Viel Hoffnung scheint es nicht zu geben. Das, was bleibt, ist das gleichförmige Rattern, Schnarren und Klicken der unzähligen Nähmaschinen, die sich zu einem einzigen großen vielmaschigen Soundteppich verweben. Dazu gesellt sich die Monotonie derselben, sich immer wiederholenden Bewegungsabläufe: Umkrempeln des rechten Beins, lange Naht rechte Seite, halbe Drehung, lange Naht linke Seite und wieder von vorn. Das Leben der Dorfbewohner*innen scheint von Gleichförmigkeit und Monotonie bestimmt. Das Hamsterrad der ewigen Profitmaximierung dreht sich unaufhaltsam weiter. Der moderne Kapitalismus interessiert sich nicht für die Einzelschicksale der Menschen, welche die Maschinen bedienen. Marcelo Gomez aber versucht einen Blick auf eben diese Persönlichkeiten zu werfen und die Auswirkungen eines menschenunwürdigen Systems am lebenden Objekt nachzuvollziehen.
Die Kleinstadt Toritama in Agreste (Pernambuco), einer trockenen, vom Kapitalismus ausgebrannten Region im Nordwesten Brasiliens, dient als Schauplatz seines Dokumentarstreifens Estou Me Gourdando Para Quando O Carnaval Chegar. Ein Großteil dieser 40.000-Seelengemeinde hat sich über die Jahre hinweg eine oder mehrere Nähmaschinen zugelegt. Mehr braucht es nicht, um in die Jeansproduktion – die einzige vielversprechende Ernährungsgrundlage – einzusteigen. Hiermit lenkt der Regisseur die Aufmerksamkeit auch auf neue Auswüchse des modernen Kapitalismus und auf neue, schwer fassbare Beschäftigungsverhältnisse: Als Kleinunternehmer*in kann jede*r Bewohner*in durch den bloßen Besitz einer Nähmaschine für namentlich nicht genannte Konzerne von seinem eigenen Heim aus Hosenteile zusammenflicken. Jegliche gewerkschaftliche Organisation wird so von vornherein unterbunden, geregelte Löhne und Arbeitszeiten sind fehl am Platz. Es gilt die Devise: Je mehr du schuftest, desto praller gefüllt ist auch dein Geldbeutel. So kehrt der moderne Kapitalismus zu seinen Grundprinzipien und ursprünglich größten Verheißungen zurück und macht das abgedroschene neoliberale Motto „Du bist deines eigenen Glückes Schmied“ wieder salonfähig.
Mittels einer meist statischen Kameraführung erzählt Marcelo Gomez von den Einzelschicksalen dieser Maschinerie und schaut in die Hinterhöfe und Garagen der Bewohner*innen von Toritama. Die Zuschauer*innen nehmen dabei durch auffallend unauffällige Weise Anteil an den Auswirkungen der Überproduktion auf die Menschen und ihre Beziehungen und erhaschen intime Einblicke in deren Familienverhältnisse. Auffällig ist, dass die meisten der Dorfbewohner*innen ihre Situation weitaus positiver bewerten, als es die meisten Zuschauer*innen wohl tun würden. Zwar hinterfragen viele das inhumane System, aber die Mehrzahl bewertet ihre Situation als relativ zufriedenstellend. Sie hätten ja Arbeit und das sei verglichen mit anderen auf dieser Erde ja das wichtigste, das und wiedabei nur zweitrangig, so sagen sie. Trotzdem sprechen sie von ihren Sehnsüchten, von ihren Träumen und – zwischen den Zeilen – auch von einem besseren Leben. Es wird offenkundig, dass die Widersprüche des Kapitalismus am drastischsten, da in fast allen Lebensbereichen allgegenwärtig, am Produktionsort hervortreten. Am stärksten zeigt sich dies am magischen Realismus des durch Landwirtschaft und Aberglauben geprägten Dorfalltags, welcher sich noch heute im krassen Gegensatz zur industrialisierten Moderne präsentiert. Zur Karnevalszeit scheint ein Mal im Jahr jenes bessere Leben für viele greifbar nahe. Sie verkaufen ihre Fernseher, ihre Kühlschränke und ihr letztes Hab und Gut, um sich die Reise ans Meer und einen Moment der Ausgelassenheit und des Glücks finanzieren zu können. Für ein paar Tage verwandelt sich Toritama in eine Geisterstadt und die Maschinen stehen still, nur um kurz darauf erneut in ein gleichförmiges, unaufhörliches Surren zu verfallen.
Estou Me Guardando Para Quando O Carnaval Chegar läuft auf der diesjährigen Berlinale in der Kategorie Panorama Dokumente