Eigene Pfade zu gehen, statt das System zu flicken

Ihr seid gerade dabei, ein neues Projekt auf die Beine zu stellen – das Yachay Punku-Haus. Was ist die Geschichte und das Ziel dieses Projekts?
Katari: Wir alle sind Teil der Escuela Rebelde Saturnino Huillca (ERSH). Diese Schule wurde vor etwa sieben Jahren gegründet, mit dem Ziel, uns politisch zu organisieren. Wir kamen aus einem linken Hintergrund, mit einer dekolonialen und identitätspolitischen Perspektive. In der ERSH organisierten wir Demonstrationen und waren in Stadtvierteln mit educación popular (auf Paulo Freire zurückgehender Ansatz politisierender Bildung von der Basis aus, Anm. d. Red.) und kultureller Arbeit aktiv. Die Themenschwerpunkte haben wir über die Jahre hinweg beibehalten: Menschenrechte, Anti-Korruption und Anti-Extraktivismus.

Im Laufe der Jahre wurde es schwieriger, unsere Arbeit aufrechtzuerhalten, ohne eine konkrete Idee davon zu haben, in welche Richtung wir gehen wollen. Wir müssen uns konstant gegen den Vormarsch des Systems wehren, das uns unsere Rechte nimmt, unsere Wälder verbrennt und Menschen tötet. Aber bis zu welchem Punkt werden wir die Autobahn des Systems flicken, anstatt darüber nachzudenken, eigene Trampelfade zu gehen?

Bei den landesweiten Protesten 2022 und 2023 (soziale Revolte gegen die Regierung Dina Boluartes, die gewaltsam niedergeschlagen wurden, Anm. d. Red., siehe LN 587) waren wir in Lima an vorderster Front dabei. In dieser Zeit sind mehr als 50 junge Menschen in verschiedenen Teilen Südperus (der Teil des Landes, in dem sich die marginalisierteste Bevölkerung mit einem hohen Anteil Indigener Gruppen konzentriert, Anm. d. Red.) durch die Polizei und das Militär getötet worden. Dadurch wurde die klassistische und rassistische Gewalt des Kolonialstaates deutlich. Uns wurde klar, dass ein Großteil der Arbeit, die wir in Lima geleistet hatten, keine Wirkung zeigte. Denn es gab nicht so viele Menschen, die sich in dieser Zeit mobilisierten und uns unterstützten. Also beschlossen wir, alternative politische Organisationsprozesse vorzuschlagen.

Warum habt ihr Urcos, eine kleine Gemeinde im Süden des Landes, für dieses Projekt ausgewählt?
Katari: Die meisten in der ERSH haben Eltern oder Großeltern, die vom Land kommen und in die Hauptstadt gezogen sind. Die Beziehung zum Territorium ist Teil unseres Erbes. Wir haben beschlossen, im Süden mit Yachay Punku zu beginnen, da dort der Kern des Widerstands gegen das hegemoniale, koloniale, eurozentrische Projekt liegt. Wir sehen die Organisationsfähigkeit dieses Volkes. Da sie immer vom Staat im Stich gelassen wurden, haben sie ihre eigenen Organisations- strukturen. Diese Strukturen haben über Jahrtausende hinweg das Kolonisierungsprojekt überlebt und wir müssen sie wieder aufwerten, unterstützen, von ihnen lernen und uns in ihren Dienst stellen. Außerdem ist infolge der Gentrifizierung und der touristischen Kolonisierung ein Großteil des kulturellen Angebots für den Tourismus im Nordtal ausgelegt. Die Touristen leben in Gemeinden, in denen sie nicht einmal mit den Personen in Kontakt treten, die Quechua sprechen. Die Preise steigen, den Gemeinden wird gutes Land weggenommen, und die Kunst erfüllt lediglich den Zweck, diesen Menschen mit kolonialer Mentalität zu dienen. Wir denken, dass die Kunst für unser Volk gemacht werden muss, ob sie nun urban, zeitgenössisch, fremd oder angestammt ist. Yachay Punku möchte also auch eine Alternative zu dieser kolonialen, gentrifizierenden Kunst vorschlagen.

