“DAS LIED IST EIN INSTRUMENT DER SOLIDARITÄT”

Musiker im Exil Luis Enrique Mejía Godoy und Jandir Rodríguez beim Konzert in Berlin (Foto: Michelle Obando)

Wie kamen Sie auf die Idee, diese Konzertreise gemeinsam anzutreten?

Luis Enrique: Wir beide sind Künstler zwei verschiedener Generationen, aber uns eint der Kampf für die Zukunft Nicaraguas, für Meinungsfreiheit, für Frieden, für Demokratie und Menschenrechte. Weder Jandir noch ich gehören einer politischen Partei oder einer politischen Organisation an. Wir engagieren uns für die Einheit aller Nicaraguaner im Kampf gegen die Diktatur Ortega-Murillo. Jandir kann erzählen, warum wir uns zusammengetan haben, denn es war seine Initiative.

Jandir: Die Initiative entstand aus der vorangegangenen Europatournee, die ich unternommen hatte, und des Nicaragua-Vereins in Sevilla. Und meinem Traum von einem gemeinsamen Konzert mit Luís, da wir beide den Kampf für Menschenrechte mit unseren Liedern teilen. Wir beschlossen, unser Repertoire zu vereinen und den Nicaraguanern ein Lied der Hoffnung zu bringen und zur Solidarität in den Ländern aufzurufen, die wir derzeit besuchen.

Während der Sandinistischen Revolution in den 1980er Jahren waren Sie, Luís, und ihr Bruder Carlos international berühmt. „Ay Nicaragua, Nicaragüita“, geschrieben von Carlos, wurde zu einer Art Hymne der Revolution. Wie denken Sie heute über diese Zeit?

Luis Enrique: Die sandinistische Revolution kann man nicht vergessen. Sie ist ein wichtiges historisches Ereignis, nicht nur in Nicaragua und Lateinamerika. Der Kampf gegen die Somoza-Diktatur bewegte die Welt. Das ist eine Tatsache. Die 1980er Jahre waren Jahre des Kampfes für die Errichtung eines Traums, der durch einen Kampf im Innern unterbrochen wurde, woran die US-Regierung und die russische Regierung großen Anteil hatten. In gewisser Weise wurden wir Opfer des Kalten Krieges. Die 1990er kamen, die Sandinistische Nationale Befreiungsfront (FSLN) verlor die Wahlen. Für mich ist damit ein historisches Jahrhundert zu Ende gegangen, die Revolution hatte es bereits besiegelt.

Jetzt müssen wir neu darüber nachdenken, wie wir die Demokratie unter anderen Bedingungen aufbauen können. Heute machen sich die jungen Leute andere Gedanken, jetzt sind sie es − im Jahr 1979 (Jahr des Sieges der Revolution, Anm. d. Red.) waren wir es −, die das Sagen haben. Es sind immer die jungen Menschen, die diese Kräfte besitzen. Worin besteht der Unterschied? Damals war es ein bewaffneter Kampf, heute ist es eine Bürgerbewegung.

Vor Kurzem haben Sie das Lied „Nicamigrante soy“ geschrieben. Man könnte sagen, dass es eine Hommage an die Hunderttausenden Exil-Nicaraguaner*innen ist, die verstreut über viele Länder leben. Welches waren Ihre Beweggründe für das Komponieren dieses Liedes?

Luis Enrique: Ja, ich wollte ein Lied machen, das von meiner eigenen Erfahrung als Migrant, als Exilant und von den Tausenden von Nicaraguanern auf der ganzen Welt spricht. Allein in Costa Rica sind seit 2018 180.000 Flüchtlinge unter sehr schwierigen Bedingungen eingereist. Die meisten von ihnen sind junge Menschen zwischen 18 und 35 Jahren. Ihr Studium wurde unterbrochen, ihre Studienunterlagen weggeworfen, aus dem Computer gelöscht, und ihnen damit ihre Zukunft versperrt. Nicht allein, dass man sie in Nicaragua nicht haben will, sondern man will, dass sie Schwierigkeiten haben, wo immer sie sind. Es gibt viele junge Menschen, die bei Null anfangen: ohne Arbeit, ohne Studium, mit psychologisch sehr komplizierten Traumata, mit Kriegsverletzungen, aus dem Gefängnis entlassen, gefoltert. Deshalb wollte ich ein Lied der Hoffnung für die Migranten schreiben, wo immer sie sind, und ihnen sagen, dass wir eines Tages in ein freies Nicaragua zurückkehren können. Es ist außerdem ein fröhliches Lied, nicht triumphalistisch, sondern kämpferisch.

Mittlerweile leben alle Künstler*innen, die die nicaraguanische Kulturszene ausmachten, im erzwungenen Exil. Welcher war der auslösende Moment, der Sie die Entscheidung treffen ließ, Nicaragua zu verlassen?

Luis Enrique: Wie mein Bruder Carlos beschloss ich, im August 2018 zu gehen − nachdem wir bereits ein Dutzend Lieder für diesen Kampf geschrieben hatten, in Solidarität mit den Müttern, mit den politischen Gefangenen, mit den ersten Exilanten, den ersten Verfolgten, Drangsalierten und den ersten Toten natürlich. Das erste Lied, das ich geschrieben habe, heißt „Mi patria me duele en abril” (Mein Heimatland schmerzt mich im April). Etwa 15 Tage später − es gab bereits 40 Tote − wusste niemand, ob es 100, 200 oder 300 sein würden. Aber ich wusste, dass wir vor einer neuen, schrecklichen Situation stehen, in der der Tod wieder allgegenwärtig ist. Damit nahm Daniel Ortega die Maske ab, um auf diese Art zu sagen: „Ich gehe hier nicht weg, ich habe die Waffen.”

Sämtliche Institutionen stehen unter dem Kommando von Ortega und Murillo. Es gibt keine Meinungsfreiheit. Sie haben die Printmedien, das Fernsehen und den Rundfunk geschlossen und Journalisten, Sportreporter, Intellektuelle, Lehrer, Bauern und Studenten inhaftiert. Damit wurden unsere Hoffnung und die Perspektive eines Machtwechsels in Nicaragua zunichte gemacht.

Sie, Luis, leben im Exil in Costa Rica. Schon während der Somoza-Diktatur haben Sie dort gelebt, bis 1979 die Revolution siegte. Was bedeutet dieses neuerliche Exil für Ihr künstlerisches Schaffen?

