AUS ALT MACH NEU


Wer hier einzieht, was schon hier Regierungspalast Palacio Quemada in La Paz // Foto: Rodrigo Achá / Flickr (CC BY 2.0)

Bisher läuft der Präsidentschaftswahlkampf in Bolivien weitestgehend ohne inhaltliche Auseinandersetzungen ab. Die Opposition nörgelt am Umstand herum, dass sich Evo Morales trotz Ablehnung beim Referendum illegitim wiederwählen lassen will und die Regierung bezichtigt die Opposition, „Kandidaten der Vergangenheit zu sein“. Debatten darüber, wohin man das Andenland steuern will, haben bis jetzt nicht stattgefunden. Anfang Juli will zumindest die „Bewegung zum Sozialismus – das politische Instrument zur Souveränität der Völker“ (MAS-IPSP) in Cochabamba ein Wahlprogramm beschließen.
Eigentlich gibt es genügend Themen, über die Opposition und Regierung inhaltlich streiten könnten. Ein Thema sind die zahlreichen Konflikte der Zentralregierung mit lokalen sozialen Bewegungen. So blockieren seit Ende Juni die Coca-Bauern aus der Yungas-Region die Routen, die vom Regierungssitz La Paz Richtung Norden führen. Zwischen den Coca-Produzent*innen und der Regierung aus den Bergnebelwäldern der Yungas schwelt seit langem ein Konflikt.

Die MAS ist längst keine Regierung der sozialen Bewegungen mehr


Es geht um die Balance zwischen den beiden Coca-Hauptanbauregionen. Auf der einen Seite das traditionelle Anbaugebiet der Yungas und auf der anderen Seite die Provinz Chapare, wo Evo Morales immer noch – im Nebenposten sozusagen – Chef der örtlichen Coca-Bauernvereinigung ist. Vor zwei Jahren wurden die legalen Produktionsmengen gesetzlich neu festgelegt. Die Coca-Produzent*innen aus den im Departamento La Paz gelegenen Yungas sehen sich benachteiligt, weil sie ihrer Meinung nach schlechter wegkommen, als ihre Kolleg*innen im Chapare, das zum Departamento Cochabamba gehört. Sechs Menschenleben hat der Konflikt bisher gekostet, und der Anführer der Vereinigung der Coca-Produzent*innen aus den Yungas sitzt seit einem Jahr in Untersuchungshaft. Ihm wird vorgeworfen, am Tod eines Polizisten beteiligt gewesen zu sein. Der Konflikt in den Nebelwäldern nördlich des Regierungssitzes ist nur einer von vielen regionalen Konflikten, die zwischen den sozialen Bewegungen und der MAS-IPSP besteht. Interessenskonflikte zwischen Bevölkerungsgruppen und der MAS-geführten Zentralregierung treten immer häufiger auf. Dabei ist längst deutlich geworden, dass die MAS keine Regierung der sozialen Bewegungen mehr ist. Vielmehr besteht die Strategie zunehmend darin, diese zu zersplittern und zu schwächen.
Auf der anderen Seite haben die Kandidat*innen der Opposition auch keine Basis bei dem abtrünnigen Teil der sozialen Bewegungen, die vor knapp fünfzehn Jahren der MAS zur Macht verholfen hatten. Carlos Mesa, Präsidentschaftskandidat der Bürgergemeinschaft (Comunidad Ciudadana) und aussichtsreichster Gegenspieler von Evo Morales, konnte auf Twitter lediglich konstatieren, dass die MAS die sozialen Bewegungen spalten möchte.
Carlos Mesa repräsentiert die weiße Mittel- und Oberschicht des Landes. Unter Gonzalo Sánchez de Lozada war er von 2002 bis 2003 Vizepräsident und nach dem Krieg ums Erdgas 2003 und der Flucht von Sánchez de Lozada war er Interimspräsident bis zum Machtantritt von Evo Morales im Januar 2006 (siehe LN 473). Seine Beziehungen zu den sozialen Bewegungen, die mit der MAS-Regierung im Clinch liegen, gestalten sich wegen der Vorgeschichte schwierig und das ist sicherlich eine der Herausforderungen seiner Kandidatur.
Im Februar kündigte Mesa an, sein Wahlprogramm „im Dialog mit den Wähler*innen“ zu erarbeiten. Dadurch versuchte er zu Beginn sein programmatisches Defizit zu kaschieren. Vergangenes Jahr wollte er noch die von der MAS eingeführten Sozialleistungen, wie das Schulgeld oder die Rente der Würde, abschaffen. Für die Idee erntete er viel Kritik und inzwischen ist er davon wieder abgerückt.
Jetzt, so scheint es, nimmt sein Wahlprogramm jedoch Konturen an. Ob dies als Resultat des Bürger*innendialogs zu bewerten oder den tagespolitischen Konjunkturen geschuldet ist, bleibt allerdings unklar. Er hat angekündigt, die Korruption in der Polizei bekämpfen zu wollen, die jüngst durch einen Drogenskandal erschüttert wurde. Auf einem Video war zu sehen, wie ranghohe Polizeioffiziere mit einem der gesuchtesten Drogenbosse eine Party feierten. Immer öfter wird über Verbindungen der Drogenmafia in den Staatsapparat spekuliert. Bolivien gilt als ein zunehmend wichtiger Drogenumschlagplatz, auch die Menge des produzierten Kokas soll wieder zugenommen und das Niveau von 2005 erreicht haben. Doch der Ausgang der Präsidentschafts­wahlen wird weder an der Korruption noch an der Tatsache, dass ein Teil der Coca-Ernte auf dem Schwarzmarkt „verschwindet“, etwas ändern können. Bis zu einem Drittel schätzen Expert*innen den Anteil der Drogenökonomie an der Volkswirtschaft.
Zur Wirtschaftspolitik hat Mesa ebenfalls erste Aussagen gemacht und angekündigt, dass er die Wirtschaft stärker öffnen möchte. Genau das betreibt die Regierung um Evo Morales bereits seit einigen Jahren. Der Plan der Regierung sieht vor, das Lithium zu industrialisieren, den Export von Landwirtschaftsprodukten voranzutreiben und die Infrastruktur sowie den Zugang zu den Märkten zu verbessern. Im Juni tagten die Regierungen von Peru und Bolivien, um den Ausbau des Hafens im peruanischen Ilo voranzutreiben. Gleichzeitig gibt es Verhandlungen mit Paraguay, über die Wasserstraße Paraná einen Zugang für den Export bolivianischer Waren über den Atlantik zu bekommen. Im Hintergrund steht der Wunsch Boliviens, einen Schienenverkehrsweg zwischen Pazifik und Atlantik zu bauen. Diese liberale Wirtschaftspolitik kommt bei den Märkten gut an und hatte in der jüngsten Vergangenheit zu einer zehnjährigen Boomphase geführt.
Carlos Mesa erkennt diese Erfolge an. Seiner Meinung nach gibt es allerdings Defizite bei der Investitionssicherheit und dem Bürokratieabbau. Dabei sind ausländische Investitionen in der Regierungszeit von Morales gestiegen. Zuletzt hat sich Deutschland mit einer Investition von 1,2 Milliarden US-Dollar an der Entwicklung der Lithiumindustrie beteiligt und auch China will in die Kommerzialisierung des bolivianischen Lithiums investieren.
Die wirtschaftliche Prosperität Boliviens ist ein Problem für die Opposition. In einer jüngst von der Tageszeitung La Razón veröffentlichten Umfrage unter dem Titel „Das Gute und das Schlechte von Evo“ gab ein Großteil der Bolivianer*innen an, dass sie das wirtschaftliche Wachstum und die Verbesserung der Infrastruktur dem Präsidenten zugute halten. Als wichtigster Negativpunkt sehen die Wähler*innen sein Bestehen auf einer erneuten Wiederwahl, mit dem Morales das Referendum von 2016 ignoriert. Damals hatte die Mehrheit sich gegen eine Wiederwahl aus gesprochen.