Lou Mestizo: Während der Proteste in Lima waren wir ständig von dem aktuellen Kontext eingenommen. Unser Prozess war immer auf Selbstverteidigung ausgerichtet, um die mobilisierten Massen zu schützen. Aber die Arbeit ging nicht darüber hinaus, weil wir uns immer in der gleichen Situation befanden. Wir mussten uns neu orientieren und haben beschlossen, vom Aktivismus zu einer Militanz mit einem politischen Programm und einem politischen Horizont überzugehen. Wir hatten bereits eine dekoloniale Perspektive. Das war unser Ausgangspunkt, um das politische Programm durchzuziehen. Und der richtige Ort war hier, in Quispicanchi, in Urcos, um für die Ernährungssouveränität und die Verteidigung des Territoriums zu arbeiten.

Was sind derzeit die zentralen Herausforderungen in der Region und wie reagiert euer Projekt darauf?
Katari: In den Gebieten hier im Süden sind unsere Flüsse verschmutzt, das Wasser ist nicht trinkbar. Früher war der Fluss eine Quelle des Lebens, heute kann man das Wasser eigentlich nur noch für die Bewässerung nutzen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Stärkung der autonomen politischen Strukturen in dem Gebiet. Diese Strukturen haben Funktionen in der Minka und in dem Ayni. Das sind die kollektiven und gemeinschaftlichen Formen der Produktion, der Verwaltung und des Eigentums der Vorfahren. Sie beruhen auf direkter Demokratie, Versammlungen und der Lösung der unmittelbaren Bedürfnisse der Gemeinschaften. Wir wollen sie stärken, damit sie nicht von den staatlichen Strukturen vereinnahmt werden.

Akira: Wir streben die Herausbildung von kritischem Bewusstsein bei jungen Menschen und in den Gemeinden an. Autonomie hängt eng mit Ernährungssouveränität zusammen. Wir wissen, dass es in dieser Region eine Menge Unterernährung gibt, die Teil dieses Kolonialismus ist. Familien essen lieber gegrilltes Hähnchen oder Chaufa (gebratener Reis mit Hühnchen, Anm. d. Red.), anstatt zu den traditionellen Lebensmitteln zurückzukehren, die sie früher angebaut haben und die viele gesundheitliche Vorteile hatten. Deshalb gehen die Idee der Souveränität und des Antikolonialismus Hand in Hand. Die Kontrolle über die Ernährung, darüber, was und wie wir essen, ist von tiefgreifender Bedeutung. Denn das größte Erbe unseres Volkes besteht gerade darin, dass unsere Zivilisation auf der Entwicklung der Landwirtschaft beruht. Die hegemoniale Kultur greift unser Erbe und unsere Gesundheit somit direkt an. Sie will uns unsere Praktiken, unsere andine Ernährung, die im Prinzip heilsam ist, vergessen lassen, um uns Medikamente verkaufen zu können.

In Yachay Punku spielt das Konzept des Sumak Kawsay eine wichtige Rolle. Was versteht ihr unter diesem Konzept und wie seht ihr in der Aussaat, der Medizin und der Kunst eine daran orientierte Praxis?
Lou Mestizo: Das kapitalistische, konsumorientierte Leben, in dem sich alles um Raubbau und industrielle Produktion dreht, ist eine direkte Bedrohung für unsere Ökosysteme. Unsere Lebensweise heutzutage schadet unserer Gesundheit, verschmutzt unsere Flüsse und unsere Umwelt – das ist kein Buen Vivir. Die Krankenhäuser sind voll von Krebskranken, es gibt Waldbrände. Das kapitalistische System hat den Treibhauseffekt verursacht, nur sehr wenige Menschen können es sich erlauben, „gut“ zu leben – die großen Kolonialfamilien. Wir haben gesehen, dass in der Philosophie der Ahnen das Leben respektiert wird. Wasser, Fluss und Land sind Lebewesen und keine Produktionsmittel. Wir wollen, dass diese Philosophie in der Gemeinschaft wieder aufgenommen wird, so wie früher.

Katari: Sumak Kawsay ist eine spirituelle Quelle. Der Mensch ist von allem, was uns umgibt, abhängig. Wir fragen uns, wie wir eine gesunde Wechselbeziehung des Lebens schaffen können, ohne unsere Umwelt zu zerstören. Im Gegensatz zu anderen Völkern wie den Maya oder den Mexica haben wir die Literatur unserer Vorfahren noch nicht entschlüsselt. Es liegt an uns, weiter zu forschen, um die Konzepte wiederzufinden, die Sumak Kawsay nähren.

