// Fette Gewinne und trockene Kehlen

Der Mangel an sauberem Süßwasser wird immer dramatischer. Darauf machte die chilenische Wasser- und Umweltorganisation MODATIMA aufmerksam, die im September auf Einladung der Lateinamerika Nachrichten und anderer Organisationen nach Deutschland reiste. In der Veranstaltungsreihe „Bis zum letzten Tropfen“ betonten die Aktivist*innen immer wieder die chilenische, aber auch die globale Dimension des Problems.

Chile ist in Bezug auf Wassermangel ein besonders drastischer Fall. Im Zuge der Neoliberalisierung während der Militärdiktatur wurde Wasser privatisiert. Bis heute hat sich daran nichts geändert: Statt als Grundrecht der Bevölkerung wird es als Ware behandelt. Es fließt reichlich in den Bergbau, in die Forst- und die Landwirtschaft, so auch in den Anbau von Avocados für den europäischen Markt.

Während transnationale Unternehmen so fette Gewinne einfahren, geht den lokalen Gemeinden das Trinkwasser aus. Die Bewohner*innen ganzer Regionen werden in Chile mit Wasserlieferungen nur unzureichend versorgt. „Diejenigen, die über das nötige Geld verfügen, haben Zugang zu Wasser. Die normale Bevölkerung geht leer aus“, klagt Victor Bahamonde von MODATIMA. Profitmaximierung für Wenige statt menschenwürdige Lebensbedingungen für die Vielen.

Mitverantwortlich für den Wassermangel ist in Lateinamerika oft auch die Wirtschaftspolitik Deutschlands. So wie in La Guajira im Nordosten Kolumbiens. Ein großer Teil der Kohle, die bei uns verstromt wird, kommt von dort. 2022 erhöhte Deutschland die Importe kolumbianischer Steinkohle auf das Dreifache im Vergleich zum Vorjahr. Der Steinkohletagebau El Cerrejón, Teil des Schweizer Multis Glencore, verbraucht in der niederschlagsarmen Region täglich 24 Millionen Liter Wasser – eine Menge, die ausreichen würde, um 15.000 Menschen zu versorgen.

Dagegen wehrt sich auch der Umweltaktivist Samuel Arregocés. „Wir können unser Wasser nicht weiter El Cerrejón überlassen“, erklärte er gegenüber LN. In La Guajira sind infolge des Bergbaus bereits mehr als 17 Wasserläufe ausgetrocknet, der Tagebau hat 30 Flüsse umgeleitet. Sollten weitere Flüsse umgeleitet werden, wäre das „das Ende der Guajira“, ist sich Arregocés sicher. Die Wasserknappheit in La Guajira zeigt, wie die deutsche Regierung ihre miserablen Klima- und Umweltbilanzen vertuscht: Die Folgen des auf dem Raubbau an der Natur basierenden Wirtschaftsmodells werden in den Globalen Süden auslagert. Hierzulande verkündet sie gleichzeitig die „grüne Wende“.

Wassermangel ist allerdings schon lange nicht mehr nur ein Problem anderer Weltregionen. Auch in Deutschland wird das Nass knapp. Jedoch nicht für alle: Während das Versorgungsunternehmen WSE in Brandenburg 2022 damit begann, das Wasser für Privathaushalte zu rationieren, bedient sich der Großkonzern Tesla in Grünheide weiter am Grundwasser. In dem wasserarmen Bundesland wurde die Großfabrik für den Bau von Elektroautos 2020 trotz Protesten eröffnet.

Jetzt soll die Fabrik in Grünheide noch erweitert werden. Dagegen organisierte ein breites Bündnis aus Klimaaktivist*innen und Anwohner*innen am 16. September ein „Wald- und Wasserfest“. Mitglieder von MODATIMA betonten dort während ihrer Rede, Umweltaktivist*innen weltweit müssten angesichts der sich zuspitzenden Lage voneinander lernen. Der Kampf um den Zugang zu Wasser verbinde die lokale Bevölkerung in allen Erdregionen. Victor Bahamonde forderte: Auch wenn das Thema Wasser in den reichen Ländern noch wenig als Problem wahrgenommen werde, sollte es eine zentralere Rolle in den Kämpfen für Klimagerechtigkeit einnehmen. Bewegungen wie das Bündnis „Tesla den Hahn abdrehen“ sind dafür ein wichtiger Schritt.

Schutzlos vor dem Neo-Extraktivismus

Der Sitz der Fundación del Río, deren Präsident Sie sind, befindet sich jetzt − wie der Großteil der nicaraguanischen Diaspora − in Costa Rica. Was ist nach dem Verlust des Rechtsstatus und der Konfiszierung des Vermögens von der Organisation geblieben?
Die Arbeit der Umweltorganisation wurde willkürlich eingestellt, nachdem sie im Dezember 2018 durch das Ortega-Regime aufgelöst wurde. Einer der Gründe für die Auflösung war, dass die Organisation einen absichtlich gelegten Brand im Naturschutzgebiet Indio Maíz öffentlich angeprangert hatte. Auch im Fall des Interozeanischen Kanalprojekts, das weder aus ökologischer noch aus sozialer Sicht tragfähig war, hat die Stiftung Kritik geäußert. Beide Positionen führten dazu, dass das Regime uns als oppositionelle Akteure betrachtete. Mit der Auflösung haben wir mehr als 22 Grundstücke in Schutzgebieten, Herbergen, Büros und zwei kommunale Radios verloren. Außerdem musste leider auch ich ins Exil gehen, da mir ein Gerichtsverfahren drohte.

Wie gestaltet sich Ihre Arbeit im Exil?
Zunächst begann eine Phase der Reorganisation, um die Arbeit vom Exil aus weiterzuentwickeln. Die Organisation besaß früher drei Büros, verteilt über das gesamte Departement Río San Juan, und verfügte über die Kapazitäten, um bäuerliche, indigene und afro-deszendente Gemeinschaften zu unterstützen und zu begleiten. Durch die Auflösung und die Enteignung unserer Vermögenswerte sind diese Kapazitäten verlorengegangen. Unsere Arbeit wurde neu definiert: Wir sind in den Gebieten nicht mehr so präsent wie früher. Stattdessen sind dort indigene und bäuerliche Gemeinschaften aktiv, die weiterhin an die Arbeit der Organisation glauben. Das bedeutet, dass wir dank ihres Engagements weiterhin überwachen und dokumentieren können, was in Indio Maíz und den anderen indigenen und afro-deszendenten Gebieten geschieht. Mit Hilfe neuer Technologie können wir Waldbrände und das Ausmaß der Abholzung in den Schutzgebieten des Landes überwachen. Diese neue Art zu arbeiten hat es uns ermöglicht, weiterzumachen.
Wir haben auch begonnen, mit den aus Nicaragua vertriebenen bäuerlichen und indigenen Gemeinschaften zu arbeiten, die heute im Norden Costa Ricas leben. So können wir die Nicaraguaner unterstützen, die es besonders schwer haben.

Warum sind Naturschutzgebiete und die Lebensräume der indigenen Gemeinschaften heute durch illegale Besiedlung und Ausbeutung ihrer Naturreserven stärker bedroht denn je?
In Nicaragua gibt es sieben indigene Volksgruppen und zwei afro-deszendente Gemeinschaften. Die meisten von ihnen, die ihre Kultur noch bewahren, befinden sich an der Karibikküste. Die Gebiete mit den größten Konflikten liegen in der nördlichen Karibikregion. In der südlichen Region, wo die Rama- und Kriol-Gemeinschaften von Bluefields ansässig sind, gibt es weniger Konflikte. Im Jahr 2011 wurden dort die ersten Vorstöße von Siedlern in indigene Gebiete gemeldet. Aber über die Invasionsprozesse in der nördlichen Karibik, insbesondere in den Gebieten der Miskito und Mayanga, wird schon seit 2005 berichtet. Doch war dieser Prozess nicht so massiv, es wurden nicht so viele Menschen getötet wie heute. Dieses neue Ausmaß ist auf das vom Ortega-Murillo-Regime seit 2007 geförderte neo-extraktivistische Modell zurückzuführen. Es zielt darauf ab, die natürlichen Ressourcen zu gewinnen, die von wirtschaftlichem Interesse sind.
Die indigenen Territorien an der nördlichen und südlichen Karibikküste sind die reichsten Gebiete des Landes. Vor allem, weil die dort lebenden Gemeinschaften sie bewahrt haben: Dort sind die meisten natürlichen Wälder zu finden, es gibt die größte biologische Vielfalt, die Niederschlagsmengen sind höher und es leben weniger Menschen dort. Es besteht ein öffentliches politisches Interesse, den neo-extraktivistischen Prozess in diesen Regionen zu fördern.

Was bedeutet das?
Klassischer Extraktivismus liegt vor, wenn sich ein Unternehmen mit inländischem oder meist ausländischem Kapital in Gebieten niederlässt, um eine natürliche Ressource zu gewinnen, etwa um Ölpalmen anzubauen, Bananen oder Produkte, die auf dem internationalen Markt verkauft werden. Beim klassischen Extraktivismus ist der Einfluss des Staates wie ein Regulierungsorgan. Er greift nicht in das Geschäft ein, sondern versucht, den Geschäftsprozess zu regulieren und zu kontrollieren, damit bestimmte Parameter eingehalten werden. Außerdem werden die Ressourcen ohne jegliche Verarbeitung geplündert. Mit anderen Worten: Die ausgeführten Produkte haben keinen Mehrwert.
Beim Neo-Extraktivismus ist die Beteiligung des Staates oder von Gesellschaften, die mit den Regierenden in Verbindung stehen, wesentlich stärker. Es werden staatliche Unternehmen und öffentlich-private Partnerschaften gegründet, die die ebenfalls Ressourcen ausbeuten. Oder es werden neue Unternehmen gegründet, die mit der Macht oder den Familien verbunden sind, die politische Positionen besetzen. Was wir im Fall Ortega-Murillo sehen, ist der Wechsel vom extraktivistischen Modell der neoliberalen Regierungen zu einem neo-extraktivistischen Modell mit einer Verbindung zwischen staatlichen und wirtschaftlichen Interessen in diesen Gebieten. Dies hat zu einem großen Druck auf die natürlichen Ressourcen und auf die Schutzgebiete selbst geführt.

Was sind die Hauptursachen für die Gewalt in den indigenen Gebieten?
Der industrielle Bergbau ist auf dem Vormarsch, ebenso der handwerkliche, so dass viele der Konflikte in den indigenen Territorien auf den Bergbau zurückzuführen sind. Siebzig Prozent der Bergbauprodukte werden vom industriellen und dreißig Prozent vom handwerklichen Bergbau produziert. Beide sind jedoch miteinander verbunden, da der Gewinn des Goldes aus dem handwerklichen Bergbau an die Minenunternehmen verkauft wird, die das Gold exportieren. Dies hat viele Menschen dazu gebracht, in diese Gebiete einzudringen, um die Ressourcen zu plündern. An genau solchen Orten entstehen die Konflikte.
Der Staat hat die Verpflichtung, die territoriale Sicherheit der indigenen Gemeinschaften zu garantieren, da es sich um per Rechtstitel anerkannte Territorien handelt. Mindestens 23 Gebiete sind infolge indigener Kämpfe bereits an die Gemeinschaften überschrieben worden. Allerdings hat die Regierung die Legalisierungsphase – die letzte Phase des Titulierungsprozesses – nicht eingehalten. Diese Phase umfasst die Kontrolle der Menschen, die sich in diesen Gebieten aufhalten. Sollte die indigene Gemeinschaft zu dem Schluss kommen, dass Personen sich unbefugt dort aufhalten, dann muss die Regierung dafür sorgen, dass diese das Gebiet verlassen, da sie in ein geschütztes Territorium eindringen. Das ist jedoch nie geschehen.
Daher haben indigene und afro-deszendente Gemeinschaften damit begonnen, ihr Territorium selbst zu verteidigen – natürlich nicht mit den gleichen Möglichkeiten, die der Staat zur Verfügung hat. Das hat dazu geführt, dass die Waldhüter der Gemeinden zu den Hauptangriffszielen wurden, denn sie sind diejenigen, die diese Gebiete überwachen, Verstöße dokumentieren und melden. Seit 2005 haben wir mehr als 75 Morde erlebt. Allein in diesem Jahr wurden acht Waldhüter und Gemeindevorsteher ermordet, die sich Menschen widersetzt haben, die unrechtmäßig in ihr Gebiet eingedrungen sind.