Luis Enrique: Mein erstes Exil in Costa Rica war, als ich 20 Jahre alt war, heute bin ich fast 78. Es ist also viel schwieriger, fast bei Null anzufangen. Ich bin Künstler und autark in dem Sinne, dass ich meine Gitarre und meine Stimme habe. Das ist es, was ich brauche. Ich hielt es für sinnvoller, Nicaragua zu verlassen und in Costa Rica zu sein, um in irgendeiner Weise zur Solidarität und zur Einheit im Kampf gegen die Diktatur beizutragen.

Das Lied ist ein Instrument der Solidarität, des Friedens, des Aufrufs, der Anklage. Auch Liebeslieder sind das. Ich schreibe schon seit 55 Jahren Lieder und bin mit Jandir darüber einig, dass es sich bei ihm um einen neuen Ausdruck handelt. Der Unterschied liegt im Einsatz der Technologie, doch das Bewusstsein, das Herzblut sind dasselbe, der Patriotismus ist derselbe, die Liebe zu Nicaragua − und unsere Absicht, die Poesie zu verteidigen in einer Situation, die uns zwingt, die Diktatur anzuprangern.

Die politischen Gefangenen sind heute mehr denn je ein authentisches Beispiel für nicaraguanische Vaterlandsliebe. In vielen Ländern der Welt weiß man nicht, dass sie im Hungerstreik sind, vor allem die Frauen sind isoliert: es gibt keine Bücher, sie bekommen keine Medikamente, kein Trinkwasser. Ortega-Murillo haben internationales Recht, die Menschenrechte, die OAS (Organisation Amerikanischer Staaten), die Vereinten Nationen und alle demokratischen Regierungen zum Gespött gemacht. Wenn Gabriel Boric aus Chile Kritik äußert, antwortet Daniel Ortega sofort mit dem Diskurs, dieser sei ein Handlanger der Vereinigten Staaten und wir seien Feinde Nicaraguas. Er wirft uns vor, Handlanger der CIA und Beschäftigte des US-Außenministeriums zu sein. Es ist völlig abgenutztes, dummes Gerede, aber er hat auch gezeigt, dass er in der Lage ist, all diejenigen zu töten, die gegen ihn sind.

Jandir, Sie leben im Exil in Guatemala. Wie wirkt sich die Situation auf Ihr Leben aus?

Jandir: Ich habe nie daran gedacht, meinen Lebensunterhalt mit Musik zu verdienen. Ich war Medizinstudent. Ich war kein Musiker, aber ich bin in einer musikalischen Familie aufgewachsen und die Musik war immer meine große Leidenschaft. Ich komponierte erste Lieder, jedoch sehr amateurhaft. Als ich nach Guatemala ging, änderte sich mein Leben völlig, denn ich musste herausfinden, wie ich überleben sollte. Das Einzige, was ich in diesem Moment konnte, war Musik, und das ist bis heute das Einzige, was ich kann. Die Migration ist eine große Herausforderung. Neben dem wirtschaftlichen gibt es auch den kulturellen Aspekt. Die Anpassung an eine neue Lebensweise, das Verstehen einer anderen Kultur, die Erfahrung von Fremdenfeindlichkeit, die Erfahrung von Diskriminierung. Darüber hinaus habe ich einen Prozess durchlaufen müssen, um mich in der guatemaltekischen Musikszene entwickeln zu können.

Luis Enrique: Gerade die jungen Menschen verlassen das Land, weil sie dazu gezwungen sind. Oft müssen wir es über tote Winkel verlassen − über inoffizielle Grenzen nach Honduras oder Costa Rica fliehen oder mit etwas Glück nach Europa, in die Vereinigten Staaten oder nach Kanada. Ausreisen von einem Tag auf den anderen, mit nichts, nur mit dem, was du auf dem Körper trägst. Du verlässt deine Familie, dein Zuhause, deine Arbeit. Das macht die Situation nur noch schlimmer. Für Jandir ist es also eine Sache, für ein Konzert nach Guatemala zu gehen und nach Nicaragua zurückzukehren, aber es ist eine andere, sich in einem Land niederzulassen, ohne es geplant zu haben. Weder er noch ich wissen, wann wir zurückkehren werden.

Auf Berlin folgt ein Konzert in Paris, das den mehr als 220 politischen Gefangen in Nicaragua gewidmet ist. Im Besonderen Dora María Téllez, die den ihr von der Pariser Universität Sorbonne Nouvelle verliehenen Ehrendoktortitel nicht entgegennehmen kann. Wie hoch schätzen Sie die Wirkung dieses Solidaritätskonzerts ein?

Luis Enrique: Das ist eine sehr besondere Aktivität und es gibt auch einen runden Tisch, an dem dieser Zusammenhang diskutiert wird. Es handelt sich also vielleicht um die unmittelbarste politische Aktivität der gesamten Tournee. Das Konzert in Paris ist ein sehr wichtiger Punkt − Großgeschrieben! Für Dora Maria, für die inhaftierten und isolierten Frauen und ganz allgemein für alle politischen Gefangenen.

Unter welchen Voraussetzungen würden Sie nach Nicaragua zurückkehren?

Luis Enrique: Absolute Freiheit! Ohne Erlaubnis zu leben, ohne Erlaubnis zu denken, ohne Erlaubnis zu singen, zu kommen und zu gehen, sich zu organisieren, zu mobilisieren − absolute Freiheit und Gerechtigkeit!

Jandir: Das ist entscheidend.

WAS GUTE LITERATUR KANN

Poetische Diagramme „Wenn sich zwei Menschen ein Geheimnis erzählen, sieht das ungefähr so aus“ (Illustrationen: Verónica Gerber Bicecci / MaroVerlag)

„Da es in der Literatur schwierig ist, sich der hegemonialen Macht des geschriebenen Wortes zu entziehen, habe ich die bildende Kunst und die Wissenschaft zu Hilfe genommen“, schreibt Veró-nica Gerber Bicecci im Nachwort zu Leere Menge. Gerber Bicecci, 1981 als Tochter argentinischer Exilierter in Mexiko-Stadt geboren, nennt sich selbst eine „bildende Künstlerin, die schreibt“.

Ihr jüngstes Werk Leere Menge, im Herbst 2022 im MaroVerlag erschienen, lässt sich daher kaum als einfachen Roman beschreiben, sondern eher als Literaturstück, Kunstwerk und wissenschaftliche Beobachtung in einem. Und so erklärt auch die Autorin in einem Interview mit Words Without Borders, das Buch sei wie jedes andere ihrer Kunstprojekte – bei diesem gehe man nur nicht in eine Ausstellung, sondern müsse es eben lesen.

