„Die Gesellschaft hat in ihr Spiegelbild geschaut“

Im Juli letzten Jahres veröffentlichten Sie einen Zeitungsartikel mit dem Titel „Eine Wahrheitskommission – und was dann?“. An dessen Ende resümierten Sie, es bleibe offen, ob die von Ihnen geleitete Kommission ihr wichtigstes Ziel, nämlich zur nationalen Aussöhnung Guatemalas beizutragen, erreicht habe. Halten Sie die Arbeit der Kommission dennoch für erfolgreich?

Ich denke schon, dass die Arbeit der Kommission fruchtbar gewesen ist. Allein die Aufklärung der geschichtlichen Vorgänge wird für Guatemala insgesamt von großem Nutzen sein. Denn es bestand ja nach dem Ende des Konfliktes überhaupt Unklarheit darüber, was nun eigentlich vorgefallen war, wie viele Menschen umgekommen waren, ob es etwa Völkermord gegeben hatte. Diese Fragen sind beantwortet worden, und das ist ein Gewinn. Man weiß nun, wie die eigene Vergangenheit aussieht. Was man damit anfängt, wie eine Gesellschaft sich darauf einlässt, das ist natürlich eine andere Frage. Die kann eine Kommission nicht beantworten, sie kann auch der Gesellschaft nichts vorschreiben. Aber ich denke schon, dass die guatemaltekische Gesellschaft langfristig daraus Nutzen ziehen wird, dass sie in ihr eigenes Spiegelbild geschaut hat.
Natürlich kommt dann eine zweite Phase, in der es darum geht, entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Das ist der schwierige Abschnitt, in dem sich die Gesellschaft heute befindet. Wenn man im Augenblick etwa über das Internet die guatemaltekischen Zeitungen liest, dann stellt man fest, dass der Kommissionsbericht in der gegenwärtigen Diskussion nur eine geringe Rolle, ja fast gar keine Rolle spielt. Aber dennoch meine ich, dass er nicht völlig in Vergessenheit geraten ist.

Das der Kommission zugrunde liegende Osloer Abkommen von 1994 legte fest, dass, anders als in anderen Wahrheitskommissionen die Verantwortlichkeiten in Guatemala nicht „individualisiert“ werden sollten. Waren Sie mit diesem beschränkten Mandat einverstanden?

Wir haben lange darüber nachgedacht und haben viele interne Diskussionen gehabt. Doch letztlich waren wir froh darüber, dass sich unsere Aufgabe darauf beschränkte, institutionelle Verantwortlichkeiten festzustellen. Wir wären gar nicht in der Lage gewesen, Täter zu ermitteln. Das hätte wirklich unsere Kräfte überstiegen, wir hatten ja nur einen sehr begrenzten Zeitraum. Und es hat sich im Laufe der Ermittlungen auch herausgestellt, dass man auf dem Lande tatsächlich häufig nicht wusste, ob eine bestimmte Gewalttat von Angehörigen der Armee oder der Guerilla begangen worden war. Dann zu klären, wem man im Einzelnen die Verantwortung zuschreiben muss, wäre überhaupt nicht möglich gewesen.
Es ist uns auch nicht gelungen, im Einzelnen zu klären, wer innerhalb des Regierungsapparates die „Spinne im Netz“ war, von der die Befehle ausgegangen sind. Bei unseren Gesprächen mit Guatemalteken, auch hochgestellten Persönlichkeiten und ehemaligen Ministern, hat sich herausgestellt, dass sie selbst häufig gar nicht wussten, was vor sich ging. Es hat wohl verschiedene Zentren der Macht gegeben, vielleicht ähnlich wie im Hitlerreich, wo ja teilweise die Dienststellen auch gegeneinander gearbeitet haben und man gar nicht recht wusste, wer für bestimmte Dinge verantwortlich ist. In einer Diktatur, in der es Recht und Gesetz nicht gibt, können sich natürlich einzelne verbrecherische Elemente selbständig machen.

Gab es für Sie ein Spannungsverhältnis zwischen dem Kommissionsziel der nationalen Versöhnung und der Empfehlung im abschließenden Kommissionsbericht vom Februar 1999, in Guatemala eine strafrechtliche Aufarbeitung zu beginnen?

Nein. Wir haben in dem Bericht ja keine eigenständige Empfehlung ausgesprochen, sondern nur festgestellt, dass der nationale Gesetzgeber in Guatemala im „Gesetz über die nationale Aussöhnung“ eine bestimmte Entscheidung getroffen hatte. Und diese Entscheidung hielten wir auch für richtig, und haben uns ihr daher angeschlossen.

Im März dieses Jahres eröffnete ein spanisches Gericht, die Audiencia Nacional, Ermittlungsverfahren wegen Völkermordes gegen acht politische Führungspersönlichkeiten Guatemalas, unter anderem die früheren Staatspräsidenten Romeo Lucas García und Ríos Montt. Es drängt sich eine Parallele zum Fall Pinochet auf. Doch können im Fall von Guatemala tatsächlich strafrechtliche Bemühungen von außen den Anstoß geben zu einer wirksamen Strafverfolgung durch die noch derart zerrüttete guatemaltekische Justiz?

Das ist die Frage. Ich muss leider sagen, dass ich kein großes Vertrauen in die guatemaltekische Justiz setze. Ich habe in Guatemala eine ganze Reihe von Strafverfahren über die Jahre verfolgt: das Strafverfahren gegen die mutmaßlichen Mörder von Myrna Mack, dasjenige gegen die mutmaßlichen Mörder des Bischofs Gerardi. Und ich weiß, dass jedes Gerichtsverfahren, das irgendeinen politischen Hintergrund hat, außerordentlichen Schwierigkeiten begegnet. Ich gebe mich keinerlei Illusionen hin, dass nun die Justiz – die Staatsanwaltschaft insbesondere – irgendwann beginnen könnte, Ermittlungen wegen Völkermordes einzuleiten. Ich glaube, dafür ist sie einfach zu schwach und hat nicht das notwendige rechtstaatliche Profil. Sie steht zu stark unter politischem Druck, das ist leider ein ungutes Erbe der Vergangenheit in Guatemala. Dennoch hat es immer wieder einzelne sehr mutige Richter gegeben. Es ist nicht so, dass ich das Justizwesen insgesamt verdamme – ihr allerschwächster Punkt ist die Staatsanwaltschaft.

Was erhoffen Sie sich über den südamerikanischen Kontext hinaus von der Internationalisierung des Strafrechts, insbesondere von einem Funktionieren des 1998 in Rom geschaffenen Internationalen Strafgerichtshofes?

Vor allem eine gewisse Präventivwirkung. Man kann ja gegenwärtig wieder feststellen, dass die Strafverfolgung im Lande der Täter selbst in der Regel nicht effektiv ist. Man sieht das am heutigen Jugoslawien, wo noch nicht einmal ein Mann wie Mladic, der ein vielfacher Massenmörder ist, vor Gericht gestellt wird. Da braucht es eine internationale Gerichtsbarkeit.
Man muss natürlich dieses Instrument der internationalen Strafgerichtsbarkeit mit Augenmaß handhaben, man kann niemals ein ganzes Volk aburteilen. Es wird immer nur darum gehen, die Rädelsführer anzuklagen. Aber die sollten nun wirklich auch vor einen Richter kommen. Anderenfalls bleibt der Verdacht einer Kollektivschuld an einem gesamten Volk hängen. In der Strafverfolgung liegt die große Chance, dass die Verantwortlichkeiten klar festgestellt werden.

Die ehemalige Regierung Arzú wie auch die Streitkräfte hatten Ihrer Kommission gegenüber eine hartnäckige Verweigerungshaltung eingenommen, sie gar in ihrer Arbeit behindert. Glauben Sie, dass der seit Januar 2000 amtierende neue Präsident Portillo sein Versprechen den Empfehlungen der Komission Folge zu leisten einlösen wird?

Ich kann dazu nur feststellen, dass offenbar die Abnutzung der Macht schon weit vorangeschritten ist, also die Regierung Portillo im Laufe ihrer Amtsführung schon stark an Prestige eingebüßt hat. Portillo wird daher aller Voraussicht nach nicht in der Lage sein, die von ihm gegebenen Versprechungen einzulösen. Das ist wohl etwas, an dem man nicht mehr vorbeisehen kann.

Welche der von Ihrer Kommission vorgeschlagenen Entschädigungs- beziehungsweise Wiedergutmachungsmaßnahmen wurden denn bisher umgesetzt?

Soweit ich es zu beurteilen vermag, ist bisher nichts geschehen. Das gesamte Programm, das die Kommission – durchaus mit einer gewissen Zurückhaltung – ausgearbeitet hat, harrt noch der Verwirklichung. Und je größer die zeitliche Entfernung zu den Geschehnissen wird, umso geringer wird die Chance, dass man tatsächlich einmal damit beginnt, die Vergangenheit aufzuarbeiten.
Guatemala ist im übrigen auch ein Land, in dem die Alltagsprobleme, insbesondere die permanente wirtschaftliche Krise, so drängend sind, dass man kaum Zeit hat, sich zurückzulehnen und einmal auf die Vergangenheit zu schauen. Die große Mehrheit der Bevölkerung lebt daher ohne viel geschichtliches Bewusstsein.

Hielten Sie es für sinnvoll, die Entwicklungshilfe von Geberländern wie Deutschland stärker zu konditionieren, etwa Hilfen einzufrieren im Fall der dauerhaften Nichtumsetzung der Empfehlungen der Wahrheitskommission? Wäre dies ein Weg, wirksam Druck auf die Regierung Portillo auszuüben?

Ich bin keineswegs dagegen, dass man von außen Druck ausübt; in vielen Ländern erweist sich ein solcher Druck auch als durchaus fruchtbar. Bloß fragt sich eben, in welcher Form man dies macht. Maßnahmen des Auslands sollen wirklich zum Erfolg führen und nicht zu Verhärtungen. Sie sollen den Opfern nutzen. Da braucht man eine sehr geschickte Hand. Mit dem Knüppel draufzuhauen bringt im Allgemeinen keine Ergebnisse.

Welche konkreten Wiedergutmachungsmaßnahmen finanzieller wie auch moralischer Art sollten denn ihrer Ansicht nach in Guatemala ergriffen werden?

Wichtig wäre etwa, dass der Staat sich daran beteiligt, die illegalen Massengräber aufzuspüren. Den Menschen liegt sehr viel daran, dass ihre Angehörigen eine angemessene religiöse Bestattung erhalten. Dann denke ich auch, dass es eine Gruppe von Menschen gibt, die in größte Not geraten sind und denen man eine Entschädigung gewähren sollte. Das sind etwa Witwen, das sind ältere Personen, die ihre Kinder verloren haben und die nun völlig ohne jede Alterssicherung dastehen. Ich bin mir bewusst, dass Guatemala kein reiches Land ist und dass man nicht erwarten kann, dass jeder Schaden ausgeglichen wird, der durch den Konflikt verursacht worden ist. Doch den am schlimmsten Betroffenen sollte man einen Ausgleich gewähren.

Welche Bedeutung hat für Sie insofern die Nichtumsetzung der Empfehlung der Kommission, die Opfer zu entschädigen?

Dies ist natürlich sehr betrüblich. Doch würde ich den Erfolg der Kommission nicht allein daran messen. Da gibt es eine formelle Seite, auf der die Bilanz der Kommissionsarbeit sehr ungünstig aussehen würde. Es gibt da aber auch die informelle Seite, den ganzen Aspekt der Aufklärung. Wie ich schon eingangs sagte: dass Guatemala in sein Spiegelbild geschaut hat, ist ein bleibender Gewinn für das Land.

In den letzten Monaten ist die politisch motivierte Gewalt in Guatemala wieder gewachsen: es wurden mehrere Campesino-Aktivisten und Gewerkschafter ermordet und Drohungen gegen JournalistInnen, MenschenrechtsaktivistInnen und ZeugInnen in Gerichtsverfahren gegen die Militärangehörigen ausgesprochen. Wie beurteilen Sie diese negative Entwicklung?

Es ist klar, dass in Guatemala ein Zustand innerer Befriedung schwer zu erreichen ist. Ich habe kürzlich noch gelesen, dass ein Anwalt den Antrag gestellt hat, die mutmaßlichen Mörder von Bischof Gerardi aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Das ist eine weitere Facette in diesem etwas düsteren Bild.
Es wäre Guatemala wirklich sehr zu wünschen, dass das Land zu einer gewissen Ruhe und damit in die Lage kommt, seine Probleme zu lösen, die natürlich auch wirtschaftliche und soziale Ursachen haben. Es ist wirklich sozialer Sprengstoff vorhanden, das darf man nicht übersehen. Aber zu einem nicht unbeträchtlichen Teil ist das wiederum auf das Versagen des Staates zurückzuführen: dass das Erziehungssystem so schlecht ist, dass es nach wie vor so viele Analphabeten gibt. Ich denke, der Kampf gegen den Analphabetismus muss in Guatemala Priorität haben, um jedermann eine echte Möglichkeit der Entfaltung seiner Persönlichkeit in einer komplexer gewordenen Umwelt zu geben.

Wie sehr sahen Sie sich selbst in Gefahr Opfer von Gewalt zu werden, insbesondere nach ihrer Rede im Nationaltheater von Guatemala am 25. Februar 1999, in der Sie so deutlich – wenn auch ohne Namen zu nennen – die Verantwortlichkeiten für die Menschenrechtsverletzungen während des über drei Jahrzehnte dauernden Konflikts herausstellten?

Ich habe damals zwei Tage später das Land verlassen. Aber ich war auch in diesem Jahr wieder für eine Woche in Guatemala, ohne dass ich mich in Gefahr gefühlt hätte. Man weiß das allerdings nie genau. Die Zeit der Tätigkeit in dem Lande war wohl insgesamt nicht ungefährlich für mich, auch wenn man das nicht dramatisieren sollte.

Welche Kriterien sollten Ihren Erfahrungen zufolge grundsätzlich bei der Schaffung und Durchführung einer Wahrheitskommission beachtet werden, etwa bei der nun geplanten Kommission für Ex-Jugoslawien?

Das hängt immer sehr von den konkreten Umständen ab. In einem Lande, wo die Militärs noch an den Hebeln der Macht sitzen, kann man natürlich nicht mit der gleichen Direktheit und Offenheit vorgehen wie in einem Lande, in dem sich demokratische Verhältnisse schon durchgesetzt haben. Ich glaube deswegen auch nicht, dass man verallgemeinerungsfähige Regeln für alle Wahrheitskommissionen aufstellen kann. So fragt sich zum Beispiel im Hinblick auf das Problem der Amnestien, ob es solche Amnestien geben soll, in welchem Umfang, bis zu welcher Stufe der Verantwortlichkeit? All dies sind sehr schwierige Fragen, die sich nicht allgemein beantworten lassen.

Interview: Niels Müllensiefen

KASTEN:
Im Februar 1997 wurde der Berliner Staats- und Völkerrechtsprofessor Christian Tomuschat vom Generalsekretär der Vereinten Nationen zum Koordinator der „Kommission zur Aufklärung der Vergangenheit“ für Guatemala (CEH) ernannt. Erstmals in der noch jungen Geschichte der Wahrheitskommissionen war eine gemischte Zusammensetzung vorgesehen: mit einem ausländischen Kommissionsleiter und zwei guatemaltekischen Mitgliedern. Der heute 64 jährige Tomuschat rief den Anwalt Alfredo Balsells und die Pädagogin Otilia Lux de Cotí an seine Seite. Zunächst geriet die Kommission aufgrund ihres begrenzten Mandats – Verantwortlichkeiten sollten nicht „individualisiert“ werden – in die Kritik. Doch bei der abschließenden Übergabe des Kommissionsberichts am 25. Februar 1999 hielt Tomuschat eine vielbeachtete, als historisch bezeichnete Rede, in der er mit Direktheit, ohne nur einen Namen zu nennen, die Verantwortlichen für die jahrzehntelange Repression in Guatemala „benannte“ (vgl. LN 297). 93 Prozent der Menschenrechtsverletzungen seien von staatlichen oder vom Staat kontrollierten Kräften verübt worden. Tomuschat forderte die damalige Regierung Arzú auf, sich gegenüber der guatemaltekischen Gesellschaft für die kriminellen Handlungen ihrer Vorgänger zu entschuldigen.

„Die Vereidigung Fujimoris muss verhindert werden“

Neben Ihrer Beratertätigkeit für Toledo sind Sie Präsident des Demokratischen Forums in Peru. Erzählen Sie uns etwas über diese Organisation.

Die Gründung des Demokratischen Forums war eine Anwort auf den Putsch Fujimoris im Jahre 1992. Ursprünglich verstand sich das Forum nicht als Oppositionsbewegung, sondern als Bündnis zur Stärkung der staatlichen Institutionen und der Demokratie. Bekannt wurden wir durch die Unterschriftensammlung für ein Referendum gegen die verfassungswidrige dritte Kandidatur Fujimoris. Wir bekamen 1,5 Millionen Unterschriften zusammen. Das reicht laut Verfassung für ein Referendum aus. Aber die Regierung erkannte die Unterschriften nicht an.

Welche Rolle kann das Forum bei der Organisation des Widerstands gegen Fujimori nach dessen Wahlbetrug spielen?

Die Protestbewegung gegen Fujimori hat sich erst in den letzten Wochen formiert. Wir haben Massendemonstrationen in verschiedenen Teilen des Landes erlebt. Das wäre noch vor wenigen Monaten unvorstellbar gewesen. Nach dem Wahlbetrug muss das oberste Ziel der Rücktritt Fujimoris sein. Erst danach kann eine Demokratisierung eingeleitet werden. Das Demokratische Forum will dazu beitragen, dass Strukturen geschaffen werden, die eine Fortsetzung des Widerstands garantieren.
Müssen sich solche Strukturen nicht von unten bilden, innerhalb der

Gewerkschaften, der Universitäten oder der pueblos jóvenes, der armen Randzonen der Städte?

Ja. Deswegen will das Demokratische Forum bei der Vernetzung der einzelnen Gruppen helfen. Es bilden sich fast täglich neue Komitees, die sich am Widerstand beteiligen. Die Studenten und die Gewerkschaften spielen eine herausragende Rolle in der Protestbewegung. Besonders die jungen Leute haben aber starke Vorbehalte gegenüber den Vertretern der politischen Parteien, die zum Teil auch im Demokratischen Forum vertreten sind. In den pueblos jóvenes tut sich wenig. Dort rekrutiert Fujimori den Großteil seiner Wähler. Er fährt oft in die Randbezirke Limas und verschenkt Lebensmittel, die zum großen Teil aus der internationalen Entwicklungshilfe stammen. Und er droht mit der Streichung dieser Hilfe, wenn gegen die Regierung protestiert wird.

Welche Rolle spielt Alejandro Toledo bei der Organisation des Widerstands?

Alejandro Toledo hat in den letzten Monaten einen unglaublichen Aufstieg erlebt. Alle demokratischen Kräfte im Land unterstützten ihn bei den Wahlen. Er ist der Kopf der demokratischen Bewegung, und er versteht es, die Menschen zu mobilisieren. Am Wahlabend brachte er über 60.000 Demonstranten in Lima zusammen. Toledo steht auch für die Gewaltfreiheit des Widerstands. Das ist ein wichtiger Punkt, denn das Trauma des Bürgerkriegs mit dem Leuchtenden Pfad ist noch nicht überwunden.

Was ist vom neu gewählten Parlament zu erwarten? Die Opposition hat dort die Mehrheit und könnte die Präsidentschaft als vakant erklären.

Ich erwarte nichts vom Parlament. Die Regierung wird versuchen, Abgeordnete der Opposition zu kaufen. Erste Bestechungsversuche sind schon vor der Zusammenkunft des neuen Parlaments bekannt geworden.

Vorläufiger Höhepunkt des Widerstands gegen Fujimori soll eine machtvolle Demonstration am 28. Juli sein, wenn die neue Regierung vereidigt wird.
Toledo hat angekündigt, er wolle vier Millionen Menschen aus dem ganzen Land mobilisieren. Ist diese Zahl realistisch?

Nein, das ist sie nicht. Ich rechne mit gut 100.000 Teilnehmern. Geplant ist ein nationaler Marsch aus verschiedenen Richtungen auf Lima vom 26. bis zum 28. Juli. Die Vereidigung Fujimoris muss verhindert werden.

Was erwarten Sie sich von Ihrem Aufenthalt in Deutschland?

Der Wahlbetrug ist keine innere Angelegenheit Perus. Die Globalisierung darf nicht bei der Wahrung der Menschenrechte und dem Aufbau demokratischer Strukturen Halt machen. Insofern wäre es wünschenswert, dass sich auch die Bundesregierung einmischt. Nur wirtschaftliche Sanktionen wollen wir nicht. Ansonsten versuche ich Unterstützung für die demokratische Bewegung in Peru zu bekommen. Dabei geht es nicht nur um finanzielle Aspekte. Auch moralische Unterstützung aus der Solidaritätsbewegung ist wichtig.

Wie schätzen Sie die Überlebenschancen der Regierung Fujimori ein? Es gibt Gerüchte, Fujimori könnte unter Druck zurücktreten und seinem Stellvertreter Francisco Tudela die Präsidentenschärpe überreichen. Wäre damit dem Widerstand die Spitze genommen?

Der eigentlich mächtige Mann hinter Fujimori ist der Geheimdienstchef Vladimiro Montesinos. Er ist der Gründer der Todesschwadron „Colina“, die für Morde und Massaker verantwortlich zeichnet. Alle Peruaner wissen: Es geht um eine Gruppe an der Macht, zu der auch die Armeespitze gehört. Der Präsident ist innerhalb dieser Gruppe austauschbar. Deshalb täte ein solcher Wechsel dem Widerstand keinen Abbruch. Tudela, ein Repräsentant der weißen Oberschicht, hätte außerdem in den pueblos jóvenes weniger Chancen als Fujimori. Wie lange die Regierung überlebt, kann ich nicht voraussagen. Vielleicht ein paar Wochen, vielleicht bis Weihnachten, vielleicht aber auch länger.

Warum klammert sich die Regierung Fujimori derart an die Macht?

Die Regierung und die Spitze der Armee sind in zahlreiche Korruptionsskandale verwickelt. Montesinos verbucht beispielsweise auf einem seiner Konten im Laufe eines Jahres Einnahmen von 2,6 Millionen US-Dollar. Im Übrigen hat sich herumgesprochen, dass Verbrechen verantwortlicher Politiker auch international verfolgt werden. Vor allem Montesinos muss mit diversen Anklagen rechnen.

Kasten: Judaslohn für Abgeordnete

Die peruanische Regierung auf dem Weg zur Parlamentsmehrheit

Präsident Fujimori zog seinen Wahlschwindel unter internationaler Beobachtung nicht bis zur letzten Konsequenz durch. Bei den Parlamentswahlen erreichte seine Liste Perú 2000 nur 52 von 120 Sitzen. Die Regierungsmafia ist dabei, diesen Schönheitsfehler auszubügeln. Koste es, was es wolle.

Luis Cáceres Velásquez gibt offen zu, ein Bewunderer Hitlers zu sein. Doch bei den peruanischen Parlamentswahlen entschied sich der Politiker für eine Kandidatur auf der Liste eines religiösen Führers – der des rauschebärtigen Predigers Ezequil Ataucusi. Cáceres und sein Sohn Róger Cáceres Pérez waren die einzigen Kandidaten auf der Liste der Gottesfürchtigen, die auch gewählt wurden. Aber leider ist Luis Cáceres vorbestraft, weil er einst als Bürgermeister der Stadt Arequipa Krankenwagen unterschlug, die in seiner Kommune als Spende eingegangen waren. Deshalb annullierte das oberste peruanische Wahlgremium JNE seine Wahl. Nun entschied sich Cáceres zu einem Fahnenwechsel und schloss sich gemeinsam mit seinem Sohn Fujimoris Liste Perú 2000 an, die aufgrund der Fälschung von einer Million Unterschriften zur Wahl zugelassen wurde (vgl. LN 310).
Luis Cáceres hatte richtig kalkuliert. Er wurde postwendend vom obersten Gerichtshof begnadigt. Sein erst wenige Jahre zurückliegendes Verbrechen wurde für verjährt erklärt. Mithin annullierte auch das JNE seine Entscheidung und gab Cáceres seinen Abgeordnetensitz zurück. Der glückliche Abgeordnete versprach, noch weitere Oppositionskandidaten für Fujimoris Liste zu werben.
Ob Cáceres zusätzlich Geld von der Regierungsmafia kassiert hat, ist unbekannt. Doch fünf gewählte Oppositionsabgeordnete gaben zu, ein konkretes Angebot für einen Wechsel ins Regierungslager erhalten zu haben. Ein künftiger Abgeordnete für Toledos Parlamentsgruppe Perú Posible, Leoncio Torres, nannte konkrete Zahlen: Sein Judaslohn sollte 50.000 US-Dollar auf die Hand und noch mal 10.000 US-Dollar monatlich betragen. Torres lehnte ab. Andere gaben zu, dass ihnen Filetgrundstücke in den besseren Zonen Limas angeboten wurden.
Wie dem auch sei, fest steht, dass einen Monat vor Beginn der neuen Legislaturperiode am 28. Juli mit Vater und Sohn Cáceres bereits acht gewählte Oppositionsabgeordnete definitiv ins Regierungslager übergewechselt sind. Damit gäbe es im Parlament eine Pattsituation. Doch es kann davon ausgegangen werden, dass Fujimori und sein Geheimdienstchef Montesinos ihre Überzeugungsarbeit erfolgreich fortsetzen werden. Im Interesse einer stabilen Regierung.