Wie sieht die Arbeit im Yachay Punku-Haus im Moment aus und was sind die nächsten Schritte?
Katari: Ein wichtiges Ereignis, das bald ansteht, ist das Tupac-Amaru-Festival. Wir wollen dieses Festival als Plattform für die Vernetzung der sozialen und künstlerischen Prozesse in Abya Yala festigen, denn es kommen Menschen von überall her. Wir wollen dieses Mal und auch zukünftig einen Austausch von Prozessen und Künstlern mit dekolonialen Haltungen schaffen.

Außerdem fangen wir mit Sikuris-Workshops (andines Musikgenre auf Basis von Panflöten, Anm. d. Red.) in den Schulen an. Wir spielen dabei aber keine traditionellen Sikuris, die von Liebe oder der Jungfrau Maria erzählen, sondern kämpferische Sikuris, die von der Rückgewinnung des Territoriums erzählen, der Identität, von Sumak Kawsay.

Einige von uns kommen aus der Hip-Hop Szene, aber wir unterrichten keinen Rap in den Schulen. Wir lehren Sikuri, aber eigentlich wollen wir den Kindern einfach Werkzeuge geben. Letztendlich kann man ein Werkzeug neu interpretieren, man kann es so nutzen, wie man es für richtig hält. Und nun ja, mit all dem Gepäck der Dekolonisierung und allem, was dazugehört, sind wir dennoch nach wie vor die Fremden in Urcos, nicht wahr?


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DER HUNGER IST ZURÜCK

Nahrung als Menschenrecht Das Kollektiv Força Tururu sammelt und verteilt Lebensmittelspenden (Foto: Coletivo Força Tururu @coletivo_tururu)

Es war eine Erfolgsgeschichte: 2014 sank der Anteil der hungernden Brasilianer*innen auf unter fünf Prozent und das Land verschwand erstmals von der Welthungerkarte der Vereinten Nationen. Für den rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro war dies 2019 in einem Interview mit El País bereits Grund genug, um die Aussage, dass Menschen in Brasilien nach wie vor an Hunger leiden, als „Lüge“ und „populistische Rederei“ zu bezeichnen.

Doch ob der Präsident es wahrhaben will oder nicht – das Land ist weit davon entfernt, das Problem Hunger abgehakt zu haben. Bereits 2019 bewegte sich Brasilien mit großen Schritten zurück auf die Welthungerkarte. Laut der landesweiten Stichprobenerhebung in Haushalten (PNAD, vergleichbar mit dem deutschen Mikrozensus) stieg der Anteil der Haushalte mit unsicherem Zugang zu Lebensmitteln zwischen 2013 und 2018 um 63 Prozent. In absoluten Zahlen bedeutet dies, dass sich bereits Anfang 2018 rund 85 Millionen Brasilianer*innen um ihren zukünftigen Zugang zu Nahrung sorgten, dieser bereits eingeschränkt war oder sie hungerten – ein schockierender Rekord seit Beginn der Datenerhebung im Jahr 2004.

Wie zwei aktuelle Studien des Netzwerks PENSSAN und des Forscher*innenkollektivs Food for Justice der Freien Universität (FU) Berlin zeigen, hat die Pandemie zu einer weiteren Verschlechterung der Ernährungssituation beigetragen. Fast 117 Millionen Brasilianer*innen waren demnach Ende 2020 von Ernährungsunsicherheit betroffen. 19 Millionen davon litten bereits an Hunger; fast doppelt so viele wie 2018, als es noch 10 Millionen waren.