Dieses Lesen gestaltet sich anspruchsvoll: Die Handlung verläuft nicht chronologisch, sondern in miteinander verschlungenen Ebenen. Kurze Kapitel, Briefe und Einschübe werden immer wieder von Protokollen und Zeichnungen unterbrochen und ergänzt. So werden Leser*innen herausgefordert, ihr Zusammenspiel zu entschlüsseln, sich durch die Handlung zu arbeiten, hinter ihre Rätsel zu steigen. Dabei liest man mal schnell, mal langsam, brütet über dieser Zeichnung oder jener Formulierung – eine Abwechslung, die nur wenige Romane mit sich bringen.

Ähnlich herausfordernd muss auch die Entstehung des Buchs gewesen sein, wie Gerber Biceccis Erzählungen vermuten lassen: „Ich bin zwischen meinem Computer und meinem Zeichentisch hin- und hergelaufen, um zu sehen, wie die Texte und Zeichnungen zueinanderpassen. Es war ein gemischter Entstehungsprozess von Hand und Computer“, erzählt sie bei Words Without Borders.

Was verwirrend klingen mag, geht im Leseprozess in beeindruckender Weise auf. Denn die Zeichnungen, Protokolle und Texte bilden ein in sich stimmiges Gesamtwerk, eine tiefdringende Reflexion über Einsamkeit, Exil, Verschwinden und Vergessen mit autobiografischen Zügen. Wie die Autorin selbst ist auch Verónica, die gleichnamige Protagonistin von Leere Menge, Tochter exilierter Argentinier*innen. So werden immer wieder Bezüge zur argentinischen Militärdiktatur (1976-83) deutlich – zum Exil, zum Verschwindenlassen, zur Erinnerung (siehe Artikel auf Seite 18). „[D]er Tod verursacht, glaube ich, auf einen Schlag eine tiefe (sehr tiefe) Wunde, die dann langsam heilt. Das Verschwinden hingegen verursacht eine kleine, kaum spürbare Wunde, die aber jeden Tag etwas weiter aufreißt“, heißt es da etwa.

Verónica versucht, ihre zwischenmenschlichen Beziehungen, ihren Verlust und ihr Verschwinden formelhaft zu verbildlichen. Die so entstehenden Zeichnungen und Diagramme sind nicht nur sehr künstlerisch, sondern basieren auf naturwissenschaftlichen Prinzipien, auf physikalischen Zusammenhängen, auf natürlichen Formen wie den Ringen auf Baumstämmen. An vielen Stellen ergänzen die Zeichnungen den Text um das, was mit Wörtern schwer zu erzählen ist. „Ich muss zugeben, dass ich die Zeichnungen genutzt habe, um es zu vermeiden, Szenen zu schreiben, die sonst kitschig klingen würden“, entgegnet die Autorin etwa angesprochen auf die Frage, wieso eine Sexszene halb geschrieben, halb gezeichnet dargestellt wird.

Unterhaltsame Szenen wie diese lockern die tiefgründigen Fragen, denen Verónica nachgeht, auf. Gleiches gilt für die zahlreichen Wort-, Buchstaben- und Silbenspiele, die das Buch durchziehen. Es ist erfreulich, dass es der Übersetzerin Birgit Weilguny gelungen ist, diese ins Deutsche zu übertragen, ohne sie ins Lächerliche zu ziehen. Das gilt auch für Gerber Biceccis ebenso einfache wie liebevolle Sprache.

Leere Menge bietet damit ein besonderes Erlebnis, das über gewohnte Leseerfahrungen hinausgeht – ganz egal, wie vielen der Rätsel Leser*innen auf die Sprünge kommen. Eines der größten Rätsel ist da etwa das seltsame Verschwinden von Verónicas Mutter. Einige Geheimnisse klärt Gerber Bicecci im sehr aufschlussreichen Nachwort, das der deutschen Übersetzung angehängt ist, auf. Andere bleiben vielleicht für immer ein Rätsel oder lösen sich bei nochmaligem Lesen.

Eine tiefe Behandlung persönlicher und zwischenmenschlicher Fragen zeichnet das Buch in jedem Fall aus und lässt sicher viele Leser*innen nachdenklich zurück. Das gilt für Fragen nach der Bedeutung des Exils für nachkommende Generationen ebenso wie für das Thema Einsamkeit: „Einsamkeit sieht man nicht, man erlebt sie, ohne sie bewusst zu bemerken. […] Sie ist eine Art leere Menge, die sich im Körper, in der Sprache einrichtet, bis einen niemand mehr versteht.“

Zeichnungen ergänzen den Text „Zwei Universen (U) […] Oder besser gesagt zwei Länder: Argentinien (L1) Mexiko (L2) und Mama (M)“ (Illustrationen: Verónica Gerber Bicecci / MaroVerlag)

ALLE LIEDER SIND VERKLUNGEN

Jandir Rodríguez (Foto: Michelle Obando Blume)

Nach deiner Tournee 2019, bei der du Lieder aus deinem ersten Album Héroes de Abril (Helden des April) vorgestellt hast, bist du nun mit deinem neuen Album Volar (Fliegen) in Europa unterwegs. Nach Konzerten in Amsterdam, London, Genf, Madrid und Sevilla trittst du nun in Berlin auf. Wo wirst du dein neues Album noch vorstellen und wie läuft die Tour?
Die Konzerte waren bisher sehr gut besucht und die Stimmung hat mir gut gefallen. Nach Berlin werde ich noch in Brüssel, Barcelona und Kopenhagen auftreten und dann noch mal in Sevilla. Ich stelle mein neues Album Volar vor, das ich in Guatemala vor allem mit guatemaltekischen Musiker*innen produziert und bearbeitet habe. Am 19. März haben wir das Album bei einem Konzert in Guatemala vorgestellt, das auch gestreamt wurde. Es war ein sehr schönes Konzert, bei dem auch der bekannte nicaraguanische Liedermacher und Komponist Perrozompopo aufgetreten ist. Ich habe die Lieder aus dem neuen Album gespielt, aber natürlich habe ich auch die älteren Lieder gespielt, die aus den Protesten von 2018 heraus entstanden sind und einen eher sozialpolitischen Inhalt haben. Volar hat ein neues Konzept und eine neue musikalische Atmosphäre: Es sind Liebeslieder mit eher poetischem Inhalt über die Liebe im Alltag, aber auch im gesellschaftlichen Zusammenhang.