Neue Seite im Reisekatalog

Noch Ende der 60er Jahre erschien der Ferntourismus – das zunehmend massenhafte Reisen von TouristInnen aus Europa (und den USA) in Länder des Südens – als Hoffnungsträger für die wirtschaftliche Entwicklung vieler Länder der Dritten Welt. Ganz im Zeichen dieser Euphorie erklärten die Vereinten Nationen (UN) das Jahr 1967 zum Jahr des Ferntourismus.

Entwicklung für die bereisten Gesellschaften

Die im Vergleich zu anderen Wirtschaftszweigen vermeintlich „weiße Industrie ohne Schornsteine“ habe keine oder vergleichsweise geringe negative Auswirkungen auf die Umwelt, erklärten die Theoretiker der Entwicklungshilfe. Als Instrument der „nachholenden Entwicklung“ würde Tourismus vor allem auch die Modernisierung der bereisten Gesellschaften voranbringen.
Diese Illusionen sind längst zerstört. Die verheerenden Auswirkungen auf Boden, Wasser, Flora und Fauna, sowie auf die sozialen und kulturellen Lebensbedingungen der lokalen Bevölkerung sind zahlreich dokumentiert. Nach vielen Fehlschlägen und massiver Kritik zog sich die Entwicklungshilfe aus der Tourismusförderung zurück.
Heute ist sie allerdings wieder da – die Tourismusförderung. Mit Ökotourismus scheint nun ein wirtschaftliches Instrument „nachhaltiger Entwicklung“ gefunden, das nicht nur „umweltschonend“ ist (wie noch die „weiße Industrie”). Diese besondere Form des Tourismus soll als „grüne Industrie“ sogar zum Schutz von Natur und Umwelt beitragen. Und wieder springt die UN euphorisch wie vor 33 Jahren auf den Zug, und erklärt das Jahr 2002 zum Internationalen Jahr des Ökotourismus.

Per Flugzeug in den Urwald

Schon jetzt vermarkten Tourenveranstalter gerade in Lateinamerika jeden Kurztrip per Flugzeug in den Urwald, Jeep-Fahrten durch die Wüste oder Rafting durch die Canyons der Anden als Ecoaventura oder Ecotour. Natürlich gibt es inzwischen Angebote, die eine ökologische Form des Reisens mit dem Ziel nahelegen, Naturschutz zu finanzieren und die lokale Bevölkerung am Profit teilhaben zu lassen.
Am einen Ende des Interessenspektrums findet man diejenigen, die Ökotourismus als Instrument zur Finanzierung des Naturschutzes sehen. Auf der anderen Seite steht der Nutzen, sprich der Konsum der Natur – möglichst einer unverdorbenen „heilen“ Wildnis – an erster Stelle. Tourismus im Dienst der Natur oder Natur im Dienst des Tourismus: Gemeinsam ist allen Akteuren die Tatsache, dass Tourismus in jedem Fall ein Geschäft ist.

Konfliktfeld Natur

Deshalb sind Schutz und Nutzen von Natur gerade im Tourismus nicht so leicht in Einklang zu bringen. Auch beim Ökotourismus bleibt der Widerspruch, dass er seine Grundlage, die Natur, durch die konsumptive Nutzung derselben gefährdet. Bisher gibt es kaum Erfolgsnachrichten, die davon überzeugen konnten, dass Ökotourismus tatsächlich eine „grüne Alternative“ ohne Umweltschäden ist: Müll, der Auf- und Ausbau touristischer Infrastruktur, Stören von Wildtieren, Klimabelastung, Wasserverbrauch u.a. verursachen derzeit in Schutzgebieten immer wieder Probleme.
Oft werden nur die direkten, lokalen Auswirkungen gesehen. Die Langzeitperspektive, indirekte oder weit entfernte Folgen sind häufig ausgeblendet. So lautet die große, immer wieder gestellte und bisher unbeantwortete Frage: Wie viel und welchen Nutzen verträgt die Natur?
Da sie nicht für sich selber sprechen kann, sind (Für)sprecherInnen nötig, die Belastungsgrenzen ziehen und dafür sorgen, dass sie nicht übernutzt und somit zerstört oder verändert wird.
Welche Natur wo und wie weit geschützt werden muss, ist ein gesellschaftlicher Aushandlungsprozess, bei dem innergesellschaftliche und internationale Machtverhältnisse bestimmend sind. Im Nord-Süd-Verhältnis ist damit klar, wer Schutz und Nutzung definiert. Die lokale Bevölkerung der zu schützenden Gebiete hat dabei kaum ein Mitspracherecht.

Indigene raus – Touristen rein?

Das bekommt insbesondere die indigene Bevölkerung des Amazonastieflandes zu spüren. In Peru gibt es seit den 70er Jahren eine nationale Gesetzgebung zu Schutzgebieten. Inzwischen stehen insgesamt 4,29 Prozent der gesamten Staatsfläche unter Schutz. In den Nationalparks ist den Menschen grundsätzlich jede direkte Nutzung der Ressourcen sowie die Besiedlung untersagt.
Nur die wissenschaftliche und touristische „Sondernutzung“ ist erlaubt, soweit mit den Schutzzielen kompatibel. Für den Teil der indigenen Bevölkerung, der innerhalb und in der Nähe der Parks lebt, führen diese Vorschriften zu massiven Einschränkungen ihrer Lebensweise. Indigene Gruppen dürfen nur dann in Schutzgebieten bleiben, wenn sie sich streng an ihre traditionellen Produktions- und Lebensformen halten und kaum oder keinen Kontakt zur nationalen Zivilisation haben.
Jegliche kommerzielle Nutzung der Ressourcen, um – wenn auch bescheiden – für den Markt zu produzieren und sich damit industriell gefertigte Güter kaufen zu können, wird ihnen untersagt. Im Interesse des Naturschutzes werden so Menschen zu einer musealen Lebensführung gezwungen. Eine eigenständige, selbstbestimmte Entwicklung wird ihnen verwehrt. So definiert man Indigene entweder zu einem unbedingt zu schützenden Teil der Natur, zu Objekten des Schutzes von außen – oder sie werden wegen vermeintlicher Bedrohung der Natur zum „freiwilligen“ Verlassen der Schutzgebiete aufgefordert.

Schwieriges Ko-Management der Ecolodge

Anders lief vor vier Jahren ein Projekt am Rande des Nationalparks Bahuaja-Sonene ebenfalls im peruanischen Amazonastiefland. Die indigene Gemeindeorganisation Comunidad de Infierno (CNI) schloss 1996 mit dem peruanischen Tourveranstalter Rainforest Expeditions (RFE) ein Joint Venture über den Bau und das Management der Ecolodge Posada Amazonas am Tambopata River ab. Laut Vertrag erhält die aus 80 Familien bestehende Gemeinde 60 Prozent der Profite, die restlichen 40 Prozent gehen an das Unternehmen. Nach 20 Jahren Laufzeit soll die Lodge samt Inhalt gänzlich in den Besitz der Gemeinde übergehen. Solange die Partnerschaft zwischen CNI und RFE besteht, darf die Gemeinde mit keinem anderen Anbieter zusammenarbeiten; ebenso hat sie sich verpflichtet, in ihrem Territorium kein weiteres Ökotourismusprojekt aufzubauen.
Nach dem kollektiv organisierten Bau der Lodge durch die Gemeindemitglieder stellte sich insbesondere das gemeinsame und gleichberechtigte Ko-Management des Projekts als Problem heraus. Die rassistischen, sozialen und kulturellen Strukturen der peruanischen Gesellschaft machten es den Partnern – städtische Unternehmer aus Cusco und Indigene bzw. Mestizos aus der Gemeinde – sehr schwer, sich als Gleichberechtigte wahrzunehmen. Zudem fehlte die unternehmerische Erfahrung.
Erst nach über einem Jahr Laufzeit gelang es, die Hierarchien innerhalb des Ko-Managements zu mildern. Inzwischen treten die Gemeindemitglieder nicht mehr nur als ArbeiterInnen auf, sondern als EntscheidungsträgerInnen. „Woanders sind die Leute Angestellte, wir sind hier Eigentümer“. Auch auf Seiten des Unternehmens werden die Gemeindemitglieder anders wahrgenommen: „Bisher haben wir gesagt, wo es langgeht, jetzt hören wir zu und überlassen der Gemeinde mehr Entscheidungen“. Dennoch ist dieses Beispiel nach wie vor mit Vorsicht zu behandeln und nicht zu verallgemeinern. Um sagen zu können, unter welchen Bedingungen eine Zusammenarbeit zwischen Privatsektor und lokaler Gemeinde erfolgreich – das heißt für beide Seiten gewinnbringend – verlaufen kann, bedarf es noch viel mehr Erfahrungen.
Neben diesen sehr kleinen Ökotourismusprojekten, deren mäßiger ökonomischer Erfolg meist der Grund ihres Scheiterns ist, gibt es auch staatlich gelenkte und vermarktete ökotouristische Reiseziele. Die Länder Mittelamerikas haben 1996 ein gemeinsames Aktionsprogramm zur Entwicklung des Ökotourismus verabschiedet. Hier wird besonderer Wert auf die „kooperative Identität“ der Region gelegt, um sich als Ökoreiseziel Mittelamerika gemeinsam vermarkten zu können. In den verabschiedeten Programmen wurden umweltpolitische Interessen mit wirtschaftspolitischen Absichten vermischt, ohne zu konkretisieren, was Ökotourismus ist, wo er anfängt und wo er aufhört.
Der Begriff Ökotourismus hatte damit als Instrument in einer Vielzahl von Plänen zum Naturschutzmanagement und zur nachhaltigen Entwicklung Eingang gefunden, bevor der eigentliche Aushandlungsprozess über Grenzen und Definitionen stattgefunden hat.
Der rhetorische Gebrauch machte Mittelamerika quasi über Nacht zu „world’s number one ecotourism destination“ und öffnete zugleich die Türen für Willkür und Missbrauch.

Beispiel Costa Rica

In Costa Rica, dem Vorzeigebeispiel für Ökotourismus, sind Regenwaldzerstörung und Tourismuswachstum gegenläufig. Umso größer ist jetzt die Hoffnung, den Naturschutz über Einnahmen wie Parkgebühren oder Bezahlung von Touristenführern finanzieren zu können.
Ein gelungenes Beispiel scheint hier das Reservat Monteverde, wo 3,5 US-Dollar pro Hektar und Jahr an Einnahmen circa 3,6 US-Dollar an Ausgaben für das Schutzgebietsmanagement gegenüberstehen. Doch der Landesdurchschnitt der anderen 45 Parks ist ernüchternd. Hier kommen nur 0,25 US-Dollar an Einnahmen auf 18,5 US-Dollar Ausgaben – eine Finanzierung des Schutzes scheint völlig illusorisch. Selbst in Monteverde ist die Zukunft des Schutzgebietes so ungewiss wie die wirtschaftlichen Aussichten für die lokale Bevölkerung. Während die Canopy-Tours, die zu 90 Prozent in ausländischer Hand sind, das „sanfte Gondeln mit der Schwebebahn von Baum zu Baum durchs Urwalddach“ als exklusiven Regenwaldschutz-Tourismus anpreisen, sind die ökologischen Auswirkungen auf diesen bisher wenig erforschten Kronenbereich nicht abzuschätzen.
Die Begrenzung auf 100 Besucher täglich ist eine willkürliche Zahl – es gibt keine Erfahrungswerte für den Beginn einer Schädigung des Regenwaldes oder Erkenntnisse aus anderen Gebieten, die übertragbar wären.
Schon plädiert der Vizepräsident der Tourismusvereinigung für 400 BesucherInnen täglich. In einem lokalen Komitee versuchen sich fortschrittsgläubige und entwicklungsskeptische Kräfte gegenseitig zu überzeugen. Santa Elena, ein nahegelegenes Schutzgebiet, konnte dem Druck erst einmal ausweichen, doch auch hier gibt es bereits 12.000 TouristInnen jährlich. Die Besucherzahlen steigen ständig und die angebotenen Touren sind so teuer, dass sich die CostaricanerInnen einen Besuch nicht leisten können. Nicht alle in Monteverde profitieren vom Tourismus. Die Grundstückspreise rund um das Reservat sind enorm gestiegen, viele Bauern werden zu landlosen Saisonarbeitern. 50 Prozent der Unterkünfte und Hotels sind in ausländischer Hand.
Währenddessen ereifern sich Tourismusfachleute über ökologische und soziale Standards. Sie handeln Belastungsgrenzen aus, überschütten den Markt mit einer für die Reisenden völlig unübersichtlichen Menge an Gütesiegeln, die sich kleine, lokale Anbieter selten leisten können und die eher den Großen der Branche das Image aufpolieren. Dabei überschattet die Kontroverse um ökologische und soziale Aspekte die entscheidende Tatsache, dass sich der Ökotourismus primär an marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen misst.
Gerade bei der Vermarktung der Natur tritt eine zweifache Abhängigkeit des Südens vom Norden in Erscheinung. Während die biologische Vielfalt im Süden zu finden ist, bleibt der Ökotourismus auf die Kaufkraft der TouristInnen aus dem Norden angewiesen – und ebenso auf Investitionen zum Aufbau einer ökotouristischen Infrastruktur. Das ökologische und das wirtschaftliche Risiko, dass dieses Wagnis schief gehen kann, trägt allein der Süden.

Dilemma im Ökotourismus

Damit wird das Dilemma im Ökotourismus deutlich: Meist handelt es sich um kleinere Projekte, die oft wenig Vorstellungen von Tourismus und den Erwartungen der TouristInnen haben. Zudem liegen sie häufig in entlegenen Gebiete und damit schwer zugänglich für Reisende. Aus ökonomischer Sicht bleibt der große Erfolg daher oft aus. Auf der anderen Seite bedeutet zu großer Erfolg ebenso eine Gefährdung der Schutzziele – die Galapagos Inseln geben inzwischen ein trauriges Beispiel dafür ab. Denn ein erfolgreiches Ökoreiseziel zieht nicht nur (zu) viele TouristInnen an, sondern auch InländerInnen auf der Suche nach Arbeitsmöglichkeiten.
Damit stellt sich die eingangs aufgeworfene Frage von neuem: geht die Verbindung von Ökologie und Ökonomie im Ökotourismus auf? Gibt es diesen schmalen Grat der Balance zwischen effektivem Schutz und erfolgreichem Nutzen tatsächlich? Oder ist er vielleicht erträumte, herbeigeredete Illusion?
Ökotourismus hat bisher noch nicht beweisen können, wie er die ihm inhärenten Widersprüche lösen kann. Wie soll diese Reiseform ein Instrument nachhaltiger Entwicklung sein, solange es noch keine Alternativen zum Flugverkehr gibt? Denn jedeR ÖkotouristIn ist nur im Naturschutzgebiet öko – solange die BesucherInnen im Flugzeug eingeflogen werden, wird jede Rede vom ökologischen Reisen zur Absurdität.
Bisher konzentrieren sich die meisten Projekte darauf, neue Gebiete (öko)touristisch zu erschließen – eine Ökologisierung des bestehenden Tourismus wird dagegen kaum ernsthaft angegangen. Die Wirtschaftsbranche Tourismus ist ihren Wachstumsimperativen unterworfen, sie muss immer neue Angebote auf den Markt bringen. Derzeit droht Ökotourismus lediglich eine neue Seite im Katalog der Tourismusindustrie zu öffnen. Am Rest des Kataloges ändert sich damit wenig.

Die Autorinnen sind Mitarbeiterinnen bei FernWeh, Forum Tourismus & Kritik im iz3w (Informationszentrum 3. Welt, Freiburg).

Die verschwundenen Wälder von der Küste

Alle schauen nach Amazonien, wenn es um den Regenwald und dessen Zerstörung geht. Oder um die Waldbrände, die mit der Satellitenfernerkundung in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gelangt sind. Brasilholz wächst jedoch nicht in Amazonien, sondern im Atlantischen Küstenwald, der Mata Atlântica, der bereits zu 93 Prozent abgeholzt ist.
Die Mata Atlântica bedeckte ursprünglich zwischen dem 30. und 6. Grad südlicher Breite einen mehr als 3.000 Kilometer langen Küstenstreifen. Dies entsprach 1,3 Millionen Quadratkilometern oder 15 Prozent der Landesfläche Brasiliens. In dieser Region leben heute 100 Millionen Menschen, das sind zwei Drittel der Bevölkerung Brasiliens. Was heute von der Mata Atlântica übrig ist, gleicht einem Flickenteppich. Die Waldzerstörung ist auch heute noch nicht beendet. Nach Zahlen der Nichtregierungsorganisation SOS Mata Atlântica wurden zwischen 1990 und 1995 jährlich noch alamierende 500 Quadratkilometer gerodet. Die Entwaldungsfront liegt heute in Bahia, wo lange Jahrzehnte der Kakaobaum in den aufgelichteten Urwäldern kultiviert wurde. Aber in den achtziger Jahren sind die Kakaopreise verfallen. Heute werden dort die letzten verwertbaren Stämme gefällt und Viehweiden angelegt.
„Deus é grande, mas o mato é maior“ (Gott ist groß, aber der Wald ist größer) hieß es in Brasilien, als sich die ersten Siedler einer schier undurchdringlichen, grünen Wand gegenüber sahen. Und in Zeiten ohne Motorsäge behalf man sich mit Axt und Feuer, um das Land in Besitz zu nehmen. Unberührte Flächen galten als Niemandsland. Allerdings hatten auch die Indigenen durch ihren Brand-Wanderfeldbau die Wälder schon immer verändert.
In rascher Folge – in Zyklen, wie man in Brasilien sagt – wurden die reichen Waldökosysteme in landwirtschaftliche Produktions- und Siedlungsflächen umgewandelt. Der anfänglichen Ausbeutung des Brasilholzes folgte der Zyklus der Zuckerrohrproduktion. Der Jesuitenpater André Antonil lehrte Anfang des 18. Jahrhunderts, man solle das Kulturhindernis Wald abbrennen, um Flächen für den Zuckerrohranbau zu erhalten. Die Flächen waren unermesslich und man wähnte sich im Paradies. Bei der Gold- und Edelsteinsuche wurden ganze Landstriche umgegraben, was bis heute in Minas Gerais oder der Chapada Diamantina von Bahia noch sichtbar ist. Fruchtbaren, frisch gerodeten Urwaldboden benötigt auch der aus Afrika stammende Kaffeestrauch, der in den Schatten des sich auflösenden Urwalds gepflanzt wurde. Erst mit den Methoden moderner Landwirtschaft, die auf Ertragsmaximierung durch Monokulturen setzt, wurde der Kaffee im Laufe dieses Jahrhunderts auf freie Flächen gesetzt. Zeitzeugen berichten, dass für jeden Hektar Kaffeepflanzung fünf bis zehn Hektar Wald durch unkontrolliertes Abbrennen verloren gingen. Mitte der sechziger Jahre wurden die Kaffeesträucher – staatlich subventioniert – großteils gerodet und zur Viehzucht übergegangen.

Aus Wald- werden Graslandschaften

Damit wurden aus hochkomplexen, arten- und biomassereichen Waldökosystemen Graslandschaften, besser gesagt Graswüsten, die weite Teile des brasilianischen Südostens dominieren. Von Desertifikation spricht man heute in diesen waldlosen Regionen, wo früher über 1.000 Millimeter Regen pro Jahr fielen und sich das Klima dramatisch verändert hat. Es waren Waldökosysteme mit bis zu 2.000 verholzten Arten, was weltweit einzigartig ist, und einer immensen Biomasse (Gewicht der Blatt- und Holzmasse). Sie kann bis zu 400-600 Tonnen je Hektar betragen. Das Gras der Weiden bringt es nur auf ca. 60 Tonnen. 90 Prozent der Biomasse ist also verschwunden, wurde in Asche verwandelt oder genutzt. Vertrieben, gejagt und in die Kochtöpfe gewandert ist auch die reiche Fauna. Praktisch ausgestorben ist das größte Säugetier Südamerikas, das Tapir, und der Jaguar, der 20 Quadratkilometer ungestörtes Revier fürs Überleben braucht.
Gibt es tatsächlich keine Möglichkeit, Bäume in der Landschaft – außerhalb von Naturschutzgebieten – zu bewahren, oder sie sogar in die Landwirtschaft zu integrieren? Lösungsansätze dazu fand der deutsche Forstmann Brandis vor 150 Jahren in Indien. Er entwickelte so genannte Agroforstsysteme, die land- und forstwirtschaftliche Nutzung auf derselben Fläche vereinen. Vor ungefähr 20 Jahren sind diese Ideen nach Brasilien gelangt und werden in der Mata Atlântica von Nichtregierungsorganisationen als eine Alternative nachhaltiger Landnutzung propagiert.
Mit den Agroforstsystemen werden beträchtliche Erfolge erzielt. Sie werden von vielen Kleinbauern und -bäuerinnen angenommen und leisten einen wichtigen Beitrag, das Element Baum wieder in die Landschaft einzufügen. Die Entwicklung und Verbreitung dieser Agroforstsysteme wurde im Atlantischen Küstenwald in den vergangenen Jahren stark vom „Pilotprogramm zur Erhaltung der Tropischen Wälder Brasiliens“ (PPG7) gefördert.

Das Pilotprogramm PPG7

Das Pilotprogramm wurde 1990 vor dem Hintergrund weltweit beängstigender Waldzerstörung und Klimaveränderungen von der deutschen Regierung unter Helmut Kohl auf dem G7-Gipfel in Houston angeregt. Die weltweit größte zusammenhängende Tropenwaldfläche der Amazonasregion und seine Bevölkerung wurde als prioritäres Objekt der Schutz- und Entwicklungsbemühungen auserkoren. Bis heute wurden dem ambitiösen, multilateralen Programm von derzeit acht Geberländern über 350 Millionen US-Dollar zur Verfügung gestellt. Koordiniert wird es vom brasilianischen Umweltministerium und der Weltbank, die selbst keine eigenen Gelder zur Verfügung stellt.
In zähen Verhandlungen gelang es den Nichtregierungsorganisationen aus dem brasilianischen Südosten, auf den desolaten Zustand der Mata Atlântica aufmerksam zu machen, so dass dieser ebenfalls in das Programm aufgenommen wurde. Umgesetzt wird das Programm seit 1995 hauptsächlich von Regierungsorganisationen, die Projekte zur nachhaltigen Waldbewirtschaftung, Forschungsaktivitäten, die Einrichtung von Kautschuksammelgebieten und die Demarkierung von Indigenenreservaten durchführen. Nur 10 Prozent der Mittel fließen an so genannte Demonstrationsprojekte. Diese werden von Nichtregierungsorganisationen durchgeführt, die Modelle alternativer Landnutzung und nachhaltiger Entwicklung der ländlichen Gebiete erproben und verbreiten.
45 Prozent der bis heute dem Pilotprogramm zur Verfügung stehenden Mittel stammen von der deutschen Regierung. Diese hat sich die zivilgesellschaftliche Beteiligung an dem komplexen Programm auf die Fahne geschrieben. So gibt es in Brasilien zwei „Beteiligungsnetzwerke“, wie es im Jargon der Entwicklungszusammenarbeit heißt. Das Mata Atlântica-Netzwerk (Rede Mata Atlântica) repräsentiert über 170 stark im Umweltschutz engagierte Organisationen. Die Arbeitsgruppe Amazonien (Grupo de Trabalho Amazônica) umfasst hingegen über 420 Gruppen, von den Kautschukzapfern und Flussanwohnern, bis zu Indio-Organisationen und Landarbeitergewerkschaften. Auf deutscher Seite hat sich 1998 das Tropenwaldnetzwerk Brasilien formiert, das derzeit aus 20 Nichtregierungsorganisationen besteht.
Fünf Jahre nach Beginn des Pilotprogramms macht sich angesichts der hohen Zielsetzungen Ernüchterung breit. Die Waldzerstörung konnte nicht signifikant verringert werden, weder in Amazonien noch in der Mata Atlântica. Das Umweltministerium ist politisch schwach. Es hat wenig Einfluss auf Entwicklungsprogramme und umweltzerstörerische wirtschaftliche Aktivitäten in den abgelegenen Projektgebieten, mit oft am Rande der Legalität handelnden Landesregierungen und Großgrundbesitzern. Mehrere Programmteile haben erst nach großer Verzögerung begonnen oder sich in den schier undurchdringlichen Regelwerken ministerialer Bürokratien Brasiliens und der Geberländer verheddert. Derzeit wird das Pilotprogramm eifrig evaluiert und reorganisiert. Und man versucht, die Anfangserwartungen eines Rückgangs der Entwaldungsraten zu dämpfen oder als Ziel des Programms in Frage zu stellen.
Damit bleibt für die Mata Atlântica und die Menschen, die in und von ihr leben, nur zu hoffen, dass sich die Beobachtung von François R. Vicomte Chateaubriand, einem französischen Staatsmann um 1800, nicht bewahrheitet: „Wälder gehen den Menschen voran, Wüsten folgen ihnen“.