Evo Sí Überall finden sich Aufrufe zur Wiederwahl // Foto: Thomas Guthmann

Bis dato ist der Wahlkampf daher von dem Thema Wiederwahl geprägt. Die Opposition stellt in ihren Äußerungen vor allem die Illegitimität der erneuten Kandidatur von Evo Morales in den Vordergrund. Seit dem Referendum von 2016 versuchen Bürgerkomitees im ganzen Land, eine Volksbewegung gegen die Wiederwahl zu organisieren. Bisher ohne großen Erfolg. Denn trotz des weit verbreiteten Unbehagens innerhalb der Bevölkerung über die Form mit der sich die Regierung Evo Morales über Volkes Willen hinwegsetzte, ist eine breite Front der Ablehnung bisher nicht zustande gekommen. Das liegt auch daran, dass die sozialen und indigenen Bewegungen zwar in ihrer Mehrheit der Regierung kritisch gegenüber stehen, allerdings bisher einzeln die Auseinandersetzung suchen, wie der Konflikt mit den Coca-Bauern in den Yungas verdeutlicht.
Die bürgerliche Opposition hat es zudem bisher nicht vermocht, sich auf einen Kandidaten zu einigen. Carlos Mesa ist bisher der einzige Kandidat, dem die Umfragen zutrauen, an Evo Morales heranzukommen. Allerdings gibt es bisher insgesamt sieben Kandidaten und eine Kandidatin. Im Mai scheiterte ein Versuch der Opposition, sich auf einen Kandidaten zu einigen. Bei einem Treffen aller Oppositionskandidat*innen und den Bürgerkomitees konnten sich die Versammelten lediglich auf die Rücktrittsforderung des obersten Wahltribunals einigen. Zu Beginn hatte Carlos Mesa den Reportern zugerufen, dass seine Kandidatur die einzige sei, die gewinnen könne. Sehr zum Unmut der anderen Kandidat*innen. Schließlich warf Edwin Rodriguez, Vize von Präsidentschaftskandidat Oscar Ortíz Mesa vor, „er ist schuld, dass es keine Einheit in der Opposition gibt“.
So sehen die meisten Umfragen Evo Morales weit vor Carlos Mesa. Laut einer Umfrage der Tageszeitung Página siete glauben 52 Prozent der 800 Befragten in den neun Departamentshauptstädten und El Alto an einen Sieg von Evo Morales, nur 23 Prozent sehen Carlos Mesa vor ihm. Die Befragung der Tageszeitung La Razón, die in 17 Städten und 31 ländlichen Gemeinden durchgeführt wurde und damit auch den ländlichen Raum berücksichtigt, ergibt eine Zustimmung für Evo Morales von 49 Prozent gegenüber einer Ablehnung von 43 Prozent. Dabei hat Carlos Mesa insgesamt mehr Sympathien bei den jungen städtischen Wähler*innen, während Evo Morales eher die Zustimmung älterer Wähler*innen auf seiner Seite hat.
So kann es gut sein, dass der aktuelle Präsident auch der neue Regierungschef wird. Sollte die Opposition sich nicht einigen, ist sogar ein Sieg im ersten Wahlgang möglich. Ein Sieg für Morales ist möglich, wenn er 50 plus eine Stimme gewinnt oder sich mit zehn Prozent Vorsprung zum Zweiten platziert, dann benötigt er keine absolute Mehrheit. Dennoch trifft der Wahlrat bereits Vorkehrungen für eine zweite Runde im Dezember. Denn die Umfragen sind mit Vorsicht zu genießen. Es gibt viele Unbekannte und genaue Vorhersagen sind schwer zu treffen. Es gibt in Bolivien keine regelmäßigen Wahlumfragen, damit auch keinen statistischen Datenvorrat, der es erlauben würde, genauere Vorhersagen zu treffen.
Auch wenn die MAS die Präsidentschaftswahlen gewinnt, so wird sie wahrscheinlich die Mehrheit in den beiden Parlamentskammern, die sie in der aktuellen Legislaturperiode noch innehatte, verlieren. Damit wird ein Durchregieren der MAS wie bisher wohl nicht mehr möglich sein, womit sich in Bolivien in jedem Fall gesellschaftliche und politische Umbrüche ankündigen.

 

DAS KLEINERE ÜBEL

Torres kandidierte für die Partei „Einheit der nationalen Hoffnung“ (UNE), eine formell sozialdemokratische Partei, die aber ein strikt konservatives Familienbild hat und in zahlreiche Korruptionsskandale verwickelt ist. Torres werden auch Kontakte zur organisierten Kriminalität nachgesagt. In der Amtszeit ihres Ex-Mannes, Álvaro Colom, der Guatemala von 2008 bis 2012 regierte, gab es zwar einige Sozialprogramme, die Teilen der armen Bevölkerung zu Gute kamen. Der neoliberale Kurs der Privatisierungen wurde aber fortgesetzt, zahlreiche Konzessionen für umstrittene Bergbau- und andere Megaprojekte wurden unter Colom vergeben.
Auf Platz zwei kam mit 13,9 Prozent der Stimmen Alejandro Giammattei von der rechtsextremen Partei VAMOS in die Stichwahl. Er gilt auch als der Wunschkandidat des einflussreichen Militärs. Auch Giammattei kandidierte bereits das vierte mal für das Präsidentenamt, jedes Mal für eine andere Partei.
Im linken Parteienspektrum gibt es zwar keine Aussicht auf Regierungsmacht, dennoch können einige Parteien Erfolge verbuchen. Die Kandidatin der „Bewegung für die Befreiung der Völker“ (MLP), Thelma Cabrera, erreichte mit 10,37 Prozent den vierten Platz. Manuel Villacorte von der Partei Winaq kam mit 5,22 Prozent auf den siebten Platz.
Die MLP ist aus der Landarbeiterorganisation CODECA (Komitee für bäuerliche Entwicklung) hervorgegangen und nahm erstmals an den Wahlen teil. „Alle Vorschläge, die CODECA gemacht hat wurden abgelehnt. Unsere Mitglieder werden kriminalisiert, ermordet und wir als Terroristen beschimpft“, kommentierte Cabrera den Zustand der Organisation. „Daher haben wir beschlossen, wir müssen selbst regieren, die MLP ist dabei das Instrument, das die sozialen Bewegungen an die Macht bringen soll.“

Die Linke erreichte das beste Ergebnis seit dem Ende des Bürgerkrieges


In den drei im Hochland gelegenen und überwiegend von der indigenen Bevölkerung bewohnten Departamentos Solola, Totonicapan und Chimantenango sowie unter in den USA wahlberechtigten Migrant*innen erreichte Thelma Cabrera den ersten Platz. Allerdings konnten die Kandidat*innen der MLP bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen nicht die gleichen Erfolge erzielen und kommen voraussichtlich nur auf einen Sitz. Die langjährige CODECA-Aktivistin Vicenta Jerónimo wird ihn besetzen.
Eine Überraschung der Linken war die Partei Winaq (Maya Quiché für „Leute“). Die Partei wurde von der Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchu gegründet. Sie versteht sich als Interessenvertretung der indigenen Bevölkerung und sieht sich in der Tradition des indigenen Widerstandes der vergangenen Jahrhunderte. Die Organisation stehe aber allen Bevölkerungsgruppen, nicht nur der indigenen Bevölkerung offen, betonte Ricardo Cajas, Sekretär im Parteivorstand der Winaq.
Neben den 5,22 Prozent für ihren Präsidentschaftskandidaten ist Winaq auf vier Sitze im Parlament gekommen. Die ehemalige Guerillaorganisation URNG, bei den Präsidentschaftswahlen abgeschlagen auf dem zwölften Platz, kam bei den Parlamentswahlen auf drei Sitze. Damit konnten die linken Parteien die Zahl ihrer Abgeordneten im Vergleich zur letzten Wahl verdoppeln und bei der Präsidentschaftswahl das beste Ergebnis nach dem Friedensabkommen erreichen.
Insgesamt sind 19 Parteien im neuen Parlament vertreten. Die UNE, die Partei von Sandra Torres, stellt mit 54 von 160 Abgeordneten die größte Fraktion im neuen Parlament. Die Partei VAMOS des zweitplatzierten Giammattei 17 Abgeordnete. Allerdings könnte der in Guatemala übliche Fraktionswechsel nach den Wahlen das Bild noch einmal durcheinander bringen: Bei den letzten Präsidentschaftswahlen wechselten rund 25 Prozent der Abgeordneten nach der Wahl die Partei.
Der Präsidentschaftskandidat der UNC, Mario Estrada, sitzt seit April in den USA in Untersuchungshaft. Er war US-amerikanischen Drogenfahndern in die Falle gegangen, die sich als Mitglieder des Drogenkartells Sinaloa ausgegeben hatten. Bei ihnen hatte er nicht nur gegen Geldzahlungen „Sicherheit“ beim Drogenstransport in Aussicht gestellt, sondern soll auch die Ermordung zweier Konkurrentinnen für das Präsidentenamt in Auftrag gegeben haben, unter anderem die Ermordung von Thelma Aldana. Die in der Korruptionsbekämpfung engagierte Ex-Staatsanwältin sollte für die Partei Semilla kandidieren, ihre Kandidatur wurde aber durch einen Beschluss des Verfassungsgerichtes unterbunden. Hintergrund waren Korruptionsvorwürfe gegen ihre Person, die sie selbst als „erfunden“ bezeichnete.
Während der Wahlen gab es zahlreiche Hinweise auf Unregelmässigkeiten. Schon wenige Stunden nach Schliessung der Wahllokale erkannte Thelma Cabrera von der MLP das Ergebnis nicht an und sprach von „geplantem Betrug“. In einer Pressemitteilung vom 17. Juni beklagte die Partei unter anderem, dass auf zahlreichen Wahlzetteln das Logo der MLP nicht zu finden war. Wahlzettel tauchten bereits ausgefüllt in Wahllokalen auf. Außerdem beklagte sie Stimmenkauf zu Gunsten der traditionellen Parteien. Wahlbeobachter*innen der MLP berichteten teilweise von Diskrepanz zwischen den von ihnen gezählten Stimmen und den späteren offiziellen Angaben.
Dies bestätigt auch Ricardo Cajas für die Winaq. Er sieht den zentralen Betrug aber im Vorfeld der Wahlen. „Durch den seit Jahren praktizierten großangelegten Stimmenkauf kann von fairen Wahlen nicht die Rede sein“, sagte er. „Die Leute verkaufen ihre Stimme für Geschenke. Hier müsste die Wahlbehörde grundsätzlich einen Riegel vorschieben.“

