
Wir haben unseren freien Tag so gestaltet, dass wir uns in einer beliebigen Stadt der Vereinigten Staaten gemeinsam um einen Tisch versammeln. Der gallopinto (nicaraguanisches Nationalgericht aus Reis und Bohnen), tortillas, gebratene, reife Kochbananen, getrockneter Käse und der chilero criollo (scharfe Soße) stehen bereit und warten darauf, dass wir unsere Plätze einnehmen. Der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee erfüllt das Haus, das erst vor wenigen Wochen als kollektives Zuhause für eine Gruppe von Nicaraguaner*innen eingeweiht wurde, deren Gemeinsamkeit ihr Fremdheitsgefühl ist, der Ort, zu dem wir jetzt gehören. Die meisten kamen auf der Suche nach Möglichkeiten, um ohne Ängste zu leben. Im Gegensatz zu Dutzenden von Nicaraguaner*innen, darunter auch Kinder, entkamen sie alle dem Ertrinken in den Fluten des Rio Bravo, dem Durst in der Wüste, dem Ersticken im versteckten Abteil eines Lastwagens oder der Entführung und Ermordung durch das organisierte Verbrechen, das aus der Tragödie eine Industrie gemacht hat. Die Mädchen haben es geschafft, den üblichen Vergewaltigungen zu entkommen. Alle sind Überlebende.
Socorro reiste dank des Parole-Programms ein, einer befristeten Aufenthaltserlaubnis, die Einwanderer berechtigt, zwei Jahre lang in den Vereinigten Staaten zu bleiben und zu arbeiten und seit 2023 für Staatsbürger*innen von Venezuela, Kuba, Haiti und Nicaragua gilt. Ana Margarita und ich kamen am 9. Februar 2023 in Washington an, nachdem wir zwanzig Monate lang als politische Gefangene vor Gericht standen und zu acht und zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden waren. Am frühen Morgen dieses Tages wurden wir überraschend aus dem Gefängnis geholt und in die Vereinigten Staaten verbannt, zusammen mit 220 anderen politischen Gefangenen, die die Biden-Regierung bereit war aufzunehmen (siehe LN 585). Stunden später entzog uns die Ortega-Regierung rechtswidrig die Staatsbürgerschaft, beschlagnahmte unser Eigentum und unsere Renten, annullierte akademische Grade und erklärte anschließend unseren zivilrechtlichen Tod, indem sie uns aus dem Standesregister löschte, als ob wir nie existiert hätten. Wir sind gerührt über die Hände, die uns in unschätzbarer Solidarität gereicht wurden, wir sprechen von unserer Dankbarkeit gegenüber jenen, die uns mit Kleidung und Arbeit versorgt haben, die uns in ihren Häusern aufgenommen und uns in dieser Phase unseres Lebens geholfen haben. Wir kehren zurück nach Nicaragua, an den Ort, den wir nur widerwillig verlassen haben, der in unserer Erinnerung, in den Wendungen und Kadenzen unserer Sprache, in unseren Gefühlen und unserer Haut überlebt. Wir sind hier mit der Identität, die wir in uns tragen, und der Trauer um das verlorene, entfremdete, uns entrissene Land.
Gewaltvolle Repressionen und Vertreibung unzähliger Nicaraguaner*innen
Es war keine Naturkatastrophe, kein Erdbeben oder Hurrikan, der uns von Nicaragua in die Welt katapultierte: In den letzten sechs Jahren hat das Monitoring Azul y Blanco, das repressive Aktivitäten erfasst, rund 4.650 willkürliche Inhaftierungen dokumentiert. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) bestätigte die Inhaftierung von mindestens 2.090 Personen aus politischen Gründen. Im November 2024 waren mehr als 60 Personen als politische Gefangene in Haft und eine unbekannte Zahl ehemaliger Staatsbediensteter inhaftiert, die geheimen Prozessen unterzogen wurden. Nicaraguanische Menschenrechtsorganisationen haben Berichte über physische und psychische Folter von Gefangenen gesammelt, darunter sexuelle Gewalt, erniedrigende Behandlung, Einzelhaft, Isolationshaft, mangelhafte Haftbedingungen, Verweigerung des Zugangs zu medizinischer Versorgung und absolute Schutzlosigkeit.