Heißt das, dass die Eindringlinge bewaffnet sind?
Nicht alle sind bewaffnet. Viele dieser Eindringlinge haben sich bewaffnet, um sich mit Gewalt durchzusetzen. Das Regime hat sie als kriminelle Banden bezeichnet, man wollte nicht anerkennen, dass es sich um Paramilitärs handelt, um Leute, die mit Gewalt diese Gebiete besetzen und die natürlichen Ressourcen plündern.

Gibt es noch weitere Akteure in den indigenen Territorien?
Ja, die extensive Viehzucht breitet sich zunehmens aus und führt heute am stärksten zur Entwaldung im Land. Viele dieser Viehzuchtbetriebe haben von einer für sie günstigen öffentlichen Politik profitiert, weil sie neue Märkte erschlossen und Finanzierungen erhalten haben. Dieses Modell hat dazu geführt, dass der Druck auf die Bevölkerung in den indigenen Territorien aufgrund wirtschaftlicher Interessen zu Lasten ihrer Rechte enorm zugenommen hat. Aber nicht nur das, es gibt noch andere Interessen, etwa der illegale Bodenhandel oder der Handel mit nativen Tier- und Pflanzenarten aus diesen Regionen. Da es sich um Gebiete mit hohen Niederschlagsmengen handelt, die die Ölpalme benötigt, spielen auch diese kommerziellen Interessen eine Rolle.

Wie bewerten Sie die Wirtschaftssanktionen der internationalen Gemeinschaft gegen Nicaragua?
Wer Nicaragua wirklich beeinflussen kann, ist der wichtigste Exportmarkt unseres Landes – die USA. Die wichtigsten Produkte sind Gold und Fleisch. Der größte Teil des Fleischmarktes sowie der größte Teil des Goldes geht in die Vereinigten Staaten, der zweitgrößte Goldanteil in die Schweiz, Leder geht nach Europa. Die Maßnahmen sollten entschiedener sein, vor allem bei einigen Produkten der Wertschöpfungsketten in den Händen der Diktatur. Mit einem Viertel der Wirtschaftssanktionen, die sie gegen Russland verhängt haben, hätten sie morgen jedes Abkommen mit Ortega unterzeichnen können. Es besteht also kein wirkliches Interesse daran, eine Diktatur zu stürzen: Auf politischer Ebene kritisiert man zwar die Menschenverletzungen und spricht von einer Diktatur, aber auf Handelsebene macht man gerne Geschäfte mit Ortega. Aus meiner Sicht ist das eine widersprüchliche Politik.

Ein Hauch von Hoffnung

Q’ equchi’ Maya gegen den Staat Proteste gegen Repression in Guatemala (Foto Aj Ral Ch’och’)

Das Strafverfahren gegen dich läuft seit 2017. Was ist der aktuelle Stand?

Damals wurde ich gemeinsam mit elf weiteren Personen angeklagt. Es ging um meine Recherchen zu den Verfärbungen im Izabal-See. Aktuell sind noch vier Personen angeklagt: Die Fischer Tomás Che, Cristobal Pop, Vicente Rax und ich. Wir hoffen, dass das Verfahren aus Mangel an Beweisen eingestellt wird, da die Anklage auf falschen Behauptungen beruht.

Ich muss alle 30 Tage bei der Staatsanwaltschaft erscheinen und mich melden. Das ist eine Kontrollmaßnahme, die mich daran hindert, mich für längere Zeit an einem anderen Ort aufzuhalten und die mich zudem in meiner Arbeit einschränkt.

Im Jahr 2021 wurdest du ein weiteres Mal angeklagt.

Da ich trotz der Umstände weiter gearbeitet habe, unter anderem in dem Projekt „Mining Secrets“, hat der Staat ein weiteres Mal versucht, mich rechtlich zu verfolgen. Im Oktober 2021 war ich im Rahmen meiner journalistischen Tätigkeit auf einer Demonstration. Sie verlief friedlich, bis die Polizei die Autoritäten des consejo ancestral (dt. Ältestenrat) und auch mich angriff. Danach behaupteten die Polizist*innen, ich und weitere elf Personen hätten sie angegriffen und zeigten uns an. Im Januar 2022 wurde Haftbefehl gegen uns erlassen. Als im darauffolgenden März „Mining Secrets“ veröffentlicht wurde, sollte der Haftbefehl gegen mich vollzogen werden. Das war sehr belastend. Bei einer Gerichtsverhandlung im September legten meine Anwält*innen Beweise vor, dass ich die Polizist*innen auf der Demonstration nicht angegriffen habe: In einem Video, das wir vor Gericht zeigten, war zu sehen, wie Polizist*innen zu mir kamen, als ich gerade eine Live-Übertragung machte. Sie nahmen mir mein Handy weg, schlugen und traten mich. Ich erinnere mich, dass die Polizist*innen gerade dabei waren, Schusswaffen auszupacken, als ich mich ihnen damals während der Berichterstattung näherte. Sie wollten also kein Tränengas mehr verschießen, sondern hatten offenbar vor, das gleiche zu tun wie 2017, als Carlos Maaz erschossen wurde. Als ich mit einem Polizisten diskutierte und sie versuchten, mir meine Kamera wegzunehmen, kam jedoch ein Journalist hinzu und fotografierte mich. Das hat an diesem Tag wahrscheinlich Schlimmeres verhindert.

Was ist aus der Anzeige gegen dich geworden?

Bei dem Gerichtstermin im September 2022 fragte meine Anwältin die Staatsanwältin nach den Aussagen der Zeug*innen, auf denen die Anklage gegen mich beruhte und in denen die Namen derjenigen, die die Polizist*innen angeblich angegriffen haben sollen, genannt wurden. Doch weder in den von der Staatsanwältin verlesenen Aussagen noch in der entsprechenden Polizeiakte wurden Namen genannt. Sie haben sich die Namen also einfach ausgedacht. Als meine Anwältin fragte, wo die entsprechenden Aussagen seien, antwortete die Staatsanwältin, sie habe die Aussagen verlesen, so wie es von ihr verlangt worden sei. Es war unglaublich, was wir da hörten, aber in Guatemala leider möglich. Der Richter Edgar Aníbal Arteaga, der übrigens auch in dem anderen Strafverfahren gegen mich eingesetzt ist, war wütend, weil er auch in diesem Verfahren nicht so gegen mich vorgehen konnte, wie er wollte. Die Verhandlung dauerte höchstens acht Minuten und endete aufgrund mangelnder Beweise mit meinem Freispruch, also mit der Aufhebung des Haftbefehls gegen mich.

Du hast das Projekt „Mining Secrets“ erwähnt. Worum geht es dort?

Der kommunitäre Maya-Journalismus ist meine Leidenschaft, es geht mir um die Inhalte. Ich bin überzeugt, dass meine Arbeit dazu beiträgt, Geschichte zu schreiben und dass sie nicht nur einer Gruppe oder meiner Gemeinschaft helfen wird, sondern darüber hinausgeht, wie bei den Projekten „Mining Secrets“ und „Green Blood“ (Anm. d Red.: diese wurden von dem journalistischen Netzwerk Forbidden Stories durchgeführt und thematisieren die Geschichten von Journalist*innen, die über Umweltzerstörung in Folge von neoliberalen Großprojekten, wie durch die Rohstoffindustrie, berichten und deswegen kriminalisiert werden). „Green Blood“ wurde 2019 veröffentlicht, dort geht es um Skandale, die in Verbindung mit der Umwelt stehen, das „grüne Blut“ sozusagen. Es wird gezeigt, wie Journalist*innen leben, die Recherchen über Umweltzerstörung betreiben, vor allem im Bereich der Rohstoffindustrie. An dem Projekt waren Journalist*innen aus Tansania, Indien und Guatemala beteiligt. Die Journalist*innen erhielten Drohungen, einer wurde verbrannt, eine Journalistin musste ins Exil gehen. Und meine Geschichte in Guatemala war, dass ich meiner Arbeit in einer Situation der rechtlichen Verfolgung weiterhin nachging, aber verdeckt. Ich hatte einen Fuß im Gefängnis und den anderen draußen. Ich habe trotzdem meine Arbeit fortgeführt, weil es wichtig ist, sich zu äußern, Dinge aufzuzeigen und Einfluss zu haben. Für eine glaubwürdige Berichterstattung bedeutet dies, Beweise zu erbringen, damit es auch bei schwierigen Themen Informationen gibt. Es ist auch wichtig, dass die Geschichten nicht nur an einem Ort erzählt werden und dort verbleiben, sondern dass sie sich verbreiten. Ich denke, dass die Veröffentlichung von „Green Blood“ 2019 auch dazu beigetragen hat, die mediale Zensur zu dem Thema zu umgehen.

Am 25. Juni gab es in Guatemala allgemeine Wahlen. Wie schätzt du die Wahlergebnisse ein?

Zunächst ging man in Izabal und in anderen municipios (Großgemeinden) davon aus, dass es Unruhen geben würde. Denn ein Großteil der Bevölkerung ist unzufrieden mit dem System, mit der Regierung und mit dem Wahlbetrug, der sich seit langem abgezeichnet hat. Das ist die Meinung in den Gemeinden. Denn zunächst wurde die Präsidentschaftskandidatin Thelma Cabrera von der Bewegung für die Befreiung der Völker (MLP) durch Anzeigen aus dem Wahlprozess ausgeschlossen, dann folgten weitere Kandidat*innen.

Als ich in den Gemeinden unterwegs war, sagten sehr viele Leute, dass sie ungültige Stimmzettel abgeben wollten. Ich habe versucht, ihnen deutlich zu machen, dass diese Strategie uns nicht weiterhilft und sie dazu animiert, für die Würde zu stimmen. Denn es gab weiterhin Alternativen wie die sozialdemokratische Partei Semilla oder auch das linke Bündnis von URNG und Winaq. Die Wahlen wurden am Ende von viel Unmut seitens der Bevölkerung begleitet. Sandra Torres von der Partei der Nationalen Hoffnung (UNE) belegte den ersten und Bernardo Arévalo von Semilla den zweiten Platz.
Seit diesem Moment gibt es einen Hauch von Hoffnung, denn der Kandidat Arévalo hat eine politische Laufbahn und politische Kenntnisse vorzuweisen. Und zugleich ist es traurig, dass das MLP vom Wahlprozess ausgeschlossen wurde. Auch wurden in drei municipios Wahlzettel verbrannt. Es war die Absicht des Staates, die Stimmen für das politische Establishment zu verteidigen, aber die Menschen waren wütend und gingen dagegen auf die Straße. Auch in der Hauptstadt haben sie sich organisiert und dabei versucht, dass der Protest gewaltfrei verläuft. Die Menschen wollen, dass ihre Wahl respektiert wird. Denn so wie bisher können wir nicht weitermachen.

Wie hat die Regierung darauf reagiert?

Sie hat Polizei und Militär eingesetzt, zum Beispiel dort, wo Unternehmen sind, die Bergbau, Monokultur und Wasserkraftwerke betreiben. In Alta Verapaz zum Beispiel wurden Militär, Marineinfanterie und Luftwaffe eingesetzt. Die Streitkräfte dienen nicht der Bevölkerung oder dem Schutz des Lebens, sondern sie beschützen das Establishment. Ich denke, dass sich die Dinge verändern und dass sich gerade etwas bewegt, aber dass es dafür noch mehr bedarf. Am 20. August findet die Stichwahl der Präsidentschaftswahlen statt und am 21. August unsere Gerichtsverhandlung. Wir hoffen, dass das Verfahren eingestellt und der Termin nicht verschoben wird.

Gemeindeversammlung im Schatten der Konzerne

Amtsantritt mit Ansage Der neue Gemeinderat übt harsche Kritik an den Konzernen (Foto: Rita Trautmann)

Noch vor Sonnenaufgang treffe ich an einem Sonntag im März dieses Jahres vier Kolleg*innen von MADJ, eine der wichtigsten sozialen und politischen Menschenrechtsbewegungen in Honduras. Gemeinsam fahren wir mit einem Pick-up in die Gemeinde San Francisco de Locomapa der indigenen Tolupanes. Die bergige und waldreiche Region liegt im Distrikt Yoro im nördlichen Honduras. Vor allem aber ist sie sehr abgelegen und nicht einfach zu erreichen. MADJ hat mich als Vertreterin des Menschenrechtskollektivs CADEHO gebeten, sie bei der Fahrt zu einer Gemeindeversammlung als Menschenrechtsbeobachterin zu begleiten. Ich bin zum ersten Mal in Honduras, seitdem die linksgerichtete Partei LIBRE die Narco-Diktatur von Juan Orlando Hernández abgelöst hat und sehr gespannt auf die Veränderungen im Land unter der Präsidentin Xiomara Castro.