KASTEN:
Was ist KoBra? Wir über uns

Die Kooperation Brasilien – KoBra e.V. ist der Zusammenschluss von deutschen Solidaritätsgruppen, die sich gemeinsam mit brasilianischen Volksbewegungen und basisnahen Organisationen für eine nachhaltige Verbesserung der sozialen, ökonomischen und ökologischen Probleme in Brasilien einsetzen.
Die Aktivitäten der über 70 Mitgliedsgruppen des Netzwerks erstrecken sich von Öffentlichkeitsarbeit über direkte politische Einflussnahme bis zur Unterstützung von Projekten. Das Spektrum der Mitglieder umfasst gewerkschaftlich, kirchlich, studentisch, ökologisch, menschenrechtlich und entwicklungspolitisch orientierte Gruppen. Deren Partner in Brasilien setzen sich aus Basisgemeinden, städtischen und ländlichen Gewerkschaften, Kooperativen, städtischen Bürgerbewegungen, Straßenkinderinitiativen, Frauengruppen, Menschenrechtsorganisationen, Kirchengemeinden, Ökologiegruppen, der Landlosenbewegung usw., sowie ihnen nahestehenden Organisationen zusammen.
Aufgabe von KoBra ist es, den Ideen- und Informationsaustausch zwischen den einzelnen Mitgliedsgruppen zu fördern und die Basis für eine gemeinsame Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit zu schaffen. Die Vernetzung dient dazu, die lokale Arbeit der Gruppen zu unterstützen, durch koordinierte Aktionen den öffentlichen Einfluss zu stärken und eine bundesweite Vertretung nach außen zu schaffen. Außerdem ist KoBra in der europaweiten Vernetzung der Brasiliensolidarität aktiv.
Die halbtags besetzte Geschäftsstelle in Eichstetten dient als Knotenpunkt für Information und Koordination der Aktionen. Ihr unterliegt die Herausgabe des monatlichen Rundbriefs als Forum der Mitgliedsgruppen.
Weitere Informationen zu KoBra, Partnern, Aktivitäten und Links zu den Mitgliedsgruppen finden sich im Internet unter www.kobra-online.org. Rückfragen bitte über die Homepage, per E-mail (kobra-mail@t-online.de) oder Fax 07663/942002, Telefon 07663/942001 oder per Post an KoBra, Hauptstraße 57, D-79356 Eichstetten.

Für jede Droge das richtige Klima

Die ganzen Kokasträucher gehen mir kaputt,“ klagt Israel Lasso mit sorgenvoller Miene. Mit einem Ruck reißt er einen blattlosen Strauch aus der Erde. „Gucken Sie her,“ erklärt er, „die Pflanzen sterben von der Wurzel her ab. Diese Pflanze wirft nichts mehr ab. Na ja, so schlecht ist das gar nicht, dann können wir hier Kaffee pflanzen.“ Der rüstige Mittfünfziger hat offenbar genaue Vorstellungen von dem, was ausländische BesucherInnen hören wollen. Schließlich bekommt er Geld aus einem Entwicklungshilfeprojekt zur Förderung des Anbaus und der Vermarktung von Biokaffee in Drogenanbaugebieten. Das mit dem Kokaanbau ginge sowieso zu Ende, fügt er hinzu. Doch je weiter wir auf seiner Finca vordringen, die sich auf beiden Seiten eines Bächleins mit dem Namen Río Capitanes erstreckt, desto unübersehbarer werden die Kokasträucher. Das intensive gelbliche Grün ihrer Blätter, das sich deutlich vom Dunkelgrün der Kaffeestauden abhebt, verleiht ihnen ein recht gesundes Aussehen.
Doch Israel Lasso lässt sich nicht beirren und weicht Fragen nach der Kokaproduktion zunächst aus. „Außer Kaffee pflanze ich hier vor allem Yucca und Bananen, die ich am Wochenende auf dem Markt verkaufe.“ Doch im Beisein von Jorge Torres, dem Projektverantwortlichen aus der Departementhauptstadt Popayán, taut der Campesino langsam auf. „Koka hat uns hier immer geholfen“, stellt er schließlich inmitten seiner kombinierten Kaffee-Koka-Felder fest, „man kann sie alle drei Monate ernten.“ Verschmitzt blicken seine lebendigen Augen aus dem sonnengegerbten Gesicht, als er erklärt, seinen Hof nun langsam umzustellen. „Für die Sträucher, die eingehen, pflanze ich nicht mehr so viel Koka nach.“
Israel Lassos Fünf-Hektar-Finca Los Naranjitos liegt im abgelegenen Südwesten des südkolumbianischen Departements Cauca. Die asphaltierte Abzweigung von der Panamericana nach Westen endet an der Brücke über den Río Patía, dann gibt es nur noch Schotterpisten. Vom Städtchen Balboa steigt der Weg steil bergauf zur Cordillera Occidental. Die Bergkuppen sind in dichte Wolken gehüllt. Zwischen Schwaden von Bodennebel sind immer wieder frisch gehackte Felder zu erkennen. Saftiggrüne Setzlinge heben sich von der dunkelbraunen Erde ab, fein säuberlich in Reih und Glied angeordnet. Schlafmohn, der Rohstoff für Heroin, gedeiht am besten in höheren Lagen. Fast zwei Stunden Holperstrecke weiter und in erheblich tieferen Lagen liegt der Flecken La Planada. Ein Trampelpfad führt steil von der Schotterstraße bergab. Nach knapp zehnminütigem Fußmarsch endet er auf Lassos Finca. Im Hof trocknen beigebraune Kaffeebohnen in der Sonne, ein Hund und einzelne Hühner laufen herum.
Zeit seines Lebens hat Israel Lasso auf der kleinen Finca gelebt und gearbeitet. Seit mehr als zwanzig Jahren erntet er Kokablätter, den Rohstoff zur Herstellung von Kokain. Er war einer der ersten Campesinos/as in diesem bergigen Teil Kolumbiens, der sich 1994 dem Biokaffeeprojekt der deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) anschloss. Gemeinsam mit den nationalen Kaffeepflanzerorganisationen beziehungsweise deren regionalen Ablegern sowie dem größten deutschen Kaffeeröster, der Firma Kraft-Jacobs-Suchard aus Bremen, will die GTZ in den drei wichtigsten Drogenproduktionsländern Lateinamerikas, in Kolumbien, Peru und Bolivien, einen Beitrag zur Überwindung der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen leisten, die zum Anbau der illegalen Drogen führen. Biologischer Kaffee verspricht den KleinbäuerInnen höhere Gewinne als der bisherige konventionelle Anbau der braunen Bohnen.

Drogenanbau nicht verboten

Das GTZ-Vorhaben unterscheidet sich dabei von früheren Aktivitäten des Drogenbekämpfungsprogramms UNDCP der Vereinten Nationen, das in der Vergangenheit auch im Departement Cauca Anwendung gefunden hatte. Dessen Erfolg fällt im übrigen sehr bescheiden aus. Das rigide, paternalistische und mit erheblichen Finanzmitteln ausgestattete UN-Projekt hat den Drogenanbau nicht merklich zurückgedrängt, aber bei vielen BäuerInnen eine gewisse Anspruchshaltung hinterlassen, mit der auch die GTZ-MitarbeiterInnen anfangs zu kämpfen hatten. UNDCP arbeitet ausschließlich mit BäuerInnen zusammen, die keine Drogen mehr produzieren; teilweise mussten die Koka- oder Mohnpflanzungen eigenhändig unter den Augen der UN-VertreterInnen vernichtet werden. Die GTZ macht dagegen keine konkreten Vorgaben zur Aufteilung des Landes. Jeder kann selbst festlegen, zu welchem Anteil er sein Land mit organischem Kaffee bebaut. Die Fortsetzung des Drogenanbaus ist kein Ausschlusskriterium, die meisten beteiligten KleinbäuerInnen widmen weiterhin ein viertel bis ein drittel Hektar dem Drogenanbau.
Neben Israel Lasso beteiligen sich im Departement Cauca 169 weitere Campesinos/as an dem Biokaffee-Projekt. Nur wenige sind bisher abgesprungen, die meisten bleiben bei der Stange. Nach einer Umstellungszeit von zwei bis drei Jahren bietet organischer Kaffee eine vergleichsweise stabile wirtschaftliche Alternative. Pro Kilo können sie einen Aufpreis von rund einer Mark gegenüber herkömmlich gezogenem Kaffee kassieren. Während früher mit extensivem Anbau nur 700 DM pro Hektar zu verdienen waren, lässt sich der Gewinn mit biologischen Verfahren auf etwa 3.200 DM erhöhen. Das liegt im wesentlichen an der deutlichen Intensivierung der Landwirtschaft, die mit der Umstellung der Produktionsweise verbunden ist. Die Biokaffee-Campesinos/as können den Hektarertrag auf etwa 1.000 Kilogramm Rohkaffee vervierfachen. Trotzdem sind Einkommenseinbußen unvermeidlich, ein abrupter Verzicht auf den Drogenanbau ist von niemandem zu erwarten. Eine einzige Kokaernte auf derselben Fläche bringt schließlich 1.200 DM ein, und der anspruchslose und widerstandsfähige Kokastrauch wirft jedes Jahr bis zu vier Ernten ab. Bei Schlafmohn liegt der Profit noch höher. Bis zu 17.000 DM im Jahr kann ein/e BäuerIn pro Hektar erwirtschaften. Auch dafür sind recht hohe Anfangsinvestitionen erforderlich, die nicht selten von den DrogenhändlerInnen vorfinanziert werden. Viele Campesinos/as begeben sich damit in Abhängigkeit von den lokalen Mafiabossen.

Plazet der Guerilla

In allen drei Andenländern liegen die Projektgebiete in abgelegenen Regionen, in Kolumbien und in Peru mit starker Präsenz von Guerillaorganisationen. Im Cauca sind es in erster Linie die Revolutionären Streitkräfte FARC, die größte und älteste Guerilla des Kontinents, im peruanischen Villa Rica die Revolutionäre Bewegung Tupac Amaru (MRTA), die Ende 1997 durch die Besetzung der japanischen Botschafterresidenz in Lima für weltweites Aufsehen sorgte. Die Organisatoren des Biokaffeeprojektes mussten daher nicht nur die Zustimmung der jeweiligen Regierungen einholen. Für die konkrete Arbeit vor Ort hatten sie sich auch der Akzeptanz durch die aufständischen Gruppen zu versichern. Schwierigkeiten gab es bisher nirgends, die Entwicklungshilfe für die Landbevölkerung in den besonders marginalisierten Gebieten ist offenbar im Sinne der Guerilla.
Gefahr droht eher von anderer Seite. „Viele Leute hier kaufen sich Gewehre, Flinten und Munition,“ berichtet Arnulfo Quinayas. Er ist Präsident der BäuerInnenkooperative Nuevo Futuro in San Antonio, einem zwischen Balboa und La Planada gelegenen Dorf im Südwesten von Cauca, in dem Opiummohn vortrefflich gedeiht. „Sie verdienen mit Koka das schnelle Geld, und dann arbeiten sie nicht mehr, sondern gucken nur, wo sie wem etwas stehlen können. Manche Fahrer wollen schon keinen Kaffee mehr transportieren, weil man ihnen die gesamte Ladung gestohlen hat,“ erzählt er weiter.

Der Mensch lebt nicht von Koka allein

Immer mehr BäuerInnen spüren noch eine andere Folgeerscheinung des steigenden Drogenanbaus. Die hohen kurzfristigen Gewinne haben etliche Campesinos/as dazu gebracht, einen immer größeren Anteil ihres Bodens dem Drogenanbau zu widmen und die Erzeugung lebensnotwendiger Nahrungsmittel zu vernachlässigen. Nun merken die traditionell von der Selbstversorgung lebenden KleinbäuerInnen, dass die Beschaffung von Lebensmitteln nicht nur aufwendig ist, sondern auch einen wachsenden Teil ihrer Einnahmen aus der Drogenproduktion auffrisst. Mit der erneuten Hinwendung zu einem traditionellen Anbauprodukt, nun mit neuen Methoden, besteht die Chance, dass sich die Campesinos/as in den kolumbianischen, peruanischen und bolivianischen Kaffeegebieten auch wieder verstärkt der landwirtschaftlichen Produktion von Grundnahrungsmitteln zuwenden. Und sie können ihre Kenntnisse im ökologischen Kaffeeanbau auf andere Pflanzen wie Mais, Maniok und Bananen anwenden.
Beim Umstieg auf legale Erzeugnisse stehen die Campesinos/as in den Andenländern ziemlich alleine da. Trotz vollmundiger Erklärungen der jeweiligen Regierungen und insbesondere des ehrgeizigen ‘Plan Colombia’ von Präsident Andrés Pastrana hat bisher keines der drei Projektländer ernsthafte Bemühungen an den Tag gelegt, die sozialen Ursachen für den Anbau „illegaler Produkte“ ernsthaft zu bekämpfen. Der Staat bietet bisher keine legalen Alternativen. In den abgelegenen Regionen fehlt es an landwirtschaftlicher Beratung, technischer Unterstützung und bezahlbaren Krediten. Und am nötigen Kleingeld. Der Vizepräsident der Nationaluniversität in Bogotá und renommierte Soziologe Alejo Vargas schätzt die Kosten eines Substitutionsprogramms für Koka allein im kolumbianischen Amazonien mit seiner Anbaufläche von rund 100.000 Hektar auf nicht weniger als 10 Milliarden US-Dollar. „Das überfordert schlichtweg die Kapazität des kolumbianischen Staates,“ beschreibt er das Dilemma, „und braucht eine Vorbereitungszeit von mindestens zehn Jahren.“
In den allermeisten Hochburgen des Drogenanbaus ist der Staat kaum präsent, bietet kaum Infrastruktur und seinen BürgerInnen nur wenig Entwicklungsmöglichkeiten. Dennoch tauchen Polizei und Militär in den betroffenen Regionen sporadisch auf. Wegen ihres oftmals unberechenbaren und brutalen Vorgehens sind sie bei der Landbevölkerung gefürchtet. „Solange wir Koka anbauen, kann jederzeit die Armee oder die Drogenpolizei kommen und uns Ärger machen,“ meint Arnulfo Quinayas von der Kooperative Nuevo Futuro in San Antonio. Drogenanbauende Campesinos/as müssen jederzeit mit Repressalien rechnen. Besonders gefürchtet sind die Giftsprühaktionen der kolumbianischen Antidrogenpolizei und der US-amerikanischen Drogenbehörde DEA. Der chemische Krieg hat vor allem in Kolumbien schon eine lange Tradition. Er begann in den 70er Jahren gegen die Marihuanapflanzungen in der Nähe der Karibikküste. Auf annähernd 30.000 Hektar wurden damals zwei Drittel des auf 10.000 Tonnen geschätzten jährlichen US-Bedarfs geerntet. Die chemische Keule – anfangs hochgiftiges Paraquat, später Glyfosate – konnte die Ausfuhr dieser Droge jedoch nur kurzfristig senken.

Chemischer Luftkrieg mit ökologischen Folgen

Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre lag der Schwerpunkt der kolumbianischen Drogenmafia auf der Verarbeitung von Kokapaste und dem Vertrieb in die Industriestaaten. Kolumbianische Zwischenhändler lieferten vier Fünftel des Kokains für den US-Markt. Der Rohstoff stammte damals aus Peru und Bolivien, die jedes Jahr jeweils 20.000 Tonnen Kokablätter und 50 bis 80 Tonnen „pasta básica“ erzeugten. Mittlerweile hat sich Kolumbien vom wichtigsten Dealer zum größten Produzenten von Koka und Schlafmohn gemausert. Seit 1981 vervierfachte sich die Anbaufläche auf rund 100.000 Hektar. Dabei wurden allein in den letzten fünf Jahren 150.000 Hektar Drogenäcker durch Herbizideinsatz vernichtet. Aber die Rechnung ging nicht auf. Die Giftsprühaktionen trieben die Bauern in unerschlossene Landesteile, wo sie noch weniger Möglichkeiten hatten, Käufer für ihre legalen Erzeugnisse zu finden. Einziger Ausweg: Sie mussten Drogen anbauen, um zu überleben. Viele Experten räumen mittlerweile ein, dass die Strategie der Drogenvernichtung nicht aufgeht. Gouverneur Hernando González Villamizar beklagte jüngst, nach siebenjährigem Gifteinsatz gäbe es in seinem Departement Guaviare mehr Koka denn je.
Derweil nehmen die ökologischen Folgen erschreckende Ausmaße an. Laut kolumbianischen Experten sind bereits 150.000 Hektar Regenwald vergiftet, und wenn es so weitergeht, sind bis 2015 über zwei Drittel des kolumbianischen Urwaldes in Ödland verwandelt. Pro vernichtetem Hektar Mohn sterben zweieinhalb und bei Koka sogar vier Hektar Wald. Diesen Kollateralschäden und der offensichtlichen Erfolglosigkeit zum Trotz halten die Hardliner unbeirrbar an ihrer Strategie fest. Bescheiden machen sich die 40 Millionen für die Förderung alternativer Anbauprodukte gegen das 2,5-Milliarden-Dollar-Budget aus, das die USA in den kommenden Jahren unter anderem in den kolumbianischen Luftkampf gegen DrogenpflanzerInnen pumpen.

Guerilla = Drogen

Der Anti-Narco-Feldzug der USA ist untrennbar mit der Aufstandsbekämpfung verbunden. Mit dem Feindbild, der sogenannten Narcoguerilla, das die enge Verbindung der rechten Paramilitärs zur Drogenmafia bewusst verschweigt, werden zwei Probleme zu einem Gegner zusammengefasst, ganz im Sinne der US-Doktrin der Nationalen Sicherheit. Die Fuerzas Revolucionarias de Colombia (FARC), die größte und älteste Guerilla des Landes, kontrollieren mit ihren 15.000 KämpferInnen weite Teile des kolumbianischen Amazonasbeckens mit ausgedehnten Kokaanbauflächen. Ein besonderer Dorn im Auge der Drogenwächter aus dem Norden ist die Entspannungszone am Rande des Amazonasbeckens, die Präsident Pastrana Anfang 1999 für die FARC räumen ließ, um den Weg zu Friedensverhandlungen frei zu machen. Die USA malen seither den Teufel einer unkontrollierbaren Expansion des Drogenexports an die Wand.
Der Vertreter des UNO-Drogenprogramms in Kolumbien, Klaus Nyholm, widerspricht indes solchen Behauptungen. Die Kokaproduktion habe dort seit dem Abzug der Armee keineswegs zugenommen, konstatierte er im Juli 1999. Der UNO-Experte schrieb den Vertretern des harten Kurses noch etwas anderes ins Stammbuch: In Kolumbien brauche es mehr Zuckerbrot und weniger Peitsche, um das Drogenproblem in den Griff zu bekommen. In den nächsten drei Jahren werden die Vereinten Nationen 5.000 KleinbäuerInnn in der Entspannungszone mit sechs Millionen Dollar bei der Umstellung von Koka auf Kakao, Kautschuk und Viehzucht unter die Arme greifen.
Das Geld für die UNO-Drogenprogramme stammt überwiegend aus den europäischen Industrieländern. Nachdem vor allem der Heroinmissbrauch dort zunehmende gesundheitspolitische Bedeutung bekam, haben sich die Westeuropäer im letzten Jahrzehnt der Suchtmittelbekämpfung in den Erzeugerländern angenommen. Im Unterschied zu den USA, die auf eine repressive Strategie setzen, verfolgt die europäische Drogenbekämpfung die Förderung der alternativen und vor allem der integralen Entwicklung der Andenländer. Die Drogenproduktion ist nur durch die Überwindung ihrer sozioökonomischen Ursachen effektiv zurückzudrängen. Hauptgrund für den Drogenanbau sind die Unterentwicklung und fehlende Absatzmöglichkeiten für andere Produkte auf dem Weltmarkt. Solange ein Bauer nicht vom Verkauf seiner legalen Erzeugnisse leben kann, wird er weiter Drogen anbauen.

Bescheidene Alternative

Das Engagement sowohl der Europäischen Union als auch der einzelnen europäischen Länder zielt daher auf die integrale Entwicklungsförderung in den Erzeugerländern ab. Dazu gehörte die Begünstigungsklausel für Importe aus Kolumbien, Bolivien, Ecuador und Peru aus dem Jahr 1990. Gleichzeitig begannen die Mitgliedsstaaten der EU, die legalen Wirtschaftszweige in den Andenländern zu unterstützen. Das ist jedoch kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Die konkrete Wirkung der maximal 12 Millionen Dollar, die Kolumbien jährlich von der EU bekommt, sind zu vernachlässigen. Sie zeigen allerdings, dass Europa gewillt ist, sozioökonomische Unterstützung an Stelle der Repression zu setzen.
Damit das Konzept der „Alternativen Entwicklung“ aufgeht, muss allerdings in großem Umfang und bei stabilen Preisen der Absatz der Drogenersatzprodukte auf dem Weltmarkt gewährleistet sein. Das ist in der Vergangenheit nur in Einzelfällen und kurzfristig gelungen. Auch beim Biokaffeeprojekt der GTZ blieben die Erfolge bislang hinter den Erwartungen zurück. Bisher ist es denn auch eher als Versuch zu werten, ob sich mit einem derartigen Ansatz das Drogenproblem auf der Produzentenseite überhaupt beeinflussen lässt. Die Projektkosten von 5,4 Millionen Mark werden überwiegend aus der „Drogenreserve“ des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit aufgebracht, Kraft-Jacobs-Suchard steuert 250.000 Mark bei. Ziel ist es, die beteiligten Campesinos/as so weit zu beraten und zu unterstützen, dass ihr Landbau die Richtlinien der Europäischen Union (EU) erfüllt. Nur dann können sie ihre braunen Bohnen hierzulande als Ökokaffee verkaufen.

Private Projektpartnerschaft oder Geschäft?