Die Regierung Ortega-Murillo hat rund 36 Universitäten und private Bildungseinrichtungen geschlossen und deren Vermögen beschlagnahmt. Die Studentenführer*innen der Proteste von 2018 (siehe Dossier 19) wurden von den öffentlichen Universitäten verwiesen und ihre akademischen Register gelöscht. Etwa 60.000 Studierende haben seit 2018 die Hörsäle der Universitäten verlassen, und viele von ihnen sind Teil der Migration. Soziale Bewegungen, zivilgesellschaftliche Organisationen und politische Parteien wurden beschuldigt als Plattform für ausländische Interessen, Terrorismus und Geldwäsche zu dienen. Mehr als 5.500 dieser organisierten gesellschaftlichen Ausdrucksformen wurden beseitigt: darunter gewerkschaftliche, feministische, Bauern-, Religions-, Menschenrechts-, Indigenen-, Kulturförderorganisationen, um nur einige zu nennen. Journalist*innen wurden inhaftiert und verfolgt, 275 mussten ins Exil gehen. Das Land wird durch ständige polizeiliche Überwachung und Schikanen in den Medien und den sozialen Netzwerken zum Schweigen gebracht. Die katholische und die evangelische Kirche sind Drohungen, Schikanen und Verfolgungen ausgesetzt. Priester, Ordensmänner und -frauen, Pfarrer und Laien, die mit ihnen zusammenarbeiten. Rund 392 religiöse Organisationen haben ihren Rechtsstatus verloren; fünf Bischöfe wurden verbannt, 27 Priester und Seminaristen inhaftiert.
Es sind nicht die organisierte Kriminalität oder die Armut, die seit 2019 rund 811.127 Menschen aus Nicaragua vertrieben hat − das sind 13 Prozent der Gesamtbevölkerung. Das Gefühl des Verlustes der Gegenwart und der Bedrohung der Zukunft, der Verwundbarkeit und der Ohnmacht hat Tausende von Nicaraguaner*innen in die Emigration getrieben. Etwa 497.216 Menschen sind in die Vereinigten Staaten gegangen und etwa 221.171 nach Costa Rica, aber auch nach Spanien, Panama und Mexiko. In den Vereinigten Staaten sind zahlreiche nicaraguanische Migrant*innen verunsichert und warten auf die Entscheidungen der Trump-Regierung: Manuel Orozco, Forscher für Migrationsfragen beim Interamerikanischen Dialog zu Migrationsfragen, schätzt, dass etwa 15.000 der insgesamt 112.000 Personen kurzfristig von Abschiebung bedroht sind (Stand Februar 2025, Anm.d.Red.). Ihre Situation wird sich negativ auf die Hilfe für Familien im Land auswirken. Die Überweisungen, die jeder nicaraguanische Migrantin regelmäßig an seine Familie sendet, sind eine wesentliche Quelle für deren Lebensunterhalt und stellen die wichtigsten Deviseneinnahmen des Landes dar; Nach Angaben der Zentralbank von Nicaragua im Jahr 2023 29 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Derzeit hat die Diktatur eine neue Stufe erreicht: Im November 2024 hat die vom Regime kontrollierte Nationalversammlung ein von Daniel Ortega vorgeschlagenes Gesetz für eine Verfassungsreform angenommen, das die Grundlagen der Rechtsstaatlichkeit, das politische und institutionelle System sowie die Rechte und Freiheiten der Bürger zerstört. Der daraus resultierende neue Text verwässert die republikanische Verfassung zugunsten eines Sonderstatuts, um der illegitimen, autokratischen und autoritären Macht der Familie Ortega-Murillo ein rechtsstaatliches Gewand zu verleihen.