Während der Wahlen gab es zahlreiche Hinweise auf Unregelmäßigkeiten


Die Organisation amerikanischer Staaten (OAS) sprach dagegen von einem weitgehend normalen Verlauf der Wahlen. Internationale Wahlbeobachter*innen, zum Beispiel der Europäischen Union, hatte die guatemaltekische Regierung aber nicht zugelassen. Die Wahlbehörde TSE räumte Unregelmäßigkeiten ein und kündigte an die Stimmen noch einmal nachzuzählen. Die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen und die Kandidatur von Torres und Giammatei für die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen hat sie mittlerweile bestätigt, für die Parlamentswahlen ist die Nachzählung aber noch nicht abgeschlossen und könnte noch zu Veränderungen im Endergebnis führen, die allerdings nicht gravierend ausfallen dürften.

Für die Stichwahl im August gibt es keine politische Kraft mehr, die eine grundsätzliche Alternative zum neoliberalen System anbietet, die Wahl zwischen Torres und Giammatei ist die klassiche Wahl des kleineren Übels, zwischen klassischer Großpartei mit neoliberalem Ansatz und rechtsextremer Partei.
Die Linke hat das beste Ergebnis seit dem Ende des Bürgerkrieges erreicht. Bei einer gemeinsamen Kandidatur hätte es vermutlich sogar für die Stichwahl gereicht. Im Parlament stehen die Parteien dennoch einer rechten Mehrheit gegenüber. Trotzdem will Ricardo Rojas von Winaq im Parlament über ein 20-Punkte-Programm verhandeln. Gleichzeitig wird die Partei aber ihre Basisarbeit fortsetzen, ihre Zusammenarbeit mit indigenen Organisationen – ganz wie die MPL. Für das überwiegend im Hochland gelegene Departamento Quetzaltenango fasst Emma Vicente, Kandidatin für die MLP bei den Parlamentswahlen, zusammen: „Wir haben in unserem Departamento über 33.000 Stimmen für Thelma Cabrera erreicht und fast 8.000 bei den Parlamentswahlen, in dem Landkreis Concepcion Chiquirichapa 70,36 Prozent der Stimmen. Dabei hatten wir dort bisher noch gar keine Strukturen, weder von CODECA noch von der MLP. Der Erfolg kam zustande, weil uns Einwohner*innen einige Wochen vor den Wahlen angesprochen hatten, um Materialen gebeten hatten und dann eine Kundgebung mit Thelma Cabrera organisierten. Daran werden wir in den nächsten vier Jahren anknüpfen, und auch die politische Bildung in unserem Departamento intensivieren.“

 

DAS GUTE LEBEN, NUR EIN DISKURS



Foto: Privat

Oscar Campanini
ist Direktor der Nichtregierungsorganisation CEDIB aus Bolivien. CEDIB arbeitet für mehr Transparenz im Bergbau und anderen Großprojekten in Bolivien und beschäftigt sich unter anderem mit dem Thema Lithium.


 

Herr Campanini, Sie kritisieren Demokratiemangel in Boliviens Bergbau- und Rohstoffpolitik. Wie hat sich diese in den letzten Jahren verändert?
So wie die meisten lateinamerikanischen Länder ist auch Bolivien historisch mit dem Rohstoffexport verbunden. Die Wirtschaft des Landes basiert größtenteils auf Extraktivismus und birgt somit eine hohe Rohstoffabhängigkeit. Anstatt die Wirtschaft zu diversifizieren, wurden politische Machtstrukturen innerhalb des Rohstoffsektors geschaffen, welche Armut und Diskriminierung bis heute begünstigen. Die Hoffnung auf eine Transformation dieser Strukturen wurde nach fast 14 Jahren Amtszeit des Präsidenten Evo Morales enttäuscht.
Rohstoffausbeutung wurde mit einer Kapitalanlagenmaximierung für eine stärkere Sozialpolitik gerechtfertigt. Auch der Wunsch nach Entwicklung trieb diesen Prozess immer weiter voran.
Mit der Politik des Wachstums sind enorme sozio-ökologische Auswirkungen verbunden. Besonders betroffen sind indigene Gruppen, die direkt unter den ökologischen Auswirkungen des Bergbaus leiden. Um Widerstand zu unterbinden, wendet die bolivianische Regierung verschiedene Strategien an. Die Betroffenen werden zum Schweigen gebracht, Menschenrechte werden missachtet.

Die Auswirkungen auf Menschen − insbesondere wenn sie Sorgearbeit verrichten, welche traditionell Frauen zugeschrieben wird − werden in der Beschäftigung mit dem Extraktivismus und seinen Folgen nur selten beleuchtet.
Die Auswirkungen sind für Frauen auf jeden Fall anders, aber es gibt auch viele Gemeinsamkeiten. Wenn extraktivistische Projekte geplant werden, geht das oftmals mit großen Versprechen für die Regionen einher, wie zum Beispiel Arbeitsplätzen oder anderen wirtschaftlichen Vorteilen, die nicht immer eingehalten werden. Zuallererst zerstören diese Projekte die produktiven und organisatorischen Strukturen der Gemeinschaften. Wenn eine Gemeinde beispielsweise von der Landwirtschaft lebte, wird diese dann nur noch spärlich betrieben, um sich stattdessen extraktivistischen Projekten zu widmen. Dadurch profitieren die Familien zwar erst einmal wirtschaftlich, aber die Produktion von Lebensmitteln funktioniert nicht mehr und die Lebensgrundlage der Gemeinde verändert sich vollkommen. Auch die Organisation der Gemeinschaften ist am Ende nicht mehr dieselbe. Die Gemeinschaft ist traditionell am Wohlergehen aller Mitglieder orientiert. Die Unternehmen, die extraktivistische Projekte planen, nehmen jedoch Einfluss auf deren Repräsentanten und sorgen dafür, dass diese die unternehmerischen Belange wiederum nach innen hin vertreten und Einfluss auf die Gemeinden nehmen, um sie von den Projekten der Unternehmen zu überzeugen. So werden die organisatorischen Strukturen der Gemeinden völlig unterlaufen und ihre Strukturen für die Zwecke des Extraktivismus instrumentalisiert. Verheerend sind auch die Auswirkungen auf die Umwelt, insbesondere auf das Wasser, und das bekommen leider ganz besonders Frauen zu spüren. Männer, welche meistens ökonomischen Tätigkeiten nachgehen, bekommen davon wenig mit, weil sie außerhalb der Haushalte arbeiten und diese Probleme nicht selbst erleben.