19 Millionen Brasilianer*innen leiden an Hunger

Diese Entwicklung trifft bestimmte Gruppen stärker als andere. Wer in ländlichen Gebieten im Norden oder Nordosten lebt, kleine Kinder hat, als Frau allein für das Familieneinkommen sorgt oder Schwarz ist, dessen Zugang zu Nahrung ist deutlich unsicherer. Im Norden ist bereits fast ein Fünftel der Bevölkerung von Hunger betroffen, im Nordosten ein Siebtel. Auch Cidicleiton Zumba, den LN schon zu Beginn der Pandemie interviewte, bestätigt diese Verschlechterung. Er lebt in Tururu, einem prekären Stadtviertel an der Peripherie von Recife. „Wir sehen jetzt sehr viele Familien, die in Tururu von Tür zur Tür gehen und um Lebensmittel bitten. Auch wir als Kollektiv erhalten sehr viele Bitten um Hilfe. Ganz besonders trifft es Menschen, die auf der Straße leben. Und seit Beginn der Pandemie rutschen immer mehr Menschen in die Armut“, so Zumba.

Der „Kampf gegen den Hunger“ gehörte zu den wichtigsten Wahlversprechen der Präsidentschaftskampagne von Luis Inácio Lula da Silva. In seiner Amtsantrittsrede 2003 verkündete er: „Wenn am Ende meiner Amtszeit alle Brasilianer dreimal am Tag eine Mahlzeit essen können, dann habe ich die Mission meiner Präsidentschaft erfüllt.“ Bereits in den ersten 30 Tagen lancierte seine Regierung das Programm „Null Hunger“, zwischen 2004 und 2013 halbierte sich die Zahl der Hungernden auf 7,2 Millionen.

#TemGenteComFome Die Zivilgesellschaft sammelt Spenden (Foto: Coletivo Força Tururu @coletivo_tururu)

Dass sich die Ernährungssituation unter den Regierungsprogrammen der Arbeiterpartei PT verbessert hat, ist international anerkannt. Die FAO hebt besonders die Einführung von Schulspeisungen hervor – in der Regel ein warmes Mittagessen mit Bohnen, Reis und Gemüse für 43 Millionen Kinder und Jugendliche. Die dafür verwendeten Lebensmittel wurden über das Programm PAA weitgehend aus der lokalen, kleinbäuerlichen Landwirtschaft angekauft, was ebenso zur Bekämpfung der Armut beitrug.

Der erste Rückschlag für diese erfolgreiche Politik gegen Armut und Hunger erfolgte 2014. Bereits ab 2012 waren international die Preise für Rohstoffe gesunken, deren Export bisher die finanzielle Grundlage der PT-Sozialpolitik gebildet hatte. Es folgte ein deutlicher Konjunktureinbruch. Mit dem parlamentarischen Putsch gegen Präsidentin Dilma Rousseff und der Amtsübernahme Michel Temers 2016 begann der sozialpolitische Abbau. Besonders fatal ist in diesem Zusammenhang das Gesetz zur Beschränkung der staatlichen Ausgaben, das im Dezember 2016 verabschiedet wurde. Es begrenzt den Staatshaushalt für 20 Jahre im Prinzip auf den Stand von 2016 (plus Inflationsrate) – trotz wachsender Bevölkerung. Selbst wenn also der politische Wille für höhere Sozialausgaben da wäre, das Gesetz schränkt den Handlungsspielraum der Regierung in der Pandemie erheblich ein.

Entwicklung der Ernährungsunsicherheit, Grafik: Martin Schäfer

„Null Planung gegen den Hunger“ statt „Null Hunger“

In scharfem Kontrast zu Lula setzte Bolsonaro bereits am Tag seiner Amtseinführung die Aktivitäten des Nationalen Rats für Ernährungssicherheit (Consea) aus. Der 1993 gegründete Consea koordinierte bis dahin die bundesweiten Programme zur Sicherung der Ernährung und spielte eine wichtige Rolle bei der Hungerbekämpfung, auch im Dialog mit der Zivilgesellschaft. Im September 2019 votierte das brasilianische Parlament für die Abschaffung des Rates, die meisten Angestellten des Sekretariats für Ernährungssicherheit wurden entlassen. Statt „Null Hunger“ war nun „Null Planung gegen den Hunger“ Regierungspolitik. Dies zeigt sich auch an der Auflösung der staatlichen Nahrungsmittelreserven und der Aushöhlung des Landwirtschaftsprogramms PAA. In den ersten neun Monaten der Pandemie – mit all ihren Einschränkungen für Handel und Transport – gab die Regierung nur sieben Prozent des 500 Millionen-Budgets des PAA aus. Gegen bereits verabschiedete Pläne von Kongress und Senat, die Zahlungen an die kleinbäuerliche Landwirtschaft im Rahmen der Nothilfen zu erhöhen, legte Bolsonaro im September 2020 sein Veto ein. „Genau diese Familienbetriebe sind es aber, die die Versorgung der Bevölkerung sichern“, stellt die Wissenschaftlerin Ana Maria Segall, die zum Thema Ernährungssicherheit forscht, gegenüber LN fest.