Nach einer Stunde Fahrt verlassen wir die asphaltierte Straße. Eine holprige Schotterpiste beginnt, die sich in Serpentinen die Berge hochschlängelt. Unterwegs durchqueren wir mehrere Flussläufe. An der ersten Flussdurchfahrt halten wir kurz an. Estefany Contreras, Anwältin der MADJ, zeigt auf die Berge: „Hier beginnt das Territorium der Tolupanes gemäß des bis heute gültigen Landtitels von 1864. Doch Anfang der 1990er Jahre, während der Regierung von Callejas, hat das nationale Agrarinstitut INA das Gebiet neu vermessen und es einfach verkleinert.“

Die Berghänge waren einst komplett von Kiefernwäldern bedeckt, jetzt sind sie mit entwaldeten Schneisen überzogen. „Das Holz ist begehrt und die Unternehmen dringen immer weiter in das indigene Territorium ein, um Holz zu schlagen“, erklärt Estefany weiter.

Doch nicht nur wegen der Holzvorkommen weckt das Gebiet der Tolupanes Begehrlichkeiten, es gibt auch Gold, Eisen und Antimon. Umso wichtiger ist eine juristische Vertretung der Gemeinden, die für den Schutz der natürlichen Ressourcen eintritt. Genau darum geht es in der heutigen Gemeindeversammlung. Nach zwölf Jahren soll endlich ein neuer Gemeinderat, der Consejo Directivo, für San Francisco de Locomapa gewählt werden.

Jede der 31 Tolupan-Gemeinden hat einen Consejo Directivo als legale Vertretung. Alle Tolupan-Gemeinden zusammen werden von der Föderation der Tolupanes, Fetrixy, repräsentiert.

Zur Gemeinde Locomapa gehören 22 Dörfer, die verstreut in den Bergen liegen. Wir kommen durch einige der Dörfer, die Ladefläche des Pick-up füllt sich schnell mit Menschen. Die Straße ist gesäumt von Menschengruppen, die sich auf den Weg zur Versammlung gemacht haben – häufig mit der ganzen Familie.

Würdevoll und rebellisch! Transparent der Versammlung für die Gerechtigkeit Tolupan (Foto: Rita Trautmann)

Als wir ankommen, werden wir bereits erwartet. Ramón Matute aus Locomapa ist erleichtert, dass MADJ mit mehreren Personen anwesend ist. Er ist einer der Kandidat*innen für den neuen Gemeinderat und betont die Notwendigkeit der Wahl. Die Mitglieder des bisherigen Gemeinderates hätten sich von den Unternehmen korrumpieren lassen. Gegen Geld gaben sie den Unternehmen die Erlaubnis zum Raubbau an der Natur. Das Geld sei jedoch nie der Gemeinde zugutegekommen. „Die Mitglieder des alten Consejo hatten kein Interesse, eine Gemeindeversammlung für eine neue Wahl einzuberufen. Aber damit muss Schluss sein, wir dürfen nicht unsere Lebensgrundlage verlieren“, sagt Ramón entschieden.

Die Gemeinden der Tolupanes gehören zu den ärmsten in Honduras. Die Menschen in den Gemeinden leben von dem wenigen, was der karge Boden hergibt. Mehr als 72 Prozent der Haushalte leben in extremer Armut, fast 40 Prozent der Häuser haben nicht einmal einen Wasseranschluss. Die Analphabet*innenrate ist höher als im restlichen Land. Gesundheits- und Bildungseinrichtungen sind in einem schlechten Zustand und nicht für alle Dörfer gut erreichbar.

Viele Bewohner*innen der Gemeinde Locomapa wollten seit längerem einen neuen Gemeinderat. Doch diejenigen, die sich gegen den alten Consejo stellten, wurden bedroht und eingeschüchtert. Es war ein langer und schwieriger Weg bis zur heutigen Versammlung. Denn offen gegen Unternehmen Stellung zu beziehen, ist gefährlich. Ramón Matute weiß dies. Im Februar 2019 wurden sein Vater und sein Bruder ermordet. Beide waren Landrechtsverteidiger*innen und gehörten MADJ an.

Den alten Gemeinderat abzulösen, ist eine klare Ablehnung der Machenschaften der Unternehmen. Deshalb hat die MADJ zwei weitere Menschenrechtsbeobachter*innen von Peace Watch Switzerland nach Locomapa gebeten. Dies zeigt, wie angespannt die Situation ist. Auf die staatlichen Sicherheitsorgane ist kein Verlass. Zwar wurden 18 Familien aus San Francisco Locomapa bereits 2013 von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission Schutzmaßnahmen zugesprochen, darunter fast allen Kandidat*innen. Doch meist hat die Polizei bei schweren Menschenrechtsverletzungen weggesehen und die Interessen der Unternehmen geschützt. Zur heutigen Gemeindeversammlung ist allerdings sogar die Polizei gekommen. Sie hält sich abseits und beobachtet das Geschehen.

Wer auf den Platz des Gemeindehauses will, wird vom Organisationsteam der Versammlung kontrolliert. Es wird befürchtet, dass Gegner*innen der Wahl bewaffnet zur Versammlung kommen und gewalttätig werden. Bei großer Mittagshitze beginnt die Versammlung. Es sind mehr als einhundert Menschen, die auf dem Vorplatz des Gemeindezentrums stehen, sich Luft zufächeln oder ihre Regenschirme gegen die Sonne aufgespannt haben. Die neuen Kandidat*innen, drei Frauen und fünf Männer, stellen sich vor. Es wird abgestimmt. Die Mehrheit stimmt für den neuen Consejo Directivo. Die Versammlung geht erstaunlich schnell und zum Glück reibungslos vonstatten. Anwältin Estefany Contreras von MADJ sorgt dafür, dass alle Dokumente der Wahl vollständig sind, damit der neue Consejo staatlich anerkannt wird.

„Wir unterstützen die Gemeinden aber nicht nur juristisch. Von großer Bedeutung ist die Aufklärung der Gemeinden über ihre Möglichkeiten gegen Korruption und Landgrabbing vorzugehen“ berichtet Estefany nach der Wahl. Dennoch ist es für viele Tolupanes schwierig, von ihren Rechten Gebrauch zu machen. Das geringe Bildungsniveau, aber auch die Diskriminierung der indigenen Bevölkerung sind Hindernisse. Wer nicht lesen und schreiben kann, darf Ämter wie die im Gemeinderat nicht einnehmen, egal wie engagiert die Person ist.

Nachdem alle Neugewählten das Protokoll unterschrieben haben, sind sie offiziell für die nächsten zwei Jahre im Amt. Ramón Matute ist jetzt Präsident des Gemeinderates. Doch glücklich wirkt er nicht. Ebenso wenig wie Rosa Adilia Vieda, die Vizepräsidentin und die weiteren sechs neuen Ratsmitglieder. Sie alle wissen, was ihre neue Funktion mit sich bringen kann. Dennoch haben sie sich zur Wahl gestellt und ihr Amt angetreten. Ihr Mut beeindruckt mich sehr.

Zum Abschied sagt Ramón: „Ich weiß, wie gefährlich es für uns ist. Ich habe erst gestern noch an einige der bereits Ermordeten gedacht und weiß, dass wir auf dem gleichen Weg sind. Aber wir können nicht aufgeben, wir wollen unser Territorium verteidigen.“ Mit gemischten Gefühlen machen wir uns auf den Rückweg, wieder mit einer Ladefläche voller Menschen. Die meisten von ihnen steigen in San Francisco Campo aus, einem symbolischen Ort für die Tolupanes. Im Jahre 2013 wurden hier drei Aktivist*innen ermordet. Gegenüber des Gedenksteins für die Toten soll ein kommunales Radio entstehen, ein Vorhaben des neuen Consejo. Zurück geht es wieder durch mehrere Flussläufe und Staub weht durch die offenen Fenster. Nach einem langen Tag mit intensiven Begegnungen kommen wir müde in San Pedro Sula an.

Bereits weniger als einen Monat nach der Wahl kommt es zu einem ersten Zwischenfall. Der Eigentümer des Holzunternehmen INMARE, Wilder Dominguez, versucht einen Teil der Bevölkerung von Locomapa dazu zu bringen, einen anderen, ihm genehmen Gemeinderat zu wählen, um weiterhin Holz schlagen zu können.

Der Plan des INMARE-Eigentümer scheitert, aber er spaltet die Gemeinde. Von Dominguez korrumpierte Gemeindemitglieder greifen Ramón Matute und Rosa Adilia Vieda gewaltsam an. Zur Sicherheit muss Rosa Adilia nach diesem Vorfall für einige Zeit außerhalb der Gemeinde leben. Ihre drei Kinder müssen solange bei den Nachbarn bleiben. Dennoch steht sie zu ihrer Entscheidung, sich wählen zu lassen: „Für mich ist es wichtig, dass auch Frauen im Consejo sind. Das ist ein Zeichen an alle anderen, dass wir Frauen auch für unser Land kämpfen können.“

Ein weiterer Monat vergeht, dann erhält Ramón Morddrohungen, als er mit dem Gemeinderat das Gebiet inspizierte, indem die Bergbaufirma Lachansa illegal operiert. Und leider ist davon auszugehen, dass dies nicht die letzte Morddrohung ist, die er in seinem neuen Amt erhalten wird. Denn seit den 1980er Jahren sind mehr als 100 Landrechtsverteidiger*innen der Tolupanes ermordet worden. Das ist eine erschütternde Bilanz. Die indigenen Gemeinden der Tolupanes fühlen sich in einer ausweglosen Situation, denn auf den Staat können sie nicht zählen und die Aktivist*innen werden bedroht und ermordet. Leider hat sich die Lage unter der Regierung von Xiomara Castro nicht geändert – für mich war dies ein ernüchternder Besuch vor Ort.

GEGEN DEN KONSENS

Nicht genug Versammlungen finden noch am 22. Streiktag statt (Foto: DHSF Cusco)

Die Bevölkerung in Espinar, einer zum Department Cusco gehörenden Provinz in den südlichen Anden, war von den Regierungsmaßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie besonders betroffen. Die über 100 Tage andauernde strikte Ausgangssperre, die der konservative Präsident Martín Vizcarra am 16. März verhängt hatte, traf vor allem Viehzucht und Landwirtschaft. Sie machen in der Provinz etwa ein Drittel der Wirtschaftskraft aus. Dennoch waren sie im Gegensatz zum Bergbau nicht in dem im April veröffentlichten Regierungsplan zur Wiederbelebung der Wirtschaft enthalten.

Aufgrunddessen einigten sich die Vereinigung der Stadtviertel und städtischen Ansiedlungen Espinars, des Salado-Flussgebiets und die Einheitsfront der Verteidigung sowie Vertreter*innen der Distriktbürgermeister*innen am 14. Mai auf eine gemeinsame Forderung, um die prekäre Situation vieler Bewohner*innen abzumildern. Sie forderten die Einmalzahlung von 1000 peruanischen Soles (umgerechnet rund 240 Euro, Anm. d. Red.) für 44 000 Personen. Das Geld sollte aus dem Entwicklungsfonds entnommen werden, der zwischen der Minengesellschaft Antapaccay, die zum multinationalen Glencore-Konzern gehört, und der Provinz Espinar besteht.

Seit 2003 besteht ein Abkommen, das die ökonomische Entwicklung der Region zum Ziel hat. Der Entwicklungsfonds soll laut Abkommen von städtischer, bäuerlicher, staatlicher und unternehmerischer Seite konsensuell verwaltet werden. Der zu entnehmende Betrag gehöre also nicht der Minengesellschaft, so Rolando Condori, Präsident des regionalen Kampfkomitees von Espinar, gegenüber dem peruanischen Journalismusportal OjoPublico. „Es handelt sich um einen Fonds aus dem geschlossenen Rahmenabkommen”. Ähnlich äußerte sich der Vertreter des Netzwerks von Entwicklungsorganisationen Red Muqui, Jaime Borda: “Es ist ein einvernehmlich geschlossener Vertrag. Die Fondsmittel sind kein Geschenk der Minengesellschaft, sondern ein Transferabkommen für einen Anteil der Gewinne aus der Mine. Daher verlangt die Bevölkerung, dass der Vertrag eingehalten wird”.

„Die Fondsmittel sind kein Geschenk der Minengesellschaft“

In den nachfolgenden Verhandlungen weigerten sich die Vertreter*innen Antapaccays mehrfach, den Transferleistungen zuzustimmen. Nach Ansicht des Unternehmens käme eine solche Verwendung der Gelder dem Vertragsbruch gleich. Als Gegenvorschlag unterbreitete es ein Maßnahmenpaket, das aus der Verteilung von Medikamenten, Nahrungsmitteln, der Einrichtung von kostenlosem Internet und einem Kreditfonds für wirtschaftlich angeschlagene Bauern und Bäuerinnen sowie Geschäftsinhaber*innen bestehen sollte.

