Positive Meldungen waren 2020 rar gesät, doch in Argentinien hat das Jahr auf den letzten Drücker noch die Kurve gekriegt: Die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen hat eine neue Ära eingeleitet, die Welt ein kleines Stückchen gerechter gemacht und dem scheidenden Jahr zu einer Art Ehrenrettung verholfen. Die Zustimmung des argentinischen Parlaments vom 30. Dezember wird zurecht als historisch bezeichnet, denn sie ist der Erfolg und vorläufige Höhepunkt einer immer stärker werdenden feministischen Bewegung. Sie ist das Ergebnis eines unermüdlichen kollektiven Kampfes, der nach Jahrzehnten einen Meilenstein errungen hat. Einen Meilenstein, der in die Welt hinausstrahlt und vor allem beispielhafte Bedeutung für Zukunftsprojektionen der Kämpfe in der Region hat.
Lucha ama a victoria, schrieb die Aktivistin Verónica Gago in ihren sozialen Medien, „der Kampf liebt den Sieg“. Dieser lang erwartete Sieg bringt in Zeiten der Krise Lichtblicke und für die Kampagne die Bestätigung, dass ein Kampf erst verloren ist, wenn er aufgegeben wird. Denn was noch vor Jahren kaum denkbar war und immer wieder gescheitert ist, wurde gegen alle Widerstände und die mächtige Domäne der christlichen Kirchen durchgesetzt. #EsLey – legale, freie und kostenlose Abtreibung ist ein Recht und nun auch Gesetz in Argentinien.
#EsLey bedeutet auch: Es nuestra Ley, „es ist unser Gesetz“, ein Gesetz, das wir für uns erobert haben. Die Lektion, die darin liegt, ist so lehrreich für unten wie gefährlich für oben: Gemeinsam und auf der Straße können wir politische Realität verändern. Und das bedeutet: Wir werden mehr wollen. Die legale Abtreibung ist zweifellos ein Höhepunkt, aber nur ein vorläufiger, denn ihr folgt keine Ernüchterung. Im Gegenteil: Dieser Erfolg gibt neue Kraft zum Weitermachen. Das Gesetz will implementiert werden, es soll „leben“, auf die Umsetzung der begleitenden politischen Maßnahmen muss geachtet werden. Und die Gegenoffensiven der sogenannten Lebensschützer*innen und ihres einflussreichen Umfelds sind stark.
Der Kampf liebt den Sieg, ist hier aber noch lange nicht zu Ende. Denn legale Abtreibung ist nur ein Baustein einer feministischen Agenda. Die gesellschaftlichen Debatten im Vorfeld haben glasklar gemacht, dass hinter dem Recht auf Abtreibung der Wunsch nach einer anderen sozialen Ordnung ohne Patriarchat steht. Und das bedeutet mehr als nur Parität oder Repräsentation. Der jetzt gesetzte Baustein ist jedoch ein überaus wichtiger, denn die Forderung nach dem Recht auf Abtreibung verhallt nicht nur in dem Ruf „Mein Körper gehört mir“ nach einem liberalem Recht auf körperliche Selbstbestimmung. Sie spricht von Klasse, vom öffentlichen Gesundheitswesen, von Sorge, von Sexualität und vom Recht auf Lust und auf Begehren, von sozialer Gerechtigkeit, von Autonomie. Nicht nur im Sinne einer individuellen Entscheidung, sondern einer gemeinschaftlichen Frage, einem Ausbrechen aus den Ansprüchen, die an unsere reproduktiven Fähigkeiten gestellt werden. Frei entscheiden zu können, beeinflusst die Art und Weise, wie wir uns selbst als mündige Bürger*innen denken können. Legal abtreiben zu können, betrifft nicht nur die Entscheidung, wer gebären will, sondern hinterfragt genau den „Kern dessen, was eine Frau als Bürgerin für den Staat bedeutet“, wie die Aktivistin Marta Dillón sagt. Es hinterfragt die Familie als Institution und die für jede*n klar definierten Geschlechterrollen, die unbezahlte Haus- und Sorgearbeit – die Grundlagen des Systems.
Die hart erkämpfte legale Abtreibung in Argentinien ist also kein simples liberales Recht, sondern entstanden aus einem gemeinschaftlichen Kampf, einer kollektiven Forderung eines heterogenen multiplen Feminismus, der nicht nur Frauen einschließt. „Die Abtreibung ist nicht das Dach, es ist der Boden.“ Es ist dieser Grundstein, der den Weg für viele weitere Schritte weist. Und genau deswegen ist er so gefeiert und so gefährlich..