Ein Album, das eher grundsätzliche Werte des menschlichen Zusammenlebens besingt?
Ja, es gibt zum Beispiel ein Lied mit dem Titel „Libre“ (Frei), das von der Freiheit in allen ihren Aspekten handelt und darauf verweist, dass niemand uns die Freiheit verwehren kann und wir vielleicht sogar uns selbst entkommen müssen, um frei sein zu können. Ein anderes Lied heißt „Clochard“ und erzählt die Geschichte eines Mannes aus meinem Geburtsort San Rafael del Norte. Er hatte ein psychisches Problem und fiel deshalb aus dem sozialen Gefüge des Dorfes heraus, war aber immer da und stadtbekannt. Er heißt Ventura, ist inzwischen über 90 Jahre alt und heute im Rollstuhl unterwegs. Er hat ein Kriegstrauma und nahm manchmal ein Holzstück, um wie mit einer Pistole auf die Kids zu schießen, die ihn ärgerten, wenn er im Müll nach Essen suchte. Ich wollte seine Geschichte erzählen, da es in allen Dörfern ähnliche Figuren gibt, die immer noch mit den Bildern des Krieges zu kämpfen haben.

Glaubst du, dass Musik hilft, Wunden zu heilen?
Sicher. Lieder benennen oft den Schmerz, holen ihn hervor, bringen uns zum Weinen und das ist heilsam, damit der Schmerz nicht in uns stecken bleibt. Ich glaube ein Lied, das uns zu Tränen rührt, ist Teil des Heilungsprozesses. Und in diesem Sinne berühren meine Lieder oft die Menschen und bringen sie zum Weinen. Für mich ist das positiv. Ich spüre, dass ich dazu beitrage, dass eigener und kollektiver Schmerz bearbeitet wird.

Welche Rolle können Kultur und Musik überhaupt noch in Nicaragua und im Exil spielen?
Nicht nur die Musik, die Kunst insgesamt, wie zum Beispiel Schriftsteller*innen, Theaterleute, Karikaturist*innen haben eine enorme Bedeutung für den Widerstand. Die Kunst ist heute eines der geeignetsten Mittel, die Gefühle des Widerstands auszudrücken. Kunst, die in die Welt hinausgeht und sichtbar macht, was in Nicaragua passiert, hilft uns zu widerstehen und ist Teil der kollektiven Erinnerung. Durch die Kunst drücken wir aus, wie wir den geschichtlichen Moment erleben und erreichen damit, dass der Aufstand, die Forderung nach Freiheit und der Widerstand spürbar bleiben und nicht in Vergessenheit geraten.

Die Proteste von 2018 haben viele Lieder und Parolen der sandinistischen Revolution und aus der Zeit von Salvador Allende in Chile aufgenommen.
Ja, wir haben es vor einigen Jahren für undenkbar gehalten, dass eine derartige Repression noch einmal in Nicaragua möglich sein würde. Manche Aspekte der Repression sind sogar schlimmer als unter Somoza, weil sie ausgefeilter sind. Künstler*innen werden verfolgt, Literaturfestivals verboten, eben wegen der großen Resonanz, die Kultur hat. Dass sich viel­­­e Kultur­schaffende von ihnen abgewandt haben, war ein schwerer Schlag für sie (Ortega-Murillo, Anm. d. Red.), da sie immer dachten, sie hätten sie hinter sich. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass das erwachende Bewusstsein der Jugendlichen auch zu einer neuen Kulturbewegung führen würde und ältere Künstler*innen sich hinter sie stellen könnten.

Wie spiegelt sich das Exil in deiner Musik wider?
Zum Beispiel in meinem Lied „Exiliado“ (Exilierte). Als ich es schrieb, war ich noch in Nicaragua und habe mich in die Situation der bereits Exilierten versetzt. Als ich dann selbst nach Guatemala ins Exil gehen musste, habe ich gemerkt, dass manche Aspekte fehlten. Mir ist klar geworden, wie viel tiefer der Schmerz geht. Heute singe ich das Lied anders. Heute vermittelt sich das Lied den Zuhörer*innen anders. Auch das Lied „Nicaragua en la maleta“ (Nicaragua im Koffer) beschreibt das Exil, hat aber wie viele meiner Lieder am Ende einen Hoffnungsschimmer. In „Exiliado“ heißt es: „Exilierter, morgen wird alles anders sein, mit deinem Rucksack kehrst du aufs Feld zurück, um die Saat der Befreiung zu säen”. Wir brauchen diese Hoffnung und ich will den Menschen dieses kleine Stück Hoffnung mit meinen Liedern geben. Natürlich haben wir sehr schmerzhafte Erfahrungen gemacht, aber mit meinen Liedern will ich vermitteln, dass wir nach wie vor eine Zukunft haben, die wir gestalten können.

Heute arbeitest du viel mit Musiker*innen in Guatemala. Was bedeuten diese neuen Kontakte im Exil für dich?
Das Exil hat mir die Möglichkeit gegeben, Musiker*innen aus ganz Zentralamerika kennenzulernen, mit ihren ganz verschiedenen Ansätzen, die Musik mit dem Leben und unseren alltäglichen Kämpfen zu verbinden. Ich habe viel über die unterschiedliche Wirklichkeit in unseren Ländern in Zentralamerika gelernt, das war eine große Bereicherung für mich. Das bezieht sich sowohl auf die Erweiterung meiner technisch musikalischen Möglichkeiten, aber vor allem auf die Erweiterung meines Blicks auf das Leben. Das zeigt sich in meinen Liedern. Mein Leben selbst ist reicher geworden in einem sehr umfassenden Sinne. Das Exil hat meine Art des Denkens verändert, meine Art mich auszudrücken erweitert und meine Art, das zu teilen und zu vermitteln, was ich erlebe und mache. Und in diesem Sinne hatte das Exil auch eine positive Seite. Ich musste einfach wachsen, um im Exil meine Widerstandskraft zu behalten und eine gewisse zu Resilienz entwickeln.
Sie haben mir sehr viel genommen und mich von Menschen getrennt, die mir enorm viel bedeuten. Doch mit dem Wenigen, das mir geblieben ist, habe ich es geschafft, etwas Neues zu entwickeln und das zu machen, was ich gerne mache und anzubieten habe.

Welche Themen teilst du mit deinen Musikerkolleg*innen aus El Salvador, Guatemala und den anderen Ländern?
Vor allem den politischen Blick auf die zunehmende Repression in allen unseren Ländern. In Nicaragua wird die Diktatur immer offensichtlicher, die Unterdrückung immer ungehemmter und die Reaktionen der internationalen Öffentlichkeit kümmern die Machthaber nicht mehr. Aber auch in Guatemala habe ich ähnliche Unterdrückungsmechanismen kennengelernt und das brutale Ausmaß der Korruption und den Zynismus von Seiten der staatlichen Behörden. Die Diskriminierung, der Rassismus und Machismo, die manchmal wie normale Verhaltensweisen erscheinen, sind erschreckend.