Obwohl 19 Millionen Brasilianer*innen hungern, prahlte Bolsonaro bei der UN-Generalversammlung im September 2020 damit, sein Land habe noch nie so viel exportiert und die Welt sei „bei der Ernährung zunehmend von Brasilien abhängig“. Tatsächlich ist Brasilien weltweit der drittgrößte Lebensmittelexporteur – nach den USA und China. Im Jahr 2019 exportierte das Land 240 Millionen Tonnen Zucker, Sojabohnen, Mais, Orangensaft, Rindfleisch und anderes in 180 Länder und setzte so 34,1 Milliarden US-Dollar um. Für das laufende Jahr sieht das Brasilianische Institut für Geografie und Statistik (IGBE) zudem eine Rekordernte an Getreide, Hülsen- und Ölfrüchten voraus. Was paradox erscheint, ist für Segall eine Frage der Priorisierung: „Während das Agrobusiness mit staatlichen Anreizen bedacht wird, gehen die Familienbetriebe leer aus. Anstelle eines Paradoxes sehen wir viel mehr politische Entscheidungen darüber, was die Regierung wichtig findet und unterstützt.“

Hunger nach Region, Prozent der Bevölkerung, Grafik: Martin Schäfer

Der für den Export lukrative Anbau von Soja und Mais wurde in den letzten Jahren immer weiter ausgebaut – auf Kosten von Grundnahrungsmitteln wie Bohnen und Reis. Durch die Abwertung des Real werden mit dem Verkauf ins Ausland außerdem höhere Gewinne erzielt. Allein zwischen März und Juli 2020 stieg der Reisexport um 260 Prozent. Teurere Importe und Hamsterkäufe während der Pandemie haben im vergangenen Jahr zu einem durchschnittlichen Preisanstieg von Lebensmitteln um 14 Prozent geführt: Statt 15 Reais kostete etwa der Fünf-Kilo-Sack Reis auf einmal 40 Reais (2020 umgerechnet etwa zehn Euro).

Trotzdem wurde die in der Pandemie ausgezahlte monatliche Nothilfe von anfangs 600 Reais sukzessive gekürzt und schließlich zwischen Januar und März 2021 komplett ausgesetzt. Wie die Studie von Food for Justice zeigt, spielte sie im letzten Jahr eine fundamentale Rolle: „Die Nothilfe kam bei den Bedürftigsten an. Ohne sie wäre die Situation noch schlechter. Allerdings reicht der Betrag nicht aus, um eine gewisse Ernährungssicherheit aufrechtzuerhalten, die sehr stark vom Einkommen abhängt“, erklärt Renata Motta, Professorin an der FU Berlin und Teil des Forscher*innenkollektivs im Gespräch mit LN. Ab April wurde die Nothilfe mit durchschnittlich 250 Reais (38 Euro) pro Familie wieder aufgenommen – völlig unzureichend, wie auch Segall findet: „Die Nothilfe ist nur für eine begrenzte Personenzahl zugänglich und ihr Wert entspricht nur noch einem Viertel dessen, was Mitte 2020 ausgezahlt wurde. Die Bevölkerung ist dem Hunger und der Pandemie ohne staatliche Unterstützung ausgesetzt.“ Diese Einschätzung bestätigt auch Eliane Farias do Nascimento aus der Favela Santa Luiza in Recife gegenüber LN: „Es gibt sehr viel Hunger im Viertel, viele sind arbeitslos geworden. Die Hilfe, die sie zahlen, ist viel zu wenig. Es reicht nur für Essen oder für Trinkwasser oder für den Strom. Es ist schwierig, zu überleben und wenigstens Brot im Haus zu haben. Zwei meiner Kinder trinken noch Milch, aber an manchen Tagen kann ich keine kaufen.“