Ortega-Murillo Regime zerstört jede Rechtsstaatlichkeit
Der Staat hört auf, ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat zu sein, um als „revolutionär“ definiert zu werden − eine vage Identität, die das Diktaturmodell untermauern soll. Als Kern des politischen Systems wird festgelegt, dass „das Volk die Staatsgewalt durch die Präsidentschaft ausübt“, wodurch die totale Machtkonzentration in der Exekutive verankert wird sowie die Unabhängigkeit der Justiz und des Wahlsystems, die Autonomie der Gemeinden und der Regionalregierungen der Karibikküste aufgehoben, die zu bloßen Instrumenten der Zentralgewalt degradiert werden. Daniel Ortega und seine Frau Rosario Murillo werden „Co-Präsidenten“, verlängern ihre Amtszeit von fünf auf sechs Jahre und maßen sich die Befugnis zur Ernennung ihrer Vizepräsident*innen an. Armee und Polizei, bereits an das repressive Modell angepasst, sind formal-rechtlich keine überparteilichen Institutionen mehr, und eine Gesetzesreform wird es den Chefs beider Institutionen erlauben, auf unbestimmte Zeit im Amt zu bleiben, vorbehaltlich des Willens der Co-Präsident*innen. Der daraus resultierende Text beschneidet ganz oder teilweise die individuellen Freiheiten: das Recht auf Organisation und Mobilisierung, auf Meinungsfreiheit, Arbeitnehmerrechte und politischen Pluralismus. Das Diskriminierungsverbot in jeglicher Form aus Gründen der Geburt, der Nationalität, der politischen Überzeugung, der Ethnie, des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der Weltanschauung, der Herkunft, der wirtschaftlichen Stellung oder des sozialen Status wurde gestrichen. Das Recht der Indigenen Völker und ethnischen Gemeinschaften der Karibikküste auf Selbstverwaltung und Verwaltung ihrer Territorien und Ressourcen stark eingeschränkt. Die Religionsfreiheit ist an die Bedingung geknüpft, dass alle Verbindungen zwischen den Kirchen und ihren ausländischen Partnern beseitigt werden.
Auf die Verantwortung des Staates für die Menschenwürde als Grundprinzip der nicaraguanischen Nation, das Folterverbot und das Bekenntnis des Staates zu den internationalen Menschenrechtskonventionen, die Verfassungsrang hatten, wurde verzichtet. Individuelle Garantien für ein ordnungsgemäßes Verfahren wurden verstümmelt und geben der Polizei die volle Befugnis jede Wohnung ohne Durchsuchungsbefehl zu durchsuchen, jede Person festzunehmen, zu inhaftieren und unter Bedingungen des Verschwindenlassens zu halten, wodurch das Rechtsmittel des Habeas Corpus (Schutz vor staatlicher Willkür) nutzlos wird.
Unsere Gespräche nach dem Essen überwältigen uns mit Nostalgie und Sehnsucht nach der fernen Familie, nach dem Land, aus dem wir vertrieben wurden, nach dem Ort, an den wir zurückkehren werden, im Bewusstsein, dass das, was wir zurückgelassen haben, nicht mehr existiert. Unsere Freundschaften haben sich in alle Welt verstreut, unsere Nachbarn und Nachbarinnen sind umgezogen, Mütter und Väter sind gestorben, ohne dass wir uns von ihnen verabschieden konnten, Töchter und Söhne wachsen auf, ohne dass wir ihren Alltag miterleben. Aber wir werden kommen, kommen, um diejenigen die im Land sind, wiederzuerkennen und zu umarmen; um die zerstörten Mauern wieder aufzurichten, um am Bau eines neuen Hauses mitzuwirken, in dem wir in Frieden und Toleranz leben, mit einem Koffer voller Erfahrungen, Wünschen und Projekten, die die Trauer lindern und die Hoffnung auf Rückkehr nähren.