Dieser Gegenvorschlag war für weite Bevölkerungsteile inakzeptabel, da er an ihren konkreten Bedürfnissen vorbeiging. Insbesondere, weil nur wenige Menschen die Direktzuwendungen der peruanischen Zentralregierung, den sogenannten bono universal, erhalten hatten, drängte die Lokalverwaltung Espinars weiter auf eine monetäre Lösung. Am 14. Juli riefen die Mitglieder des provinziellen Kampfkomitees von Espinar und die Einheitsfront der provinziellen Interessensvertretung schließlich den unbefristeten Streik aus. Nachdem die Polizeipräsenz in der Provinz massiv erhöht wurde, ließen die Konflikte zwischen Sicherheitskräften und den Protestierenden nicht lange auf sich warten. “Die Bevölkerung hat sich friedlich versammelt. Sie [die Polizei, Anm. d. A.] haben auf alle eingeschlagen. Es waren viele Einsatzkräfte aus Lima vor Ort. Unsere sozialen Proteste sind friedlicher Natur”, verurteilte Rolando Condori das Vorgehen der Polizei.

Die Regierung ist vor dem größten Arbeitgeberverband eingeknickt

Dem Bericht der Nationalen Menschenrechtskoordination (CNDDHH) und Human Rights without Frontiers zufolge wurden drei Personen durch scharfe Munition und acht weitere durch Schrotkugeln und Tränengas verletzt. Zeug*innen berichteten über die Anwendung von Folter bei 20 Festgenommenen. Außerdem veröffentlichte der nationale Journalistenverband ANP ein Statement, in dem berichtet wird, dass der Reporter Vidal Merma im Zuge der Proteste von der Polizei bedroht wurde. Neben bewährten Protestformen wie Straßenblockaden und Protestmärschen setzten sich die Demonstrierenden am 28. Juli, dem peruanischen Nationalfeiertag, demonstrativ über das geltende Versammlungsverbot hinweg und zogen durch die Provinzhauptstadt. Während Präsident Vizcarra in Lima die Ausweitung von Bergbauprojekten – unter anderem auch solche von Glencore – als Motor für den wirtschaftlichen Aufschwung anpries, gab man sich in Espinar kämpferisch. Sofern der Präsident nicht auf die Forderungen der Demonstrant*innen eingehen werde, würde „die Bevölkerung Maßnahmen ergreifen, um die Mine zu schließen“, sobald die Bevölkerung dies fordere, so Rolando Condori. Der Streik endete nach 24 Tagen, am 7. August, unter der Schlichtung des vorübergehenden Ministerratsvorsitzenden Pedro Cateriano. Jener war nur 20 Tage im Amt und wurde am 6. August durch den Ex-Militär Walter Martos abgelöst.

Konflikte zwischen der lokalen Bevölkerung und den Bergbaugesellschaften sind in Espinar keine Neuheit. Auch vor dem Rahmenabkommen 2003 hatte es Proteste gegen den Bergbau in der Region gegeben. 2012 wurde der Konflikt blutig, nachdem Bäuerinnen und Bauern über mit Schwermetallen verunreinigtes Land klagten: vier Personen kamen bei Protesten ums Leben. Trotz der Bergbauindustrie leben in der Region Espinar offiziellen Angaben zufolge 38 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze und 40 Prozent haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Die Zentralregierung Limas hat bisher meist die Interessen der Industrie vertreten, ohne auf die Bedürfnisse der andinen Bevölkerung einzugehen.

Der schwelende Konflikt wurde durch das Reaktivierungsprogramm der Regierung verschärft. Mittlerweile ist die Regierung Vizcarras vor dem größten Arbeitgeberverband, der Confiep, eingeknickt. In den ersten Monaten dieses Jahrs schien es zunächst so, als könne Vizcarra die Distanz zur Großindustrie wahren. Doch ab Ende Mai folgte die Regierung beinahe jedem Vorschlag der Confiep, wobei sich insbesondere die Wirtschaftsministerin María Alva exponierte. Seither liegt das Hauptaugenmerk der Regierung darauf, den Wiederaufschwung der Wirtschaft offensiv zu forcieren. So wurden nach und nach Geschäfte, Industrie und Einkaufszentren geöffnet, während Krankenhäuser unter der Last der vielen Covidpatient*innen kollabierten. Bisher sind nach offiziellen Zahlen der Regierung zufolge über 29 400 Menschen an oder mit einer Sars-Cov-2-Infektion gestorben, damit hat Peru die höchste Sterberate in Lateinamerika.

Konflikte um extraktive Projekte kommen nicht zur Ruhe

Als eine der ersten Wirtschaftsmaßnahmen wurden die extraktiven Industrien wieder auf volle Auslastung gebracht. Eindrücklich brachte Pedro Cateriano, der kurzzeitige Premier, den neuen Regierungsfokus auf den Punkt. In seiner Antrittsrede vor dem Kongress belebte er einen der kolonialen Leitsprüche der neoliberalen peruanischen Rechten („Peru, Land des Bergbaus“) wieder. Dies war einer der Gründe, warum ihm verschiedene Fraktionen im Parlament die Vertrauensfrage negativ beschieden: die populistischen Parteien „Wir können“ (Podemos) und Union für Peru (UPP), die Bauernpartei FREPAP sowie der Linksblock Breite Front (Frente Amplio) stimmten gegen ihn. Vizcarra musste daraufhin ein neues Kabinett ernennen.

Das Reaktivierungsprogramm ist der ausschlaggebende Grund dafür, dass Konflikte um extraktive Projekte nicht einmal während einer globalen Pandemie zur Ruhe kommen. Noch immer stehen Beschwerdeverfahren über Bergbauvorhaben aus, etwa gegen die Kupferbergwerke Tía Maria und Las Bambas in den südperuanischen Andendepartments Arequipa und Apurímac. Bei Protesten gegen die von vielen empfundene staatliche Vernachlässigung in der Krise sowie gegen die Ölförderung durch das kanadische Unternehmen Petrotal im Amazonasdepartment Loreto wurden in der Nacht zum 9. August drei Kukama von der Polizei erschossen. Die Kukama hatten unter anderem eine bessere Gesundheitsversorgung gefordert.

In Espinar ist seit der Schlichtung mittlerweile ein Monat vergangen und die sozialen Konflikte in der Region schwelen weiterhin. Währenddessen breitet sich das Virus weiter aus: In der Region gibt es über 1500 Infizierte und bereits 10 Tote. Viele Bäuerinnen und Bauern fordern Gerechtigkeit für die Opfer der Polizeigewalt. Das Gelände der Mine befindet sich derweil unter Polizeischutz.

DAS GUTE LEBEN, NUR EIN DISKURS



Foto: Privat

Oscar Campanini
ist Direktor der Nichtregierungsorganisation CEDIB aus Bolivien. CEDIB arbeitet für mehr Transparenz im Bergbau und anderen Großprojekten in Bolivien und beschäftigt sich unter anderem mit dem Thema Lithium.


 

Herr Campanini, Sie kritisieren Demokratiemangel in Boliviens Bergbau- und Rohstoffpolitik. Wie hat sich diese in den letzten Jahren verändert?
So wie die meisten lateinamerikanischen Länder ist auch Bolivien historisch mit dem Rohstoffexport verbunden. Die Wirtschaft des Landes basiert größtenteils auf Extraktivismus und birgt somit eine hohe Rohstoffabhängigkeit. Anstatt die Wirtschaft zu diversifizieren, wurden politische Machtstrukturen innerhalb des Rohstoffsektors geschaffen, welche Armut und Diskriminierung bis heute begünstigen. Die Hoffnung auf eine Transformation dieser Strukturen wurde nach fast 14 Jahren Amtszeit des Präsidenten Evo Morales enttäuscht.
Rohstoffausbeutung wurde mit einer Kapitalanlagenmaximierung für eine stärkere Sozialpolitik gerechtfertigt. Auch der Wunsch nach Entwicklung trieb diesen Prozess immer weiter voran.
Mit der Politik des Wachstums sind enorme sozio-ökologische Auswirkungen verbunden. Besonders betroffen sind indigene Gruppen, die direkt unter den ökologischen Auswirkungen des Bergbaus leiden. Um Widerstand zu unterbinden, wendet die bolivianische Regierung verschiedene Strategien an. Die Betroffenen werden zum Schweigen gebracht, Menschenrechte werden missachtet.

Die Auswirkungen auf Menschen − insbesondere wenn sie Sorgearbeit verrichten, welche traditionell Frauen zugeschrieben wird − werden in der Beschäftigung mit dem Extraktivismus und seinen Folgen nur selten beleuchtet.
Die Auswirkungen sind für Frauen auf jeden Fall anders, aber es gibt auch viele Gemeinsamkeiten. Wenn extraktivistische Projekte geplant werden, geht das oftmals mit großen Versprechen für die Regionen einher, wie zum Beispiel Arbeitsplätzen oder anderen wirtschaftlichen Vorteilen, die nicht immer eingehalten werden. Zuallererst zerstören diese Projekte die produktiven und organisatorischen Strukturen der Gemeinschaften. Wenn eine Gemeinde beispielsweise von der Landwirtschaft lebte, wird diese dann nur noch spärlich betrieben, um sich stattdessen extraktivistischen Projekten zu widmen. Dadurch profitieren die Familien zwar erst einmal wirtschaftlich, aber die Produktion von Lebensmitteln funktioniert nicht mehr und die Lebensgrundlage der Gemeinde verändert sich vollkommen. Auch die Organisation der Gemeinschaften ist am Ende nicht mehr dieselbe. Die Gemeinschaft ist traditionell am Wohlergehen aller Mitglieder orientiert. Die Unternehmen, die extraktivistische Projekte planen, nehmen jedoch Einfluss auf deren Repräsentanten und sorgen dafür, dass diese die unternehmerischen Belange wiederum nach innen hin vertreten und Einfluss auf die Gemeinden nehmen, um sie von den Projekten der Unternehmen zu überzeugen. So werden die organisatorischen Strukturen der Gemeinden völlig unterlaufen und ihre Strukturen für die Zwecke des Extraktivismus instrumentalisiert. Verheerend sind auch die Auswirkungen auf die Umwelt, insbesondere auf das Wasser, und das bekommen leider ganz besonders Frauen zu spüren. Männer, welche meistens ökonomischen Tätigkeiten nachgehen, bekommen davon wenig mit, weil sie außerhalb der Haushalte arbeiten und diese Probleme nicht selbst erleben.

Haben Frauen deswegen auch eine besondere Rolle im Widerstand gegen diese Praktiken?
Ganz genau. In den letzten 15 Jahren des sozialen Widerstands waren es vor allem Frauen, die auf fundamentale Probleme aufmerksam gemacht haben. Es hat seine Vor- und Nachteile, dass Frauen traditionell enger mit den Familien leben und daher besorgter um die Zukunft ihrer Kinder und die ihrer Gemeinde sind. Deswegen übernehmen Frauen immer häufiger die Rolle von Anführerinnen ihrer Gemeinden und gehen die Probleme anders an als Männer, die wegen ihrer ökonomischen Perspektive und aufgrund von Sexismus die Dinge nicht so klar sehen wie sie. In vielen wichtigen Organisationen sind Frauen jetzt die wichtigsten Akteurinnen und die Anführerinnen des Widerstands geworden.

Wie beurteilen Sie die Idee eines Entwicklungsmodells, welches Wohlstand durch die Ausbeutung von natürlichen Ressourcen erreichen will? Braucht Bolivien überhaupt eine „Entwicklung“?
Seit einiger Zeit gibt es in Bolivien eine Debatte darüber, was Entwicklung eigentlich ist. Auch in Deutschland gibt es ein Bewusstsein für diese Fragen, was man zum Beispiel am Thema der Elektroautos sehen kann. Dabei geht es aber nur um eine Transformation im Bereich der Energiequellen, das System des Konsums jedoch bleibt bestehen, die Idee der Entwicklung unangetastet. In Bolivien diskutieren wir die Frage, welche Entwicklung wir eigentlich wollen, und wissen auch, dass wir in jedem Fall ökonomische Ressourcen brauchen, die wir besonders leicht aus dem Handel mit anderen Ländern beziehen können. Die Frage ist vor allem, was wir dann mit diesen Ressourcen anstellen. Natürlich brauchen wir Bildung, ein funktionierendes Gesundheitssystem und viele andere Dinge, die die entwickelten Länder haben. Aber zu welchem Preis? Das verhandeln und analysieren wir aktuell in Bolivien.