Angesichts des zunehmenden Hungers und der Untätigkeit der Regierung organisiert sich die Zivilgesellschaft, um Spenden zu mobilisieren. Tem gente com fome („Es gibt Leute, die hungern“) heißt eine der Kampagnen, zu der sich kleinere und größere Organisationen wie Amnesty International, Oxfam Brasil und das Instituto Ethos zusammengeschlossen haben. Die Landlosenbewegung MST spendet regelmäßig große Mengen Nahrungsmittel, die auf den Flächen der Agrarreform von ihren Mitgliedern angebaut werden. Zuletzt verteilten sie Ende April 100 Tonnen Lebensmittel und 3.000 Liter Milch in verschiedenen Regionen Brasiliens. Aber auch kleinere Organisationen sehen in Kampagnen das Gebot der Stunde. So hat das Kollektiv Força Tururu nach zwölf Jahren kulturellen Aktivismus 2020 erstmals um Nahrungsmittelspenden im Stadtviertel gebeten und setzt dies angesichts der Not bis heute fort. „Wir reagieren auf das Leid unserer Nachbarn, gleichzeitig sehen sie, dass wir Nahrung als Menschenrecht einfordern“ so Cidicleiton Zumba. „Zuzugeben, dass man hungert, ist für niemanden leicht, es ist immer noch ein Tabu. Doch mit uns können sie darüber sprechen. Und ich bin froh, dass es uns gelingt, dieses Tabu zu brechen.“


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“DAS PASST MONSANTO ÜBERHAUPT NICHT”

VÍCTOR SÁNCHEZ
Er ist Agraringenieur und koordiniert bei der Organisation Procomes ein vom INKOTA-netzwerk gefördertes Projekt in 17 ländlichen und drei städtischen Gemeinden der Landkreise Berlín und Alegría im Osten El Salvadors. Weitere Informationen zum Projekt unter www.inkota.de/procomes.
(Foto: Michael Krämer_)

Welche Bedeutung hat das Konzept der Ernährungssouveränität in El Salvador?
Das Konzept ist der Gegenentwurf zu einer verfehlten Landwirtschaftspolitik, die in El Salvador und ganz Zentralamerika vor 50 Jahren begonnen hat. Unter dem Stichwort der „Grünen Revolution“ wurden die zentralamerikanischen Länder damals zu einem Experimentierfeld, auf dem verschiedene Agrarkonzerne die unterschiedlichsten Agrarchemikalien ausprobierten. Bis heute werden in Zentralamerika gefährliche Pestizide eingesetzt, die im Globalen Norden schon seit 30 Jahren verboten sind. Für die Landwirte war die Grüne Revolution eine Täuschung. Ihnen wurde gesagt, mit neuem Saatgut, Kunstdünger und anderen Inputs würden sie mehr produzieren. Heute aber sind die Böden ausgelaugt, die Produktionskosten höher und die Erträge oft geringer als zuvor. Auch deshalb hat das Konzept der Ernährungssouveränität für uns eine große Bedeutung: Es steht für eine andere Landwirtschaft, eine, in der die Vormacht der Agrarkonzerne gebrochen ist.

Wie kann dies gelingen?
Die vielleicht zentrale Herausforderung in El Salvador ist, wieder eigenes Saatgut herzustellen und nicht mehr von Monsanto abhängig zu sein. 2008 kaufte Monsanto das größte zentralamerikanische Saatgutunternehmen Semillas Cristiani Burkard, das in El Salvador fast ein Monopol auf Saatgut hatte. Nur drei Monate später veränderte das Parlament El Salvadors das Saatgutgesetz und erlaubte den Handel und Anbau von gentechnisch verändertem Saatgut. Das war ein schwerer Rückschlag. Seit einigen Jahren verbessert sich die Situation in El Salvador aber. Es sind nun nicht mehr nur Nichtregierungsorganisationen und soziale Bewegungen, die eine Umkehr fordern: Heute fördert auch die FMLN-Regierung (ehemalige Guerillabewegung, die seit 2009 den Präsidenten stellt; Anm. d. Red.) den Anbau einheimischen Saatguts.