Zeigt sich hierin und im Caudillismo und Klientelismus das koloniale Erbe?
Ja genau, diese Mechanismen finden sich als inhärente Momente in den ehemaligen Kolonien wieder und es ist unsere Aufgabe, das zu überwinden und neue kulturelle Werte zu entwickeln. Wir müssen aufhören, nach einer Figur zu suchen, die wir vergöttern können und der wir alle Verantwortung überlassen. Wir müssen verstehen, dass die Individuen im bürokratischen Apparat nicht unantastbar sind, sondern von uns Bürger*innen zur Rechenschaft gezogen werden können. In dem Maße, in dem es uns gelingt, das zu verändern, werden wir uns befreien − nicht nur in Zentralamerika sondern in ganz Lateinamerika. Dafür setze ich mich mit meiner Musik ein, dafür spiele ich mit Musiker*innen aus anderen Ländern. Gerade in Guatemala war es für mich wichtig, den Rassismus zu überwinden und mit Musiker*innen wie Sara Curruchich und Chumilkaj zusammenzuarbeiten und somit auch Forderungen der indigenen Bevölkerung und der campesinos (Bauern und Bäuerinnen) Ausdruck zu verleihen und ihre Weltsicht zu verbreiten. Diese Aspekte der mesoamerikanischen Kultur sind mir in Guatemala nähergekommen. Auch in Nicaragua war es eine wirklich gute Entwicklung, dass die campesino-Bewegung so stark geworden ist und eine führende Rolle in den Kämpfen der Zivilgesellschaft und sozialen Bewegungen gespielt hat. Das ist vielleicht einer der wichtigsten Aspekte des Aprilaufstandes von 2018, die Kraft der campesino-Bewegung und ihr Protagonismus in den sozialen Kämpfen.

TRAUM EINES BESSEREN LANDES

Bild: Real Fiction Filmverleih

„Wir erträumten uns Chile aus der Ferne. Die Kordillere ist mit ihrer Kraft und ihrem Charakter die Metapher dieses Traums“. So erklärt Patricio Guzmán, der seit langem im Exil lebt, zu Beginn seines neuen Films Die Kordillere der Träume dessen Titel. Nach Nostalgie des Lichts (2010) und Der Perlmuttknopf (2015) schließt Guzmán nun seine Trilogie ab, in der wesentliche Landschaftselemente Chiles bildlich für die Verbrechen der Militärdiktatur oder deren Aufarbeitung stehen. Nach der Wüste und dem Wasser widmet sich der dritte Teil den Anden: Bilder fruchtbarer Täler, zerklüfteter Felsen und schneebedeckter Gipfel ziehen sich durch den ganzen Film – die Berge als Konstante in der Geschichte, stumme Zeugen der Vergangenheit.

Anders als die ersten beiden Filme verbindet Die Kordillere der Träume jedoch die Landschaft nicht direkt mit den Geschehnissen während der Diktatur, was das Sinnbild etwas bemüht wirken lassen könnte – wäre da nicht die dieses Mal dezidiert persönliche, intime Ich-Perspektive Guzmáns. Bilder der Ruine seines Kindheitshauses stehen am Beginn der Auseinander­setzung mit der zerstörten Kindheit und Jugend so vieler, die sich zu Allendes Zeiten für eine bessere Gesellschaft engagierten.

Weggefährt*innen und Zeitzeug*innen, darunter die Musikerin Javiera Parra und der Dokumentarfilmer Pablo Salas, erzählen von ihren persönlichen Schrecken und der Repression nach dem Putsch: die Angst der Eltern, Hausdurchsuchungen, Aufwachen mit einem Maschinengewehr am Hals. Salas blieb in Chile und dokumentierte später die von den Staatsmedien totgeschwiegene Repression. Szenen aus seinem umfangreichen Archiv zeigen aus nächster Nähe Demonstrationen während der Diktatur und die gewaltsame Reaktion der Sicherheitskräfte, darunter einen bedrückenden Moment, in dem Militärs ein ganzes Stadtviertel durchsuchen und alle erwachsenen Männer mitnehmen. Aufnahmen aktueller Polizeigewalt verdeutlichen anschließend die Kontinuität der Repression.

Die Kordillere der Träume verwebt erneut gekonnt Schrecken und Schönheit zu einem ernsten und doch poetischen Gesamtkunstwerk. Mehr als die Vorgängerfilme schlägt es dabei den Bogen zur heutigen politischen Situation Chiles und analysiert aus der Perspektive von Guzmáns Gesprächspartner*innen auch die Prägung der Gesellschaft durch den mit brachialer Gewalt durchgesetzten Neoliberalismus: Die wirtschaftliche Ausbeutung geht weiter, die soziale Kluft ist enorm und die Gesellschaft individualisiert. Dazu passen Guzmáns Bilder von Tagebauen im Hochgebirge, Geisterzügen, die das chilenische Kupfer vorbei an namenlosen, verarmten Dörfern abtransportieren, oder den verlassenen Büros von Pinochet und seiner Junta.

Am Ende des noch vor Beginn der Protestwelle im Oktober 2019 gedrehten, in Cannes preisgekrönten Films wünscht sich Patricio Guzmán, Chile möge seine Kindheit und Freude zurückgewinnen. Möge sein Traum in Erfüllung gehen.

“TOT KANN ICH NUR WENIG AUSRICHTEN”

Foto: Lea Fauth

Jean Wyllys
zog 2010 als erster offen schwuler Abgeordneter für die Linkspartei PSOL ins brasilianische Parlament ein. Wegen Morddrohungen entschied er sich Ende Januar, sein Land zu verlassen.


Ende Januar haben Sie aus dem Urlaub angekündigt, nicht wieder nach Brasilien zurückzukehren und Ihr Mandat als Abgeordneter aufzugeben. Was war der Grund?
Ich bin ins Exil gegangen, weil ich schon lange Morddrohungen erhalten hatte. Eine Zeit lang glaubte ich, dass diese Drohungen mich nur einschüchtern und zum Schweigen bringen sollten. Bis am 14. März 2018 eine Freundin und Parteigenossin von mir, die erst kurz vorher in den Stadtrat von Rio de Janeiro gewählt worden war, auf barbarische Art und Weise hingerichtet wurde.