Lithium, das in Bolivien im großen Stil abgebaut wird, wird derzeit in vielen Ländern des Globalen Nordens als Wegbereiter für eine internationale Energiewende gefeiert und findet Einsatz im Bereich der Elektromobilität. 2018 hat Bolivien einen 1,3-Billionen-Dollar-Deal mit der deutschen Firma ACI im Bereich der Lithiumausbeutung geschlossen. Zu welchem Preis bekommt Deutschland die vermeintlich saubere Energie?
Deutschland und die EU sorgen sich um die Erhaltung der eigenen Energiesicherheit. Von Bolivien brauchen sie Rohstoffe, um die eigene nationale Industrie und Entwicklung voranzutreiben. Die Umwelt nimmt nur insofern eine wichtige Rolle ein, da sie die Rohstoffe bereitstellt. Die Ökosysteme, in denen dieser Rohstoff auffindbar ist, sind mit indigenen Territorien verbunden. Das ist die Lebensgrundlage der ansässigen Menschen, und umgekehrt wird das Land auch von seinen Bewohnern instand gehalten. Deutschland interessiert sich für den Rohstoff, jedoch nicht für die auf dem Fördergrund lebende Bevölkerung. Landvertreibung und die Beschneidung von Menschenrechten sowie die Beschädigung der Ökosysteme hängen also mit der vermeintlich nachhaltigen Energie zusammen. Die damit zusammenhängende Ausbeutung von Rohstoffen, in diesem Fall Lithium, führt zu erhöhtem Abbau im Sinne von weiterem Wachstum.

51 Prozent des Umsatzes soll Bolivien erhalten − dient dieser Gewinn zum Aufbau einer eigenen Industrie? Welche Folgen hätte dies?
Seit vielen Jahren gibt es bereits Pläne zur Industrialisierung Boliviens. In der Vergangenheit investierte die Regierung in viele verschiedene Sektoren, um diese weiter voranzubringen. Aufgrund des bisherigen Scheiterns der Industrialisierung anderer Sektoren, gilt Lithium derzeit als vielversprechendster Bereich. Es wurde bereits viel Geld aus der bolivianischen Staatskasse, aber auch durch ausländische Investoren bereitgestellt, um diese Industrie zu entwickeln.
Der 2018 mit Deutschland geschlossene Vertrag verspricht ein innovatives Projekt zur Lithiumgewinnung, in dem es bisher so scheint, als ob von diesem alle profitieren könnten. Es gibt jedoch Unstimmigkeiten. Ein Problem sind die genannten ökologischen Folgen. Die Wassermengen, die von den Kraftwerken benötigt werden, sind trotz neuer Technologien riesig. Der Verbrauch der Wasserreserven wird sich nicht nur auf Salar de Uyuni auswirken, sondern die gesamte Region betreffen und das Ökosystem stark beschädigen. Diese drastischen Folgen hat Bolivien bisher noch nicht erkannt. Eine weitere Sorge ist, ob die Wertschöpfungskette wirklich in Bolivien bleibt. Das Versprechen nationaler Wertschöpfung ist zwar Teil des Vertrags zwischen ACI und Bolivien, jedoch gibt es viele alarmierende Signale, dass dies nicht wirklich so sein wird. Es ist bereits bekannt, dass Deutschland einen aktuellen Fond mit mehreren Millionen Euro bereitstellt, um eine eigene Lithiumverarbeitungsindustrie aufzubauen. Das lässt natürlich Raum für Sorge, ob das Interesse an einer nachhaltigen Wertschöpfungskette innerhalb Boliviens wirklich besteht.

Wenn wir uns Ihre bisherige Bilanz der Rohstoffpolitik Boliviens ansehen, drängt sich die Frage auf, was eigentlich aus dem Vivir Bien geworden ist.
Leider ist all das bloß ein Diskurs geblieben. So, wie die Idee des Vivir Bien eigentlich konzipiert wurde, ist sie konträr zum Entwicklungsbegriff − und doch wurde sie in diesem Gesetz einfach zum Grundstein einer „integralen“ Entwicklung erklärt und so in eine Entwicklungsagenda integriert. Die natürlichen Ressourcen stehen deswegen immer noch im Dienst einer ökonomischen Entwicklung von Wachstum durch den Export von Rohstoffen. Eine richtige Transformation hat nie stattgefunden. Was wir sehen ist lediglich eine Transformation von Diskursen über das Vivir Bien.

Bolivien ist im Moment der letzte Staat, der den socialismo del siglo 21 (Sozialismus des 21. Jahrhunderts) mit einer gewissen Stabilität weiterführt. Was denken Sie über die Entwicklung der Linken in Lateinamerika?
Ich verstehe diese Welle progressiver Regierungen als Produkt von sozialen Bewegungen, die sich gegen den Neoliberalismus auf dem Kontinent zur Wehr gesetzt haben und nach politischen Alternativen suchten. Im besten Fall haben diese jedoch ein paar Umverteilungsmaßnahmen erreicht – mehr nicht. Es gab einige Versuche von Verstaatlichungen, in Bolivien beispielsweise von Gas, aber dieses wird von transnationalen Unternehmen kontrolliert, deswegen konnte das Projekt nicht gelingen. Die Erträge wurden zwar umverteilt, die größten Gewinne blieben jedoch noch immer bei den transnationalen Unternehmen. Strukturelle Veränderungen haben aber leider keine der progressiven Regierungen wirklich erreicht, und deswegen sind sie gescheitert. Momentan schlägt die Rechte zurück. Das ist die logische Konsequenz des Versagens der Linken. Diese Entwicklung beunruhigt uns sehr. Was zum Beispiel gerade in Venezuela geschieht, wird mit Sicherheit einen Einfluss auf ganz Lateinamerika haben.

 

SCHEITERN DER ERDÖLGESELLSCHAFT

Seit sich Juan Guaidó in Venezuela am 23. Januar eigenhändig zum Interimspräsidenten erklärt hat, beherrscht das südamerikanische Land die Schlagzeilen. Die US-Regierung drängt auf einen Sturz des amtierenden Präsidenten Nicolás Maduro und hält sich erklärtermaßen auch eine militärische Option offen. Doch jenseits dieser aus linker Perspektive strikt abzulehnenden Politik steht die 1999 unter Hugo Chávez begonnene und nach dessen Tod 2013 von Maduro weitergeführte „Bolivarische Revolution“ vor einem Scherbenhaufen. Zwar war der politische Prozess von Beginn an mit gehörigen internen und externen Widerständen konfrontiert. Doch könne das Scheitern „nur dann adäquat verstanden werden, wenn man sich mit den Folgen der Rohstoffabhängigkeit für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft beschäftigt“, schreibt der Politikwissenschaftler Stefan Peters in seinem neuen Buch „Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Venezuela“.
Dieses erklärt, wie die venezolanische Wirtschaft seit fast 100 Jahren um die Verteilung der Erdöleinnahmen kreist. Dadurch haben sich wirtschaftliche, soziale und kulturelle Muster verfestigt, die nur schwer zu durchbrechen sind. Die wirtschaftlichen Akteur*innen richten ihre Anstrengungen vornehmlich darauf aus, sich ein Stück des staatlich verwalteten Erdölreichtums einzuverleiben. Dementsprechend basiert ökonomischer Erfolg „nicht primär auf Innovation und Produktivitätssteigerungen, sondern auch und vor allem auf dem privilegierten Zugang zum Staat.“
An dem Ziel, die Wirtschaft zu diversifizieren, sind in den vergangenen Jahrzehnten mehrere Regierungen unterschiedlicher ideologischer Couleur gescheitert. Unter Chávez bedeutete dies, dass viel Geld in landwirtschaftliche und urbane Kooperativen sowie staatliche Unternehmen geflossen ist, von denen sich die meisten nicht annähernd alleine erhalten konnten. Tatsächlich glich dessen Wirtschaftspolitik in vielen Punkten jener seiner Vorgänger, war also, wie der Autor resümiert „weitaus weniger revolutionär als Anhänger wie Gegner unterstellen.“ Dazu zählen auch die Devisen- und Preiskontrollen, die für Venezuelas nichts grundsätzliches Neues sind und die negativen Effekte einer Rentenökonomie bis ins Unermessliche steigern, indem sie enorme Mitnahmeeffekte ermöglichen.
Mit der rechten Opposition würde sich an den strukturellen Problemen nichts ändern, sondern schlicht eine andere Klientel an die Erdöltöpfe gelangen. Einen zeitnahen Regierungswechsel hält Peters in seinem vor der jüngsten Eskalation geschriebenen Buch für das wahrscheinlichste Szenario. Nach einem dann absehbaren Aufschwung werde aber ebenso sicher „auch die nächste Krise kommen.“
Der Autor widmet sich einem Thema, das in der Debatte über Venezuela auf eine gewisse Art und Weise schon immer präsent gewesen ist, mit dem sich aber die Wenigsten tiefergehend beschäftigt haben. Mit seiner glänzenden Analyse der bolivarischen Revolution zeigt Peters eindrücklich auf, dass deren Niedergang weder die Folge von „Sozialismus“ noch eines „Wirtschaftskrieges“ ist, sondern sich aus den Strukturen der erdölbasierten Rentengesellschaft heraus erklären lässt. Dabei hat er stets die Bedeutung für andere rohstoffreiche Länder des globalen Südens im Blick. Diese sollten sich das venezolanische Beispiel genau ansehen, um aus dessen Fehlern für zukünftige soziale Transformationsprozesse zu lernen.

 

IRRWEG EXTRAKTIVISMUS

Welche Positionen konntet ihr bei der Klimakonferenz einbringen?
An erster Stelle ist es sehr wichtig, dort als Vertreter der Zivilgesellschaft hinzufahren und zu hören, was unsere Regierung sagt. Was verlangt sie? Bekommt sie Geld und wenn ja, wofür? In unserer Geschichte hat unsere Regierung uns nie erlaubt, Teil ihrer Delegation zu sein. Die mexikanische Delegation hat die Tradition, fünf NGO-Abgesandte in ihre Delegation aufzunehmen. Da unsere Regierung das nicht macht, versuchen wir mit Kollegen aus anderen Staaten wie Deutschland, Niederlande, Belgien oder Parteien wie zum Beispiel den Grünen, zu sprechen. Sie informieren uns über die Verhandlungen. Außerdem arbeiten wir mit anderen NGOs zusammen, besonders Fraueninitiativen aus Lateinamerika oder der Internationalen Vereinigung der ökologischen Landbaubewegungen in Bonn (IFOAM).

Was war die offizielle nicaraguanische Position?
Die Delegation bestand nur aus zwei Männern, die Vertreter der Regierung Paul Oquist und Javier Gutiérrez. Die zwei haben wir nicht gesehen, im Plenum blieb der Platz für Nicaragua unbesetzt. Man war anscheinend die ganze Zeit mit dem Green Climate Fund (GCF) beschäftigt. Dieser ist sehr wichtig, da er die Gelder des Pariser Klimaabkommens für Klimaprojekte in den ärmeren Ländern verwaltet. Die Entscheidungen des GCF werden sehr intransparent getroffen, obwohl dort über die Verwendung mehrerer 100 Millionen US-Dollar entschieden wird. Zur Einordnung der Rolle unseres Landes: Nicaragua hatte das Pariser Klimaabkommen zunächst nicht unterschrieben und sich auf das Anklagen der großen Klimasünder USA und EU beschränkt. Dadurch bekam Nicaragua politische Aufmerksamkeit. Nach dem Umschwenken Nicaraguas und der Unterzeichnung des Abkommens 2017 wurde ihr Delegationsleiter Oquist dann zum Vize-Präsidenten des GCF gemacht.

Nutzt die nicaraguanische Regierung Klimagelder für andere politische Interessen?
Ich denke schon. In erster Linie will sie Werbung für die eigene Regierung machen und sich gegen die internationale Isolierung wehren. Nicaragua hat in den letzten Jahrzehnten viel Geld bekommen – von europäischen Staaten, von der UNESCO – aber mit der Umwelt geht es ständig bergab. Politiker sind straflos in Umweltskandale verwickelt: Das staatliche Unternehmen Alba Forestal fuhr 2017/2018 ununterbrochen wertvolles Holz aus den Naturschutzgebieten des Nordens ab, dem Besiedeln dieser Naturschutzgebiete in Nord- und Süd-Nicaragua wird kein Riegel vorgeschoben. Im Gegenteil, illegale Siedler werden beim Rauben von indigenem Land noch unterstützt, teilweise mit Waffengewalt.

Wird das Ergebnis der Klimakonferenz einen Einfluss auf den Umweltschutz in Nicaragua haben?
Kattowitz könnte einen negativen Einfluss auf Nicaragua haben, denn die Konferenz bedeutet Macht und Geld für die Regierung und nicht für die Zivilgesellschaft. Die Klimagelder werden an die Regierung überwiesen und kommen bei den Basisinitiativen, die tatsächlich für Umwelt und Klima arbeiten, nicht an. Diese werden sogar verfolgt oder verboten.