Für den Projekterfolg und vor allem für das Überleben der beteiligten Campesinos/as ist entscheidend, ob und in welchem Ausmaß sich die Vermarktung von Biokaffee konsolidieren lässt. Die von den InitiatorInnen erhoffte Vermarktung über die beteiligte Kaffeerösterei Jacobs ist praktisch nicht erfolgt. Nachdem das private Partnerunternehmen lange Zeit nicht eine einzige Bohne aus dem Projekt abnahm, kaufte es nun über die Kaffeebörse ganze zwei Container des sogenannten Umstellungskaffees aus Villa Rica.
Für Kraft-Jacobs-Suchard ist eine andere Entwicklung von wesentlich größeren Interesse, die aus dem Biokaffee-Projekt hervorgegangen ist. In Lima baute die Cámara Peruana del Café mit deutscher Hilfe eine Qualitätsprüfstelle für Rohkaffee auf. Dr. Rainer Becker, Jacobs-Mitarbeiter in Diensten der GTZ, sieht darin die nachhaltigste Wirkung des Biokaffeeprojektes überhaupt. Mit Hilfe des deutschen Kaffee-Experten, der die Projekte in Kolumbien und Peru seit zwei Jahren berät, bemüht sich die dortige Kaffeewirtschaft um die Ausdehnung ihrer Marktanteile und ihrer Einnahmen. „Peruanischer Kaffee erfüllt die Voraussetzungen für eine gute Qualität,“ beschreibt Becker das Dilemma des Andenstaates, „aber er hat mit einem schlechten Image zu kämpfen, das ihm regelmäßig an der Kaffeebörse einen Preisabschlag von 50 bis 65 Pfennig pro Kilo gegenüber dem Weltmarktpreis beschert.“ Allein im vergangenen Jahr sind Peru dadurch rund 20 Millionen US-Dollar an Exporteinnahmen durch die Lappen gegangen. Durch anhaltende Qualitätsverbesserung wollen die Peruaner die internationalen KaffeerösterInnen und -importeurInnen davon überzeugen, dass ihr Produkt besser ist als sein Ruf. Jahr für Jahr beantragen sie die Höherbewertung ihrer braunen Bohnen.

Biokaffee mit geringen Marktchancen

Bei dieser Form der Projektfortsetzung geht es nicht mehr um Biokaffee, sondern um die Qualität peruanischen Kaffees schlechthin. Organisch angebautem Kaffee räumt man bei Jacobs und vor allem bei den US-amerikanischen KonzernherrInnen ohnehin nur minimale Marktchancen ein. Dr. Beckers Fazit der Kooperation von Jacobs mit der GTZ und den nationalen Verbänden der KaffeepflanzerInnen fällt denn auch eher ernüchternd aus: „Der Biokaffee-Ansatz ist wenig erfolgversprechend.“ Der oftmals qualitativ schlechtere Kaffee aus ökologischer Produktion hat nach seiner Auffassung wenig Chancen auf dem internationalen Markt, wo eine wachsende Zahl von Abnehmern hohe und vor allem stabile Qualität erwartet. Die Mängel des weltweit angebotenen organischen Kaffees, so argumentiert man hingegen bei der GTZ, ergäben sich allerdings aus der häufigen Vermischung von sozial-karitativen Ansätzen mit der Förderung ökologischer Produktionsweisen. Das führe meistens dazu, dass Ökokaffee aus besonders rückständigen Regionen bezogen wird, wo die Bedingungen zur Erzeugung hochwertiger Produkte nicht gegeben sind. Für das GTZ-geförderte Biokaffeeprojekt träfe dies aber nicht zu, da in allen drei Ländern klassische Kaffeeanbaugebiete mit hoher Qualität ausgewählt worden seien.
Die Vermarktung beschränkt sich dabei bis heute überwiegend auf alternative Handelsorganisationen wie die GEPA, die hierzulande Café Aymara aus Villa Rica vertreibt, oder die schwedische Firma Gevalia. Den Biokaffee aus Kolumbien kauft im wesentlichen El Puente in Deutschland, wo er unter dem Markennamen der beteiligten Kooperative Nuevo Futuro oder Colombia Grande von der Firma Ökotopia erhältlich ist. Insgesamt ist es bisher aber kaum gelungen, stabile Marktverbindungen für ökologischen Kaffee aufzubauen. Für Privatunternehmen, die streng im Profitinteresse arbeiten, gibt es offenbar nicht genügend Anreize, in größerem Stil einzusteigen. Die beteiligten BäuerInnen bleiben dennoch zuversichtlich: „Wir haben gelernt, dass die chemischen Substanzen schädlich sind für die Gesundheit und auch für unsere Umwelt,“ meint Arnulfo Quinayas von der Genossenschaft Nuevo Futuro im Cauca. „Außerdem konnten wir mit Hilfe der GTZ einen Weg aufbauen, um unseren Kaffee in andere Länder zu exportieren.“

Schwierigkeiten mit der Volksvertretung

Nur noch wenig ist von der weit verbreiteten Euphorie zu spüren, die große Teile der Bevölkerung erfasste, als im Oktober 1994 Präsident Jean-Bertrand Aristide nach dreijährigem Exil in den Vereinigten Staaten nach Haiti zurückkehrte. Damals herrschte eine regelrechte Aufbruchstimmung. Die HaitianerInnen hofften auf eine Linderung der wirtschaftlichen Notlage und eine Aufarbeitung der zahllosen Menschenrechtsverletzungen der vorangegangenen Jahrzehnte. Doch schnell machte sich Ernüchterung breit, die Bewältigung des politischen Alltags und der vielfältigen Probleme des Landes erwies sich als schwieriger als erwartet.

Der Weg in die Krise

Ende März 1999 ernannte der haitianische Präsident René Préval den damaligen Kultusminister Jacques Edouard Alexis zum Premierminister. Damit schien die politische Krise überwunden zu sein, die das Land fast zwei Jahre lang gelähmt hatte. Diese Krise war durch die politischen Auseinandersetzungen um die Wahlen im April 1997 entstanden, die zum Rücktritt des damaligen Premierministers Rosny Smarth im Juni 1997 geführt hatten. Während der Provisorische Wahlrat CEP den Sieg vielen KandidatInnen der Aristide-Partei Fanmi Lavalas zusprach, bezeichnete die Regierungspartei OPL (Organisation du Peuple en Lutte, vormals: Organisation Politique Lavalas) diese Entscheidung als massiven und gezielten Wahlbetrug und forderte erfolglos die Annullierung der Wahlen und die Absetzung des Wahlrates. Dabei stammen die Gründer der OPL ebenfalls aus der Lavalas-Bewegung, die 1990 Artistide an die Macht gespült hatte. Ihre Kritik an dessen egozentrischen Führungsstil bewegte sie, während dessen Exilzeit die OPL zu gründen. Aristides Antwort nach seiner Rückkehr folgte prompt: die Gründung der Fanmi Lavalas.
In den nachfolgenden Monaten fanden mehrere indirekte Wahlen statt. Die bei den Kommunalwahlen im April 1997 gewählten RepräsentantInnen bestimmten die Regionalvertretungen. In all diesen Gremien konnte die Fanmi Lavalas eine deutliche Mehrheit erringen. Für die Mitglieder der OPL und diverser Oppositionsgruppen war dieser Umstand äußerst bedrohlich, denn vor allem der Interdepartementale Rat hat entscheidenden Einfluss auf die Zusammensetzung des ersten permanenten Wahlrats. Die Aristide-Anhänger schickten sich an, auch dieses Gremium zu beherrschen. Eine der ersten Aufgaben dieses permanenten Wahlrates ist, die turnusgmäßigen Präsidentschaftswahlen im Dezember 2000 zu organisieren. Da Aristide dafür bereits seine Kandidatur angekündigt hat, sieht die OPL in einer derartigen Besetzung der entscheidenden Gremien die Gefahr, dass sich Aristide mit einem von ihnen als undemokratisch, hegemonial oder gar diktatorisch eingeschätzten Projekt durchsetzt.

Risse bei Lavalas

Der Disput über diese Fragen verstärkte auch die seit 1995 deutlich sichtbaren Risse im ehemaligen Regierungsbündnis Lavalas. Damals hatten sich zwei Lager herausgebildet. Auf der einen Seite wurde ein moralischer Anspruch Aristides auf eine Verlängerung seiner Amtszeit als Präsident um jene drei Jahre geltend gemacht, die er im Exil verbracht hatte, während die andere Seite verfassungsgemäße Präsidentschaftswahlen und keine Amtszeitverlängerung forderte. Nicht zuletzt auf Grund des massiven internationalen Drucks setzten sich die Befürworter von Neuwahlen durch, aus denen schließlich René Préval, ein enger Vertrauter Aristides, als Sieger hervorging. Mit diesem Schritt war am 7. Februar 1996 zwar erstmals die Machtübergabe von einem demokratisch gewählten Präsidenten zu einem nächsten gelungen, doch schon bald zeigte sich, dass Aristide auch weiterhin die zentrale Machtfigur im Land blieb. Die von ihm gegründete Partei Fanmi Lavalas gewann gegenüber der OPL schnell an Terrain.

Poker in Port-au-Prince

Präsident Préval zwang diese Konstellation von Anfang an zu einem regelrechten Drahtseilakt. Vor allem im Bereich der Wirtschaftspolitik war er immer wieder gezwungen, mühsam errungene Kompromisslösungen zu vertreten. Doch die Wahlereignisse im Frühjahr und Sommer 1997 manifestierten den endgültigen Bruch von Lavalas, das 1990 den glorreichen Wahlsieg von Jean-Bertrand Aristide erreicht und damit nach Jahrzehnten der Diktatur den Grundstein für einen demokratischen Neuanfang Haitis gelegt hatte. Obwohl Préval offiziell weder der OPL noch der Fanmi Lavalas angehört, wurde ihm in der Folge der Auseinandersetzungen eine zu starke Parteilichkeit zugunsten von Aristide vorgeworfen. Die OPL reagierte nach dem Rücktritt des Premiers Rosny Smarth im Juni 1997 mit einer konsequenten Blockadepolitik im Parlament, wo sie noch immer die Mehrheit hatte.
Diese Haltung behinderte nicht nur dringend notwendige Gesetze, so zum Beispiel die Reform des Justizwesens. Da mit Smarth auch zahlreiche Minister das Kabinett verlassen hatten, stand Haiti de facto ohne Regierung dar. Die Parlamentsmehrheit torpedierte gezielt die zahlreichen Versuche Prévals, einen neuen Premierminister zu ernennen. Im Juli 1998 schlug Präsident Préval schließlich Kultusminister Jacques Edouard Alexis als Kandidaten vor. Nach zahllosen Verhandlungen über die zukünftige Ausrichtung der Regierungspolitik sowie die Zusammensetzung des neuen Kabinetts, in dem die OPL mindestens sechs der 15 Ministerposten für sich beanspruchte, gelang es Alexis schließlich, die erste Hürde des Einsetzungsverfahrens zu überwinden. Sowohl Abgeordnetenhaus als auch Senat stimmten der Nominierung zu. Doch das war nur der erste Schritt.
Die Bestätigung der endgültigen Zusammensetzung des Kabinetts und die Regierungserklärung durch eine absolute Mehrheit in beiden Parlamentskammern stand noch aus.

Der Show-Down

Doch diese Abstimmung fand nie statt. Denn am 11. Januar 1999 löste Präsident Préval das Parlament kurzer Hand auf. Damit endete die Amtszeit sämtlicher Abgeordneten. Die gesetzliche Grundlage lieferte das Wahlgesetz von 1995, das für die 46. Legislaturperiode des haitianischen Parlaments eine verkürzte Amtsdauer festschreibt. Da es in den Jahren 1997 und 1998 wegen organisatorischer Schwierigkeiten keine Wahlen für die beiden Kammern des Parlaments und andere Posten auf kommunaler Ebene gegeben hatte, verloren durch die Entscheidung des Präsidenten zwei Drittel der Senatoren und alle Bürgermeister ihr Amt.
Im Inland waren die Reaktionen auf diesen Paukenschlag gemischt. Fanmi Lavalas sowie zahlreiche Bürgerinitiativen und grassroots-Organisationen riefen zu Demonstrationen auf, mit denen sie Prévals Schritt unterstützten. Mit einem massiven Polizeiaufgebot wurden die Demonstranten daran gehindert, die Bannmeile vor dem Parlamentsgebäude zu durchbrechen, in dem sich einige Parlamentarier zusammen mit einer Gruppe ausländischer Diplomaten zu Gesprächen versammelt hatten. Die Reaktionen der internationalen Gemeinschaft insgesamt waren vergleichsweise zurückhaltend. Die Europäische Union beispielsweise, einer der wichtigsten Partner Haitis in der Entwicklungszusammenarbeit, und der UN-Sicherheitsrat ließen verlauten, man hoffe trotz einiger Besorgnis über die jüngsten Ereignisse, dass nunmehr bald gewählt werden könne.

Neue Koalitionen

Die Bewegungen innerhalb der Parteienlandschaft im Anschluss an die Ereignisse im Januar 1999 vermitteln interessante Einblicke in die teilweise schwer durchschaubaren Machtverhältnisse in Haiti. Während es der Fanmi Lavalas mit der Unterstützung zahlreicher Basisorganisationen ganz offensichtlich gelungen ist, das eigene Mitgliederpotential erheblich auszubauen und dieses auch immer wieder in Demonstrationen zur Schau zu stellen, scheint die OPL nunmehr endgültig den Kontakt zur Bevölkerung verloren zu haben. Nicht zuletzt auf Grund dieser Erkenntnis und aus der Einsicht heraus, daß man nur mit Hilfe eines weitgespannten „Oppositionsbündnisses“ der scheinbaren Omnipotenz und -präsenz von Aristide und seiner Partei widerstehen könne, schlossen sich noch im Januar verschiedene Parteien zunächst zu einem Aktionsbündnis zusammen. In diesem Bündnis versammelten sich neben der OPL nicht nur gemäßigte, sondern auch extrem rechtsgerichtete und neoduvalieristische Parteien. Neben dem Ziel, die Rückkehr Aristides an die Macht zu verhindern, verbindet die meisten dieser Gruppierungen lediglich das strukturelle Merkmal der relativen Bedeutungslosigkeit. Die haitianische Presse spricht über diese Gruppierungen häufig als particles. Keine dieser one-man-shows dürfte mehr als zehn Menschen zusammen bringen können. Das sagt aber nicht viel über ihren politischen Einfluss aus. Häufig handelt es sich dabei um Ableger der einflussreichen und finanzstarken haitianischen Bourgeoisie, die ihr Verhältnis zur Demokratie schon in der Unterstützung des Militärputsches von 1991 deutlich gemacht hatten.

Im Dialog zum Ziel?

Nach zahlreichen Sondierungsgesprächen bildete sich schließlich eine oppositionelle Kerngruppe unter dem Namen L’ Espace de Concertacion (EC), die gemeinsam mit der OPL Verhandlungen mit der Staatsführung über eine Übergangsregierung sowie die Modalitäten für die Parlaments- und Kommunalwahlen aufnahm.

Mord auf offener Straße

Als am 1. März 1999 der OPL-Senator Jean-Yvon Toussaint auf offener Straße ermordet wurde, beschloss die Spitze seiner Partei, die weitere Teilnahme an den Verhandlungen mit Préval auszusetzen. Die übrigen Mitglieder des EC setzten die Gespräche jedoch fort und unterzeichneten knapp eine Woche später ein Abkommen, auf dessen Grundlage bis Ende März 1999 sowohl ein neuer provisorischer Wahlrat als auch eine Übergangsregierung unter Führung von Alexis eingesetzt werden konnten. Haiti hatte damit wieder eine funktionsfähige Exekutive, die jedoch über keine parlamentarische Legitimation verfügte.
Obwohl die OPL bis kurz vor der Unterzeichnung des Abkommens an den Verhandlungen beteiligt war und der Oberste Gerichtshof Haitis die Klage gegen Prévals Parlamentsauflösung zurückgewiesen hatte, weigerte sich die Partei, den neu eingesetzten Wahlrat anzuerkennen. Die Fanmi Lavalas sowie ihr nahestehende Organisationen hatten sich zunächst positiv geäußert, doch die geringen Fortschritte bei der Vorbereitung der Wahlen führte zu Unruhe in ihren Reihen. Als Alexis Anfang Mai schließlich die Privatisierung der staatlichen Zementfabrik bekannt gab, war die Geduld der Gegner einer neoliberalen Wirtschaftspolitik endgültig am Ende. Als Übergangspräsident habe er nur eine Aufgabe: die Vorbereitung von Wahlen. Ein weiterer spürbarer Schlag ins Gesicht der Fanmi Lavalas war der Mitte Juni verkündete Beschluss des Wahlrates, die Wahlen vom April 1997 zu annullieren.

Neues Spiel, neues Glück?

Nach erheblichen formalen Schwierigkeiten wurde im Juli 1999 ein neues Wahlgesetz verabschiedet. Zur Disposition stehen demnach alle 83 Sitze im Abgeordnetenhaus, 9 Sitze im Senat sowie viele Hundert Posten auf kommunaler und regionaler Ebene. Der ursprünglich angestrebte Zeitpunkt für die beiden vorgesehenen Wahlgänge wurde zweimal verschoben, bis der Wahlrat im September letzten Jahres schließlich den 19. März und den 30. April 2000 festlegte.
Je näher dieser Termin rückt, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Wahlen tatsächlich stattfinden. Dies war in den vergangenen Monaten nicht immer klar. Die erste größere Hürde war die Benennung der untergeordneten Wahlräte auf kommunaler und regionaler Ebene. Die Parteien beschuldigten sich gegenseitig der mangelnden Neutralität im Wahlprozess, fehlender Glaubwürdigkeit und der Inkompetenz in Verfahrensfragen. In einigen Orten des Landes kam es zu Protestveranstaltungen gegen die Wahlräte und vereinzelt wurden sogar Anschläge auf deren Büros verübt.
Einen weiteren Streitpunkt stellte die vorgeschriebene Ausstellung von Wahlausweisen mit Foto dar. Angesichts der schlechten Infrastruktur in den ländlichen Gebieten Haitis, wo die Behörden oft nicht einmal Personalausweise oder Führerscheine ausstellen können, sahen Mitglieder der Oppositionsparteien in dieser Vorschrift ein gezieltes Manöver, um die Wahlen hinauszuzögern. Denn eine Zusammenlegung mit den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000, die wahrscheinlichste Möglichkeit bei einer Verschiebung des Wahltermins, würde die Siegeschancen der Fanmi Lavalas möglicherweise erhöhen. Die meisten HaitianerInnen beobachteten dieses Schauspiel mit großer Skepsis, das Interesse am Wahlprozess sank deutlich.
Unbeeindruckt von aller Kritik setzte der Wahlrat seine Arbeit fort. Tatsächlich hatten sich bis zum Dezember 1999 alle 29.000 KandidatInnen in die Wahllisten eingeschrieben. Brisant wurde die Situation erneut Mitte Januar 2000, als sich der offizielle Beginn der Wahlkampagne verzögerte. Aus technischen Gründen mußte in einigen Teilen des Landes die Erfassung der rund 4,5 Millionen Wahlberechtigten verschoben werden. Vor allem die Öffnung der 3.500 Einschreibebüros bereitete offensichtlich mehr Probleme als erwartet. Es mangelte vielerorts nicht nur an geeignetem Personal, sondern auch an der technischen Ausstattung.

Skeptische Bevölkerung
Trotz aller Skepsis der Bevölkerung zeichnete sich schon in den ersten Tagen der Registrierung ein vergleichsweise großer Andrang auf die Büros ab. Ein Rückschluß auf die zu erwartende Wahlbeteiligung ist jedoch kaum möglich. Die Menschen wollen oft einen Wahlausweis haben, damit sie überhaupt ein amtliches Dokument bekommen. Ob sie jedoch tatsächlich zur Wahl gehen werden, ist nicht vorhersehbar.

Registrierungsprobleme

Bis Ende Februar hatten sich nach offiziellen Angaben etwa 2,5 Millionen WählerInnen eingeschrieben. Da es vor allem in der Hauptstadt Port-au-Prince und in der südlichen Provinz Grand-Anse erhebliche Probleme gibt, wurde die Frist nunmehr bis zum 3. März verlängert. Bei zahlreichen Demonstrationen in den vergangenen Wochen wurde immer wieder die Forderung erhoben, mehr Büros einzurichten, weil die MitarbeiterInnen wegen des großen Andrangs hoffnungslos überfordert waren.
Da verschiedene Gruppierungen die angespannte Lage in den vergangenen Wochen und Monaten auch immer wieder für politisch motivierte Gewaltakte ausnutzten, bleibt zu hoffen, daß die Situation nicht vollends außer Kontrolle grät. Unabhängig vom Wahlausgang haben die Entwicklungen des letzten Jahres bereits jetzt zu einer deutlichen politischen Polarisierung geführt. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen wird das persönliche Interesse einer Minderheit und der Kampf um die politische Macht die Auseinandersetzungen über politische Inhalte, Visionen und dringend erforderliche Problemlösungen überlagern oder gar verdrängen.

Solidarische Zähne

In eurer Partnergemeinde hat es vor kurzer Zeit verheerende Regenfälle gegeben. Kannst Du die Situation vor Ort beschreiben?

Dieter Radde: Die Niederschläge dort waren größer als während des Hurrikans Mitch im letzten Jahr. Die Gemeinde hat 40 000 Einwohner. Es gibt 8 000 Personen, deren Häuser beschädigt wurden. 1 000 Personen mußten sogar evakuiert werden, so daß vier Notaufnahmelager aufgemacht wurden. Bei meinem Besuch im Oktober war ein großer Teil der Gemeinden noch immer nicht per Fahrzeug erreichbar. Außerdem wurde ein Staudamm zerstört, wodurch auch die gravierendsten Überschwemmungen verursacht wurden. In diesem Teil der Gemeinde sind die meisten Häuser und ein großer Teil der Ernte zerstört worden. Das betrifft zu 80 Prozent das dort frisch ausgesäte Gemüse, dessen Anbau wir gefördert haben und 50 Prozent der Grundnahrungsmittel.

Bedeutet dies, daß jetzt Ansätze einer strukturellen Verbesserung im Bereich der Agrarwirtschaft zerstört wurden und Ihr wieder von vorne anfangen müßt?

Nicht ganz. Unsere beiden Gesundheitszentren und die bessere Trinkwasserversorgung haben die Ausbreitung von Cholera verhindert. Aber insgesamt ist es sicherlich ein Rückschlag. Der beschränkt sich jedoch auf den materiellen Bereich. Wir haben nach Mitch ein Gemüseanbauprojekt gemacht, und dort sind die Ernten verlorengegangen. Außerdem konnten keine Rücklagen gebildet werden. Aber von einem wirklichen Entwicklungsrückschritt kann man nicht sprechen.

Kann man also sagen, daß nach Mitch punktuell sogar ein Neuanfang möglich war?

Das wäre zu weitgehend. Aber es gibt eine höhere Bereitschaft unter den Kleinbauern, alternative Anbaumethoden auszuprobieren. Wir hatten im Sommer mit relativ hohem Erfolg den ersten Bauernmarkt veranstaltet. Dort steigt die Nachfrage. Dieses Programm haben wir kontinuierlich mit Fortbildungen für Agrartechniker und Veterinärmedizinern begleitet. Der Erfolg war so groß, daß wir jetzt auch nationale Mittel akquirieren können.

Bedeutet dies, daß ihr mit der Regierung zusammenarbeitet?

Nein, das sind Gelder, die von der Interamerikanischen Entwicklungsbank für Nicaragua bereitgestellt werden und an Nichtregierungsorganisationen verteilt werden. Dort wird jetzt ein Ausbildungszentrum aufgebaut, wo alternative Techniken des Landbaus, natürliche Formen der Schädlingsbekämpfung, Maßnahmen zum Erosionsschutz et cetera vermittelt werden.

Wenn es sich um eine Städtepartnerschaft handelt, wie funktioniert denn dann die Zusammenarbeit mit der lokalen Regierung?

Der größte Konflikt ist, daß sie uns in Ruhe lassen. Zum andern führen die häufigen Wechsel in der Gemeindeverwaltung jedoch dazu, daß dort niemand über die logistischen Strukturen verfügt, um irgendwelche Projekte durchzuführen. Die einzige handlungsfähige Institution vor Ort ist unser Partner. Deswegen wollen die unsere Strukturen mit nutzen.

Die wollen Euch also vereinnahmen?

Genau. Aber das hat auch seine positiven Seiten. Wir haben jetzt ein großes Wasserprojekt eingeweiht. Damit die Bevölkerung dabei aktiv mitarbeitet, arbeiten wir mit Komiteestrukturen. Der Chef des Komitees ist ein Liberaler, und der streitet sich massiv und öffentlich mit der Gemeindeverwaltung, die ebenfalls liberal ist. Wir haben ja früh damit angefangen, die Eigenbeteiligung der Bevölkerung bei gemeinsamen Aktivitäten vorauszusetzen, und dabei merkt man, daß in der konkreten Situation die großen ideologischen Konflikte überhaupt keine Rolle spielen.