…die Aktivistin und Politikerin Marielle Franco…
Genau. Mir und meinen Parteigenossen wurde damit klar, dass die Drohungen nicht nur eine Form der Einschüchterung sind. Zusätzlich zu den Drohungen per Telefon und E-Mail wurde ich das Ziel einer Diffamierungskampagne. Wenn man immer wieder erklärt, dass ein offen homosexueller Abgeordneter pädophil ist oder sich für Pädophilie stark macht, dann verwandelt man ihn in einen öffentlichen Feind – in jemanden, der ermordet werden muss.

Was wurde noch behauptet?
Die größte Falschnachricht, die während der zweiten Wahlrunde in Umlauf ging, betraf auch mich. Die Rechten haben sich ausgedacht, ich hätte als Abgeordneter ein „schwules Kit“ erfunden und ich würde Erziehungsminister werden. Dieses Kit würde dann als Unterrichtsmaterial an den Schulen des Landes verteilt werden, um Kinder dazu zu erziehen, schwul oder lesbisch zu werden. Es hieß, dass es auch in Kindergärten und Kinderkrippen verteilt werden würde und dass es Babyflaschen in Form eines Penis geben würde. Dass die Mehrheit der Bevölkerung auch aufgrund solcher Lügen für den faschistischen Jair Bolsonaro gestimmt hat, zeigt, dass sie auch daran glauben will. Homosexuelle in Machtpositionen in Brasilien werden gehasst. Nachdem der Präsidentschaftskandidat Bolsonaro solche Dinge öffentlich gesagt hatte, haben sich die Leute erst recht dazu berechtigt gefühlt, auch so etwas zu sagen und vor allem, physische Gewalt gegen andere anzuwenden.

Wie fühlt es sich an, permanent bedroht zu sein?
Ganz normale Dinge, wie ins Kino oder in ein Restaurant gehen, waren für mich nicht mehr möglich. Ich habe in ständiger Angst gelebt, wie in einem privaten Gefängnis. Früher hat mich meine Offenheit gegenüber anderen Personen ausgezeichnet. Das letzte Mal, als ich einen Menschen auf der Straße anlächelte, bezeichnete mich diese Person als „Hurensohn“ und „Pädophilen“.

Wer steckt hinter den Fake News und den Morddrohungen gegen Sie?
Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen denen, die mir drohen und Fake News produzieren, und der Familie Bolsonaro. Bolsonaro war schon seit vielen Jahren Abgeordneter, als ich in den Kongress einzog. Er hat es geschafft, seine drei Söhne im Parlament zu platzieren. Es gibt also eine einzige Familie mit vier Personen, die die Institutionen dazu nutzen, mich zu diffamieren. Im brasilianischen Strafrecht wird man für Beleidigung, Verleumdung oder Diffamierung belangt – es gab also ein legales Instrument für die demokratischen Institutionen, diese Lawine von Lügen und Drohungen gegen mich aufzuhalten. Aber es wurde überhaupt nichts getan. Es gibt nämlich eine gesellschaftliche und institutionelle Homophobie. Das Leben einer LGBTQI*-Person ist nichts wert, auch mein Leben war nichts wert. Ich habe das viele Jahre lang erlebt und meine eigenen Strategien entwickelt, damit umzugehen und mich zu verteidigen. Aber ich habe es nicht geschafft, die Masse von Angriffen aufzuhalten. Vor Kurzem deckten Medien zudem auf, dass die Familie Bolsonaro enge Verbindungen zu den Milizen hat, die Marielle Franco ermordet haben. Bolsonaros Sohn hat in seinem Kabinett die Frau und die Mutter eines Kriminellen angestellt, der der Hauptverdächtige in diesem Fall ist. Er soll das Maschinengewehr bedient haben, aus dem die Salve kam, die den Körper meiner Freundin zerfetzt hat. Sie können sich vorstellen, dass es in Brasilien keinen Raum mehr für mich geben kann, um meine politische Arbeit fortzusetzen. Es würde meinen Tod bedeuten. Und ich würde nicht nur sterben, sondern mein Tod würde mit Fake News auch gerechtfertigt werden.

Aber ist es nicht ein Sieg der Ultrarechten und von Bolsonaro, dass Sie ins Exil gegangen sind und zum Schweigen gebracht wurden?
Die Rechten glauben, dass sie mich zum Schweigen gebracht haben. Ich bin aber weggegangen, um zu leben. Wir brauchen keine weiteren Märtyrer. Wenn ich tot bin, kann ich nur wenig ausrichten. Dann wäre es wirklich vorbei. Von außen kann ich weiterhin eine Stimme sein. In diesem Sinne ist es nicht unbedingt ein Sieg für sie, denn tatsächlich habe ich sie mit dieser Entscheidung überrascht: Ich habe mich zurückgezogen und damit eine Nachricht an die Welt gesendet.

Nun sind Sie im Ausland. Werden Sie weiter bedroht?
Ja, seit ich meine Entscheidung bekannt gegeben habe, wurden neue Drohungen gegen mich und meine Familie veröffentlicht. Und es wurden auch neue Fake News in die Welt gesetzt. Seit meinem Gang ins Exil wird gesagt, dass ich mit dem Mann liiert bin, der einen Anschlag auf Bolsonaro verübt und einen Finanzbetrug begangen hätte und deshalb das Land verlassen hätte. Brasilien befindet sich in einer Art kollektiven Hysterie, in einem Anfall von Dummheit: Alles, was bei WhatsApp auf den Smartphones erscheint, wird geglaubt.

Sie leben jetzt seit einigen Wochen in Europa. Aus Brasilien erreichen uns fast täglich neue Schreckensmeldungen. Wie gehen Sie damit um?
Ich benutze im Moment keine sozialen Medien – denn die haben meiner emotionalen Gesundheit schwer geschadet. Ich muss mich für einige Zeit von den furchtbaren Dingen fernhalten, die über mich geschrieben werden. Ich muss mich sammeln – um dann mit mehr Stärke zurückzukehren. Aber es ist sehr traurig, weit weg von meinem Land zu sein und meine Arbeit als Abgeordneter nicht machen zu können. Brasilien durchlebt seine schlimmsten Tage. Dass ich gezwungenermaßen weit weg von meinen Freunden und meiner Familie bin und alleine weinen muss, ist furchtbar.

 

UNSERE HAUPTBEDROHUNG IST DIE SEXUELLE GEWALT

Du bist Mitglied des feministischen Theaterprojekts Las Amapolas. Auf welche Voraussetzungen geht euer Projekt zurück?