Welche Relevanz hat dabei insebsondere der Klimaschutz in der Region?
Natürlich trägt Nicaragua zur globalen Erwärmung ungeheuer wenig bei, aber das befreit uns nicht von der Pflicht, auch unser Verhalten entsprechend zu ändern. Vor allem aber geht es für die betroffenen, armen, äußerst verletzlichen Länder wie den mittelamerikanischen darum, die nicht mehr aufhaltbaren Folgen abzumildern. Ein Beispiel ist, die Bewaldung zu erhalten, die Landwirtschaft auf Agroforstwirtschaft umzustellen und vieles mehr. Stattdessen erlaubt die Regierung das Abholzen, die Verschwendung, die Vergiftung und das Versiegen der Gewässer. Auch in diesem ungeheuer wichtigen Bereich zur Erhaltung der Lebensgrundlagen ist das Regime unwillig und unfähig. Die neoliberalen Vorgängerregierungen konnten wir durch unsere Kritik stark unter Druck setzen. Die jetzige schießt.

Kannst du uns mehr über eure Arbeit als Umwelt-NGO in Nicaragua erzählen?
Wir sind schon lange als Umwelt-NGO in Nicaragua aktiv – schon seit mehr als 30 Jahren. Verschiedene NGOs haben sich nun zusammengetan, um zum Beispiel auf die Folgen des geplanten Kanalprojekts aufmerksam zu machen und auf den generellen Irrweg des Extraktivismus. Wir versuchen, die Bauernfamilien zu unterstützen, sie zu informieren und praktische landwirtschaftliche Widerstandsarbeit mit ihnen zu initiieren. Deswegen sind wir auch in Gefahr, da die Regierung unsere Arbeit als Anstiftung zum Aufruhr wertet.

Wie hat sich der politische Druck auf euch in den letzten Jahren verändert?
Die Bauern haben seit dem Gesetz zum Kanalbau mit Protesten angefangen, sich organisiert und mit uns zusammengearbeitet. Wir haben die gesamten wissenschaftlichen Informationen und Forschungsergebnisse, aus denen hervorgeht, warum vorherige Vorhaben für einen Kanal durch Nicaragua nicht umgesetzt wurden, gesammelt, analysiert und den Bauern gegeben. Die Bauerngruppen haben sich zu einem Dachverband zusammengeschlossen, 25 Vertreter von Kommunen bilden diesen Rat. Von ihnen sind heute sechs Anführer im Gefängnis, andere leben im Exil oder verstecken sich. Sie hatten protestiert und sind mit LKWs von ihren Dörfern bis Managua gezogen. Auf die Demonstrationen antwortete die Regierung mit Polizeigewalt. Der politische Druck hat sich 2018 in einen polizeilichen, militärischen bewaffneten Druck verändert und das bei der Außerkraftsetzung aller anwendbaren Gesetze und Vorschriften.

Was wäre eine Forderung an Deutschland und europäische Staaten, wie eure Arbeit unterstützt werden könnte?
Wir als NGOs kriegen zum Teil Geld von europäischen Regierungen durch Stiftungen. Dieses Geld bekommen bisher nur Organisationen, die den Status einer juristischen Person haben. Immer mehr nicaraguanische NGOs verlieren diesen Status durch aktuelle Maßnahmen der Regierung. Sie werden enteignet, von den Bankkonten über die Büroeinrichtung bis zu ihren Gebäuden. Aktivisten werden verfolgt, immer mehr müssen fliehen oder sich verstecken. Wie können wir als „nicht eingetragene Vereine“ weiterhin Geld und Unterstützung aus Europa bekommen? In Zukunft müssen die Verwalter der Gelder für NGOs natürliche Personen sein – gegenseitiges Vertrauen und neue Methoden des Transfers und der Abrechnung müssen her. Aus den Erfahrungen mit anderen Diktaturen – wie unter Pinochet, während der Apartheid oder DDR – und der Hilfe für die Widerstandsarbeit gibt es sicher einiges zu lernen. Für Nicaragua bräuchten wir Solidarität, dass Unterstützer in Deutschland, die deutsche Regierung und andere in Europa uns helfen. Denn wenn es so weitergeht, können wir nicht nur enteignet werden, sondern auch als „Terroristen“ im Gefängnis landen. Wir brauchen größtmögliche Aufmerksamkeit, direkte materielle Hilfe sowie politischen und ökonomischen Druck auf das Regime. Die zurückgewiesene „Einmischung in interne Angelegenheiten” ist nur ein Trick des Regimes, um die Solidarität aufzuhalten.

 

„WIR WISSEN NICHT, OB WIR NOCH IM LAND ARBEITEN KÖNNEN.”

Darci Frigo, Gründer undKoordinator der Organisation Terra de Direitos und Vizepräsidentdes brasilianischen Nationalen Rates für Menschenrechte (Foto: Cleia Viana_Câmara dos Deputados)

Ihre Organisation Terra de Direitos leistet juristische Unterstützung in Landkonflikten. Insbesondere ist sie im Bundesstaat Pará aktiv, wo es die meiste Gewalt im ländlichen Raum gibt. Der rechtsradikale Präsidentschaftskandidat Jair Bolsonaro hat angekündigt, dass er die Aktionen der Landlosenbewegung MST wie terroristische Taten behandeln wird. Am Sonntag vor der Wahl hat er erklärt, dass er das Land von linken Aktivist*innen „säubern“ will. Wie bewerten sie die Situation ihrer Organisation, Terra de Direitos, und der Menschen, die sie verteidigen, sollte Bolsonaro gewinnen?
Die Drohungen Bolsonaros gegen alle linken Aktivisten sind sehr ernst zu nehmen. Er hat ja schon einzelne Organisationen benannt, gegen die er vorgehen will. Er will die zivilgesellschaftlichen Kräfte isolieren, um Wirtschaftsprojekten, die gegen die Verfassung und die Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte verstoßen, Tür und Tor zu öffnen. Insgesamt ist das eine sehr beunruhigende Situation, die alle Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen im Land betrifft. Es handelt sich um einen Angriff, der in der brasilianischen Demokratie noch vor zwei oder drei Jahren unvorstellbar war. Mit dem Impeachmentverfahren gegen Dilma Rousseff kamen diese Kräfte auf und wurden immer stärker. Durch die Korruptionsskandalen der letzten Jahre haben die traditionellen rechten Politiker ihre Glaubwürdigkeit verloren. Angesichts der sozialen, ökonomischen und politischen Krise, die Brasilien durchlebt, will die Bevölkerung einen Kandidaten, der verspricht, alles anders zu machen. Und so hat sich Bolsonaro immer präsentiert: Als der Kandidat, der es anders machen wird. Aber was er anbietet ist eine schreckliche Veränderung: Er hat mehrfach erklärt, dass er die demokratischen Institutionen nicht respektiert. Wir in den Menschenrechtsorganisationen sind nun sehr besorgt, sowohl um das Leben der Menschen, die sich in Konfliktsituationen befinden, als auch um das Fortleben unserer Organisationen.

Gewalt gegen linke Aktivist*innen und in Landkonflikten gab es in Brasilien ja auch in den letzten Jahrzehnten. Was ist das Neue an der Gewalt, die nun mit Bolsonaro droht?
Seit dem Impeachment von Dilma versucht das Agrobusiness jede Politik, die weitere Territorien von indigenen und andere traditionellen Bevölkerungsgruppen anerkennt, zu verhindern. Nach der Absetzung von Dilma Rousseff hatten die Farmer weniger Hemmungen, um im Landkonflikten Gewalt einzusetzen. In den Jahren 2012 und 2013 gab es pro Jahr um die 30 Morde im Kontext von Landkonflikten; also Morde an Aktivisten, Gemeindeanführern und so weiter. Im Jahr 2017 waren es 70 Morde. Mit dem Impeachment hat sich also die Gewalt auf dem Land praktisch verdoppelt. 80 bis 85 Prozent dieser Morde fanden im südlichen Teil Amazoniens statt, in den Bundesstaaten Rondônia, dem Norden von Mato Grosso, Pará und Tocantins, also dort, wohin die Agrarindustrie expandiert, dort wo es viele ungelöste Landkonflikte gibt und die meisten Rodungen stattfinden.
Die Gewalt in dieser Region ist bereits jetzt sehr extrem. Aber Bolsonaro beschimpft die staatlichen Kontrollbehörden wie das Umweltministerium IBAMA als linke Extremisten, die nur die Agrarindustrie behindern. Er behauptet, sie würden die Farmer und die Leute, die Wald roden, verfolgen. Bolsonaro will der Agrarindustrie die totale Freiheit geben, um den Amazonas-Regenwald zu zerstören.

Brasiliens Wirtschaft hängt zu 49 Prozent vom Export von Rohstoffen ab. Hauptsächlich handelt es sich um Erze und Soja: Das sind ja auch die Waren, die Amazonien am meisten bedrohen. Die geplanten Staudämme am Fluss Tapajós sollen ja auch eine Wasserstraße herstellen, um diese Rohstoffe aus dieser Region besser abtransportieren zu können. Ende 2016 wurde ja der Bau des größten dort geplanten Staudamms, São Luiz do Tapajós, durch das Umweltministerium IBAMA und die Indigenenbehörde FUNAI verhindert. Glauben Sie, dass diese Pläne mit Bolsonaro wieder auf den Tisch kommen?
Es reicht schon, wenn das Wirtschaftswachstum in Brasilien wieder anzieht, und diese Pläne kommen erneut auf den Tisch. Dann steigt wieder der Energiebedarf und dann kann das Thema wieder aktuell werden. Derzeit wird ja weiterhin die Fernverkehrsstraße BR-163 asphaltiert, die von den Sojaanbaugebieten in Mato Grosso zum Hafen Miritituba am Río Tapajós im Bundesstaat Pará führt. Von dort können die Rohstoffe aus dem Süden Parás und Mato Grosso über den Hafen Santarém verschifft werden. Man sagt, das sei der beste logistische Knotenpunkt für das Landesinnere, weil man über diese Route besser die Absatzmärkte in Nordamerika, Asien und Europa erreicht, als über die bisherige Route, über den Hafen von Santos in São Paulo. Diese ganzen Pläne fußen aber auf der Vorstellung, dass die brasilianische Wirtschaft Rohstoffe exportieren muss, um sich zu entwickeln, anstatt die Binnennachfrage anzukurbeln. Und dieses Entwicklungsmodell führt zu massiver Gewalt bei Landkonflikten und der Zerstörung des Regenwaldes in dieser Region. Insbesondere der Bergbau in dieser Region ist die größte Bedrohung für die ländliche Bevölkerung dort, für Indigene und andere traditionelle Bevölkerungsgruppen. Diese Pläne sehen praktisch vor, die ganze Region in einen einzigen Tagebau zu verwandeln, so viele Projekte liegen bereits vor. Dieser relativ kleine, aber sehr weit verbreitete Bergbau ist meines Erachtens eine größere Gefahr als die großen Wasserkraftwerke, denn er breitet sich auf dem ganzen Territorium aus.

Was denken Sie, wie sieht Brasiliens Zukunft mit Bolsonaro als Präsidenten aus?
Wie sich Bolsonaro konkret als Präsident verhalten wird, kann keiner sagen. Er nimmt an keinen Debatten teil, seine Forderungen sind sehr allgemein gehalten. Er erklärt nicht, wie er sie konkret umsetzen will. Er propagiert einen Antikommunismus wie aus Zeiten des Kalten Kriegs und predigt Hass, damit mobilisiert er die Leute. Dass er damit Erfolg hat, ist auch dem Versagen der bisherigen demokratischen Regierungen geschuldet, die die Verbrechen der Militärdiktatur, die militärische Struktur der Polizei und so weiter aufgearbeitet haben. Es scheint so, als ob sich diese alten Kräfte dafür rächen wollen, dass es eine Redemokratisierung gab und die Armen auf einmal mehr gesellschaftlich teilhaben. Die Armen werden als Feinde dargestellt, und man weiß nicht mal, Feinde von was oder wem sie sein sollen. Die Demokratisierung war in Brasilien abgeschlossen. Die Armen wurden der Gnade des organisierten Verbrechens überlassen. Und die Mafias, wie Comando Vermelho und Primeiro Comando da Capital, drängen immer mehr aus ihren angestammten Gebieten, in Rio de Janeiro und São Paulo, in den Norden des Landes. Die arme Bevölkerung wird so praktisch zu Geiseln dieser Verbrecher. Und diese Bevölkerung wählt dann Bolsonaro, denn der verspricht ihnen einen leichteren Zugang zu Waffen und dass er mit Gewalt gegen diese Kriminellen vorgehen wird. Aber jetzt redet Bolsonaro kaum noch davon, mit Gewalt gegen das Verbrechen vorzugehen. Er redet nur noch über die Gewalt, die er gegen linke Aktivisten anwenden will. Das ist ernst zu nehmen! Auf Whatsapp verabreden sich bereits Bolsonaro-Anhänger, um nach der Wahl Aktivisten zu terrorisieren.