Was habt Ihr denn sonst noch für Projekte?

Wir haben ein großes Trinkwasserprojekt, von dem 10 000 Leute profitieren sollen. Ein weiterer Schwerpunkt ist Ressourcenschutz und einkommensverbessernde Maßnahmen für Kleinbauern. Dann ein Wiederaufforstungsprojekt in Kombination mit der Pflanzung von 20 Prozent Obstbäumen. Ziel ist also, nichttraditionelle Anbauprodukte einzuführen, das heißt vor allem Gemüse wie Rettich, Gurken et cetera.

Und wie werden die neuen Produkte angenommen?

Gut. Das Hauptproblem ist, daß die Kleinbauern Schwierigkeiten haben, die Sachen selbst zu verkaufen. Die haben sich zum Teil nicht getraut, richtig Geld zu verlangen, haben sich an den alten Zwischenhändlerpreisen orientiert und dann alles viel zu billig verkauft. Aber ihre Sachen waren sie los. Dieser Aspekt ist total unterschätzt worden. Aber dennoch war der Verkauf für die beteiligten Familien ein voller Erfolg. Dieses Projekt soll weiter ausgebaut werden, und wir wollen ein ähnliches Projekt im Viehzuchtbereich starten. Dazu läuft ein umfangreiches Schulungsprogramm. Acht Lehrer werden von hier aus mit Schulpatenschaften finanziert. Im Gesundheitssektor hat jetzt vor kurzem der Bau eines neuen Zentrums begonnen. Wir unterstützen Impf- und Hygiene-Kampagnen.

Wie kommt Ihr zu eurem Geld?

Tilo Baillen: Für die kostenintensiven Projekte wie das Krankenhausprojekt oder das Wasserprojekt bekommen wir das Geld von der Europäischen Union oder vom Entwicklungshilfeministerium, von der Senatsstelle für Entwicklungszusammenarbeit aber auch vom Bezirk Kreuzberg oder von Stiftungen. Die für diese Unterstützung notwendigen Eigenmittel erwirtschaften wir aus Mitgliedsbeiträgen, die für die laufenden Kosten hier in Berlin verwendet werden, und aus Spendeneinnahmen. Das sind im Schnitt pro Jahr ungefähr 100 000 DM. Außerdem veranstalten wir kleinere Ausstellungen in Arztpraxen und Betrieben und stellen Spendenbüchsen daneben. Wir werben bei Zahnärzten dafür, daß sie verschlissenes Zahngold für uns sammeln. Das haben wir schon zweimal gemacht, und dabei sind das letzte Mal 1,7 kg Gold oder 18 000 DM zusammengekommen.

Dieter, wie bist du zu der Arbeit hier gekommen?

Als die Bundesregierung ihre Entwicklungshilfe an die Sandinisten einstellte, reagierten diese damit, den Aufbau von Partnergemeinden zu fördern. Also schlossen sich einige Gruppen mit dem Ziel zusammen, eine Region konkret und dauerhaft zu unterstützen. Aber bis wir schließlich die Partnerschaft stehen hatten, dauerte es noch. Die Grünen und die SPD unterstützten die Partnerschaft, aber die CDU hat eineinhalb Jahre lang blockiert. Als der CDU-Bürgermeister einmal im Urlaub war und wir gleichzeitig den sandinistischen Bürgermeister nach Berlin eingeladen hatten, unterschrieb der Vizebürgermeister von der SPD die Urkunde. Als wir diese dann vor der Bezirksversammlung mitsamt dem Grundgesetz aushändigten, ist die CDU-Fraktion aus dem Rathaus ausgezogen. Der letzte Gag war bei der 750-Jahr-Feier 1987. Damals hatten wir durchgesetzt, daß auch der sandinistische Bürgermeister und ein Stadtrat nach Berlin kamen. Dann gab es dieses berühmte Fest hier in Kreuzberg im Verkehrsmuseum. Aber da Kreuzberg im amerikanischer Sektor lag, waren auch die amerikanischen Offiziere eingeladen. Und der Staatsschutz hielt unsere Gäste für so gefährlich, daß wir mit einer Menge Zivilbeamten umgeben wurden. Auf der offiziellen Feier hat eine Band aus Nicaragua dann die sandinistischen Lieder gespielt. Da gab es natürlich Auseinandersetzungen. Das heißt, wir haben die Auseinandersetzung auch hier auf die kommunale Ebene geholt, und das war ja eines unserer Ziele.

Siggi, seit wann bist denn Du hier dabei?

Sigrid Picker: Ich bin seit vier Jahren im Verein und seit zwei Jahren im Vorstand. Das kam damals so, daß ich mich zwar schon immer für Lateinamerika interessiert habe, aber erst vor vier Jahren, als meine Schwester in Nicaragua auf Brigade war, habe ich sie dort besucht. Und die Begegnung mit den Leuten in diesem Dorf, das Leben zwischen Schweinen, Hühnern und kleinen Kindern hat so einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen, daß ich dort mein Herz verloren habe. Daraus sind dann ganz intensive Freundschaften geworden. Ich habe dann noch ein paar Tage an einem Schulprojekt mitgearbeitet. Als ich zurück nach Berlin kam, bin ich mit offenen Armen von dem Verein aufgenommen worden und habe, für welche Aktivitäten auch immer, meine Dienste angeboten. Ich wollte endlich etwas tun im entwicklungspolitischen Bereich. Und heute macht es vor allem Spaß.
Dein Engagement hatte also weniger mit revolutionärem Impetus zu tun?

Nicht ganz. Ich hatte die aktuelle Situation in Nicaragua schon immer verfolgt. Aber ich wäre damals nicht aufgrund von politischer Motivation hingefahren. Es hätte jedes x-beliebige Land sein können.

Welche Auswirkungen hatte denn die Wahlniederlage der Sandinisten auf den Verein?

Dieter Radde: Noch in der gleichen Nacht gingen die Auseinandersetzungen los. Einige aus dem besonders revolutionären Flügel sind dann ziemlich schnell ausgetreten. Aber insgesamt war das Konzept des Vereines sowieso ein anderes. Wir sind ja nicht in eine der sandinistischen Hochburgen gegangen, um dort die siebte Städtepartnerschaft aufzubauen, sondern wir haben gefragt: „Wo ist Solidarität notwendig?“ San Rafael del Sur war eine konservative Stadt ohne Frente-Basis, die keinerlei Unterstützung hatte, und da wollte auch keine revolutionäre Soli-Gruppe hin. Diese Entscheidung hat natürlich dann schon auch mitgeprägt, wer im Verein mitgearbeitet hat.

Wie ist denn heute die Beziehung zur Frente, Siggi? Hast Du Kontakte zu ihr?

Sigrid Picker: Die meisten der Leute, die ich dort kenne, wählen zwar die Frente, aber ich habe keinen Kontakt dahin.

Und wie ist das mit dem Verein insgesamt?

Dieter Radde: Die Entwicklung in San Rafael del Sur ist katastrophal. Wir hatten schon vor Jahren einen Konflikt zwischen der ländlichen und der eher städtischen Basis. Der städtische Flügel hat sich durchgesetzt. Und mit denen hatte ich ich jetzt ein Gespräch über die Bevölkerungsbeteiligung an der Projektdurchführung. Deren Position war aber noch ablehnender als die der Liberalen. Die politische Linie steht also dem, was wir wollen, mehr als entgegen. Auf kommunaler Ebene ist die Frente für uns also weggefallen.

Brot, Land und Freiheit!

In der honduranischen Hauptstadt Tegucigalpa versammelten sich 15 000 Menschen, die vom Obersten Gerichtshof Richtung Präsidentenhaus marschierten. Dabei kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, bei denen 19 Personen verletzt wurden. Politisch war die Demonstration ein großer Erfolg: Im Parlamentsgebäude wurde eine Vereinbarung mit dem Kongreßpräsidenten unterzeichnet, nach der sich die Regierungspartei verpflichtet, ein neues Gesetz für Agrarreform und Forstwirtschaft zu erarbeiten. In Peru riefen die Bauernorganisationen CNA und CCP einen Agrarstreik aus, um gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik der Regierung zu protestieren, die eine Gegenreform im Agrarbereich darstellt. In Brasilien organisierte die MST zusammen mit der Landpastoral und anderen Organisationen einen bundesweiten Marsch für die Durchführung der Agrarreform. Der Marsch kam in Brasília am 7. Oktober an, fünf Tage später riefen 3 000 Menschen die Agrarreformkampagne aus. In Bolivien demonstrierten Mitglieder der Bauernorganisation CSUTCB, insbesondere in den Provinzen Santa Cruz und Cochabamba, massiv für das Recht auf Land. Nationale Kundgebungen gab es am 12. Oktober außerdem in Mexiko, Guatemala, El Salvador, Nepal, den Philippinen und mehrere regionale Aktionen in Indien.
Zu symbolischen Landbesetzungen kam es vor dem Reichstag in Berlin und auf dem Heldenplatz vor der Hofburg in Wien. Einfache Zelthütten, mit Plastikplanen bespannt, wurden vor den monumentalen Kulissen der historischen Bauwerke aufgestellt. Außerdem wurden in Österreich und Deutschland Petitionen an die Regierungen überreicht, in denen gefordert wird, Agrarreformen im Süden durch die Entwicklungspolitik zu unterstützen.
Obwohl Millionen Bauernfamilien tagtäglich Hunger und Armut erleiden müssen, weil ihnen der Zugang zu Land und produktiven Ressourcen verwehrt wird, sind in den meisten Ländern des Südens die Agrarreformprozesse ins Stocken geraten. Im Zeichen der Strukturanpassungsprogramme und neoliberaler Agrarpolitiken werden Agrarreformen zunehmend durch die Liberalisierung der Bodenmärkte abgelöst. Das Paradigma der Agrarreform, nach dem das Land denen gehören soll, die es bearbeiten, wird ersetzt durch ein anderes: Recht auf Land hat nur noch, wer das Geld hat, es zu kaufen. Die soziale Funktion des Landeigentums wird mehr und mehr an den Rand gedrängt.
Auch der Zugang zu anderen Ressourcen wie Kapital, Beratung und Bildung unterliegt diesem Trend. An die Stelle der Umverteilung tritt die Polarisierung, an die Stelle der Dezentralisierung des Ressourcenbesitzes tritt die Rekonzentration. En vogue ist nicht mehr die Agrarreform, sondern Prozesse zwischen Bodenmarkt und Gegen-Agrarreform. In starkem Kontrast mit dieser Wirklichkeit stehen zahlreiche Beschlüsse und Deklarationen der internationalen Staatengemeinschaft zur Durchführung und Unterstützung von Agrarreformen. Die Dokumente reichen von der Weltkonferenz für Agrarreform und ländliche Entwicklung von 1979 bis zum Welternährungsgipfel 1996. Da dieser Diskurs bisher sehr wenig an den Lebensumständen der landlosen Bauernfamilien geändert hat, beschlossen La Via Campesina und FIAN eine weltweite Agrarreformkampagne zu starten, um die Forderung nach Land auf die Tagesordnung von nationalen Regierungen und internationalen Organisationen zu setzen.

Eine Aufgabe für die ganze Gesellschaft

Wenn heute von Agrarreform die Rede ist, geht es zwar zunächst um den Zugang der armen und landlosen Bäuerinnen und Bauern zu Land, aber es geht gleichzeitig um wesentlich mehr. Die Agrarreform ist keine rein technische Angelegenheit, bei der einfach Land verteilt wird. Die neue Agrarreform ist ein Modell des Übergangs zu einer anderen Landwirtschaft und einer Zukunft der ländlichen Räume, das die ganze Gesellschaft und die internationale Gemeinschaft angeht. Das Menschenrecht, sich zu ernähren, und das Recht der Bäuerinnen und Bauern, Nahrungsmittel zu erzeugen, bilden die Ausgangspunkte für die weltweite Kampagne für Agrarreform.
Das Menschenrecht auf Nahrung, wie es im Art. 11 des internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte anerkannt ist, bedeutet für Bäuerinnen und Bauern, daß sie Zugang zu den Ressourcen bekommen müssen, mit denen sie Nahrungsmittel erzeugen können, vor allem der Zugang zu Land. Alle Mitgliedsstaaten dieses internationalen Vertrages sind daher verpflichtet, einzeln und im Rahmen ihrer Zusammenarbeit diesen Zugang zu den produktiven Ressourcen zu respektieren, zu schützen und zu gewährleisten. Die Agrarreform ist das zentrale Mittel, um armen Bäuerinnen und Bauern den Zugang und die Kontrolle über das Land, das Saatgut, das Wasser und andere produktive Ressourcen zu sichern.

Das Recht auf Nahrung ist ein Menschenrecht

Das Menschenrecht, sich zu ernähren, enthält auch das Recht auf eine gesunde Ernährung. Um dieses Recht zu gewährleisten, muß die Nahrungsproduktion auf nachhaltige Produktionsweisen umstellen, die sich durch höhere Arbeitsintensität und Reduzierung chemischer, gesundheitsschädlicher und kapitalintensiver Betriebsmittel auszeichnen. Das Recht auf Nahrung zukünftiger Generationen verlangt die Bewahrung der nahrungsmittelproduzierenden Ressourcen, insbesondere des Bodens, des Wassers und der genetischen Vielfalt. Daher ist eine nachhaltige und auf Vielfalt ausgerichtete Landwirtschaft erforderlich, die sich im Gegensatz zu der von Großunternehmen kontrollierten industriellen Landwirtschaft befindet. Die Kontrolle über die lokalen und regionalen Märkte gehört in die Hände der Bäuerinnen und Bauern.
Die sozialen Beziehungen auf dem Lande müssen in Zukunft die Gleichberechtigung der Frauen respektieren. Es ist notwendig, im Rahmen der Agrarreform die vielfältigen Formen der Diskriminierung von Frauen zu überwinden, die in traditionalen patriarchalen Systemen ebenso vorherrschen wie in der modernen, männlich dominierten Agroindustrie. Nach Ansicht von Vía Campesina und FIAN ist die Agrarreform ein grundlegendes Element für die Demokratisierung des Landes, der Wirtschaft und der Gesellschaft. „Es ist das Recht und die grundlegende Aufgabe der Bäuerinnen und Bauern, das Land zu bebauen, um die Ernährungssouveränität ihrer Familien und Völker zu verwirklichen“, heißt es in der Plattform der Kampagne.
Die grundlegende Aufgabe der Kampagne ist es, diejenigen Bauernbewegungen international zu unterstützen, die sich in ihren Ländern für Agrarreformen einsetzen. Ebenso kann die Kampagne Impulse dafür geben, daß neue Bewegungen dieser Art entstehen. So wird die Kampagne ein Netz für Eilaktionen aufbauen, um mit internationalem Protest in den Fällen zu intervenieren, in denen das Recht, sich zu ernähren, verletzt wird oder Aktivisten der Agrarreform verfolgt werden. Die Kampagne wird auch internationale Lobbyinitiativen starten, um für politische Unterstützung der Kampagne zu werben und die Forderung nach Agrarreformen als prioritäres Thema auf die Agenda nationaler und internationaler Agrar-, Menschenrechts- und Entwicklungspolitiken zu setzen. Außerdem wird die Kampagne ein Informationsnetz aufbauen, das die Agrarreforminitiativen miteinander verbindet und darauf abzielt, die gegenseitige Kommunikation zu intensivieren und neue Bündnispartner zu gewinnen.

Agrarreformen und Entwicklungszusammenarbeit

Als Vertragsstaaten des internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte haben sich die Länder des Nordens darauf verpflichtet, andere Staaten bei der Einhaltung der Menschenrechte zu unterstützen. Für eine Entwicklungszusammenarbeit, die sich an Menschenrechten, Armutsüberwindung und nachhaltiger Entwicklung orientiert, ist die Unterstützung von Agrarreformen eine zentrale Aufgabe. Deshalb richtet die Kampagne an die Regierungen der Industrieländer Forderungen auf drei Ebenen: Im Bereich des politischen Dialogs fordert die Kampagne, daß neben den Verletzungen politischer und bürgerlicher Rechte auch die Verletzungen der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte systematisch in den Politikdialog einbezogen werden. Das bedeutet, daß insbesondere erzwungene Landvertreibungen, Verletzungen der Rechte von LandarbeiterInnen und Verschleppungen von Agrarreformen als Brüche der Respektierungs-, Schutz- und Gewährleistungspflichten der Staaten gegenüber dem Menschenrecht auf Nahrung thematisiert werden müssen.
Im Bereich der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit fordert die Kampagne, die Unterstützung von Agrarreformen als Priorität der bilateralen Kooperation zu definieren. Im Bereich der multilateralen Abstimmung fordert die Kampagne, daß multilaterale Entwicklungs- und Strukturanpassungsprogramme Agrarreformprozesse fördern sollen, keinesfalls aber behindern dürfen. Die Kampagne schlägt in diesem Sinn eine Überprüfung und Revision der bisherigen Strukturanpassungsprogramme des Agrarsektors unter dem Gesichtspunkt ihrer Implikationen für die Agrarreformprozesse in den jeweiligen Ländern vor. Die Möglichkeit von Schuldenumwandlungen für Agrarreform im Zeichen der Entschuldungsinitiative für arme und hochverschuldete Länder soll geprüft werden.
Vía Campesina und FIAN sind die Organisationen, die zu der Kampagne aufrufen und ihren Start ermöglicht haben. Die Kampagne ist jedoch offen für die Mitarbeit weiterer Organisationen und Personen, die daran Interesse haben.

Die Autorin ist Politikwissenschaftlerin und im internationalen Sekretariat von FIAN in Heidelberg für die Agrarreformkapagne verantwortlich.

KASTEN

Die neue Agrarreform orientiert sich an den Menschenrechten und an einer Landwirtschaft,
– die armen Bäuerinnen und Bauern den Zugang und die Kontrolle über Land, Saatgut, Wasser und andere produktive Ressourcen verschafft, so daß sie in Würde leben können;
– die gesunde und gentechnikfreie Nahrungsmittel für alle produziert;
– die auf eine nachhaltige Weise die Ernährungsgrundlagen der zukünftigen Generationen bewahrt;
– die die Rechte der Bäuerinnen stärkt;
– die die Ernährungssouveränität fördert;
– die die Gemeinden in den ländlichen Räumen stärkt.
Weitere Informationen zu der Kampagne sind erhältlich im deutschen FIAN-Sekretariat Overwegstr. 31, 44625 Herne, Tel. 02323-490099, Fax: 02323-490018, Email: fian@home.ins.de.

20 Jahre Solidaritätsbewegung mit Nicaragua

Die 20jährige Existenz des Informationsbüro Nicaragua und der Solidaritätsbewegung begann mit Postkartenaktionen, einer Botschaftsbesetzung und einem Hungerstreik. Nach dem erfolgreichen Aufstand gegen Somoza entstanden mehr als 300 Aktionsgruppen und Komitees, die ihre Politik über gemeinsame Bundestreffen, Kampagnen, zentrale Spendenkonten, Projekte und Rundbriefe miteinander koordinierten. Nach der Revolution sollte das nicaraguanische Volk in seinem Versuch, einen selbstbestimmten Weg zu gehen, unterstützt werden.
Die „Mühen der Ebene“ bedeuteten Informationsarbeit als vielschichtige Auseinandersetzung mit den Themen der Revolution und ihren Widersprüchen. Humanitäre Hilfe sah das Informationsbüro Nicaragua als politisch begründete Unterstützung für den revolutionären Prozeß. Dem Aufbauprozeß waren durch die inneren Auseinandersetzungen aber auch durch die weltweiten Machtverhältnisse Grenzen gesetzt. So stand die Nicaraguasolidarität vor der Aufgabe, Strukturen auch in der BRD zu verändern. Deshalb stand die Zusammenarbeit mit der Friedens-, der Frauen- und anderen sozialen Bewegungen in der BRD und mit fortschrittlichen Teilen von Kirchen, Parteien und Verbänden im Vordergrund. Beispiele dieser Arbeit waren die Antiinterventionskampagne mit einem Auftaktkongreß (1700 TeilnehmerInnen), die Beteiligung an der Friedensbewegung mit eigenen Mittelamerikathemen, die zentrale Nicaraguademo aller Friedens- und Solidaritätsgruppen und Protestaktionen vor US-Einrichtungen.

Kritische Solidarität

Später konzentrierten die Komitees ihre Proteste zunehmend auf die Contrafreunde in der BRD. Für die Solidaritätsgruppen bedeutete dies eine intensive Auseinandersetzung mit der Entwicklung in Nicaragua, um sich eigene, von der FSLN unabhängige Positionen zu erarbeiten und mit diesen der instrumentalisierten Kritik entgegenzutreten. So wurde in Kenntnis der Widersprüche und Fehler der SandinistInnen versucht, eine politische Solidarität weiterzuentwickeln. Die Berechtigung zur Kritik wollten wir daran messen, inwieweit wir selbst unsere „Hausaufgaben“ machten, also die bundesdeutsche und weltweite Verantwortung an Ausbeutungsstrukturen angingen. Dies spiegelte sich wider in den Kaffeekampagnen, die die Beteiligung der Kaffeekonzerne an der Ausbeutung Mittelamerikas deutlich machten, oder den Protestaktionen gegen den Weltwirtschaftsgipfel 1985 in Bonn und die IWF-Tagung 1988 in Westberlin.
Es war schwierig, diese Proteste in Übereinstimmung mit materiellen Solidaritätsbedürfnissen zu bringen. Natürlich gab es Geldsammlungen zum Beispiel für soziale Projekte, zur Unterstützung der FSLN und der FMLN und Materialsammlungen in der Kampagne „Nicaragua muß überleben“ (über 1 Million DM Geldspenden). Als Streitpunkt blieb, wieweit hierfür Zweckbündnisse mit anderen Organisationen und Parteien unter Vernachlässigung der politischen Differenzen und der eigenen politischen Akzente eingegangen werden sollten.
Die Verbindung der politischen Aktion mit der praktischen Solidarität war am besten mit der Brigadenkampagne gelungen. Mehrere Tausend BrigadistInnen unterstützten mit ihrem Geld und ihrer Arbeitskraft nicht nur Produktion und Siedlungsbau; ihre Präsenz im bedrohendsten Moment der Intervention und an den Orten der Contraoperationen sowie ihre Zeugenaussagen in unzähligen Veranstaltungen und Presseaktivitäten spielten eine zentrale Rolle in der politischen Auseinandersetzung der BRD der 80er Jahre.

Die Städtepartnerschaften

Eine mehr oder weniger eigenständige Form der Solidaritätsarbeit haben die kommunalen Partnerschaften seit 1985 entwickelt. Aus den Komitees heraus wurde die Gründung von Städtepartnerschaftsvereinen unter einer dreifachen Zielsetzung unterstützt: Da das Recht auf einen eigenen Weg von der USA und der Bundesregierung beschnitten wurde, sollten die Kommunen die fehlende politsche Anerkennung Nicaraguas kompensieren. Als Ausgleich für den Wirtschaftsboykott und die Folgen der ungerechten Handelsbeziehungen sollten vielseitige und dauerhafte Kontakte eine Gegenöffentlichkeit zu dem Zerrbild Nicaraguas in den Medien herstellen. Sehr schnell entstanden allein in der Bundesrepublik über 100 Städtepartnerschaften, von denen viele auch heute noch existieren. Städtepartnerschaftsinitiativen waren ein Zankapfel in der Solibewegung. Kritisiert wurden die Kompromißbereitschaft gegenüber der Stadtregierung, um Hilfsgelder zu erzielen, aber auch die karitative Haltung, die in der Öffentlichkeitsarbeit mehr auf das Elend und die Hilfsbedürfigkeit in Nicaragua und nicht auf das Beispiel von Menschen abhebt, die um Autonomie kämpfen und sich gegen die Wiedereinführung der alten Unterdrückungsverhältnisse wehren.
Der politische Erfolg dieser breiten Solibewegung in den 80er Jahren gründete im wesentlichen auf:
1. der gesellschaftlichen Breite der Aufstandsphase (Kampf gegen einen „Bilderbuchdiktator“, Volksaufstand statt Guerillafocus, Umgang mit der Opposition nach dem Triumph),
2. der politischen Plattform in der BRD als breites Bündnis bei Ablehnung einer organisatorischen Zusammenarbeit mit Parteien und Großorganisationen,
3. der multipolaren und basisdemokratischen Struktur mit einer starken Rolle kirchlicher Gruppen, einer großen Beteiligung aus der undogmatischen Linken, DKP-nahen Organisationen und einer Dominanz jüngerer AktivistInnen, die unbelastet von deprimierenden Erfahrungen des Internationalismus waren,
4. den Grundpositionen der Solidarität, die sich von einer bedingungslosen Anlehnung an die sandinistische Politik im Sinne einer „Freundschaftsgesellschaft“ abgrenzte.