Schon früh wurde ich mir der gegen den Frauenkörper gerichteten Gewalt bewusst. Ich beteiligte mich an allen möglichen Formen der öffentlichen Anklage, z.B. war ich bei allen Demonstrationen dabei. Außerdem erlebte ich seit vielen Jahren die Repression gegen die feministische Bewegung in Nicaragua. Es gab eine konstante Verfolgung bei Mobilisierungen zu nationalen Demonstrationen, immer war die Macht anwesend, ständig waren Polizeieinheiten präsent. Ich war in Estelí aktiv und hatte die Gelegenheit zusammen mit unserem Kollektiv an Demonstrationen teilzunehmen, an Verkehrsblockaden oder vor die Gerichte zu ziehen. In Nicaragua herrscht eine gegen unseren Körper gerichtete Welle der Gewalt, denn es ist ein frauenfeindlicher Staat, wo es jedes Jahr einen hohen Anteil von sexuellem Missbrauch und Frauenmorden gibt. Ich habe mich auch im Bildungsbereich betätigt, in kommunalen Projekten, die Begleitung für Jugendliche und junge Heranwachsende anboten, um Themen wie Gewaltprävention oder Schwangerschaft im Heranwachsendenalter zu bearbeiten. Die staatlichen Institutionen verschlossen uns ihre Türen wie es auch fortwährend Drohungen gegen unserer Arbeit gab. Letztes Jahr am 8. März verweigerte uns das Gemeindeamt die Erlaubnis, auf der Straße eine öffentliche Aktion durchzuführen. Wir nahmen sie uns, denn in Nicaragua gewährte uns der Staat nie einen Raum, man musste ihn sich nehmen: am Ende war da immer die symbolische Gewalt der Polizeipräsenz, sie kamen um uns zu drohen. Ich war auch in der Universität aktiv und äußerte immer offen meine Kritik. Vermutlich war eine Konsequenz daraus, dass ich zum sichtbaren Mittelpunkt wurde und leicht zu identifizieren als die Repression an Intensität zunahm.

(Foto: privat)

Hat dich die massive Artikulation der Proteste am 18./19. April 2018 und die darauf folgende Gewalt überrascht?

Als Aktivistin kam für mich der Ausbruch der Gewalt nicht überraschend, da wir sie bereits vorher in verschiedenem Ausmaß und Ausdruck erlebt hatten. Einen Tag davor hatten wir in Estelí eine Demonstration organisiert, weil das Naturreservat Indio Mais brannte. Später gab es einige Demos wegen der Reform der Sozialversicherung INSS. Schon da wurden wir Opfer polizeilicher Verfolgung in Estelí. Da wir diejenigen waren, die das organisiert hatten, die ihre Stimme hören ließen, Mikrofone und Megafone mitbrachten, fotografierten sie uns − praktisch eine direkt gegen uns gerichtete Drohung. Am 17. und 18. April war ich in Matagalpa, wo es eine Demonstration wegen der Sozialversicherung gab. Dabei kam es auch zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstrant*innen und Staatsbediensteten und man sah deutlich die Aggressivität, die von denen ausging, während die Polizei sich indifferent verhielt, als ob sie die Situation genießen würde. Das hat mich sehr betroffen gemacht. Wir wussten jetzt, was in Managua los war und dass es Tote gab.

Am 19. April gab es eine Demonstration in Estelí. Dort schlugen sie auf Jugendliche ein und nahmen sie fest. Am folgenden Tag, am 20. April, änderte sich unser Leben, denn an diesem Tag beschlossen wir, dass wir uns auf Demonstrationen nicht mehr hervortun wollten, da wir nun wussten, was passieren würde und wir hatten ja bereits Repression erlebt. Unter diesen Umständen beschlossen wir medizinisches Material zu beschaffen und im Fall eines Angriffs zu helfen, denn es wurde auch geschossen. An diesem Tag zog sich der Demonstrationszug bis zu einem Kilometer hin. Es kamen viele Leute. An einer breiten Straße standen aufgereiht Paramilitärs, die direkt auf Demonstrant*innen und deren Köpfe zielten. Es kam zu Auseinandersetzungen −wer keine Angst zeigte, wurde verfolgt und nach Ende der Demo schossen sie Tränengas. Es war dies ein Ausdruck der Gewalt, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Wir befanden uns in einem Sicherheitshaus, denn wir hatten uns jetzt organisiert und die Aufgabe, Personen zu versorgen, die mit Tränengasvergiftungen kamen. Ungefähr um 10 Uhr abends wurde damit begonnen Barrikaden zu bauen, jetzt war das eine Sache, die nicht mehr zu kontrollieren war. Wir konnten nicht mehr auf die Straße gehen. Wir bewegten uns im Auto fort, um Medikamente oder nach Personen zu suchen, die unsere Hilfe benötigten. Dann kam die Nachricht, dass sie zwei Jugendliche getötet hatten. Denn die Paramilitärs, die nach Estelí kamen, benutzten großkalibrige Waffen, Heckenschützen ermordeten die beiden. Es waren die ersten Toten der Aprilproteste. Trotz alledem gingen wir weiter auf die Straße, jeden Tag gab es Demonstrationen in Estelí, jeden Tag dachte man sich neue Formen des Protestes aus, um standzuhalten. Nach fünf Tagen wurden Straßensperren errichtet.

Welcher war der ausschlaggebende Moment für deine Entscheidung ins Exil zu gehen?

Nach dem Mord an den Jugendlichen, Studenten aus Estelí, erhöhten wir den Druck und begannen Demonstrationen zu organisieren. In dem Moment haben wir uns zu sehr exponiert, denn wir waren sehr sichtbar, wir waren die einzigen Frauen, die in der Öffentlichkeit nach dem Mikrofon griffen und feministische Spruchbänder trugen. Wir machten auch Straßentheater und verschiedene Performance auf den Demonstrationen. Dann kam das Massaker vom 30. April, was ebenfalls ein traumatisches Erlebnis war. In Estelí gab es sieben Morde an einem einzigen Tag. An diesem Tag kamen Paramilitärs zu mir nach Hause und sagten, dass sie wüssten, wo wir wohnen, wer wir sind, seit wann wir da schon mitmachen, dass sie uns töten werden, vergewaltigen − jede Menge Beschimpfungen in nur einer Minute und sie verschwanden. Anschließend begann die Serie in den sozialen Netzwerken, denn wir kollaborierten offen mit den Jugendlichen an den Straßensperren. Dort schrieben sie Dinge wie wir verfügten über große Geldmengen, wir würden von der CIA bezahlt, wir würden andere manipulieren, die in unserem Namen auf die Straße gingen und all das würden wir mit Blei bezahlen. Danach erschienen Fotos von uns: “Lesben, Huren, wir werden sie töten!” Von da an schlief ich nicht mehr zu Hause und wir gingen nicht mehr nach draußen, wie im Gefängnis. Das bedeutete eine Entscheidung zu treffen: entweder sie töten dich oder sie machen etwas mit dir oder du bleibst. Wir waren das perfekte Ziel zu politischen Gefangenen zu werden.