Haben Frauen deswegen auch eine besondere Rolle im Widerstand gegen diese Praktiken?
Ganz genau. In den letzten 15 Jahren des sozialen Widerstands waren es vor allem Frauen, die auf fundamentale Probleme aufmerksam gemacht haben. Es hat seine Vor- und Nachteile, dass Frauen traditionell enger mit den Familien leben und daher besorgter um die Zukunft ihrer Kinder und die ihrer Gemeinde sind. Deswegen übernehmen Frauen immer häufiger die Rolle von Anführerinnen ihrer Gemeinden und gehen die Probleme anders an als Männer, die wegen ihrer ökonomischen Perspektive und aufgrund von Sexismus die Dinge nicht so klar sehen wie sie. In vielen wichtigen Organisationen sind Frauen jetzt die wichtigsten Akteurinnen und die Anführerinnen des Widerstands geworden.

Wie beurteilen Sie die Idee eines Entwicklungsmodells, welches Wohlstand durch die Ausbeutung von natürlichen Ressourcen erreichen will? Braucht Bolivien überhaupt eine „Entwicklung“?
Seit einiger Zeit gibt es in Bolivien eine Debatte darüber, was Entwicklung eigentlich ist. Auch in Deutschland gibt es ein Bewusstsein für diese Fragen, was man zum Beispiel am Thema der Elektroautos sehen kann. Dabei geht es aber nur um eine Transformation im Bereich der Energiequellen, das System des Konsums jedoch bleibt bestehen, die Idee der Entwicklung unangetastet. In Bolivien diskutieren wir die Frage, welche Entwicklung wir eigentlich wollen, und wissen auch, dass wir in jedem Fall ökonomische Ressourcen brauchen, die wir besonders leicht aus dem Handel mit anderen Ländern beziehen können. Die Frage ist vor allem, was wir dann mit diesen Ressourcen anstellen. Natürlich brauchen wir Bildung, ein funktionierendes Gesundheitssystem und viele andere Dinge, die die entwickelten Länder haben. Aber zu welchem Preis? Das verhandeln und analysieren wir aktuell in Bolivien.

Lithium, das in Bolivien im großen Stil abgebaut wird, wird derzeit in vielen Ländern des Globalen Nordens als Wegbereiter für eine internationale Energiewende gefeiert und findet Einsatz im Bereich der Elektromobilität. 2018 hat Bolivien einen 1,3-Billionen-Dollar-Deal mit der deutschen Firma ACI im Bereich der Lithiumausbeutung geschlossen. Zu welchem Preis bekommt Deutschland die vermeintlich saubere Energie?
Deutschland und die EU sorgen sich um die Erhaltung der eigenen Energiesicherheit. Von Bolivien brauchen sie Rohstoffe, um die eigene nationale Industrie und Entwicklung voranzutreiben. Die Umwelt nimmt nur insofern eine wichtige Rolle ein, da sie die Rohstoffe bereitstellt. Die Ökosysteme, in denen dieser Rohstoff auffindbar ist, sind mit indigenen Territorien verbunden. Das ist die Lebensgrundlage der ansässigen Menschen, und umgekehrt wird das Land auch von seinen Bewohnern instand gehalten. Deutschland interessiert sich für den Rohstoff, jedoch nicht für die auf dem Fördergrund lebende Bevölkerung. Landvertreibung und die Beschneidung von Menschenrechten sowie die Beschädigung der Ökosysteme hängen also mit der vermeintlich nachhaltigen Energie zusammen. Die damit zusammenhängende Ausbeutung von Rohstoffen, in diesem Fall Lithium, führt zu erhöhtem Abbau im Sinne von weiterem Wachstum.

51 Prozent des Umsatzes soll Bolivien erhalten − dient dieser Gewinn zum Aufbau einer eigenen Industrie? Welche Folgen hätte dies?
Seit vielen Jahren gibt es bereits Pläne zur Industrialisierung Boliviens. In der Vergangenheit investierte die Regierung in viele verschiedene Sektoren, um diese weiter voranzubringen. Aufgrund des bisherigen Scheiterns der Industrialisierung anderer Sektoren, gilt Lithium derzeit als vielversprechendster Bereich. Es wurde bereits viel Geld aus der bolivianischen Staatskasse, aber auch durch ausländische Investoren bereitgestellt, um diese Industrie zu entwickeln.
Der 2018 mit Deutschland geschlossene Vertrag verspricht ein innovatives Projekt zur Lithiumgewinnung, in dem es bisher so scheint, als ob von diesem alle profitieren könnten. Es gibt jedoch Unstimmigkeiten. Ein Problem sind die genannten ökologischen Folgen. Die Wassermengen, die von den Kraftwerken benötigt werden, sind trotz neuer Technologien riesig. Der Verbrauch der Wasserreserven wird sich nicht nur auf Salar de Uyuni auswirken, sondern die gesamte Region betreffen und das Ökosystem stark beschädigen. Diese drastischen Folgen hat Bolivien bisher noch nicht erkannt. Eine weitere Sorge ist, ob die Wertschöpfungskette wirklich in Bolivien bleibt. Das Versprechen nationaler Wertschöpfung ist zwar Teil des Vertrags zwischen ACI und Bolivien, jedoch gibt es viele alarmierende Signale, dass dies nicht wirklich so sein wird. Es ist bereits bekannt, dass Deutschland einen aktuellen Fond mit mehreren Millionen Euro bereitstellt, um eine eigene Lithiumverarbeitungsindustrie aufzubauen. Das lässt natürlich Raum für Sorge, ob das Interesse an einer nachhaltigen Wertschöpfungskette innerhalb Boliviens wirklich besteht.

Wenn wir uns Ihre bisherige Bilanz der Rohstoffpolitik Boliviens ansehen, drängt sich die Frage auf, was eigentlich aus dem Vivir Bien geworden ist.
Leider ist all das bloß ein Diskurs geblieben. So, wie die Idee des Vivir Bien eigentlich konzipiert wurde, ist sie konträr zum Entwicklungsbegriff − und doch wurde sie in diesem Gesetz einfach zum Grundstein einer „integralen“ Entwicklung erklärt und so in eine Entwicklungsagenda integriert. Die natürlichen Ressourcen stehen deswegen immer noch im Dienst einer ökonomischen Entwicklung von Wachstum durch den Export von Rohstoffen. Eine richtige Transformation hat nie stattgefunden. Was wir sehen ist lediglich eine Transformation von Diskursen über das Vivir Bien.

Bolivien ist im Moment der letzte Staat, der den socialismo del siglo 21 (Sozialismus des 21. Jahrhunderts) mit einer gewissen Stabilität weiterführt. Was denken Sie über die Entwicklung der Linken in Lateinamerika?
Ich verstehe diese Welle progressiver Regierungen als Produkt von sozialen Bewegungen, die sich gegen den Neoliberalismus auf dem Kontinent zur Wehr gesetzt haben und nach politischen Alternativen suchten. Im besten Fall haben diese jedoch ein paar Umverteilungsmaßnahmen erreicht – mehr nicht. Es gab einige Versuche von Verstaatlichungen, in Bolivien beispielsweise von Gas, aber dieses wird von transnationalen Unternehmen kontrolliert, deswegen konnte das Projekt nicht gelingen. Die Erträge wurden zwar umverteilt, die größten Gewinne blieben jedoch noch immer bei den transnationalen Unternehmen. Strukturelle Veränderungen haben aber leider keine der progressiven Regierungen wirklich erreicht, und deswegen sind sie gescheitert. Momentan schlägt die Rechte zurück. Das ist die logische Konsequenz des Versagens der Linken. Diese Entwicklung beunruhigt uns sehr. Was zum Beispiel gerade in Venezuela geschieht, wird mit Sicherheit einen Einfluss auf ganz Lateinamerika haben.