Teilnehmen an einer Bewegung

Neben der Kontinuität und Breite der gesellschaftlichen Verankerung spielten auch subjektive Faktoren eine große Rolle für die Bewegung. Von politischen Ohnmachtserfahrungen und Entfremdungserlebnissen im eigenen Land geprägt, empfanden wir im Nicaragua der 80er Jahre das Gegenteil: Alle Menschen schienen zufrieden und aufgeschlossen, waren aktiv im gesellschaftlichen Aufbruch, um ihr Land aufzuräumen, ihre Gesellschaft (auch ihre Straßen) auszukehren, Berge zu versetzen.
Die Funktionalisierung Nicaraguas als Projektionsfeld für sich erfüllende Ideale und für die nicht erreichbaren Ziele im eigenen Land spielte sicher eine große Rolle. Gerade nach dem Scheitern der Friedensbewegung 1983 erlebte der Brigadentourismus seinen Boom. Bei einer Beteiligung in Nicaragua konnte man Gestaltungsmacht ausüben, war anerkannt als Brigadist, als Projektunterstützer, als „Entwicklungshelfer“, als Gesandter Deutschlands. Nicaragua wurde zum Betätigungsfeld für die eigenen nicht eingelösten Ziele.

Ein Comandante fährt kein Fahrrad

Dabei wurden und werden oft eigene Entwicklungsvorstellungen auf Nicaragua übertragen. Gegen paternalistischen Positionen, die von der Annahme der eigenen überlegenen Kompetenz ausgehen, haben wir immer zäh gerungen. Für viele endete es allerdings im Rückzug, wenn eigene Vorstellungen nicht realisiert wurden. Es erzeugte Hilflosigkeit, wenn Tomatenfelder mit Giftspritzen bearbeitet und die Giftreste gleich im Wassergraben entsorgt wurden. Oder wenn die Comandantes nicht Fahrrad fuhren. Aber die Frage, ob die Regierenden Fahrrad fahren sollen, wäre als Thema erst in dem Moment angebracht, wenn wir unsere eigene Regierung gezwungen hätten, Fahrrad zu fahren.
Mit dem Verlust der Regierungsmacht der FSLN und den gleichzeitig stattfindenden Umbrüchen in Europa verschwand die Solidaritätsbewegung aus der großen Öffentlichkeit. Stattdessen gibt es heute Fachabteilungen: die Städtepartnerschaftsgruppen, die örtlichen Eine-Welt-Gruppen und der Eine-Welt-Handel, institutionalisierte Kaffee- und Bananenkampagnen, Länderinfostellen und regionale Stukturen, denen die Basisbewegungen abhanden gekommen sind und die sich jetzt mehr oder weniger als NRO einrichten.

Kritik am Entwicklungsdenken

Die Kritik an den Projektionen der Solidaritätsbewegung bedeutet zugleich Kritik am Entwicklungs- und Fortschrittsdenken. Auch das Konzept der Nachhaltigen Entwicklung setzt im Kern das hergebrachte Entwicklungsdenken fort. Es hält unkritisch an Herrschaftsstrukturen fest, bevorzugt technokratische Lösungen ökologischer Probleme und delegiert politische Auseinandersetzungen an die Plauderstündchen „runder Tische“. Nachhaltige Entwicklung ist mit ihrer politischen Plattform, der Lokalen Agenda, zum Zauberwort für die globale Umwelt- und Entwicklungspolitik geworden. Eine offensive Solidaritätsarbeit heißt, die angebotenen Foren zu besetzen und eine lokale Agenda von unten neu zu definieren, unter Einschluß von sozialen Problemen zwischen Erster und Dritter Welt.
Alle Welt strebt nach Siegeln und Zertifikaten, nach ökologischen und sozialen Unbedenklichkeitsbescheinigungen, nach Sozialstandards im Welthandel. Die direkten Beziehungen gehen darin verloren oder werden nicht aufgebaut. Die Distanz und Vermitteltheit der Warenbeziehungen zwischen uns, zwischen den ProduzentInnen des Südens und den KonsumentInnen des Nordens, wird auf diese Weise vertieft und veredelt. Und: Wer siegelt eigentlich im Süden die Produkte des Nordens? Transfair oder Teppichsiegel, Öko-Audit oder Demeter zielen auf unser Gewissen, auf unsere eigene Unversehrtheit.
Ein Ansatzpunkt emanzipatorischer Politik könnte in diesem Zusammenhang sein, die Unmittelbarkeit des direkten Austauschs (wieder)herzustellen. Es geht um die Bevorzugung der Subsistenz und der regionalen Märkte gegenüber der exportorientierten kapitalintensiven Produktion von Gütern. In diesem Zusammenhang demonstrieren die Selbstorganisationsversuche kleiner Landkooperativen in Nicaragua Ansätze einer sozial- und umweltverträglichen Landwirtschaft mit dem Ziel der Selbstversorgung jenseits von Weltmarkt und Exportorientierung. Angesichts der Hurrikan-Katastrophe haben sie sich als tragfähig erwiesen und direkte Hilfe organisiert. Der Austausch all dieser Erfahrungen soll ein zentrales Moment der Solidaritätsarbeit werden.

Mit wem sind wir solidarisch?

Traditioneller Bezugspunkt war die FSLN, die zusammen mit den ihr verbundenen Massenorganisationen Diskussions- und Emanzipationsprozesse initiierte. Zugleich behinderte aber die vertikale und hierarchische Parteistruktur eine selbständige Weiterentwicklung und lenkte alle Ansätze in parteikonforme Bahnen.
Nach der Wahlniederlage der SandinistInnen erkämpften soziale Bewegungen neue Spielräume und autonomere Organisationsformen. Heute sehen wir in der FSLN kaum noch eine emanzipatorische Kraft. Viele unserer PartnerInnen wurden zu DissidentInnen, die aus den sandinistischen Organisationen ausgestoßen wurden beziehungsweise ausgetreten sind, sich aber weiter als SandinistInnen bezeichnen. Ihre Kritik an den Organisationsstrukturen von Partei und Massenorganisationen läßt auch uns große und zentral gelenkte Organisationen in Frage stellen. Die zehn Jahre überfällige Organisationskritik haben wir erst auf dem diesjährigen Mittelamerika-Bundestreffen im Mai in Frankfurt gemeinsam und öffentlich diskutiert.

Von der Projektion zum kulturellen Sichtwechsel

Nach 20 Jahren Projektarbeit liegen Projekte und Projektruinen der sandinistischen Zeit sowie Erfahrungen mit BrigadistInnen und „ihren“ Projekten hinter uns. Wir mußten zu Kenntnis nehmen, daß die NicaraguanerInnen unsere Arbeit und Hilfe in der Gesamttendenz nicht von der offiziellen BRD-Entwicklungshilfe unterscheiden konnten. Projektarbeit als paternalistisches Hilfsangebot, als Ausdruck westlicher Entwicklungsmanie, als Identifikationsobjekt von schlechtem Gewissen und individuellem HelferInnensyndrom verlangt eigentlich nach einem sofortigen „Stop“. Während wir die grundsätzliche Revision der Entwicklungsideologie fordern, sollten wir dennoch praktische Antworten auf die katastrophalen Lebensbedingungen und die materiellen Erfordernisse im Überlebenskampf der Menschen in Mittelamerika geben können.
Projekte sollen die Sache selbstverantwortlicher Gruppen und Kooperativen sein, die in einem sozialen Prozeß ihre eigenen Entwicklungsziele und den entsprechenden Organisationsrahmen schaffen, doch bleibt die Beziehung zu diesen Gruppen und Menschen asymmetrisch, solange wir die Geldgeber sind. Projekte sind als solidarische Unterstützung Parteinahme für Initiativen und soziale Bewegungen, denen wir nicht vorgefertigte Entwicklungsmodelle aufdrücken wollen. Die materielle Basis ist eine Grundvoraussetzung, um Selbstbestimmung und Unabhängigkeit überhaupt denken zu können. Dennoch muß in Zukunft stärker noch der Austausch gewichtet werden. Das heißt für uns zuallererst Transparenz in der Zusammenarbeit. Wir wollen wir eine „lebendige Solidarität“, die die Selbstverständlichkeiten der eigenen Lebensformen, der eigenen Kultur bewußt in Frage stellt. Dies soll eine wechselseitige Ermutigung zum kulturellen Sichtwechsel sein. Insofern ist lebendige Solidarität immer Einmischung, niemals aber in Form eines Dominanzanspruches.

„Zwischen Revolution und Quark. 20 Jahre Informationsbüro Nicaragua“, Wuppertal, 1998. Diese Broschüre ist kostenlos beim Infobüro Nicaragua, Friedrich-Ebert-Strape 141b, 42117 Wuppertal zu beziehen.

KASTEN:
Solidaritätsbewegung heute

Im Mai 1999 fand ein Gespräch zwischen Klaus Heß vom Informationsbüro Nicaragua in Wuppertal und Ruth Weizel vom Ökumenischen Büro in München zum aktuellen Stand der Solidaritätsbewegung statt, das um die Frage kreiste, warum Leute heute noch Länder-Solidaritätsarbeit zu Nicaragua machen, und eigentlich als Streitgespräch konzipiert war. Es stellte sich aber schnell Einigkeit darüber her, daß Nicaragua-Arbeit, wenn sie noch politische Arbeit sein will, an Themen anknüpfen muß, die auch hier von Bedeutung sind, weil sie sonst zum „Freundschaftsverein mit folkloristischen Informationsveranstaltungen auf Devotionalienebene entwertet wird, oder als ein Traditionalistenverein vor sich hinsiecht“ (Klaus Heß). Der folgende kurze Abschnitt dokumentiert die Bemühungen, solche Anknüpfungspunkte zu finden ebenso wie die ungelösten Probleme, die dem im Weg stehen.
Ruth Weizel: Seit Anfang der 90er Jahre ging es in der Nica-Soliarbeit vor allem darum, emanzipatorische Strukturen dort zu stärken und hier das Bild zu vermitteln, man muß dort etwas erhalten. Der Bezug zu hier ging mehr und mehr verloren. Um nicht in einer rein auf Nicaragua ausgerichteten Soli-Arbeit zu verkommen, haben wir versucht, andere Felder zu finden. Über die Maquila-Arbeit ist ein Bezug da. Der ist zwar nicht so direkt, denn was in den Maquilas produziert wird, geht in die USA, aber strukturell, von der globalisierten Wirtschaft her gesehen, ist der Zusammenhang gegeben. Damit wurde es auch sinnvoll, nicht nur Nicaragua zu betrachten, sondern die Region Zentralamerika. Schließlich verwischen sich die Unterschiede zwischen den Ländern immer mehr.
Klaus Heß: Wir sehen uns auch nicht mehr als Länderinformationsbüro, sondern arbeiten an Themenschwerpunkten, die mit dem zu tun haben, was sich in Mittelamerika tut, und auch damit, wie man hier politisch arbeiten kann. So entstanden der Frauen/Feminismusschwerpunkt und der Schwerpunkt Landrechte. Verbunden damit auch die Frage, wen man hier als Bündnisparter gewinnen kann. Wir haben versucht, mit den selbstverwalteten Betrieben hier in der BRD und den arbeiterInneneigenen Betrieben in Nicaragua einen Austausch und Solidarität zu ermöglichen. Der Mechanismus des sozialen Ausschlusses herrscht in dieser kapitalistischen Weltwirtschaft mit unterschiedlichen Auswirkungen, und es müßte doch möglich sein, diesen Mechanismus zu vermitteln und die davon Betroffenen auch ein Stück weit in einen Austausch zu bringen. Wir müssen uns von der klassischen Bildungsarbeit lösen, wo eine diffuse Öffentlichkeit sich einen Abend was über die Landkämpfe in Nicaragua anhören soll. Die Leute haben aber keinen Ansatzpunkt, um das, was sie hören, umzusetzen, weil es sehr wenig mit der eigenen Lebens- und Arbeitswelt zu tun hat. Wir müßten andere Ansätze finden und auch mit anderen Gruppen mehr zusammenarbeiten. Eine Solibewegung zu einem Land hat auf Dauer keine Existenzmöglichkeit. Die muß sich auf Interventionspunkte beziehen, die auch hier in der BRD liegen.

Zwischen Solidarität und interkulturellem Austausch

Das Büro hat sich Anfang der 90er Jahre anders als andere Gruppen dazu entschlossen, weiter Brigaden nach Nicaragua zu schicken. Die Brigaden – so die Argumentation – sollten junge Menschen an die Nord-Süd-Problematik heranführen, zu ihrer Politisierung beitragen und im besten Fall ein dauerhaftes politisches Engagement zur Folge haben. Mit ähnlicher Argumentation wurden dann nach Unterzeichnung der Friedensverträge 1992 auch Brigaden nach El Salvador organisiert. Seitdem wurden die Brigaden innerhalb des Büros nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt. Über deren Zielsetzung und das „richtige“ Konzept wird aber immer wieder diskutiert. Im Folgenden soll der Diskussionprozeß der letzten Jahre in groben Zügen nachgezeichnet werden.
Auf den ersten Blick schien diese neue Idee der Brigaden stimmig: Beim Landaufenthalt und der Mitarbeit im Projekt leben die TeilnehmerInnen in den Familien und machen so, mit den Menschen, Erfahrungen eines völlig anderen Alltags. Im Anschluß daran können sie diese Erfahrung in einen Gesamtkontext stellen, indem sie im Rahmen eines Programms Informationen bekommen und Diskussion miterleben.
Mitte der 90er Jahre bestand das Ziel der Brigadearbeit folgerichtig darin, möglichst viele Menschen für das Thema Nicaragua beziehungsweise El Salvador zu gewinnen. Ein Flugblatt aus dem Jahr 1996 trägt den Titel: „Hast Du im Sommer schon was vor?“ Im gleichen Jahr wurden die Brigaden des Ökumenischen Büros in einem Artikel über Jugendreisen in der Süddeutschen Zeitung erwähnt. Ohne größeren Aufwand waren die beiden Gruppen ausgebucht. Die Auseinandersetzung mit den BrigadistInnen über ihre genauen Motivationen, ihre Vorstellungen von dem Land und ihren Kontext standen bei der Vorbereitung nicht im Mittelpunkt. Es wurde versucht, ihnen während der vier Vorbereitungswochen-enden möglichst viele Informationen zu vermitteln, die sie sowohl für den Landaufenthalt als auch vor allem für das Informationsprogramm benötigen würden. Auch das Informationsprogramm stand noch in „alter Tradition“: möglichst viele Gespräche mit verschiedenen Gruppen, möglichst viel mitbekommen, was für die Arbeit in Deutschland wichtig ist.
Bei den Auswertungen der Brigaden mit den BrigadistInnen wurde deutlich: Sie waren überfordert mit all dem, was auf sie eingeströmt war (damit meinten sie sowohl die Fülle an Informationen als auch die Eindrücke des Landes und des Lebens dort). Die meisten von ihnen hatten zu Beginn der Vorbereitung das erste Mal von Nicaragua oder El Salvador gehört.
Der Widerspruch zwischen der Zusammensetzung der Brigaden, den Erwartungen des Büros und den Erwartungen der ProjektpartnerInnen wurde irgendwann unerträglich groß. Die BrigadistInnen waren überfordert; das Büro war enttäuscht über fehlende Begeisterung und mangelndes Engagement von seiten der BrigadistInnen. Und den ProjektpartnerInnen (dies trifft vor allem für Nicaragua zu) fiel es zunehmend schwer, von der Revolution zu schwärmen und von der Verantwortung, die man immer noch dem Volk gegenüber trage, und dabei in vollkommen teilnahmslose und fragende Gesichter zu blicken.
Aufgrund der Tatsache, daß in der Vorbereitung zu wenig auf die Vorstellungen und Motivationen der BrigadistInnen eingegangen wurde, ergaben sich beim Aufenthalt selbst zum Teil Effekte, mit denen im Büro zunächst nur sehr schwer umgegangen werden konnte: Die TeilnehmerInnen empfanden die Gruppen in Nicargua oder El Salvador oftmals als lächerlich, Stereotypen wurden nicht aufgebrochen (was eigentlich das Ziel gewesen wäre), sondern verstärkten sich oft noch. Das Bild der „glücklichen Armen“ wurde romantisiert oder die „faulen Nicas“ an der Baustelle zitiert. Diese Erfahrungen machten deutlich: aus der Idee der Solidaritätsbrigaden mußte nun die Vorstellung eines interkulturellen Austausches erwachsen.
Dabei ist das geographische Ziel Nicaragua oder El Salvador nicht mehr so ausschlaggebend. Für das Büro lag es natürlich nahe, an diesen beiden Ländern festzuhalten. Es wollte diesen interkulturellen Austausch fördern, dabei allerdings gezielt die politische Geschichte des Landes, der einzelnen Gruppen und der Menschen in den Vordergrund stellen. Durch die Auseinandersetzung mit dieser Geschichte und das gleichzeitige Einbeziehen der Situation in der BRD und der persönlichen Situation der BrigadistInnen war nun potentiell die Basis für eine gemeinsame Auseinandersetzung gegeben.
Seit dem letzten Jahr hat sich die Diskussion um das Brigadekonzept dahingehend gewendet, nicht mehr möglichst viele Menschen für die Brigaden zu gewinnen, sondern Menschen mit konkreten Ideen, Wünschen, Zielen, die möglicherweise bereits in politischen Gruppen in der BRD aktiv sind, um so einen Austausch mit nicaraguanischen oder salvadorianischen Gruppen, die zu ähnlichen Themen arbeiten, zu ermöglichen. Während der Vorbereitungszeit informieren sich die BrigadistInnen über relevante Themen in Deutschland. Im Vordergrund stand nun, daß politisches Engagement hier immer mit der persönlichen Betroffenheit der einzelnen zusammenhängt. Damit schafft man den TeilnehmerInnen einen Freiraum für eine politische Auseinandersetzung und Debatte, den sie sonst in den meisten Fällen nicht haben. Selbstbestimmt sollen die TeilnehmerInnen über die inhaltliche und organisatorische Gestaltung, zum Beispiel die Anzahl der Gespräche pro Tag, des Informationsprogramms entscheiden.
All das zusammen bedeutet eine arbeitsintensive Vorbereitung. Seit zwei Jahren hat sich eine Gruppe von ehemaligen BrigadistInnen zusammengefunden, die die Brigaden mit vor- und nachbereiten und auch das Konzept ständig hinterfragen und zu verbessern versuchen. In diesem Jahr wurde den Brigaden ein Thema gestellt, um Menschen aus konkreten Zusammenhängen anzusprechen. Diese Rückbesinnung auf den politischen Anspruch der Brigaden spiegelt sich im Flugblatt wider: „Die herrschenden Verhältnisse ins Wanken bringen“ steht über einem Foto, auf dem BrigadistInnen eine Steinmauer umstürzen. In diesem Jahr haben sich trotz intensiver Werbung noch weniger InteressentInnen gefunden. Es wird nur eine Brigade nach El Salvador fahren.

Die Verwirrung kommt nach dem Einsatz

Die AktivistInnen der Vorbereitungsgruppe sind der Meinung, man könnte viel aus den Brigaden machen, wenn man genug Zeit für Vor- und Nachbereitung hätte. Genug Zeit, um Konzepte und Methoden zu erarbeiten, wie man Menschen gewinnen kann. Als wesentlich erachten sie, ein geeignetes Konzept für die Nachbereitung zu entwickeln. Die Festschreibung von Stereotypen beispielsweise oder die Verwirrung, die bei vielen nach der Brigade entsteht, müssen im Anschluß an die Reise aufgearbeitet werden.
Eines muß man sich also eingestehen, auch wenn es manchen „alten Hasen“ im Büro schwerfällt: Brigaden sind nicht mehr Teil einer klassischen politischen Arbeit, sondern fallen eher unter das Raster pädagogischer Jugendbildungsarbeit. Daß dies einen großen Aufwand erfordert, dürfte einleuchten.
Die Krise der Mittelamerika-Solidarität macht diese Aufgabe nicht unbedingt leichter. Wie soll sich eine Jugendliche für die Nicaragua-Arbeit interessieren, wenn man sich innerhalb der Nica-Arbeit selbst ständig die Frage stellt, ob Ländersoliarbeit noch sinnvoll ist und es wahrscheinlich schwierig zu definieren ist, worin diese Ländersoliarbeit genau besteht? Wie kann man BrigadistInnen zu politischer Arbeit motivieren, wenn die Solidaritätsarbeit selbst immer mehr den Weg der Nichtregierungs-Entwicklungshilfe geht? Wie soll sich eine Jugendliche mit einer anderen Geschichte und einer anderen Denkweise in einen Arbeitskreis hineinfügen wollen, dessen Zusammensetzung sich in den letzten zehn Jahren nur geringfügig geändert hat?

Die Autorin war bis 1997 El Salvador-Referendum im Ökumenischen Büro

KASTEN:
Solidaritätsbrigaden nach Mittelamerika

Auch im nächsten Sommer wird das Ökumenische Büro für Frieden und Gerechtigkeit Solidaritätsbrigaden nach Nicaragua und El Salvador organisieren.

Die Brigaden halten sich fünf Wochen lang in Nicaragua oder El Salvador auf. Das Programm hat zwei Schwerpunkte: Zum einen soll Solidarität durch die Brigadenarbeit praktisch werden, indem ein Projekt finanziell unterstützt wird und die BrigadistInnen sich an der Projektdurchführung beteiligen. Die TeilnehmerInnen leben in dieser Zeit in Familien der Gemeinde oder Kooperative auf dem Land. Bei der Projektmitarbeit geht es nicht um karitative Hilfe, sondern um die Unterstützung emanzipativer Organisationen. Das Zusammenarbeiten und -leben soll ermöglichen, daß ein Austausch über Lebenserfahrungen, gesellschaftliche Realitäten und die jeweilige politische Arbeit stattfindet. Zum anderen treffen sich die BrigadistInnen während eines Informationsprogramms mit Organisationen aus diversen Sektoren, die sich mit verschiedenen Themen befassen – Frauenorganisationen, Menschenrechtsorganisationen, Kooperativenverbände, Gewerkschaften.
Die Brigaden werden gemeinsam mit den Partnerorganisationen des Ökumenischen Büros in Nicaragua und El Salvador organisiert und durchgeführt. In El Salvador ist dies der Socorro Luterano (Lutherisches Hilfswerk). Ein wichtiger Bestandteil der Arbeit des Socorro ist die Unterstützung von Basisorganisationen auf dem Land. Für eine bestimmte Zeit werden die Organisationen vom Socorro Luterano in ihrer Arbeit begleitet, um mit ihnen eine Infrastruktur aufzubauen, die es möglich macht, organisiert Veränderungen anzugehen.
In Nicaragua ist der Projektpartner das Movimiento Comunal in Matagalpa, eine Basisorganisation, die sich der Bereitstellung von Infrastruktur in marginalisierten Stadtteilen und Gemeinden sowie der Förderung von Prozessen der Selbstorganisation widmet.
Wen sucht das Büro für die Brigaden?
Für die Solidaritätsbrigaden werden keine SpezialistInnen benötigt. Teilnehmen können Leute, die
* Interesse an einer Zusammenarbeit mit Menschen haben, die an Verbesserungen ihrer Situation und der Veränderung von politischen und sozialen Rahmenbedingungen arbeiten
* Lust haben, sich mit einer Gruppe an vier Wochenendseminaren auf die Reise vorzubereiten, sie zu organisieren und dabei viel zu diskutieren
* bereit sind, bis zur Brigade soviel spanisch zu lernen, daß es für die Alltagskommunikation ausreicht
* etwa 2.000 DM aufbringen können (Flug, Unterkunft, Verpflegung, Taschengeld)

Nähere Infos gibt es beim: Ökumenisches Büro für Frieden und Gerechtigkeit e.V., Pariser Str. 13, 81667 München, Tel.: 089-4485945, e-mail: oeku-buero@link-m.de

KASTEN:
Das Ökumenische Büro für Frieden und Gerechtigkeit e.V. München

Das Ökumenische Büro wurde 1983 von einer Gruppe angehender SozialpädagogInnen und GewerkschafterInnen aus München gegründet. Das Hauptziel bestand darin, durch Arbeitsbrigaden der Solidarität mit dem sandinistischen Nicaragua einen konkreten Ausdruck zu verleihen. Seitdem besteht das Büro als Anlaufstelle für Menschen aus München und Umgebung, die sich mit der Nord-Süd-Problematik auseinandersetzen und sich zwischen Theorie und Praxis politisch engagieren wollen.
Heute liegen unsere Arbeitsschwerpunkte in den Ländern Nicaragua, El Salvador und Mexiko. Länderübergreifend beschäftigen wir uns mit Menschenrechtsproblemen und der Situation in den Maquilas (Freie Produktionszonen / Billiglohnfabriken) auch in Honduras, Guatemala und Costa Rica.
In der BRD leistet das Büro Informationsarbeit zur sozialen, wirtschaftlichen und politischen Situation sowie zu aktuellen Entwicklungen in den Ländern Mittelamerikas und in Mexiko. Wir halten Kontakte zu JournalistInnen, machen Infostände und geben Broschüren mit Schwerpunktthemen sowie ein vierteljährlich erscheinendes Infoblatt heraus. Zusätzlich veranstalten wir Seminare und Vorträge, oft mit Gästen aus unseren Schwerpunktländern.
In Mittelamerika und Mexiko arbeiten wir mit Organisationen zusammen, die durch emanzipatorische Ansätze Prozesse in Gang setzen wollen, um die herrschenden Verhältnisse zu ändern. Diese direkte Unterstützung unserer Partner erfolgt auf verschiedenen Wegen:
* Einmal jährlich organisieren wir sogenannte Brigaden, die im Artikel beschrieben werden.
* Wir suchen nach finanzieller Unterstützung für Projekte, die unsere Partnerorganisationen vor Ort verwirklichen. Die Projekte unterstützen die marginalisierte Mehrheit in Mittelamerika und Mexiko dabei, sich der Ursachen ihrer Situation bewußt zu werden und selbst nach Lösungen zur Änderung der Verhältnisse zu suchen.
* In Diskussionen und durch den permanenten Austausch analysieren wir gemeinsam die Beziehungen zwischen Nord und Süd und suchen nach Strategien, um die Verhältnisse zu verändern.
* In unregelmäßigen Abständen laden wir Gäste aus Mittelamerika ein, damit sie selbst ihre Arbeit, ihre Analysen, ihre Vorstellungen der Öffentlichkeit hier bekanntmachen können.
* Wir versuchen, die Belange unserer Partner, sowohl in der deutschen als auch der mittel-amerikanischen Öffentlichkeit, bekannt zu machen, suchen von Fall zu Fall die Unterstützung von PolitikerInnen, Gewerkschaften und Kirchen und rufen zu Urgent Actions mit Protestbriefen auf. gegen Menschenrechtsverletzungen auf.