Wie hoch ist denn der Anteil einheimischen Saatguts am salvadorianischen Markt?
Nachdem dieser Anteil vor wenigen Jahren noch minimal war, werden heute mindestens 70 Prozent des Saatguts von einheimischen Bauern oder Kooperativen hergestellt. Die Regierung möchte nur Saatgut aus El Salvador kaufen, das sie Kleinbauern zur Verfügung stellt, um diese zu unterstützen. Das passt Monsanto natürlich überhaupt nicht, weil sie dadurch nicht nur weniger Saatgut verkaufen können: Monsanto verkauft vor allem Hybridsaatgut, das auch mehr Agrarchemikalien benötigt. Die US-Regierung hat großen Druck ausgeübt, um zu verhindern, dass die Regierung El Salvadors ausschließlich einheimisches Saatgut kauft.

Wie wirkt sich die neue Politik der Regierung auf die Bäuerinnen und Bauern in El Salvador aus?
Im Gegensatz zu früheren Regierungen unterstützt die FMLN-Regierung die Kleinbauern in unserem Land. Saatgut ist dabei sehr wichtig, aber das ist nicht das einzige. Die Bauern bekommen Kredite, um überhaupt erzeugen zu können. Auch ist die Regierung sehr offen für die Zusammenarbeit mit Bauernorganisationen, Kooperativen und Nichtregierungsorganisationen.

Welche Rolle spielt das Konzept der Ernährungssouveränität dabei?
Verschiedene Organisationen haben schon vor einigen Jahren einen Vorschlag eingebracht, um das Recht auf Ernährungssouveränität in der Verfassung zu verankern. Dafür gibt es bis heute keine Mehrheit. Gleiches gilt für einen Gesetzesvorschlag zur Förderung der Ernährungssouveränität, der bereits mehrfach abgeändert wurde, über den das Parlament aber bis heute noch nicht abgestimmt hat.

Was wäre der Nutzen von so einem Gesetz?
Darin könnte zum Beispiel der Handel mit und der Anbau von gentechnisch verändertem Saatgut verboten werden. Oder eine Landwirtschaftspolitik verankert werden, die darauf abzielt, die Abhängigkeit von Importen zu verringern – von Nahrungsmitteln, aber auch von Inputs wie Dünger oder Pestiziden, indem ökologische Alternativen im Land gefördert werden. Es geht also um Souveränität.
Wie stehen die Chancen, dass das Gesetz verabschiedet wird?
Die nächsten Wahlen sind 2018. Ich hoffe sehr, dass es bis dahin noch zu einer Abstimmung kommt und wir dann auch eine Mehrheit dafür finden. Noch haben wir diese aber nicht.

Wie steht die Regierung denn zum Konzept der Ernährungssouveränität?
Auf der politischen Ebene ist sie für dieses Konzept. In ihrer praktischen Arbeit spricht sie aber meist von Ernährungssicherheit, einem eher technischen Ansatz, bei dem es um die Förderung der ländlichen Produktion geht, um Kredite, Saatgut und Weiterbildungen.

Sind das auch die Themen, die für Procomes wichtig sind? Zum Beispiel bei dem von INKOTA geförderten Projekt in den beiden Landkreisen Berlín und Alegría.
Ganz praktisch geht es auch in diesem Projekt zunächst um Ernährungssicherheit, also darum, dass die Menschen genug zu essen haben. Aber auch darum, dass die Nahrungsmittel eine gute Qualität haben und gesund sind. Zu unserem Projekt gehört daher die Diversifizierung des Anbaus – dass also die Bauern nicht mehr nur die Grundnahrungsmittel Mais und Bohnen anbauen, sondern auch Gemüse und Obst. Und auch, und da sind wir wieder beim Thema der Ernährungssouveränität, dass sie ihr Saatgut selbst herstellen und so unabhängiger davon werden, was es gerade auf dem Markt gibt. Es gibt aber noch eine weitere Herausforderung, die jedes Jahr größer wird.

Und die wäre?
In El Salvador hat der Klimawandel längst begonnen. Immer häufiger kommt es zu Dürren oder aber es regnet zu viel. Auch dafür ist es wichtig, eigenes Saatgut herzustellen, das widerstandsfähiger ist und besser an die regionalen und klimatischen Bedingungen angepasst ist. Genau deswegen gibt es im Rahmen des Projekts auch eine Saatgutbank. Außerdem benötigt dieses Saatgut weniger Dünger.


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