Ich ging am 23. Juni. Es gab Straßensperren und ich musste durch die Berge, um zum Flughafen kommen, wo du dich nicht von deiner Familie verabschiedest. Du nimmst das Gefühl mit, nicht zu wissen, wann du zurück kommst. Auf dem Flughafen überall Militär. Wahrscheinlich hatten sie da die Personen noch nicht registriert, die in irgendwelche Dinge verwickelt waren. Ich konnte das Land ohne Probleme verlassen. Zwei Tage danach begann die Säuberungsaktion in Estelí, als es ein weiteres Massaker gab. Ich nenne diesen Staat terroristisch: fortwährende Kampagnen um Angst zu verbreiten, durch Gewalt an der Macht festhalten, ständige Aggressionen, denen die Menschen ausgesetzt sind.

(Foto: privat)

Seit dem 24. Juni 2018 lebst du in Deutschland. Was bedeutet für dich das Exil?

Als ich nach Deutschland kam, hatte ich klare Überzeugungen: Ich bin eine Person, die das Privileg hat hier zu sein und seitdem habe ich mich damit beschäftigt, die Lage in Nicaragua öffentlich anzuprangern. An verschiedenen Orten zu sprechen, war nicht gerade einfach. Erstens spreche ich nicht die Sprache, zweitens bin ich eine Frau und drittens spüre ich, dass ein konstanter Rassismus vorhanden ist. Ich bin keine politisch anerkannte Persönlichkeit, keine Person, die permanent in den sozialen Netzwerken auftaucht, keine öffentliche Person. Als ich hier ankam, hatte ich mir das Recht zu sprechen erst zu verdienen, denn am Anfang hat es niemanden interessiert, meine Geschichte zu hören. Alles, was ich erreicht habe, wurde durch einen Kraftakt und gewisse Privilegien erreicht, denn ich muss anerkennen, dass eine deutsche Lebensgefährtin zu haben einen anderen Zugang bietet. Und schließlich das Thema Migration: dir wird bewusst, dass Leute, dir ihr Land verlassen müssen, dort ein Leben hatten, eine Geschichte und diese von null auf wieder aufzubauen, ist nicht einfach. Aktuell hat mir das Theater das Leben gerettet, ich bin auf die besten Gedanken gekommen, es hat mir Kraft gegeben − die Kraft zur Selbstermächtigung. Ich bin Teil einer deutschen Frauentheatergruppe. Wir bearbeiten die Themen, die ich auch vor der Krise in Nicaragua bearbeitet habe, wo es um die sexuellen und reproduktiven Rechte geht − Aufklärung durch das Theater. Aber es ist nicht einfach anzukommen und zu sagen “ich will Mitglied eurer Gruppe sein”. Ich fühlte den Druck beweisen zu müssen, dass ich tatsächlich Ahnung vom Theater habe.

Das Regime Ortega/Murillo versucht der Welt zu beweisen, dass Nicaragua zur Normalität zurückgefunden habe, während die Repression weitergeht.

Vor allem ist die Politik, die sie nach dem Massaker angewendet haben, superzynisch und eine Beleidigung für alle Personen, die Opfer der Repression geworden sind. Während der letzten Woche in Nicaragua haben wir mit verschieden Aktivistinnen audiovisuelles Material entwickelt. Das verwenden wir hier als Anregung für die Leute, die Realität wahrzunehmen, die Nicaragua durchlebt. Die Leute haben vielleicht keine Vorstellung vom Zynismus dieser Regierung, die von Versöhnung spricht, während sie weiter politische Gefangene verschleppen, weiter foltern oder Frauen in der Haft abtreiben. Denn dort sind sie einem System physischer Folter unterworfen, wenn du schwanger bist, holen sie dich unter Schlägen aus der Zelle und provozieren so einen Abort. Manchmal befindest du dich in der schmerzhaften Situation, dass es den Deutschen in Bezug auf die Ereignisse etwas an Empathie fehlt. Es verschleißt viel Energie, den Leuten während einer Veranstaltung erklären zu müssen, dass wir nicht in der Lage sind, darüber nachzudenken, wer der nächste Präsident wird. Denn es gibt eine Krise, etliche Leute haben keine Arbeit und nichts zum Überleben. Viele Jugendliche, die an Demos teilgenommen haben, werden verfolgt, viele gehen zu Fuß bis nach Honduras oder in andere zentralamerikanische Länder. Jeden Tag suchen Menschen nach einer Möglichkeit, das Land zu verlassen. Nicht jede*r kann ein Flugticket kaufen in diesen Zeiten, nichts ist sicher und absolut niemand ist sicher.

Inzwischen hat sich das nationale Bündnis Azul y Blanco gegründet, worin sehr unterschiedliche, teils in ihren Auffassungen gegensätzliche Gruppierungen der Zivilgesellschaft vertreten sind. Welche Aussichten siehst du für die Feministinnen und deren Forderungen in diesem Bündnis?

Ich finde, dass die Krise auf der Ebene der poder popular auch einen Gewinn bedeutet: das Erwachen der Menschen. Es gibt zur Zeit viele Ideale, aber da es ein gigantisches Monster gibt, das zu besiegen ist, vereinigten sich all diese Sektoren. Obwohl wir Feministinnen eine sehr spezifische Agenda haben, wo es um Frauenrechte geht, glaube ich, dass es sehr wichtig ist, dass wir Teil dieses Entscheidungsprozesses sind, denn die Situation wird nicht jetzt gelöst werden. Das wird ein langer Prozess sein. Das Naheliegende wäre vielleicht eine Übergangsregierung, worin verschiedene Repräsentant*innen der Bewegung Azul y Blanco vertreten sind, unterschiedlichen gesellschaftlichen Ausdrucks. In dieser Bewegung gibt es ebenfalls große Intellektuelle mit einer langen politischen Geschichte. Und da sind auch die Feministinnen, die dafür kämpfen, in den Raum vorzudringen, wo die Entscheidungen getroffen werden, damit ihre Stimme wirklich berücksichtigt wird, da wir es waren, die diesen Kampf permanent geführt haben. Wer auf die Straße ging, das waren über Jahre hinweg die Frauen und die Bauern- und Bäuer*innenbewegung.

 

 

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