzelgeber von Entwicklungsgeldern. Gemessen am Bruttosozialprodukt handelt es sich jedoch um weniger als 0,4 Prozent.
China, traditionell erstes Empfängerland japanischer bilateraler Hilfe, wurde inzwischen von Indonesien, Thailand und den Philippinen vom Spitzenplatz verdrängt. Ein halbes Jahrhundert lang konzentrierte sich die zur eigenen Stabilisierung als Industrienation begonnene Entwicklungshilfe auf Wirtschaftsförderung, technische Infrastruktur und den Agrarbereich. Japan will jedoch in den kommenden Jahren einen Wechsel versuchen, denn ein „Übergang von quantitativer zu qualitativer Entwicklungshilfe“ wird von der Regierung gewünscht. Mehr Finanzmittel sollen in die soziale und nicht mehr in die ökonomische Infrastruktur fließen. Dabei bleibt die Region Ostasien als Empfängerin von etwa 60 Prozent der bilateralen Hilfe ganz vorn, denn die Stabilität der Nachbarn ist für den Inselstaat von zentraler Bedeutung. Für Lateinamerika bleiben immerhin noch mehr als 10 Prozent, von ehemals weniger als 6 Prozent vor den neunziger Jahren.
Ausführende in Sachen EZ ist die japanische Agentur für Internationale Zusammenarbeit, JICA, die sowohl die technische Kooperation als auch die Vergabe von Entwicklungsgeldern organisiert. Ähnlich der deutschen Gesellschaft für technische Zusammenarbeit, GTZ, ist die JICA Auftragnehmerin der Regierung. Allerdings ist sie staatlich und direkt dem Außenministerium unterstellt, nicht wie in Deutschland über den Umweg eines Entwicklungshilfeministeriums. Das vereinfacht die Weisungsmöglichkeiten der Regierung und legt nahe, dass JICA´s Entwicklungszusammenarbeit auch zur Verfolgung eigener außenpolitischer Interessen stattfindet.

Fische für Autos

Japanische Interessen liegen in Lateinamerika vorwiegend im Import-Export-Geschäft. Rohstoffe werden nach Japan eingeführt, technische Produkte, vor allem Autos, sollen ausgeführt werden. Die Präsenz auf dem benachbarten Kontinent ist allgegenwärtig und wird oft durch gezielte Interventionen gestärkt.
Da die Beziehungen zu den meisten lateinamerikanischen Staaten unbelastet sind und sich die japanische Regierung in Fragen der Innenpolitik, beispielsweise der Einhaltung der Menschenrechte, mit Kritik eher zurückhält, sind die Regierungen gegenüber der japanischen EZ entgegenkommend oder zumindest aufgeschlossen.
Gern wird mit den wirtschaftlich starken Ländern kooperiert, in die auch ein großer Teil der Entwicklungsgelder fließt. Mit dem Mercosur sind Brasilien und Argentinien zentrale Ziele der japanischen Außenhandelsorganisation JETRO, des zweiten japanischen Arms, der über den westlichen großen Teich greift.
Die relativ einfache Erreichbarkeit der Pazifik-Anrainer ist es auch, die diese interessant macht. Das nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA hat die Handelsbeziehungen zu Mexiko verschlechtert; einen Kandidaten gezielter Förderung stellt Chile dar. Dort ist Japan bereits – zusammen mit Deutschland – der größte bilaterale Geber im Entwicklungsbereich.

Rohstoffe aus Chile

Ein im Juni 2001 erstellter Bericht zur Vorbereitung eines Freihandelsvertrags zeigt die japanischen und chilenischen Interessen eng nebeneinander. Chile ist Japans Hauptlieferant für Kupfer und Fischmehl, Zweiter für tiefgefrorene Forelle und Lachs und immerhin Dritter in Sachen Holz. Es erhält Nachhilfe in Sachen Bergbau, Fischerei und Waldschutz, und vor allem könnte Chile Maschinen und Mittel zur „Transportausstattung“ bekommen. Dabei wird darauf hingewiesen, dass Japans Importe aus Chile mehr als das Doppelte seiner Exporte ausmachen und Chile den zweitgrößten lateinamerikanischen Absatzmarkt darstellt, der noch ausbaubar wäre.
Ein ganzes Paket wurde von JICA geschnürt, aber es sind bei weitem nicht alle Vorhaben in den genannten Bereichen oder nur in der Wirtschaftsförderung angesiedelt.
Die Unterstützung indigener Initiativen beispielsweise erscheint eher als ein Feigenblatt der EZ, das dazu dienen soll, die dicken Fische aus der wirtschaftlichen Kooperation zu verstecken. Zumindest die HelferInnen vor Ort versuchen offensichtlich, mit ihren Projekten den indigenen ChilenInnen zu helfen. Doch ist nicht zu erwarten, dass Japan, am Willen der Landesregierung vorbei, auch deren Selbstbestimmungsrechte fördern würde. Zudem haben japanische Firmen quadratkilometerweise chilenischen Wald gekauft. Eine tatsächliche Schonung und nachhaltige Bewirtschaftung dieser Bestände wird nicht in deren Interesse liegen, obwohl Japan, auch hier gemeinsam mit Deutschland, Waldschutzprojekte fördert.