 

FÜR ODER GEGEN EVO MORALES

Hungerstreik am Avaroa-Platz: Martha Yujra mit ihren Mitstreitern (Foto: Thomas Guthmann)

In einer Ecke am Avaroa-Platz im Zentrum von La Paz steht ein Zelt, davor ein Banner mit der Aufschrift „Forum Meinungsfreiheit, für die Erneuerung der Demokratie!“, daneben sitzen einige Männer und Frauen, Gegner*innen von Evo Morales, in der Mittagssonne. Plötzlich kommt ein Dutzend Männer und Frauen, teilweise in Ponchos, Filzhüten und Polleras (langer Faltenrock), Erkennungszeichen der Aymaras, der größten indigenen Bevölkerungsgruppe in La Paz. Einige tragen Westen, auf denen „Fejuve El Alto“ steht, der Verband der Nachbarschaftsvereinigungen. Sofort steigt die Spannung. Einer aus der Gruppe will ein Plakat mit der Aufschrift „Bolivien hat Nein gesagt!“ von einem Baum reißen, eine Frau von der Zeltgruppe interveniert und schreit „Hände weg!“, die Polizei muss einschreiten. Als sich die Lage etwas beruhigt, bezichtigen beide Gruppen die andere Seite, provoziert zu haben. Eine kleine Szene an diesem sonnigen Morgen, die einen Vorgeschmack darauf geben kann, was dieses Wahljahr für Bolivien an politischen Auseinandersetzungen bringen kann. Befürworter*innen und Gegner*innen der Kandidatur von Evo Morales bringen sich in Stellung.

Im Dezember hatte der oberste Wahlausschuss endgültig die Kandidatur von Evo Morales Ayma und seinem Vize Alvaro García Linera zugelassen. Mit ihnen wurden acht weitere Gespanne, Präsident und Vizepräsident, für die Wahlen im Oktober akkreditiert. Seitdem kochen die Gegner*innen von Evo Morales vor Wut. Direkt nach der Entscheidung traten mehrere Mitglieder der oppositionellen Comites Cívicos in verschiedenen Teilen des Landes in befristete Hungerstreiks.

Ein paar Meter entfernt vom Wortgefecht, gibt es eine kleine Ansammlung von Zelten. Hier verweigert Martha Yujra vom Gewerkschaftsverband COR aus El Alto seit dem 14. Januar die Nahrungsaufnahme, „wenn es sein muss bis zum bitteren Ende“ meint die Gewerkschaftsaktivistin, denn sie möchte, dass die „Vaterlandsverkäufer und Verräter, die unsere Verfassung mit Füßen treten, verschwinden. Wir haben Goni rausgeschmissen und wir werden auch ihn rausschmeißen.“ Martha Yujra ist Gewerkschaftsführerin und hat sich trotzdem gegen Evo Morales gestellt. Während der gewerkschaftliche Dachverband COB sich im Streit um die Kandidatur von Evo Morales auf die Seite des Präsidenten gestellt hat, sprechen sich regionale Untergliederungen, wie die COR aus El Alto, gegen die Kandidatur von Evo Morales aus.

„Wir haben Goni rausgeschmissen und wir werden auch ihn rausschmeißen“

Befürworter*innen und die Gegner*innen des Präsidenten stehen sich unversöhnlich gegenüber. Dabei steht eigentlich außer Frage, dass die inzwischen vierte Kandidatur von Evo Morales nicht verfassungskonform ist. Die unter Federführung der MAS, der Bewegung zum Sozialismus, ausgearbeitete Verfassung sieht nur die Möglichkeit von zwei aufeinanderfolgenden Amtszeiten vor. Wird Morales, der Kandidat der MAS, im Herbst gewählt, wäre dies die vierte Amtszeit in Folge. Um das möglich zu machen, setzte die Regierung am 21. Februar 2016 eine Volksabstimmung an. Mit einem „Ja“ wäre die Verfassung geändert worden und die Wiederwahl möglich gewesen. Eine knappe Mehrheit von 51 Prozent der Bolivianer*innen stimmte jedoch gegen die Verfassungsänderung und damit auch gegen die Wiederwahl von Evo Morales. Dieser hatte vor der Abstimmung verlauten lassen, er würde „die Klappe halten und gehen“ und sich Volkes Wille beugen.

Dieses Versprechen warf er allerdings nach der Abstimmung über Bord. Bereits im Sommer 2016 ließen die Kokabäuerinnen und -bauern aus dem Chapare verlauten, dass sie das Ergebnis des Referendums nicht akzeptierten und brachten eine Unterschriftensammlung ins Spiel. Es sollten 20 Prozent der Wahlberechtigten unterschreiben, um erneut ein Referendum zur Verfassungsänderung anzusetzen. Dazu kam es aber nie. Vielmehr dachte die Regierungspartei MAS laut darüber nach, die Verfassung mit der Zweidrittelmehrheit, die sie momentan noch im Parlament hat, zu ändern. Als weiteres mögliches Szenario galt eine Zeit lang der Rücktritt von Evo Morales kurz vor Ende der Amtszeit, um sich schließlich als ‚neuer Kandidat‘, der kein amtierender Präsident ist, zu präsentieren. Schließlich war alles nicht nötig, weil am 28. November 2017 das Verfassungsgericht in einer weiteren Kandidatur von Morales keinen Verfassungsbruch sah. Das Gericht stellte fest, dass alle Kandidat*innen in Bolivien ein Recht auf unbegrenztes passives Wahlrecht hätten und erklärte den entsprechenden Verfassungsartikel 168 für nicht rechtmäßig. Die Opposition war entsetzt und sprach von einem Putsch.

Rafael Puente, in der ersten Regierung von Evo Morales noch Staatssekretär und 2008 für kurze Zeit Präfekt in Cochabamba, sieht den moralischen Verfall der Regierung in der politischen Kultur verankert. „In der Geschichte Boliviens“, so Puente, „war es immer so, dass sich andere Leute am Staat bereicherten, jetzt, so dachten 2006 viele an der Basis der MAS, sind wir dran. Das war gewissermaßen der genetische Defekt der Bewegung zum Sozialismus, die Funktionäre und die sozialen Bewegungen interpretierten den Staat nicht anders als das alte Establishment“. Zu Beginn seiner Amtszeit stellte sich Morales noch gegen diese Position, „Ich erinnere mich an eine Sitzung 2009, bei der Evo einem Kandidaten klar sagte: ‚Genossen, der Prozess des Cambios gehört allen‘“, meint Puente, „diese Meinung änderte Morales 2010, als die MAS die Wahlen mit 64 Prozent gewonnen hatte“. Seitdem beanspruchte auch er die Macht alleine für sich und seine Partei, alle wären regelrecht berauscht gewesen von der Macht, so der Jesuit.

Die einsetzende Klientelpolitik führte in den darauffolgenden Jahren dazu, dass auch Teile der Basis von Evo Morales auf Distanz gingen. Ein Knackpunkt, vielleicht der Wichtigste, war der Konflikt um den Bau einer Straße durch den Nationalpark TIPNIS. Hier zerbrach 2011 der Pacto de Unidad (Einheitspakt) zwischen den wichtigsten indigenen Dachverbänden, Campesino-Organisationen, Cocaleros und dem Frauenverband Bartolina Sisa. Der Einheitspakt war eine wichtige Säule des Projekts des Cambios. In der Folge erlitt die Regierung Morales ihre erste schwere Niederlage. Die Mobilisierungen der indigenen Bewohner*innen von TIPNIS führten dazu, dass die geplante Überlandstraße nicht gebaut wurde. Die Regierung erließ ein Gesetz zur Unantastbarkeit des TIPNIS. Vor allem relevante Teile der indigenen Verbände CIDOB und CONAMAQ stellten sich auf die Seite der Bewohner*innen des Nationalparks.

„Evo hat sich als Wolf im Schafspelz entpuppt“

Im Herbst 2018 wurde das Gesetz, das die Unantastbarkeit des TIPNIS festschreibt, aufgehoben. Morales ist auch hier ein Getriebener der Interessengruppen, in deren Hände er sich nach 2010 gegeben hat. Eine der wichtigsten sind die Cocaleros aus seiner Heimatregion, dem Chapare, deren Verbandspräsident er bis heute ist. Diese wollen, neben dem brasilianischen Ölriesen Petobras, auf jeden Fall, dass die Straße durch den TIPNIS gebaut wird. Auch in diesem Fall wird wenig Rücksicht auf die Verfassung genommen, die die Autonomie der indigenen Bevölkerungsgruppen festschreibt. Die Regierung hat demnach kein Recht, ohne die Zustimmung der Indigenen, auf ihren Territorien Straßen zu bauen.