Wenn er wirklich gegen den Drogenhandel vorgehen wollte, müsste er gegen die Farmer*innen vorgehen…
Da besteht ein eindeutiger Widerspruch bei Bolsonaro. Sein Sohn hat sich mehrfach mit Politikern in Rio de Janeiro getroffen, die mit der Mafia in Zusammenhang stehen. Und auf dem Land ist die Situation schon dramatisch. Viele Farmer haben bereits Milizen, die in Landkonflikten die arme Landbevölkerung terrorisieren. Bolsonaro möchte ihnen den Zugang zu Waffen noch erleichtern und verspricht ihnen, mit totaler Freiheit zu agieren. Keine Polizei der Welt tötet mehr Menschen im Einsatz, als die brasilianische und Bolsonaro will der Polizei noch die Lizenz zum Töten erteilen. Er will die Möglichkeit abschaffen, dass ein Polizist, der im Einsatz jemanden tötet, dafür belangt wird. Das alles zusammen ergibt eine explosive Mischung für Brasilien.

Wenn man das alles berücksichtigt, wie bewerten Sie die Möglichkeit für einen effektiven Widerstand gegen Bolsonaro? Und wie können wir hier in Deutschland Solidarität leisten?
Wir haben sehr wenig Zeit, um uns darauf vorzubereiten. Wir können nicht bis Januar abwarten, wenn Bolsonaro das Amt übernimmt. Alles weist darauf hin, dass die zu erwartende Explosion der Gewalt früher beginnt. Die jetzige Regierung ist sehr schwach. In Wirklichkeit wird sie von General Sergio Etchegoyen aufrecht erhalten.
Wir haben sehr wenig Zeit, um zu überlegen, wie wir Menschenrechtsverteidiger schützen können. In den letzten Tagen haben wir den Führungspersönlichkeiten von sozialen Bewegungen mitgeteilt, dass sie nicht mehr alleine herumlaufen sollen, dass sie darauf acht geben müssen, welche Informationen sie von sich preisgeben und so weiter. Der ganze zivilgesellschaftliche Aktivismus ist gefährdet. Am Sonntag vor der Wahl hatte Bolsonaro in einer Rede ja angekündigt, „mit dem Aktivismus Schluss zu machen“. Die Zivilgesellschaft in Brasilien mobilisiert schon den Widerstand dagegen, aber die Gefahr für einzelne Personen ist groß. Wir haben bereits die UNO und die Organisation Amerikanischer Staaten über die besorgniserregende Situation informiert. Es besteht die Gefahr, dass wir wieder in die Militärdiktatur zurückfallen. Wir werden auf jeden Fall sehr viel internationale Solidarität brauchen. Die internationalen Menschenrechtsorganisationen müssen Komitees für Nothilfe gründen, um Menschen zu unterstützen, die Angriffen ausgesetzt sind. Die Drohung Bolsonaros, alle auszuweisen, die anderer politischer Ansicht sind als er, ist nicht rhetorisch zu verstehen. Es ist eine reale Bedrohung. Sie könnte sogar schlimmer werden, als in der Rhetorik. Es droht die physische Auslöschung der Aktivisten. Deshalb bin ich ja gerade in Berlin, um die hiesigen Hilfsorganisationen über diese Bedrohung zu informieren, damit diese Nothilfemaßnahmen einrichten.

EIN ANDERES KONZEPT DES LEBENS

Kurz nach dem Mord an Berta Cáceres verteidigte der Weltbankpräsident Jim Yong Kim in Bezug auf Staudammprojekte das Recht auf Energie und Arbeit gegenüber dem Recht auf Land. Was würden Sie dieser Idee von „Entwicklung“ entgegensetzen?

Dieser Entwicklungsdiskurs basiert auf der Ausbeutung der Umwelt und hat schreckliche soziale Folgen. Den derzeitigen Funktionären der Weltbank ist vielleicht unbekannt, dass die Weltbank im Jahr 2000 den Bericht der Weltkommission für Staudämme finanziert hat. Das Resultat war für sie so schrecklich, dass sie den Bericht lieber verheimlichten. Durch die 45.000 großen Staudämme, die bis zum Jahr 2000 gebaut wurden, mussten 40 bis 80 Millionen Menschen umziehen. Außerdem sind tausende Hektar Wald und Mangroven verschwunden und die Bevölkerung ist nicht reicher, sondern ärmer geworden. Die Wasserkraftwerke haben 30 Prozent weniger Energie produziert als vorhergesagt, sodass sich die afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Staaten mit den Staudammbauten verschuldet haben. So lässt sich der wachsende Widerstand erklären, der sich nicht nur in Lateinamerika, sondern in vielen Ländern des Südens, gegen das uns verkaufte Entwicklungsmodell richtet. Sie wollen uns weismachen, dass mit den Staudämmen Arbeitsplätze geschaffen werden, aber das stimmt nicht. Sie sagen, die Gemeinden würden elektrischen Strom erhalten, aber es gibt Gemeinden, die vor 40 Jahren umgesiedelt wurden und immer noch keinen Strom und kein Wasser haben, geschweige denn entschädigt wurden. Vor allem wird die Energie für weitere Megaprojekte gebraucht. Die Bergbauprojekte, die in Lateinamerika angeschoben werden, verbrauchen gigantische Mengen an Strom und Wasser, das dient als Rechtfertigung für die Staudämme.

Sind Ihnen Beispiele aus Honduras bekannt, bei denen die Energie aus einem Megaprojekt für den Bergbau oder eine andere Industrie genutzt wird?

In Honduras haben viele Menschen kein Trinkwasser und keinen Strom. Im Zuge des Staatsstreichs 2009 wurden viele Konzessionen für den Bau von Staudämmen und Minen vergeben. Dieser Prozess beinhaltet die Erkundung des Gebietes, bevor eine Mine oder ein Staudamm dann wirklich gebaut werden. In dieser Zeit müssen die Unternehmen ihre Finanzierung und den Grundbesitz sicherstellen. Das ist es, was die Leute derzeit in Honduras erleben: Gemeinden werden für den Bau von Wasserkraftwerken vertrieben. Der öffentliche Diskurs bleibt jedoch, dass ein Projekt wie Agua Zarca Elektrizität in die indigenen Gemeinden bringe. Und warum ist das bislang nicht geschehen?

Es gibt Gemeinden, die sich als frei von Bergbau erklärt haben. Haben diese Gemeinden bereits ihr eigenes Modell des „Guten Lebens”, des „Buen Vivir“?

Genau darüber hatte ich mit Berta angesichts der Welle von Konzessionen, die ja alle nach Grundbesitz verlangen, gesprochen. In Mexiko wurden 45.000 Bergbaukonzessionen vergeben, was 25 Millionen Hektar und damit der halben Landesfläche entspricht. In Guatemala sind es 30 Prozent, in Honduras ist man noch in der Konzessionsvergabe. Wir haben darüber gesprochen, dass wir immer erst reagieren, wenn wir bereits die Auswirkungen spüren. Aber wir bemerken nicht, dass das Projekt schon fünf Jahre früher begonnen hat. Das bedeutet, dass es auf Unternehmensseite bereits starke Interessen gibt und Millionen von Dollar oder Euro investiert worden sind: in die Erkundung, in Bestechungsgelder, in Verträge mit Transportunternehmen. Das Unternehmen wird das Projekt nicht mehr einfach so aufgeben. Statt direkten Widerstand zu leisten, sollten wir vorbeugen, indem wir von bergbaufreie und staudammenfreie Territorien schaffen. Wenn die Gemeinden reflektieren und analysieren, welche Ressourcen bei ihnen vorhanden sind, merken sie, dass diese früher oder später konzessioniert werden. Und wenn die Unternehmen einmal da sind, wird es sehr schwer, sie wieder loszuwerden. Das impliziert Mobilisierung, Repression, Tote, Gefängnis, all das, was wir tausendfach erlebt haben. Schützen wir unser Territorium also vorher!

Was heißt das konkret?

Bei den Treffen mit dem Lateinamerikanischen Netzwerk gegen Staudämme oder der Mesoamerikanischen Bewegung gegen Extraktivismus und Bergbau tauschen wir Erfahrungen aus und begeben uns an die Orte konkreter Bergbauprojekte. Wir sprechen mit den Betroffenen. So beginnen wir, Bewusstsein für Widerstand und Prävention zu schaffen. Aber das Problem bleibt immer: Was ist die Alternative, die wir uns wünschen, wenn wir nicht auf diese Weise Wasser und Energie haben wollen? Wir denken zumeist, dass das Problem technischer Natur ist, dass wir also nur die Energiequelle wechseln müssen. Die Bergbauunternehmen versichern daher, dass sie grünen Bergbau betreiben. In jedem Fall roden sie tausende Hektar Wald, weil sie immer noch Tagebau betreiben. Sie benutzen trotzdem eine Million Liter Wasser pro Stunde und 15 Tonnen Zyanid am Tag. Wenn die Leute an Krebs sterben, was ist grün an der Sache? Nun, die Maschinen werden nicht mit Benzin oder Diesel betrieben, sondern mit Biotreibstoffen.
Es geht daher nicht darum, die Energiequelle zu wechseln, um das Gleiche zu tun wie vorher. Das Problem ist politischer Art. Beispielsweise ist nicht die Windkraft problematisch, sondern die Verteilung. Baut man einen riesigen, zentralisierten Windpark oder gewinnen wir die Energie auf unseren eigenen Dächern? Dezentrale Lösungen werden vielfach bestraft. In Spanien gibt es eine Steuer auf Solarenergie. In Arizona ist es verboten, Regenwasser aufzufangen und zu nutzen, das Wasser muss bei den Wasserbetrieben gekauft werden. Das Problem ist auch, wie man mit den verschiedenen Ressourcen Energie erzeugt, ob man beispielsweise einen riesigen Stausee baut, und damit tausende Hektar Land überflutet und die Bevölkerung vertreibt. Nur weil Wasser „natürlich“ ist, wird diese Energie als grün und sauber angesehen. Das Schmutzige daran ist aber, wie die Dinge vonstattengehen.
Wenn wir nach Alternativen suchen, wollen wir immer, dass uns die Gemeinden die Lösung präsentieren. Es gibt keine globale Lösung. Jede Region muss zunächst herausfinden, was ihr politisches Problem ist, und nicht, was ihr technisches Problem ist. Wir müssen uns fragen, welche Art von Projekt wir aufbauen wollen, und dann erst, welche Art von Energie wir dafür brauchen. Und das nicht nur bei der Erzeugung von Strom, sondern auch bei der Erzeugung von Nahrungsmitteln.

Stehen beispielsweise Kaffeekooperativen für die Vision einer anderen ökonomischen Basis? Dabei geht es ja darum, im solidarischen Handel einen gerechten Preis zu erzielen.

Wir tauschen nur die Feldfrucht aus, aber die Logik bleibt gleich. In einigen Gemeinden wird bereits diskutiert, ob das Problem mit dem Palmöls ist, dass sie dir viel oder wenig zahlen, oder ob es das System an sich ist. Genauso beim Kaffee oder beim Mais oder jeder anderen Monokultur. Eine andere Logik wäre es zu sagen: Lasst uns nicht nach außen denken! Es gibt schon fantastische Erfahrungen, wie in Kolumbien, und in Chiapas versuchen wir nun, Ähnliches umzusetzen. Wir werden für uns, für den Eigenbedarf produzieren. Als erstes müssen wir den Anbau diversifizieren und die Biodiversität erhöhen. Dann beginnt man Kriterien zu entwickeln, wie man ein agrarökologisches Projekt aufzieht, in dem keine Chemikalien eingesetzt werden und eine Vielzahl von Nahrungsmitteln erzeugt werden, die wiederum auf einem lokalen Markt verteilt werden. Das ist eine andere Herangehensweise als die, an die wir gewöhnt sind, nämlich die der Spezialisierung, der Monokulturen und des Exports. Dazu gehört auch der Kaffee. Wenn wir in Chiapas einen guten Preis erzielen, liegt es vielleicht daran, dass die Indigenen in Vietnam, in Brasilien oder in Guatemala von einem Hurrikan betroffen waren. Wir freuen uns, weil wir bessere Preise erzielen, aber auf wessen Kosten?