InterContinental Caravan

Wütend über ihre Machtlosigkeit und die Ar-
roganz, mit der andere über ihr Leben bestimmen, machen sich fünfhundert VertreterInnen aus Asien, Lateinamerika und Afrika im Frühsommer ’99 auf den Weg nach Europa. Sie wollen nicht mehr auf Almosen aus der westlichen Welt warten, sondern fordern Respekt für ihre ureigenen Rechte bei denen ein, die sie seit Jahrhunderten weltweit mißachten. Sie verstehen sich als Teil des internationalen Protests gegen ein ungerechtes Wirtschaftssystem, das sich nicht an den Bedürfnissen aller Menschen orientiert. Die Hoffnung darauf, daß nationale Regierungen beziehungsweise internationale Institutionen diese Probleme lösen können, haben sie aufgegeben, da genau in dieser Art von zentralisierter Macht ein Teil des Problems liegt.
Die Initiative wurde von der indischen Bauernbewegung KRRS aus dem Bundesstaat Karnataka vorgeschlagen, mit geschätzten zehn Millionen Mitgliedern eine der stärksten Bewegungen weltweit. Die indischen Bauernbewegungen kämpfen seit Jahren dafür, daß ihre Forderungen national und international gehört werden. Bisher nahezu ergebnislos, da die politischen Entscheidungen immer weit entfernt von ihrem Wohnort getroffen werden, zu weit, als daß ihr Protest registriert oder nur bekannt würde. Deshalb kommen sie nun selbst zahlreich nach Europa. Sie wollen mit möglichst vielen EuropäerInnen und europäischen Organisationen direkten Kontakt bekommen und sich über Globalisierungsfolgen und über alternative Entwicklungsmodelle austauschen. Ihren Protest wollen sie an den Toren der wichtigsten Transnationalen Konzerne und internationalen Institutionen sowie bei den Gipfeln der EU und der G8 äußern. Ihnen werden sich VertreterInnen aus der ganzen Welt anschließen, von der brasilianischen Landlosenbewegung Movimento Sem Terra über die Maori aus Neuseeland bis hin zu südkoreanischen GewerkschaftlerInnen, anschließen.
Geplant ist eine Route von den Niederlanden über Belgien, Großbritannien, Frankreich, Schweiz, Italien nach Deutschland. In den jeweiligen Orten werden Begegnungen mit unterschiedlichsten Bewegungen Europas stattfinden, sowie Aktionen und Demonstrationen vor den Hauptbüros von Multis und der Welthandelsorganisation. Den Schwerpunkt der Karawane in Deutschland werden die beiden Gipfel bilden, der EU-Gipfel am 3./4. Juni und der Weltwirtschaftsgipfel am 17./18. Juni in Köln. Es werden vor allem weiterhin Gruppen im süddeutschen Raum gesucht, die vom 15. bis 17. Juni eine größere Anzahl von TeilnehmerInnen beherbergen können. Eine Gruppe wird von Berlin nach Polen und in die Tschechische Republik fahren.
Dieses Projekt bietet die große Chance, daß nicht wie sonst EuropäerInnen über die Probleme in sogenannten Entwicklungsländern reden, sondern daß die Menschen dabei unterstützt werden, hierherzukommen und für sich selber zu sprechen. Diese Karawane ist keinen „Dritte-Welt-Karawane“, sondern ein gemeinsames internationales Projekt, was ein Ansatz für eine Umkehr sogenannter Entwicklungshilfe sein könnte. Die Menschen hier werden mit den Auswirkungen des globalen ökonomischen Wirtschaftssystems konfrontiert, und Menschen aus anderen Ländern haben die Möglichkeit, uns ihre Vorstellungen von Entwicklung nahezubringen.
Die Karawane findet im Rahmen des Anfang ’98 in Genf gegründeten Netzwerks von Basisbewegungen Peoples Global Action statt (www.agp.org).
Wir wünschen uns, daß das Projekt von vielen gesellschaftlichen Gruppen getragen und unterstützt wird. Wer noch weitere Informationen haben möchte, findet diese unter: http://stad.dsl.nl/~caravan/ oder wende sich direkt an uns: ICC99@gmx.de

Spenden bitte an: InterContinental Caravan, Kto:3701010441,Blz:50090100 Ökobank Berlin

Mit Hauptstadtplänen ins neue Jahrtausend

Am Morgen des zehnten Februar erwartete die MitarbeiterInnen des Ibero-Amerikanischen Instituts eine böse Überraschung: Wasserrohrbruch im Magazin. Eine ursprünglich pragmatische Überlegung hatte fatale Folgen: Als die Bibliothek in einer Siemensvilla am südlichen Stadtrand Berlins in den siebziger Jahren aus allen Nähten platzte, wurde sie in der Cafeteria der gerade neuerbauten Staatsbibliothek am Potsdamer Platz untergebracht. Den einst als Tiefgarage geplanten Keller funtionierte man kurzerhand zum Büchermagazin um. Die dort verlegten Wasserleitungen wurden an jenem zehnten Februar vor allem den Altbeständen aus der ursprünglichen Sammlung der argentinischen Gelehrtenfamilie Quezada zum Verhängnis. Ein Drama für alle BuchliebhaberInnen und -benutzerInnen. An diesem Tag mußte das Institut geschlossen bleiben, und alle MitarbeiterInnen beteiligten sich an der Rettung der Bücher. Die durchnäßten Bände gingen noch am selben Tag nach Leipzig in das Zentrum für Bucherhaltung. Dort werden die Bücher zur Zeit trocken gefroren.
Das Iberoamerikanische Institut wurde 1930 als preußisches Kulturinstitut gegründet. Mit einem Anfangsbestand von 130.000 Bänden war das Institut im Marstall in Berlin-Mitte untergebracht. Mittlerweile beläuft sich der Bestand auf etwa 800.000 Monographien und 4.500 laufende Zeitschriften. Darüber hinaus verfügt das Institut über eine umfangreiche Kartensammlung, meistens Militärkarten, über eine Dia-, Foto- und Videosammlung und über mehr als 20.000 Tonträger. Im Magazin, wo sich die Bestände befinden, erinnert kaum mehr etwas an die Tiefgarage: Ein Labyrinth aus Bücherregalen, Gängen, Treppen und Türen, der leicht saure Geruch von Bücherstaub in der Luft. Nur die leuchtenden Mittelstreifen, die bei Stromausfall den Weg nach draußen weisen, lassen vermuten, daß die Räumlichkeiten einst anderem dienen sollten.

Könige und Stinos

Oben im Leesesaal studieren nicht nur Leute aus dem akademischen Bereich in den Büchern aus dem Ibero-Amerikanischen Kulturraum: Da sitzt zum Beispiel ein interessierter Bürger neben einer Studentin der Lateinamerikanistik, eine argentinische Akademikerin forscht für ihre Dissertation, ein Venezolaner liest in der Zeitungsecke seine heimische Tagespresse. Auch prominenten Besuch bekommt das Institut des öfteren. Der spanische König staunte nicht schlecht, als ihm bei einem Besuch im Institut eine Tonbandaufnahme von seinem Großvater überreicht wurde.
Im letzten Jahr kam das Ibero-Amerikanische Institut durch den Bericht des Bundesrechnungshofs in die Presse. In den Feuilletons der großen Zeitungen schlug sich nieder, daß laut darüber nachgedacht wurde, ob das Institut ohne seine wissenschaftliche Abteilung und als Teil der Staatsbibliothek nicht wirtschaftlicher arbeiten könnte. Kurz machte sich Panik breit, daß damit die gut ausgestattete Institution, deren Bestände weltweit kaum ihresgleichen finden, dichtgemacht werden könnte. Bald legte sich die Aufregung aber wieder. Die Pläne sind vom Tisch.

Das Institut der großen Politik?

„Nur was sich verändert, bleibt“, sagte der scheidende Präsident Dietrich Briesemeister bei seiner Verabschiedung im Februar. War Briesemeister als Romanistik-Professor vorwiegend im Hochschulbereich tätig, so wird unter seinem Nachfolger Günter Maihold eher das Wissenschaftsmanagement in den Vordergrund gerückt werden. Maihold war lange Zeit Chef des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Costa Rica und ist Leiter der Projektgruppe Entwicklungshilfe.
Die neue Regierung in Bonn hat die Mittel für den Erwerbungsetat um circa 25 Prozent erhöht, somit beläuft sich der Etat jetzt auf fast 1,3 Millionen DM. Damit können empfindliche Bestandslücken gefüllt und der laufende Erwerb aufrechterhalten werden. Zugleich wird das Institut neben seiner alltäglichen Bibliotheksfunktion stärker in der offiziellen Kulturpolitik verankert werden. Mit dem Umzug der Regierung und sämtlicher Botschaften nach Berlin werden die Wege für eine internationale Kulturarbeit sehr viel kürzer.

Und die Technik…

Das Computersystem des Instituts ist noch längst nicht auf dem neuesten Stand, obwohl es in letzter Zeit einige Veränderungen gab. Mehrere Terminals können von den BenutzerInnen für die Suche nach Literatur benutzt werden, dennoch ist bislang noch nicht einmal der gesamte Katalog im hauseigenen Netzwerk eingearbeitet geschweige dem per Fernabfrage zugänglich. Nach wie vor ist der Griff zum Zettelkatalog notwendig. Es wird wohl noch mindestens fünf Jahre dauern, bis der gesamte alphabetische Katalog des Instituts per Computer abgefragt werden kann. Trotzdem wird das zur Verfügung stehende Angebot demnächst im Internet zugänglich sein, und mit einem CD-Rom Netzwerk ist der Zugriff auf verschiedene Datenbanken bereits ermöglicht worden.
Eine weitere Schwierigkeit ist das dürftige Angebot an lateinamerikanischer Tagespresse. Ein kleiner Ständer mit ein paar Zeitungen und ein paar Sessel vermitteln zwar eine gemütliche Atmosphäre, aber an die täglichen Informationen kommt man hier kaum. Da würden einige Terminals mit Internetanschluß mehr Aktualität bringen – und dem „Ibero“, wie es von seinen BenutzerInnen kurz bezeichnet wird, zu dem technischen Niveau verhelfen, das ihm seiner Bedeutung nach zukommt.

Ibero-Amerikanisches Institut
Preußischer Kulturbesitz
Potsdamer Str. 37, 10722 Berlin
Tel: 030 / 2662500
Fax:030 / 2662503
eMail: iai@iai.spk-berlin.de
http://www.iai.spk-berlin.de
Da das Ibero-Amerikanische Institut nicht in direkter Verbindung zu universitären Einrichtungen steht, können Diplom- und Magisterarbeiten sowie Dissertationen zu lateinamerikanischen Themen nur in die Bibliothek gelangen, wenn die VerfasserInnen selbst dafür sorgen. Das Institut bat uns, auf diesen Umstand hinzuweisen. Wir kommen dem gern nach.

Wenn nicht jetzt, wann dann?

Die Forderung nach einem Schuldenerlaß wurde unter anderem von deutschen PolitikerInnen wie den MinisterInnen Joschka Fischer und Heidemarie Wieczorek-Zeul aufgegriffen und verstärkt. Am 9. Dezember trafen sich nun die Regierungen im Pariser Club, dem für Umschuldungsverhandlungen von Gläubigern geschaffenen Kartell, um ein multilateral abgestimmtes Verfahren zu verabreden. Die Ergebnisse entsprechen im wesentlichen der vorab bekanntgewordenen Linie des deutschen Finanzministeriums und enttäuschten alle, die auf eine weitreichende Entlastung der zerstörten Länder gehofft hatten.

Ein Gläubigerproblem wird gelöst

Es wurde verabredet, daß Honduras und Nicaragua in den Jahren 1999 bis 2001 keinen Schuldendienst leisten müssen. Das klingt gut, bedeutet aber nicht mehr als eine Absegnung eines faktisch ohnehin schon eintretenden Zustandes. Nennenswerte Zahlungen wären in dem gesamten Zeitraum aus den beiden Ländern ohnehin nicht zu erwarten gewesen. Das Moratorium, dem sich nach Pariser-Club-Traditionen auch die Nichtmitglieder formell oder informell anschließen werden, stellt nun sicher, daß nicht einige Gläubiger – etwa jene, die bei der Soforthilfe großzügiger waren als andere – bedient werden und andere nicht.
Bereits fünf Tage nach dem Sturm hatten Vertreter des IWF in der Region geäußert, die betroffenen Länder könnten mit zusätzlicher finanzieller Hilfe rechnen – um die Durchführung der laufenden Strukturanpassungsprogramme zu gewährleisten. Das Kommuniqué des Pariser Clubs unterstreicht nun die Orientierung auf die „ambitionierten, vom IWF unterstützten Programme“. Dabei scherte man sich weder darum, daß Nicaragua in den letzten sechs Jahren seiner IWF-Programme diese weniger als sechs Monate eingehalten hat, und daß das letzte Programm mit Honduras bereits 1996 an seinen unrealistischen Vorgaben gescheitert war. Noch wird berücksichtigt, daß die den IWF-Programmen zugrundeliegende Orientierung der Wirtschaft auf die Öffnung des Binnenmarktes (und die daraus folgende Verdrängung heimischer ProduzentInnen bei Grundnahrungsmitteln) und den Ausschluß binnenmarktorientierter Produktion vom nationalen Kreditsystem (mit der entsprechenden massenhaften Zerstörung kleinbäuerlichen Existenzen) zu der extremen Verwundbarkeit der armen Bevölkerungsmehrheit in der Region beigetragen hat.
Nach Berechnungen des Pariser Clubs entspricht das Moratorium für Nicaragua einem Schuldenerlaß im Wert von 100 Millionen US-Dollar. Diese gewagte Behauptung gründet sich auf die Berechnungsmethode des sogenannten Barwerts, wonach die Aufschiebung der Zahlungsverpflichtungen in eine noch nicht näher definierte Zukunft die Gläubiger die Summe an entgangenen Zinseinnahmen auf die ansonsten erhaltenen Zahlungen kosten wird.
Diese Berechnungsmethode ist unter internationalen Gläubigern derzeit in Mode, beruht aber auf einer Reihe von Annahmen, wie beispielsweise der zu erwartenden Zinshöhe, so daß fast jeder beliebige Betrag an dieser Stelle hätte eingesetzt werden können. Für Honduras versucht der Pariser Club deshalb auch gar nicht erst, den „Wert“ des Moratoriums zu beziffern.
Den beiden Ländern werden über das Moratorium hinaus Schuldenerlasse in Aussicht gestellt. Sie sollen sich aber an den gültigen Rahmenwerken des Pariser Clubs orientieren.
Nicaragua soll in den Genuß der sogenannten Lyon Terms kommen, die einen Schuldenerlaß von bis zu 80 Prozent vorsehen. Honduras sollen die Naples Terms immerhin noch 67 Prozent gewähren. Entscheidend ist bei diesen auf den ersten Blick sympathischen Zahlen aber das Kleingedruckte:
Erstens sind die Schulden, die nach dem ersten Besuch im Pariser Club im Jahre 1990/91 eingegangen wurden, von der Umschuldung ausgeschlossen. Zweitens sind praktisch die gesamte danach noch in Frage kommende nicaraguanische Auslandsschuld und rund die Hälfte der honduranischen bereits einmal umgeschuldet worden. Was der Pariser Club nun verspricht, ist nicht mehr als eine Erhöhung, der bereits ausgesprochenen Erlasse auf neue und höhere Obergrenzen. Im Fall Honduras könnte das auf eine Reduzierung des fälligen Schuldendienstes um 17 Prozentpunkte hinauslaufen, bei Nicaragua um 13. Im Blick auf die besonders wichtigen DDR-Forderungen Nicaraguas würde es bedeuten, daß es überhaupt keinen zusätzlichen Erlaß gibt, da auf den überwiegenden Teil bereits 1995 ein nach Angaben der Bundesregierung exzeptioneller Erlaß von 81 Prozent gewährt worden war.
Drittens ist jeder künftige Schuldenerlaß ausdrücklich eingebunden in die Behandlung beider Länder im Rahmen der sogenannten HIPC-Initiative von Weltbank und IWF. Diese soll den „hochverschuldeten ärmeren Ländern“ (HIPCs) auch Erlasse multilateraler Schulden soweit zugänglich machen, daß ein „tragfähiges Schuldenniveau“ erreicht wird. Dieses wiederum definiert die Weltbank derzeit mit 20 bis 25 Prozent der jährlichen Exporteinnahmen. Dies ist ein schon immer äußerst umstrittener und keinesfalls wissenschaftlich plausibler Grenzwert, der unter Bedingungen eines Wiederaufbaus jeglichen Sinn verloren hat.

Deutschland blockiert

Traditionell führen die Verhandlungen im Pariser Club dazu, daß die Gläubiger sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zur Behandlung eines Schuldnerlandes einigen. In diesem Fall waren unter dem Druck der Katastrophe allerdings einige Länder wie Frankreich mit einem vollständigen Erlaß aller Entwicklungshilfeschulden – die im Club nicht erlassen, sondern nur umgeschuldet werden können – vorgeprescht. Trotz dieser Initiative der starken, weil gastgebenden Franzosen war ein Erlaß über die Lyon- beziehungsweise Naples-Terms nicht möglich, wozu die Vorab-Festlegung des größten (bei Nicaragua) bzw. zweitgrößten (bei Honduras) Gläubigers Deutschland auf die bestehenden Mechanismen eine traurige Rolle gespielt hat. Der Großzügige war in diesem Fall wieder einmal der Dumme, was mehr noch als für Frankreich für die Schweiz und die skandinavischen Länder gilt, die – Pariser Club hin oder her – diesen armen, hochverschuldeten Länder lange vor dem Hurrikan ihre Schulden erlassen haben.

Wo kommt das neue Geld nun her?

Da beide Länder nicht zur Gruppe der „am wenigsten entwickelten Länder“ (LDC) gehören, erhalten sie Entwicklungshilfe aus der Bundesrepublik nicht als Zuschuß, sondern als zinsgünstige Kredite, mithin in Form neuer Schulden. Das gilt auch für einen wesentlichen Teil der Wiederaufbauhilfe, soweit sie aus multilateralen Quellen stammt. Den Vogel abgeschossen hat dabei erneut der IWF, der – im Gegensatz zu der von ihm selbst propagierten Linie, nach der die Länder der HIPC-Gruppe nur zinsgünstige Kredite aufnehmen dürfen – seinen Beitrag zum Wiederaufbau Honduras’ in Form eines Kredits zu Marktkonditionen außerhalb der zinsgünstigen „Erweiterten Strukturanpassungsfazilität“ angeboten hat.
Unter diesen Bedingungen ist davon auszugehen, daß beide Länder nach Ablauf des Moratoriums erheblich höher verschuldet sein werden als vor der Katastrophe.

Eine Chance wurde vertan

Die Regierungen beider Länder – die nicaraguanische stärker noch als die honduranische – genossen bereits vor der Katastrophe den Ruf, der Armutsbekämpfung nicht sonderlich zugetan zu sein. Insbesondere in Nicaragua offenbarte der Verlauf der Katastrophenhilfe eine bestürzende Mischung aus Unfähigkeit und Intransparenz. Nichtregierungsorganisationen in den Gläubigerländern haben deshalb zusammen mit Kollegen aus Honduras und Nicaragua, und häufig in inhaltlicher Übereinstimmung mit dem landeskundigen Personal der Botschaften vor Ort, gefordert, daß Schuldenerlasse an eine mittelfristige Armutsbekämpfung gebunden sein müssen. Konkrete Vorschläge dazu liegen der Bundesregierung und den anderen Mitgliedern des Pariser Clubs seit langem vor. Die Chance, weitergehende Erlasse zum Beispiel an die Einrichtung von Gegenwertfonds unter (Mit-)Verwaltung nationaler Kirchen und Nichtregierungsorganisationen zu binden, wurde vertan.
Das Ergebnis fällt weit hinter das zurück, was nach den guten Worten der neuen deutschen Entwicklungshilfeministerin zu hoffen gewesen wäre. Am 4. Dezember hatte sie im Interview in der Frankfurter Rundschau gesagt: „Der Bundestag hat … festgestellt, und ich habe dies ausdrücklich unterstützt, daß die Hilfe (für Honduras und Nicaragua; die Red.) auch einen völligen bilateralen Schuldenerlaß einschließen soll. Der Beschluß muß jetzt umgesetzt werden.“
Da hatte die Ministerin recht. Eine multilaterale Abstimmung auf ein konzertiertes Verfahren ist in Paris gescheitert. Bilaterale Maßnahmen sind nun notwendig und für die Bundesregierung auch möglich. Zu diesen gehören:
– die vollständige Streichung aller Ex-DDR-Forderungen gegenüber Nicaragua im Gegenzug für eine Einzahlung eines Teilbetrages der erlassenen Schuld in einen NRO-verwalteten Fonds für ländliche Kreditprogramme. Übrigens teilte das Finanzministerium im Zuge der Debatte um eine solche Umwandlung beiläufig mit, daß die Verbindlichkeiten Nicaraguas aus DDR-Zeiten nicht, wie von ihm selbst ausgewiesen, rund 330 Millionen DM, sondern infolge von Zinsrückständen, die man bislang nicht ausgewiesen hatte, tatsächlich rund 440 Millionen betragen.
– die Streichung aller konzessionären und nichtkonzessionären Forderungen an Honduras in Höhe von rund 190 Millionen DM.
– ein nennenswerter Beitrag zu einem multilateralen Entschuldungsfonds für Honduras aus dem neben direkten Erlassen der multilateralen Institutionen der Abbau der multilateralen Verbindlichkeiten des Landes (60 Prozent der Gesamtverschuldung) kofinanziert wird.