Hermes bürgt weiter

Die Meldung steht bisher von deutscher Seite undementiert im Raum: Der chilenische Staatspräsident Ricardo Lagos und Bundeskanzler Schröder hätten sich auf die Lieferung von vier Fregatten an das südamerikanische Land geeinigt. Der Rüstungsauftrag über 1,4 Milliarden Mark werde durch eine Hermes-Bürgschaft abgesichert. Auch wenn Lagos den Vollzug des Rüstungsgeschäftes bei seinem Deutschland-Besuch noch dementiert hat, Hermes bleibt trotz aller im rot-grünen Koalitionsvertrag angekündigten Reformbestrebungen, was es war: eine exportfördernde Maßnahme mit einem Kriterium: Gut ist, was für die deutschen Exporteure gut ist. Dabei war im Koalitionsvertrag vollmundig angekündigt worden, dass Umweltstandards und Transparenz künftig verhindern sollten, dass mit staatlicher Absicherung dubiose Rüstungsgeschäfte, Atomkraftwerke, Staudämme etc. gefördert werden. Zweieinhalb Jahre brauchte die Regierung, um statt einer Reform wenigstens neue Leitlinien zu verabschieden. Ein Armutszeugnis. Abgesehen davon, dass Nukleartechnologien ausdrücklich nicht mehr gefördert werden sollen, sind die restlichen Verlautbarungen in Sachen Umwelt-, Sozialstandards und Transparenz an Unverbindlichkeit kaum zu überbieten.
Überhaupt zeichnet sich die rot-grüne Regierung durch eine extreme Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit aus. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) befleißigt sich durchaus einer progressiven Rhetorik. Im Anfang Juni vorgestellten 11. entwicklungspolitischen Bericht wird als erste Kernbotschaft vertreten, dass die meisten Probleme der Entwicklungsländer ihre Ursachen in globalen Problemen hätten. Ein Erkenntnisfortschritt zur Vorgängerregierung, die die unzweifelhaft vorhandenen internen Entwicklungshemmnisse in der Dritten Welt zum zentralen Problem hochstilisiert hatte. Doch schon das Argument, mit dem im Entwicklungsbericht für eine neue Entwicklungspolitik geworben wird, lässt aufhorchen: Die Lösung der Probleme der Dritten Welt sei ein Beitrag zur eigenen Zukunftssicherung. Sicher sitzen der Norden und der Süden in einem Boot, was die globalen Probleme angeht, aber mit einer klaren, traditionellen Arbeitsteilung: Der Norden ist der Kapitän und der Süden hat sich zu fügen.
Zukunftssicherung bedeutet auch bei Rot-Grün im Kern, die Zukunft von Angebots- und Absatzmärkten für die eigene Wirtschaft zu sichern: Greencard und Freihandel. Während der schändliche Asylkompromiss von Rot-Grün unangetas-tet bleibt, wurde mit der Greencard flugs auf personelle Engpässe im Informationstechnologiesektor reagiert. Während selbst das Innenminis-terium verlautbart, dass die Fluchtursachen in den Ländern vor Ort bekämpft werden müssten, werden gleichzeitig die Mittel für die Grenzsicherung aufgestockt und für die Vorort-Projekte zusammengestrichen.
Sicher hat Deutschland als erstes Land ein Aktionsprogramm zur Armutsbekämpfung beschlossen und sicher war es maßgeblich am Schuldenerlass für die ärmsten Länder beteiligt – ein Schritt in die richtige Richtung, dem freilich noch weit umfassendere folgen müssten. Doch das ändert nichts an der Grundtendenz. Die als entwicklungspolitische Fortschritte verkauften Initiativen, wie die Marktöffnung der Europäischen Union für die am wenigsten entwickelten Länder (LDCs) und das neue Abkommen mit den Afrika-Karibik-Pazifik-Staaten, setzen offen auf die Segnungen des Freihandels. Dass Freihandel in der Dritten Welt die Ernährungssicherheit untergräbt, weil die heimischen Bauern gegenüber den Agrarmultis chancenlos sind, wird nicht thematisiert.
Entwicklungspolitisch wird gemacht, was sich symbolisch gut verkaufen lässt und faktisch kaum was kostet, sei es der begrenzte Schuldenerlass oder die begrenzte Marktöffnung. Dass die Bundesregierung den Etat des BMZ im nächs-ten Jahr um 4,3 Prozent auf 7,108 Milliarden senken will, passt da perfekt ins Bild. Mit dem dann tiefsten Stand der Entwicklungshilfe der letzten zehn Jahre müssten all die zusätzlichen Verpflichtungen angegangen werden, denen sich Rot-Grün verschrieben hat, ob Armuts- oder Aidsbekämpfung. Wie das gehen soll, bleibt ein offenes Geheimnis.

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