Zurück auf dem Avaroa-Platz: Die Zersplitterung der Basis zeigt sich auch hier. Während auf der einen Seite eine Gruppe von indigenen Aymaras sich mit dem Comite Cívico, das sich mehrheitlich aus der weißen Mittel- und Oberschicht rekrutiert, ein Wortgefecht liefert, unterstützt die hungerstreikende Martha Yujra die Forderungen der Opposition. Sie ist wie die anderen aus El Alto, Gewerkschafterin, und eine Aymara mit der traditionellen Pollera. Eigentlich eine typische Anhängerin des Präsidenten. Jetzt sagt sie, „Evo hat die Frauen in Pollera verraten, er hat sich als Wolf im Schafspelz entpuppt“.

Die rechte Opposition, die bisher uneins war, hat es geschafft, das Misstrauen in die Regierung zu säen und Morales hat mit seinem Klammern an die Macht – um jeden Preis – seinen Anteil an dieser Entwicklung. Bisher gab es innerhalb der indigenen Bewegung, den Bäuerinnen und Bauern und Arbeiter*innen immer eine gewisse Distanz zu den oppositionellen Comites Cívicos. Die Tricksereien der Regierung haben diese Distanz kleiner werden lassen. Das hat dazu geführt, dass der neoliberale Präsidentschaftskandidat Carlos Mesa zu einem ernstzunehmenden Gegner geworden ist. Damit dies auch bleibt, versucht die Opposition nun, ihre Zersplitterung zu überwinden. Bisher gibt es acht Gegenkandidaten zu Evo Morales. Bleibt dies so, ist ein Sieg des Präsidenten wahrscheinlich. Am 17. Januar haben sich die Comites Cívicos und fünf der acht Gegenkandidaten in Santa Cruz getroffen, um über eine gemeinsame Strategie zu beraten. Sollte es gelingen, eine Koalition zu schmieden, wäre der Wahlausgang im Oktober weitaus offener. Julio Prado, Herausgeber der Wochenzeitung El Ciudadano ist skeptisch, ob das gelingt. „Die Opposition verfolgt bisher kein eigenes Projekt, sie interessiert sich nur für ihren eigenen Vorteil“, meint der Journalist, „und die acht Kandidaten haben ganz unterschiedliche Interessen, ich halte es für unwahrscheinlich, dass eine Koalition zustande kommt“.

Darauf hofft Evo Morales. Er hat über Twitter verlauten lassen, dass die Vorwahlen am 27.01.2019 das Referendum vom Februar 2016 vergessen machen lassen und als Datum der „Wahrheit, der Toleranz und der Demokratie“ in die Geschichte eingehen. Bei den Vorwahlen werden die jeweiligen Kandidaten*innen von ihren Parteianhänger*innen bestätigt. Abstimmen können nur Anhänger*innen, die sich offiziell registrieren ließen. Und hier hat die MAS eindeutig die Nase vorn. So wird Morales diese Wahl wohl auf jeden Fall gewinnen und die meisten Stimmen in den Vorwahlen erhalten.

 

KEINE UNANTASTBARKEIT FÜR INDIGENES TERRITORIUM

Am 13. August 2017 verabschiedete das bolivianische Parlament das „Gesetz zum Schutz sowie zur ganzheitlichen und nachhaltigen Entwicklung des Indigenen Territoriums und Nationalparks Isiboro Securé (TIPNIS)“. Das TIPNIS, ein 12.000 Quadratkilometer großes Gebiet in Zentralbolivien, das 1965 zum Nationalpark und 1990 zum indigenen Territorium erklärte wurde, genießt bis jetzt einen besonderen Schutzstatus. Beim Inkrafttreten des neuen Gesetzes würde dieser aufgehoben. Denn obwohl das erklärte Ziel „Schutz und Entwicklung“ des TIPNIS ist, legalisiert es unter anderem den Bau von Straßen durch das Gebiet.

Genau dies sollte vor sechs Jahren durch ein anderes Gesetz verhindert werden, das dem TIPNIS 2011 den „Status der Unantastbarkeit“ verliehen hatte. Die Erlassung jenes Gesetzes war der Verdienst der tausenden von Indigenen, die im August 2011 zu einem 600 km langen Protestmarsch nach La Paz aufgebrochen waren und sich weder durch Drohungen der Regierung noch durch die massive Polizeigewalt hatten einschüchtern lassen (siehe LN 450).
Das TIPNIS gilt als eines der artenreichsten Gebiete weltweit und beheimatet hunderte von Tier- und Pflanzenarten. Dies ist auch der Tatsache zu verdanken, dass die Industrialisierung bisher keinen Einzug gehalten hat. Die 62 Gemeinden mit ihren rund 12.000 Einwohner*innen – Angehörige von drei verschiedenen indigenen Völkern – sind zur Zeit nur über die Flüsse erreichbar.

Die vorgesehene Route ist 60 km entfernt vom Großteil der indigenen Gemeinden.

Laut der bolivianischen Regierung soll die neue Schnellstraße das nun ändern. Doch diese Argumentation birgt einige Ungereimtheiten. So ist die vorgesehene Route 60 km entfernt vom Großteil der indigenen Gemeinden, die damit gar nicht in den Genuss der angepriesenen Vorteile kämen. Stattdessen soll die Straße durch den weniger stark besiedelten Südteil des TIPNIS führen, der bereits 2011 durch den Bau eines ersten Teils der Schnellstraße erschlossen wurde. Dort haben sich Binnenmigrant*innen aus dem andinen Hochland angesiedelt, die auf einer Fläche von 1.500 Kilometer Kokablätter anbauen – illegal, wie der bolivianische Anwalt Alcides Vadillo erklärt: „Der Status des TIPNIS als Nationalpark und Indigenes Territorium verbietet, dass Externe sich dort niederlassen oder den Boden bewirtschaften. Dennoch leben in dieser Zone bereits 100.000 Kokaproduzent*innen.“ Vadillo ist Regionaldirektor der bolivianischen NGO „Fundación Tierra“ (zu deutsch „Stiftung Erde“) in Santa Cruz de la Sierra und arbeitet seit Jahrzehnten mit indigenen Gemeinden im Tiefland Boliviens zusammen.

Die indigenen Gemeinden im TIPNIS befürchten, dass sie mit jedem weiteren Meter Straße mehr Land verlieren – Land, dessen legale Grundeigentümer*innen sie auf Grund des Status des TIPNIS als Indigenes Territorium eigentlich sind. „Auf der Basis des neuen Gesetzes wird hier viel abgeholzt und zerstört werden“, sagt Fabián Gil, Präsident des Zentralkomitees der TIPNIS-Gemeinden. „Wir werden mitnichten von dieser Straße profitieren, ganz im Gegenteil: Es werden Unternehmen kommen, um sich an den natürlichen Ressourcen hier zu bereichern.“

Tatsächlich hat die bolivianische Regierung bereits Konzessionen an zwei Konzerne vergeben, um im TIPNIS nach Ölvorkommen zu suchen, betont der Anwalt Vadillo. Er hält die Befürchtungen der Indigenen um ihr Territorium für absolut berechtigt: „Eine Enteignung dieser Art ist eine Verletzung der gesetzlich festgelegten Grundrechte dieser indigenen Gemeinden. Ganz zu schweigen vom Schaden an der Umwelt, den die großflächige Abholzung im TIPNIS zur Folge hätte“.

Die Aufhebung des Status der Unantastbarkeit des TIPNIS durch das im August erlassene Gesetz hat landesweit zu anhaltenden Protesten geführt. Ende August verabschiedeten einige Gemeinden des TIPNIS eine Resolution, in der sie sich klar gegen das Gesetz und den geplanten Straßenbau aussprechen und erklären, dass das Betreten des TIPNIS durch „Fremde“ fortan verboten sei. Sie seien zwar nicht aus Prinzip gegen eine Straße, jedoch gegen die Route mitten durch das Herz des Nationalparks.