Revolutionäre Zeiten

Um die Bedeutung dieses Treffens einzuschätzen, ist zunächst wichtig, sich die damalige Zeit mit ihren Aufbrüchen und ihrem Fortschrittsglauben in Erinnerung zu rufen. Die 60er Jahre standen weltpolitisch im Zeichen des kalten Krieges, aber auch im Zeichen der Entkolonialisierung und der Befreiungskämpfe (z.B. Algerien, Vietnam). Die Länder des Südens suchten ihre Chancen innerhalb der globalen Machtkonstellationen zwischen Ost und West, sie wurden von den Mächtigen aber auch gnadenlos in diese Machtverhältnisse hineingepreßt: Für (wirtschaftliche) Freiheit und gegen Sozialismus oder für einen sozialistischen Weg und damit automatisch gegen westliche Interessen.
Es herrschte ein Glaube an einen machbaren, schnellen Fortschritt, eine schnelle Überwindung von Armut und Hunger. Dies zeigt sich zum Beispiel in den damals vorherrschenden Entwicklungstheorien, die auf den ersten Blick genau gegensätzlich sind, aber doch eine gemeinsame Basis haben. Die Theorie der „nachholenden Entwicklung“ (spanisch auch „desarrollismo“ genannt) ging vom Modell der „entwickelten Industrienationen“ aus und verfolgte das Ziel, durch massive Entwicklungshilfe, durch Förderung von Industrialisierung und gesellschaftlicher Mittelschichten „nicht entwickelte Länder“ dem westlichen Modell anzunähern. Die Dependenztheorie hingegen sprach davon, daß die sogenannte Unterentwicklung die Kehrseite der Entwicklung der westlichen Industrienationen sei und deshalb zunächst eine Befreiung aus der Abhängigkeit notwendig sei, um einen eigenen, unabhängigen Entwicklungsweg gehen zu können. Gemeinsam ist beiden Theorien, daß sie an die kurzfristige Machbarkeit glaubten.

Kirchliche Aufbrüche

Auch in den Kirchen herrschte – global betrachtet – Aufbruchsstimmung: Im II. Vatikanischen Konzil (1962-1965) versuchte die katholische Kirche, Fenster und Türen zur Welt hin zu öffnen und produzierte – für die damalige Kirche – erstaunliche Aussagen über die Rolle der Laien, über soziales Engagement von Christen und das Aufbrechen verkrusteter kirchlicher Strukturen. Ähnliche Impulse gingen auf evangelischer Seite von der IV. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Uppsala (1968) aus.
Die Konferenz in Medellín 1968 hatte zunächst zum Ziel, die Ergebnisse und Aufbrüche des II. Vatikanischen Konzils für den lateinamerikanischen Kontext umzusetzen. Der wohl bekannteste Befreiungstheologe Gustavo Gutiérrez bemerkte dazu: „Das II. Vatikanische Konzil spricht von der Unterentwicklung der Völker unter dem Blickwinkel der entwickelten Länder, um diese an ihre Möglichkeiten und Verpflichtungen jenen gegenüber zu erinnern. Medellín dagegen versucht, das Problem von den armen Ländern aus anzugehen, und definiert sie deshalb als Völker, die einer neuen Spielart von Kolonialismus unterworfen sind. Das II. Vatikanum spricht von einer Kirche in der Welt und versucht bei der Beschreibung dieser Kirche, die bestehenden Konflikte zu mildern, Medellín indes bestätigt, daß die Welt, in der die lateinamerikanische Kirche präsent sein muß, sich in vollem revolutionären Prozeß befindet.“ (Gustavo Gutiérrez: Theologie der Befreiung. Mainz, 10. Aufl. 1992, 191f.)
Dieser „revolutionäre Prozeß“ ist in vielen Texten und Berichten aus Lateinamerika unübersehbar. So schreibt ein kirchlicher Beobachter 1968 aus Uruguay: „Daß sich die Situation in mehreren lateinamerikanischen Ländern allmählich einem gefährlichen revolutionären Zustand nähert, dafür häufen sich die Symptome. Das schroffe Nebeneinander von permanentem Hunger, Arbeitslosigkeit, hoher Sterblichkeit auf Seiten breiter Volksschichten, die unter unmenschlichen Bedingungen leben müssen, und von unausgesuchtem Komfort, ja kaum vorstellbarem Pomp in der Lebensführung herrschender Kreise hat soviel Sprengstoff angehäuft, daß es, wenn einmal der Funke zündet, zur Explosion des ganzen Kontinents kommen könnte.“ (Galo Martínez Arona: Lateinamerikanisches Dilemma. Die Christen und die Revolution, in: Orientierung 32 (1968), 93).
Derselbe Autor sieht, daß eine Analyse der wirtschaftlichen Lage und ihre Erfahrungen der Ungerechtigkeit viele zu der Überzeugung führen, „es gebe nur mehr die Möglichkeit, das eiserne Gerüst des herrschenden Systems zu zerbrechen: den bewaffneten Aufstand.“ Er sieht die Christen und die Kirche in diesem Zusammenhang vor eine unausweichliche Entscheidung gestellt, entweder die bestehende Ungerechtigkeit weiter zu stützen oder aber sich für revolutionäre Veränderungen einzusetzen. In diesem Zusammenhang verweist er unter anderem auf den katholischen Priester Camilo Torres, der sich nach dem Scheitern seiner politischen Bemühungen im Jahr 1967 dem bewaffneten Kampf der Guerilla in Kolumbien angeschlossen hatte und getötet worden war, was Beweis seiner Nächstenliebe und seiner Sehnsucht nach Gerechtigkeit sei.

Zeitzeichen

Die Beschlüsse von Medellín stellen sich zwar nicht explizit dieser „unausweichlichen Entscheidung“, beschreiten aber einen neuen, kirchlich gesehen sehr wohl „revolutionären“ Weg: Sie gehen nicht – wie in offiziellen kirchlichen Dokumenten bis dahin üblich – von festen Glaubensaussagen und kirchlichen Regelungen aus, um diese den Menschen zu verkünden, sondern analysieren zunächst die gesellschaftliche Wirklichkeit, die Nöte und Hoffnungen der Menschen und formulieren den eigenen Anspruch: „Der lateinamerikanische Episkopat darf angesichts der ungeheuren sozialen Ungerechtigkeit in Lateinamerika nicht gleichgültig bleiben; Ungerechtigkeiten, die die Mehrheit unserer Völker in einer schmerzhaften Armut halten, die in sehr vielen Fällen an unmenschliches Elend grenzt.“
Als wichtigste und folgenreichste theologische Konsequenz gilt vielen Beobachter die Formulierung: „Christus, unser Erlöser, liebt nicht nur die Armen, sondern er, der reich war, machte sich arm, lebte in Armut, konzentrierte seine Sendung darauf, daß er den Armen ihre Befreiung verkündete und gründete seine Kirche als Zeichen dieser Armut unter den Menschen.“ Dies begründete in Folge eine neue Praxis der Kirche, einen Positionswechsel, weg von der Seite der Reichen, Staatstragenden und politisch Mächtigen, hin zu einer „Option für die Armen“.

Positionswechsel

Die Beschlüsse von Medellín stellten eindeutig in den Vordergrund, daß der Glaube die Forderung und das Engagement nach Gerechtigkeit umfasse, daß ohne Gerechtigkeit christlicher Glaube nicht möglich sei. Dies löste zunächst eine Krise, dann massive Konflikte innerhalb der Kirche aus: Das Verständnis von pastoraler Praxis als die Versorgung der Bevölkerung mit Sakramenten geriet ins Wanken und mit ihm die Rolle und damit das Selbstverständnis von den Priestern und Bischöfen. Ihre Tätigkeit im Rahmen von Sakristei und Kirchenraum reichte nicht mehr aus. Im Bereich der neuen Aufgaben, der sozialen Gerechtigkeit kannten sie sich zu wenig aus, fühlten sie sich unsicher. Bald aber entstanden neue pastorale Strategien und Konzepte: Es wurden – zunächst vor allem in ländlichen Bereichen – kleine Pastoralteams gebildet, Laien in die Arbeit einbezogen, der Bewußtseinsbildung, Alphabetisierung und Gesundheitsversorgung eine vorrangige Bedeutung beigemessen und eine „Gute Nachricht“ als Hoffnung für die von materieller Not und sozialer Ausgrenzung betroffenen Menschen verkündet. Zudem wurde die Selbstorganisation der Menschen gestärkt: in der Bildung von Basisgemeinden und in der Betonung der darin liegenden Möglichkeiten gegenseitiger Hilfe. Gleichzeitig wurden aber vielerorts auch Gründung und Arbeit von gewerkschaftlichen Initiativen zur Durchsetzung von Interessen wie Landverteilung und Kreditbewilligungen unterstützt. Die Reaktion darauf ließ nicht lange auf sich warten: Zivile und militärische Machthaber sowie die Oligarchie begannen zunächst mit Vorwürfen und Beschuldigungen („Kommunisten“, „Subversive“), gingen bald aber zur offenen Verfolgung ihrer Gegner über: Viele Priester, Laien, Engagierte, aber auch Bischöfe wurden vertrieben, verschleppt, gefoltert oder getötet, wie Bischof Oscar Arnulfo Romero aus El Salvador.
Heute sind zwar die „revolutionären Zeiten“ vorbei und der „Geist von Medellín“, der in den Texten deutlich wird, hat es schwer, sich durchzusetzten. Trotzdem bleibt die dort formulierte Herausforderung als Aufgabe bestehen: Die ungerechte Verteilung der Güter dieser Welt anzuklagen und die Sünde, die diese Ungerechtigkeit hervorbringt, aufzudecken.

Tips zum Weiterlesen:
– Sekretariat der Dt. Bischofskonferenz, Die Kirche Lateinamerikas. Dokumente der II. und III. Generalversammlung des Lateinamerikanischen Episkopates in Medellín und Puebla (Stimmen der Weltkirche 8), Bonn, o.J.
– Gustavo Gutiérrez, Theologie der Befreiung, Mainz 10.überarb. Aufl. 1992
– Ludger Weckel, Um des Lebens willen, Mainz 1998

Der gemeinsame Aufbruch

Du hast 1968 am theologischen Fachbereich in Münster im Kontext der damals entstehenden politischen Theologie gearbeitet. Welche Bedeutung hatte Medellín für die Wahrnehmung der Befreiungstheologie bei uns?

Medellín war nur ein Moment innerhalb einer gesellschaftlichen Aufbruchsstimmung, die es an verschiedenen Orten auf der ganzen Welt gab. Alle hielten die Möglichkeit eines gemeinsamen Aufbruchs nicht nur für möglich, sondern auch für notwendig. Aber die theologischen Reflexionen und kirchlichen Aufbrüche reichen bis in die Mitte der sechziger Jahre zurück. Die beiden europäischen Theologen Francois Houtart und José Comblin im belgischen Löwen sind dafür repräsentativ. Zu Houtart kamen die Befreiungstheologen (obwohl es diesen Begriff damals natürlich noch nicht gab) zum Studium nach Löwen. Comblin, der später nach Lateinamerika ging, hat eine ganz bestimmte Linie der französisch-belgischen Theologie betrieben, die vom II. Vatikanischen Konzil her auf die „Reflexion der irdischen Wirklichkeit“, wie es damals hieß, ausgerichtet war.

Das hört sich ja fast so an, als sei die Befreiungstheologie in Europa entstanden?

Nein. Die Theologie der Befreiung und zum Beispiel die politische Theologie in Münster sind beide für sich genommen Reaktionen auf unterschiedliche Wirklichkeiten. Beide entstanden jedoch mit dem gleichen Impuls, nämlich aus der Überzeugung heraus, daß eine Reflexion der Theologie nur noch möglich ist unter gleichzeitiger Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der sie betrieben wird. Letztendlich enstanden beide Theologien im wechselseitigen Dialog.

Im Hinblick auf die Bedeutung von Medellín und die Befreiungstheologie würdest du also gar nicht von einer Rezeption in Europa reden?

Genau. Das gesamte Projekt war zumindest von 1965 bis Anfang der achtziger Jahre ein Dialogprojekt. Und anhand von einigen bedeutenden Befreiungstheologen wie etwa Hugo Assmann, Paulo Suess oder Johannes Caminada läßt sich nachweisen, daß es von Anfang gelungen war. Der Dialogcharakter wird nicht nur daran deutlich, daß viele Lateinamerikaner in Europa, vor allem in Löwen und in Münster studierten. Es gab tatsächlich auch gemeinsame Projekte. Anfang der siebziger Jahre zum Beispiel entwickelte Caminada in den Kupferminen im Norden Chiles ein Arbeiterpastoralprojekt, und in Münster gab es eine europäisch-lateinamerikanische Gruppe, die dieses Projekt begleitete, evaluierte und wissenschaftliches Know-how zur Verfügung stellte. Diese Zusammenarbeit hat dann wiederum unsere Theologie verändert. 1973 setzte der Militärputsch dem Projekt ein Ende.
Auch der Ursprung in Belgien ist nicht zufällig. Der Gründer der Christlichen Arbeiterjugend Joseph Cardijn hatte dort schon in den zwanziger Jahren das Prinzip „Sehen – Urteilen – Handeln“ entwickelt, das später in die Theologie der Befreiung übernommen wurde. Somit handelt es sich eindeutig um ein europäisches Projekt, das über Lateinamerika zu uns zurückgekommen ist. „Sehen – Urteilen – Handeln“ ist eben nicht Theologie der Befreiung, aber es ist durch die Theologie der Befreiung bei uns hoffähig geworden. Indem die Lateinamerikaner das ernstnahmen, was wir schon lange hatten, wiesen sie uns darauf hin, daß wir etwas Wichtiges schon wieder vergessen hatten.

Als die Lateinamerikaner Anfang der siebziger Jahre hierher kamen, brachten sie da schon die spezifische Verknüpfung von Befreiungstheologie und Dependenztheorie mit?

Ja. Die Weiterentwicklung der Gesellschaftsanalyse vor dem Hintergrund des Marxismus und auch einer ganz bestimmten politischen Ökonomie zum Beispiel bei Robinson, André Gunder Frank und Cardoso war in Lateinamerika bereits fortgeschrittener als das, was bei uns an Sozialwissenschaft in der Theologie rezipiert wurde.

Was waren denn die entscheidenen Unterschiede?

Es gab zwar unterschiedliche Meinungen, aber keinen wirklichen Dissens. Das gilt sowohl für den Umgang mit dem Marxismus, wo hinterher rechte und linke Flügel rekonstruiert wurden, noch für die Einschätzung der Möglichkeiten konstruktiver Zusammenarbeit mit der Amtskirche und Konformität mit kirchlichen Dokumenten. Die Lateinamerikaner hatten sicherlich die ideologische Gleichgültigkeit, den Säkularismus und den flächendeckenden Atheismus der modernen Gesellschaft unterschätzt. Aber das waren alles Themen, über die zwar aufgrund der lokalen Wahrnehmung unterschiedliche Wertungen existierten, die aber vergleichbar und diskutierbar waren.

Aber irgendwann gab es doch einen Punkt, an dem die Theologie der Befreiung als etwas Eigenständiges und Unumkehrbares angesehen wurde, wo also eigentlich kein Dialog mehr stattfand?

Ich vermute, daß der Putsch in Chile und die Brutalisierung während der Militärdiktaturen die Gruppen erschreckt haben, die bei uns sensibel für diese Form von Theologie waren oder deren Entwicklung bei uns im Blick hatten. Aus einer falsch verstandenen Bescheidenheit und Ehrfurcht vor dem größeren Leiden haben sie zurückgesteckt. Vielleicht war es sogar die Verklärung und Verherrlichung des Märtyrertums der lateinamerikanischen Befreiungstheologen, der die eigenen Möglichkeiten ungenutzt ließ. Was die theologische Reflexion betrifft, gab es über zehn bis fünfzehn Jahre hinweg eine Phase geradezu lähmender Bewunderung. Deswegen entsteht auch jetzt der Eindruck, als ob die Theologie der Befreiung ein Import gewesen sei, der mehr oder weniger schlecht rezipiert worden ist. Es war aber ein gemeinsames Produkt, wenn auch von uns vernachlässigt wurde, die sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen in Europa zu reflektieren und das methodische Herangehen entsprechend zuzuspitzen, zu verfeinern und zu verbessern. Das war in der Phase von 1965 bis 1973 viel besser entwickelt.

Hätte man diese Phase der Lähmung verhindern können?

Wir hätten unter unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen weiterhin an einer gemeinsamen Theologie arbeiten sollen, die auf Gesellschaftskritik, der Veränderung der Gesellschaft und die Rekonstruktion der Kirche hin ausgerichtet ist. Ein reiner Import von Spiritualität oder Basisgemeindenbegeisterung wie in den achtziger Jahren mußte scheitern, genauso wie früher die kolonialistische Theologie gescheitert ist, weil sie ein spanisch-französisch-deutsches Importgut war.

Die achtziger Jahren waren dann ja die Jahre der Erfolge der Befreiungstheologie: Basisgemeinden, Allianzen mit Befreiungsbewegungen etc…

Der Fehler auf beiden Seiten war, nicht daran zu denken, daß auf unterschiedlichen Ebenen und verschiedenen Niveaus eine gemeinsame Weiterarbeit notwendig ist. Und daß das nicht im Schema von Bewunderung und Anerkennung auf der einen und Entwicklungshilfe im Sinne des spirituellen Angebots auf der anderen Seite geschehen konnte. Wir hätten den unterschiedlichen Verlauf der Entwicklung reflektieren müssen: Warum ist in Lateinamerika ein Neuaufblühen kirchlichen Lebens zu beobachten, während es bei uns stagniert? Was können wir gemeinsam daraus lernen, und was müssen wir in der BRD und Lateinamerika tun, damit der konstruktive Dialog, der immer schon unter unterschiedlichen Bedingungen stattgefunden hat, weitergeführt wird?
Man hätte zum Beispiel die Lateinamerikaner fragen können: Welche gemeinsamen Projekte können wir denn jetzt bei uns machen, so wie es in den siebziger Jahren gemeinsame Projekte in Lateinamerika gab. Erst heute, wo auch die Theologie der Befreiung ihre Schwächen zeigt, wird mir deutlich, daß wir die Sachen haben liegen lassen. Dafür war aber damals niemand sensibel.

Die Theologie der Befreiung hat in den achtziger Jahren nicht nur politisch, sondern auch im Sinne der „Rekonstruktion von Kirche“ Erfolg gehabt. Wenn es eine Differenz zwischen Lateinamerika und der BRD gibt, liegt die möglicherweise genau hier? Wo arbeiten wir hier an der „Rekonstruktion von Kirche“ mit?

Ich habe es schon immer als Dilemma angesehen – zumindest in den zwanzig Jahren, die ich überblicke –, daß wir letztlich eine Art von Kirche befürworten, die weder von dieser Gesellschaft noch von der offiziellen Kirche erwünscht ist. Das, was in Lateinamerika wenigstens regional möglich war, nämlich die Reform der Gesellschaft und der Kirchen gleichzeitig zu betreiben, wurde bei uns verhindert bzw. bekämpft. Die gesamten Energien waren in diesem Zweifrontenkampf gebunden: Ich muß sozusagen erstmal im Binnenraum Kirche legitimieren, daß dieser Neuanfang genuin richtig ist und den Grundlagen entspricht, und ich muß ihn zusätzlich gegen eine säkularisierte und letztlich interessenlose Gesellschaft vertreten, die sich ihre Sinnpotentiale sonstwoher nimmt. Da hatten es die Lateinamerikaner einfacher, weil sie wenigstens lokal intakte Übereinstimmungen zwischen Gesellschaft und Kirche vorfanden, die sie gemeinsam weiterentwickeln konnten.

Du würdest nicht behaupten, daß es eine tödliche Differenz ist, daß die Volksreligiosität in Lateinamerika funktioniert, während sie bei uns so unwiderruflich zerstört ist, daß hier jeder Neuanfang von Theologie völlig unmöglich ist?

Nein. Ich meine, das Problem liegt in der Überbelastung durch die doppelte Frontstellung. Die vielfältigen Sinnangebote, die es bei uns gibt, beweisen ja nicht nur, daß es einen begrüßenswerten Pluralismus gibt, sondern auch, daß die nicht mehr gemeinschaftsförmige und auch nicht mehr verpflichtende Tendenz auch in kirchlichen Bereichen einen Neubeginn schwierig macht. Das gleiche Schicksal erlebt die lateinamerikanische Kirche in den Sektoren, die von der Befreiungstheologie renoviert, reformiert oder sogar revolutioniert sind. Aber statt daraus zu lernen, wird eher resignativ gesagt, daß wir jetzt nur noch die vielgestaltige Religiosität einer globalisierten Weltgesellschaft anerkennen und uns für den individuellen Gebrauch aus diesem Angebot nehmen können, was hilfreich ist. Das, was gesamtgesellschaftlich ohnehin im Gange ist und meiner Meinung nach katastrophale Züge hat, wird auf der theoretischen Ebene, sei es aus theologischer, soziologischer oder pädagogischer Perspektive als legitime Entwicklung gepriesen und anerkannt, so daß du auf allen Ebenen gegen diese Dinge angehen mußt und dann auch irgendwann nicht mehr kannst. Im banalen Sinne der Endlichkeit des eigenen Energievorrates.

Wenn Du jetzt an den Dialog der ersten Jahre am Fachbereich zurückdenkst, was waren aus heutiger Sicht die wichtigsten und vielleicht auch aufregendsten Aspekte? Was waren die Punkte, die Du nach wie vor für wichtig hälst und an denen weitergearbeitet werden müßte?

Für mich war damals das Ziel am aufregendsten, eine theologische Wissenschaft konsequent zu betreiben, die sich kontextuell in dem Sinne versteht, daß sie die gesellschaftlichen Bedingungen, die Adressaten, die Subjekte und die Verlaufsformen gesellschaftlicher Konflikte beachtet und erst dann Inhalte und Aussagen vertritt. Diese Einsicht hat nach wie vor Gültigkeit.
Gesamtgesellschaftlich nicht zu rekapitulieren ist allerdings die damals vorhandene breite Erwartung an die Hilfestellung und Bündnisfähigkeit einer fortschrittlichen Theologie, die sich ’68 in Berlin, in Paris, überall dokumentiert hat. Daß Theologie als Wissenschaft fast freiwillig ihren Führungsanspruch innerhalb eines kritischen gesamtgesellschaftlichen Konzertes aufgegeben hat, das ist ihre eigene Schuld. Diese Funktion ist ihr nicht von der Gesellschaft genommen worden.
Auch geht es nach wie vor darum, eine Tradition aufrechtzuerhalten, die gesellschaftskritische Tendenzen mit persönlichem Engagement verknüpft. Also Ernst zu machen damit, daß die Gegenwart aus der Tradition des Glaubens adäquat zu deuten ist, und Formen zu finden, in denen das umgesetzt wird. Ernst zu machen damit, daß die private Arbeit öffentlichen Charakter gewinnen muß, um einen Impuls für die Veränderung des Gegenwärtigen zum Besseren hin zu bekommen. Darin könnte ja bis heute einiges an Grunderkenntnissen des Marxismus positiv beerbt werden.
Ich glaube, daß diese Verknüpfung von Denken und Engagement, von Biographie und öffentlicher Präsenz bestimmter Ideen eine Einsicht der 68er war, die nicht zurückgenommen werden darf. Das aber passiert heute leider überall nach dem Motto: Wir haben uns getäuscht, der Sozialismus war nicht aufzubauen. Die Reformen, die wir wollten, waren nicht durchsetzbar. Das Erlebnis jener Zeit, daß die Menschen auf der Straße, in den Hörsälen, in den verschiedenen Disziplinen, in einem kulturellen Diskurs zusammenfanden, der in ganz unterschiedlichen Sprachen und Intentionen gepflegt wurde, darf man nicht vergessen. Es gab damals einen elan vitale, um es mal mit Bergson zu sagen, den ich heute vermisse, und der nicht nur die kirchlichen Sektoren prägte. Heute ist allein die Erinnerung an diese Möglichkeit so vernebelt, daß es schwierig ist, ihn Leuten zu vermitteln, die daran nicht beteiligt waren oder erst zwanzig sind. Was es bedeutet, und warum es auch schön war und nicht einfach nur politisch turbulent.

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