Zwar liegt ein Vorschlag für eine alternative Route am Rand des TIPNIS vor, doch laut Vadillo hat dieses Projekt wenig Chance auf Umsetzung: „Sowohl von Norden als auch von Süden her sind Kabereits so große Teile der Straße fertiggestellt, dass im Grunde nur noch 40 Kilometer fehlen, um sie durchgängig zu machen. Außerdem würde die Alternativroute den Kokaproduzent*innen nicht dienen.“

Der bolivianische Präsident Evo Morales scheint im TIPNIS vor allem die Interessen der Kokabäuer*innen zu vertreten.

Den Grund, warum der Kokasektor so viel Macht hat, sehen die TIPNIS-Gegner*innen in der Tatsache, dass der bolivianische Präsident Evo Morales auch Präsident der Vereinigung der Kokabäuerinnen und -bauern ist und im TIPNIS vor allem ihre Interessen zu vertreten scheint. Dazu werden parteipolitische Interessen vermutet: Im Departemento Beni, in dem der nördliche Teil des TIPNIS liegt, ist die Opposition gegen die Regierung von Evo Morales sehr stark. Eine Ansiedlung von regierungstreuen Wähler*innen, wie es die Kokabäuerinnen und -bauern sind, würde sich daher positiv auf seinen politischen Rückhalt in der Region auswirken.

Obwohl Regierungsvertreter*innen Anti-TIPNIS-Aktivist*innen offen drohen und sowohl Bewohner*innen als auch Mitarbeiter*innen von NGOs vor Ort von bolivianischen Sicherheitskräften tätlich angegriffen und teilweise festgenommen worden sind, reißen die Proteste nicht ab. „Die indigenen Gemeinden organisieren sich, um ihren Widerstand zu artikulieren und um Protestaktionen durchzuführen“, erklärt Fabián Gil. „Doch wir brauchen Allianzen. Deshalb rufen wir nationale und internationale Organisationen, unsere Brüder und Schwestern aller indigener Völker im Hoch- und Tiefland sowie die ganze Bevölkerung Boliviens dazu auf, uns in unserem Kampf um unser Land sowie um die Verteidigung der Natur unterstützen. Ein weiterer großer Protestmarsch ist nicht ausgeschlossen.“

Dank Sozialer Netzwerke verbreiten sich Nachrichten aus dem sonst unzugänglichen Gebiet und vermitteln einen Eindruck der Besorgnis in den indigenen Gemeinden. „Ich bin zutiefst besorgt über das Straßenbauprojekt“, erklärt eine Yuracaré-Indigene in einem Videointerview und kämpft mit den Tränen. „Dabei denke ich nicht nur an uns, sondern auch an unsere Söhne und Enkel. Jetzt leben wir frei und in Frieden auf unserem Land. Doch mit der Straße wird es hier keine Tiere mehr geben – und wovon sollen unsere Enkel dann noch leben?“. Fabián Gil gibt zu bedenken, dass die Zerstörung des TIPNIS nicht nur für seine Bewohner*innen, sondern für das ganze Land Konsequenzen hätte: „Das TIPNIS ist die grüne Lunge Boliviens“, sagt er. „Es geht uns alle etwas an.“

Tatsächlich ist das Thema auch weit abseits des TIPNIS-Gebiets täglich präsent – nicht nur in den Medien, sondern auch auf den Straßen und Plätzen der drei Großstädte La Paz, Cochabamba und Santa Cruz de la Sierra. Hier sind es vor allem junge Aktivist*innen, Künstler*innen und Student*innen, die seit Wochen Protestmärsche und öffentlichkeitswirksame Aktionen aller Art organisieren. Auf dem Hauptplatz von Santa Cruz ist seit Anfang August eine Mahnwache präsent, es werden Unterschriften gesammelt und mehrmals pro Woche finden Konzerte, Film- und Theatervorführungen sowie Diskussionsforen statt, um so viele Menschen wie möglich zu mobilisieren. „Uns geht es vor allem darum, die Leute zu informieren und zu sensibilisieren“, sagt Alejandra Crespo, eine Ökonomin, die bereits an den Protesten 2011 federführend beteiligt war und heute zum harten Kern der „Bewegung für die Verteidigung des TIPNIS“ gehört.

„Wenn wir es schaffen, das Bewusstsein für den Umweltschutz und die Rechte von Indigenen zu stärken, können wir die Zukunft unseres Landes verändern“, ist sie überzeugt. „Wir müssen uns zusammenschließen, um weiter für eine bessere und gerechtere Gesellschaft zu kämpfen – weit über den Fall des TIPNIS hinaus!“ Das laute, medienwirksame Engagement dieser jungen Bewegung ist neu und reißt viele mit. „Man spricht bereits von der Generation TIPNIS“, sagt Alcides Vadillo. „Während der Kampf meiner Generation, die während einer Diktatur aufgewachsen ist, der Kampf für Demokratie war, setzen sie sich für Umweltschutz ein – und ich nehme diese Bewegung als sehr stark wahr. Dies vermittelt Hoffnung.“

EVO MORALES KLEBT AN DER MACHT

Ende Oktober reiste Evo Morales nach Venezuela. Boliviens Präsident wollte seinen Amtskollegen Nicolás Maduro moralisch unterstützen. Dieser sieht sich momentan mit einer starken Opposition im Parlament konfrontiert, die das Abwahlverfahren gegen den Präsidenten forciert. Morales sparte nicht mit markigen Worten und nannte die Initiative des Parlaments einen „Staatsstreich, eine offene Verschwörung der USA gegen die bolivarianische Revolution in Venezuela“. Während in Venezuela die Opposition am Drücker ist und die chavistische Bewegung sich mit allen Mitteln gegen die Abwahl ihres Präsidenten stemmen muss, sitzt Evo Morales in Bolivien derzeit fest im Sattel. In Umfragen erreicht der Präsident selbst in der einstmals separatistischen Hochburg Santa Cruz Zustimmungswerte von über 50 Prozent, die Opposition ist zersplittert und uneins.

Dennoch hat sich das gesellschaftliche Klima in der Andenrepublik verändert. In der Zustimmung zur Regierung ist keine Euphorie mehr zu spüren, wie zu Beginn der Regierungszeit von Morales, der seit Januar 2006 an der Spitze des Staates steht. Vielmehr ist die Zuneigung der Bevölkerung zu ihrem Präsidenten deutlich abgekühlt. Das gilt überdurchschnittlich für jenen Teil, der zu Beginn der Amtszeit des ersten indigenen Präsidenten zu seinen größten Unterstützer*innen gehörte. Gleichzeitig ist der Präsident und seine Partei, die Bewegung zum Sozialismus (MAS), gegenüber Kritik und Protesten spürbar dünnhäutiger geworden. Bei Protesten oder Streiks ist immer häufiger die Rede davon, dass die USA – das Imperium –, die Finger im Spiel hat, und der revolutionären Regierung in Bolivien schaden will.
Dieses Jahr gab es eine ganze Reihe von sozialen und politischen Mobilisierungen, die von Akteuren der Regierung als rechts deklariert wurden. Zunächst waren es die Proteste von Menschen mit Behinderung, die eine Rente der Würde forderten (siehe LN 507/508). Dann demonstrierten Arbeiter*innen von Enatex, einer staatlichen Textilfirma, die von der Regierung im Juni auf die Straße gesetzt wurden. Im August kam es mit der Auseinandersetzung zwischen kooperativistischen Minenarbeiter*innen und der Regierung zum vorläufigen Höhepunkt dieses Jahres. Bei den Protesten starben fünf Minenarbeiter und der Staatssekretär des Innenministeriums Rudolfo Illianes.
Im Kern ging es in jeder Mobilisierung darum, gegenüber der Regierung eigene Interessen durchzusetzen. Während die Menschen mit Behinderung eine finanzielle staatliche Unterstützung forderten, um ihre soziale Situation zu verbessern, forderten die entlassenen Enatex-Mitarbeiter*innen, die abrupte Schließung der Textilfabriken rückgängig zu machen. Der Verband der in Kooperativen organisierten Minenarbeiter*innen forderte dagegen, dass sich die Regierung aus ihren Geschäften mit multinationalen Konzernen raushalte und lehnten die Möglichkeit von gewerkschaftlicher Organisierung innerhalb ihrer Unternehmungen ab (siehe LN 507/508). Die Konflikte, die alle nicht im Dialog gelöst werden konnten, haben dazu geführt, dass sich ein weiterer Teil der Basis von der Regierung entfernt hat. Die Regierung sieht in den Protesten eine Form der Intervention der Vereinigten Staaten. Bereits zu Beginn dieses Jahres gab Milton Barón, Senator der MAS, gegenüber dem Sender Telesur an, dass ein Plan der Intervention existiere. Es gebe „ein Dokument, das in den USA ausgearbeitet wurde, um den Prozess des Wandels in Bolivien auszubremsen“.
Viele Probleme, mit denen die Regierung konfrontiert ist, sind dabei hausgemacht. So wurden die Enatext-Mitarbeiter*innen ziemlich abrupt auf die Straße gesetzt. Auch die Proteste der in Kooperativen organisierten Minenarbeiter*innen waren nicht überraschend. Wollte doch die Regierung deren Handlungsspielräume in einem neuen Gesetz einschränken. Raúl Prada, einst selbst Teil der Regierung Morales und heute ein linker Kritiker, sieht die Ursache des Konflikts im Streit einstmals Verbündeter um die mineralischen Ressourcen. „Der Staat muss sich gegen die Kooperativisten als Partner der transnationalen Unternehmen durchsetzen“, schreibt der ehemalige Staatssekretär, im Konflikt im August ging es darum, „zu zeigen, dass der Staat die einzige Instanz ist, die mit den transnationalen Unternehmen Geschäfte macht“.
Sowohl mit der Tendenz der Monopolisierung des Staates als auch mit der Zurückweisung jeglicher Kritik am Modernisierungsmodell als „rechts“ oder durch die „USA gesteuert“, verfolgt die Regierung Morales eine Strategie, die Macht zu zentralisieren. Die Idee, den Staat zu dezentralisieren, beziehungsweise zivilgesellschaftliche Akteure in politische Entscheidungsprozesse einzubeziehen und die Gesellschaft zu einem kommunitären Gemeinwesen umzubauen, scheint die Regierung weitgehend aufgegeben zu haben.
In der ersten Amtszeit des Präsidenten herrschte noch die Idee einer partizipativen Regierung, die die sozialen Bewegungen in Entscheidungsprozesse mit einbeziehen sollte. Indigene Organisationen, Campesino-Gewerkschaften und Nachbarschaftsvereinigungen wurden als Basis der Regierung verstanden. Dieses Konzept scheiterte 2011, als der Streit um ein Straßenprojekt den Bruch der Koalition der Indigenen- und Kleinbäuer*innen-Organisationen herbeiführte. Die Regierung wollte auf Druck des brasilianischen Erdölriesen Petobras hin eine Überlandstraße bauen, die Cochabamba mit Beni verbinden sollte. Die Straße war durch das Indigene Territorium und den Nationalpark Isiboro-Secure (TIPNIS) geplant. Die dort ansässige indigene Bevölkerung der Mojeños, Yuracarés und Tsimanes lehnten das Infrastrukturprojekt ab und pochten auf ihre in der neuen Verfassung verankerten Rechte auf autonome Selbstbestimmung über ihre Territorien. Die Kokabäuer*innen dagegen befürworteten das Straßenprojekt.
Nach heftigen Protesten der Indígenas legte die Regierung das Straßenbauprojekt auf Eis. Ein Teil der Indigenen-Verbände entzog der Regierung ihre Unterstützung. Der Pacto de Unidad (der Einheitspakt), der eine wichtige Voraussetzung für die erste Wahl von Morales gewesen war, zerfiel. Im Pacto de Unidad waren die Kleinbäuer*innen-Organisationen, Bartolina Sisa, die Landarbeiter*innen-Gewerkschaft CSUTCB, die Colonizadores (Siedler*innen im Tiefland) und die indigenen Dachverbände CONAMAQ und CIDOB zusammengeschlossen.
2010, also bereits vor den Auseinandersetzungen um TIPNIS, zeichnete sich ab, dass ein Teil der MAS einem zentralistischen Regierungsmodell den Vorzug geben würde. Dessen wirtschaftliche Basis ist die Ausbeutung der Rohstoffe und es basiert politisch auf einem starken Zentralstaat. „Die Verbände, die im Pacto de Unidad zusammengeschlossen waren, veröffentlichten damals ein Dokument, in dem sie forderten, dass die Regierung wieder auf den Weg des gesellschaftlichen Umbaus zurückkehren sollte“, erklärt Raúl Prada.
Gleichzeitig sind in dieser Phase eine größere Zahl von Bolivianer*innen Mitglied der MAS geworden, die in der Partei gute Chancen auf eine politische Karriere sahen. Nicht wenige davon waren vorher in der Opposition. So traten nach der gescheiterten Sezession von Santa Cruz eine ganze Reihe von Funktionär*innen der Cruzeñistischen Jugendunion (UJC) in die MAS ein, die während der politischen Krise 2008 die radikalste Opposition zur Regierung repräsentierte. Diese Akteure hatten kein Interesse an einem Umbau der Gesellschaft. Zur selben Zeit verließen linke Aktivist*innen, wie Raúl Prada oder Rafael Puente, die Regierung. Damit war das Projekt des gesellschaftlichen Umbaus bereits nach der ersten Amtszeit geschwächt.
Ariadna Soto, Juristin und in der ersten Wahlperiode im Justizministerium tätig, beschreibt die gegenwärtige Situation so: „Die Politik des Wandels ist nur noch in offiziellen Reden präsent. Viele Elemente des Wandels werden heute eher international diskutiert und wahrgenommen, als im Land selbst.“
Das gute Leben, Mutter Erde als Rechtssubjekt, De-Patriarchalisierung und De-Kolonisierung. Das alles ist im Diskurs präsent, „aber es gibt keine reale Praxis dazu“, meint die Juristin. Die Architektur des Staates ist die Gleiche geblieben. Ein fundamentaler Umbau zu einem plurinationalen Staatswesen hat bisher nicht stattgefunden. Im Gegenteil: Unter Morales sind die klassischen Strukturen der postkolonialen Republik gestärkt worden. War der Staat früher auf dem Land kaum präsent, bekommen heute die Gemeindeverwaltungen in der Provinz Geld von der Zentralregierung. Diese Verteilung stärkt aber nicht die ländliche Entwicklung, meint Felix Gutiérrez von einer Aymara- Basisorganisation, sondern das Funktionärswesen. Das entspricht der Architektur der Republik. Diese hat in Bolivien nicht die Funktion, das Gemeinwesen zu stärken, sondern der Staat ist vielmehr dazu da, die Beamt*innen und die Mitglieder der Regierungspartei zu alimentieren. Diese Funktion hat sich bisher nicht wesentlich verändert. Die Situation auf dem Land, nur ein zwei Autostunden vom Regierungssitz La Paz entfernt, nennt Gutiérrez heute dramatisch: „Die Reduzierung der Armut, die es nach statistischen Angaben gibt und für die Bolivien international gefeiert wird, ist hier nicht zu spüren“.
Trotzdem kann es gut sein, dass Evo Morales dennoch, wie von der MAS gewünscht, bis 2025 regieren kann. Die Zentralisierung der Macht und die wirtschaftlichen Einnahmen durch das Erdgas haben Bolivien eine nie gekannte politische und wirtschaftliche Stabilität gebracht. Viele Bolivianer*innen in den Städten profitieren von dem Wirtschaftswachstum. So hat sich das Bruttosozialprodukt in der Amtszeit von Morales verdreifacht. Daher könnte es gut sein, dass die Bolivianer*innen Evo auch für eine weitere Amtszeit ihre Stimme geben würden.
Momentan arbeitet die Partei daher daran, das Ergebnis des Referendums vom Februar aufzuheben. Die Verbände der Koka-Bäuer*innen im Chapare haben im Mai eine Initiative gestartet, die das Ergebnis vom Februar annullieren soll. 1,2 Millionen Unterschriften sollen gesammelt werden, dann könnte ein erneutes Referendum anberaumt werden. Sollte das nicht gelingen, hätte die MAS noch eine zweite, wenngleich weniger elegante Möglichkeit: Sie könnte die Verfassung mit ihrer Zweidrittel-Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments ändern. Das hätte den Nachteil, dass man sich offensichtlich über das Ergebnis vom Februar hinwegsetzen würde. Welchen Weg die MAS wählt, will sie im Dezember bei ihrem Parteikongress entscheiden.

Newsletter abonnieren