Sie wollen auf ein anderes Konzept von Entwicklung hinaus …

Ein anderes Konzept des Lebens, weil der Begriff Entwicklung aus dem Diskurs der Unternehmen und der Staaten stammt. Diese unendliche Entwicklung ist nicht nachhaltig, wir können damit nicht weitermachen. Das Bild ist zwar abgedroschen, aber wenn wir die gleiche Entwicklung für alle wollen, brauchen wir fünf Planeten. Deswegen hat man das Konzept des “Buen Vivir”, des “Guten Lebens”, entwickelt. Aber wie erhält es einen politischen Inhalt? Ich habe keine Ahnung, was das Gute Leben ist. Das Konzept muss erst entwickelt werden. In den indigenen Gemeinden von Chiapas gibt es das Lekil Kuxlejal, ein Konzept, unter dem die Indigenen eine gesunde Umwelt verstehen, die sich im Gleichgewicht befindet: Leben, Wasser, ausreichend Nahrungsmittel und dass es allen gut geht. Andere, in Oaxaca, sprechen von Kommunalität „comunalidad“, andere davon, eine gemeinsame Einheit, die „comun unidad“ aufzubauen. In jeder Region beginnen Menschen neue Konzepte zu entwickeln oder wiederzuentdecken, die nicht diesem Begriff der linearen, kapitalistischen Entwicklung entsprechen. Grundlegend erscheint mir dabei die Tatsache, dass es nicht um ein Konzept geht, das global angewendet wird. In jeder Region folgt es den eigenen Erfahrungen und Bräuchen. Und ich glaube, es gibt viele Arten glücklich zu sein. Es gibt viele Formen, das gute Leben aufzubauen.

 

 

“DIE REPRESSIVEN STRATEGIEN HABEN SICH VERÄNDERT”

Ist ein nachhaltiger und verantwortungsvoller Bergbau im großen Umfang überhaupt möglich?

Danilo Urrea: Einen nachhaltigen und verantwortungsvollen Bergbau gibt es nicht. Das einzige, wofür der Bergbau verantwortlich ist, ist die Vertreibung und die Kriminalisierung von Gegnern, die Verschmutzung von Luft und Wasser sowie daraus resultierende Atemwegs- und Magenerkrankungen. Alles andere ist eine Täuschung. Die Unternehmen haben ein Modell der sozialen Verantwortung konstruiert, das allerdings nur ihr korporatives Modell selbst fördert. Wenn ein Unternehmen etwa ein Heiligenfest sponsert oder Schulen baut – in denen den indigenen Kindern dann eingetrichtert wird, dass sie im Bergbau arbeiten sollen – oder eine Gesundheitsstation ohne Strom für die Geräte errichtet, dann will das Unternehmen eindeutig sein Image reinwaschen. Dadurch sollen einerseits Steuerzahlungen verringert werden, andererseits will sich das Unternehmen dadurch den Zugang in die Gebiete sichern.

Was passiert mit Menschen, die Megaprojekten in ihrer Region verhindern wollen?

D.U.: In den letzten zehn Jahren haben sich die repressiven Strategien verändert – was nicht heißt, dass Menschen nicht mehr ermordet oder verhaftet werden. Neu ist, dass die Arbeit der Menschen delegitimiert und sie selbst stigmatisiert werden. Das hat zu einem großen Misstrauen bei der lokalen Bevölkerung geführt. Diese neue Form der Repression ist bisher sehr effektiv und das Ergebnis einer sehr guten Koordination zwischen den Medien und den sie finanzierenden Unternehmen.

Blanca Nubia Anaya: Als das Unternehmen [in Sogamoso; Anm. der Red.] begann, gewaltsam in das Gebiet vorzudringen, um den Staudamm zu bauen, wurden vier führende Persönlichkeiten ermordet. Bei diesen und in anderen Fällen wurde nach wie vor niemand zur Rechenschaft gezogen. Manche Gefährtinnen und Gefährten haben eine derartige Rufschädigung erlitten, dass es ihnen fast unmöglich geworden ist, das Vertrauen der anderen zurückzugewinnen.

Jonathan Ospina: In Cajamarca ist das Gleiche passiert, 2013 wurden zwei Menschen ermordet und 2014 ein weiterer. Den Ermittlungen zufolge soll es sich um isolierte Straftaten handeln, die nichts mit der führenden Rolle der Ermordeten beim Kampf um ihr Territorium zu tun haben. Allerdings zeigten sich bei diesen Ermittlungen auch Widersprüche. Außerdem erhielten die Bewegung und ihre Protagonisten vielfache Drohungen von Seiten paramilitärischer Gruppen oder unbekannter Personen. Das Unternehmen war früher in Skandale wegen Verbindungen zu paramilitärischen Gruppen in anderen Teilen der Welt verstrickt, in Ghana und Südafrika zum Beispiel. Es ist auffällig, dass die paramilitärische Gruppe Las Águilas Negras („Schwarze Adler“) bei ihren Drohungen die gleiche Sprache verwendet wie das Unternehmen: die berühmte Rede vom Fortschritt.

Sie sind Repräsentant*innen lokaler Widerstandsprozesse: In Cajamarca sprachen sich bei einem Referendum 97 Prozent der Beteiligten gegen die Goldmine La Colosa aus. Am Staudammprojekt Hidrosogamoso wurde festgehalten, der Widerstand der lokalen Gemeinde zwang Regierung und Unternehmen jedoch zu Verhandlungen mit der Bevölkerung. Wie hat sich diese Situation ergeben?

B.N.A.: Es war nicht einfach in Sogamoso. Wir protestierten und streikten sechs Monate lang in einem Park vor Ort. Zuletzt bot uns die Gewerkschaftszentrale CUT, vor allem für die Alten und Kinder unter uns, ein Dach und Schutz in ihrer Niederlassung an. Das Unternehmen bot uns 1.300 Millionen Pesos (etwa 37.000 Euro) an, damit wir den Protest beenden. Aber das war überhaupt keine Lösung. Wir sind mehr als 2.000 Familien und uns werden weder Grundstücke für die landwirtschaftliche Nutzung noch Wohnungen angeboten. Nach sechs Monaten brachen wir den Protest ab, weil wir nicht mehr konnten. Wir mobilisierten uns aber weiter und sprachen unsere Forderungen aus.

J.O.: Für diesen Fall wurden Unterstützernetzwerke von der lokalen über die nationale bis zur internationalen Ebene gebildet. Ganz besonders kam die „Mund-zu-Mund-Propaganda“ zum Einsatz und es entstanden Bürger-initiativen wie die Karnevalsmärsche. Hand-bücher, jede Art von informativem und didaktischem Material wurde erstellt, um die Auswirkungen des großangelegten Tagebaus zu erklären. Wir ließen uns von Rechtsanwälten beraten und wendeten jegliche juristischen Mittel an, damit Vertreter der Bürgergemeinde bei Sitzungen der lokalen Räte anwesend sein konnten.

Es wurde breit diskutiert, dass nach dem Rückzug der Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) Megaprojekte in die Gebiete Einzug halten könnten. Bedeutet das womöglich eine soziale und ökologische Katastrophe für diese Gebiete?

B.N.A.: Tatsächlich waren die Menschen in mehreren Ortschaften gegen den Rückzug der Guerilla. Sie haben Angst. Viele Einwohner haben Drohungen erhalten, bei denen es hieß, sobald die FARC weg seien, würden sie hingerichtet. Können Sie sich vorstellen, wie viele Menschen umgebracht werden, nur weil sie in einem ehemaligem Guerilla-Gebiet leben?

D.U.: Es ist wichtig, klarzustellen, dass wir einhundert Prozent hinter dem Abkommen stehen als Möglichkeit, den langen bewaffneten Konflikt zu beenden. Aber das heißt nicht, dass wir einverstanden wären mit dem, was dieser Frieden bedeuten soll. Die Gemeinden haben seit jeher Frieden konstruiert, allein durch die Art und Weise, wie sie die Gebiete bewohnen. Das geht in eine ganz andere Richtung als das korporative Modell der Regierung.

 

„BESSER LEBEN OHNE KOHLE”

El Cerrejón – so nannten die Wayúu einst den heiligen Berg. Heilig, weil er ihnen seit Jahrhunderten Medizinpflanzen spendete und das spirituelle Erbe der Gemeinschaft, der größten indigenen Gruppe Kolumbiens, barg. Heute steht El Cerrejón für einen Großkonzern, eine Mine, ein Loch, Zerstörung. Der Berg ist ausgehöhlt, die Menschen vertrieben.

Samuel Arregoces ist Sprecher der afrokolumbianischen Gemeinde Tabaco und wurde 2001 selbst Opfer einer gewaltvollen Vertreibung durch El Cerrejón. Der gesamte Ort wurde dem Unternehmen übergeben, um dort weiter Kohleabbau zu betreiben. Bis heute warten die Menschen von Tabaco darauf, dass ein Ort für die Neugründung ihrer Gemeinde bereitgestellt wird.

„Es geht hier um mehr als die physische Trennung zwischen Mensch und Territorium“

„Es geht hier um mehr als die physische Trennung zwischen Mensch und Territorium“, schildert Arregoces den Verlust. Mit der Vertreibung und Hinauszögerung der Umsiedlung sterbe etwas in der Gemeinschaft, im sozialen Gefüge. Der Aktivist ringt um Worte. „Unsere Kinder verlieren das Bewusstsein für die anzestrale Mythologie, hören auf zu träumen“. Ein wesentlicher Bestandteil der Wayúu-Spiritualität ginge somit verloren. „Der Verlust dieses Gedächtnisses des Territoriums ist irreparabel“, sagt Arregoces.

Hinzu kommt, dass die Dorfgemeinschaft beständig unter Druck von außen durch den Bergbaukonzern steht. Durch unterschiedliche Strategien wie zum Beispiel lukrative Jobangebote versucht El Cerrejón, den Zusammenhalt im Widerstand zu schwächen. Dass diese Strategie der internen Spaltung oft genug aufgeht, beschreibt Arregoces mit Bedauern: „Ein Riss zieht sich durch Familien und Freundschaften: Manche arbeiten in der Mine, andere verlieren durch sie jegliche Existenzgrundlage.“ Im Fall von Tabaco gestalte es sich darüber hinaus schwierig Widerstand zu organisieren, da alle ehemaligen Dorfmitglieder nun an verschiedenen Orten verstreut lebten. Geld für die Anreise und Organisation von Treffen sei fast nie da.

„Und daher sind wir nun hier in Deutschland, um uns mit sozialen Bewegungen und Aufklärungskampagnen zu vernetzen und internationalen Druck aufzubauen. Wenn man hier im Norden davon spricht, von der Kohle als Energiequelle wegzukommen, dann heißt das für uns notwendigerweise, dass man uns unsere Territorien zurückgibt.“ Arregoces verdeutlicht, dass es den Menschen von Tabaco nicht nur um die Einhaltung internationaler Standards und Verträge seitens des Unternehmens geht. Nein, auch ein definitives Ende des Extraktivismus in der Region, stehe auf ihrer Agenda. Die Rechtfertigung der Konzerne, Arbeitsplätze zu schaffen und den “Fortschritt” der Region zu befördern, hält Arregoces für einen Vorwand.

Tabaco ist nicht die einzige Gemeinde, die große Verluste zu beklagen hat. In den vergangenen drei Jahrzehnten wurden durch die Mine große Teile des Territoriums der Wayúu zerstört. Ganze Landstriche wurden verwüstet, Böden unbrauchbar gemacht, Biodiversität vernichtet und die Versteppung vorangetrieben. Wasserläufe versiegen aufgrund des riesigen Wasserbedarfs für die Mine, was die übliche kleinbäuerliche Subsistenzwirtschaft unmöglich macht. Vielen Dörfern droht nun mit der geplanten Erweiterung des Tagebaus bereits die zweite Vertreibung.

Die im Nordosten Kolumbiens gelegene Mine El Cerrejón ist der größte Steinkohletagebau der Welt.

Die auf der Halbinsel La Guajira im Nordosten Kolumbiens gelegene Mine El Cerrejón ist mit einer Gesamtfläche von 69.000 Hektar der größte Steinkohletagebau der Welt. Noch bis 2034 läuft der Vertrag zwischen den beteiligten Konzernen Anglo American aus Großbritannien, BHP Billiton aus Australien, dem Schweizer Glencore und dem kolumbianischen Staat. In dem „Plan Colombia País Minero 2019“ sieht Kolumbien eine Ausweitung aller bestehenden Minen vor, sowie eine Steigerung der landesweiten Kohleförderung. 98 Prozent der kolumbianischen Kohle sind für den Export bestimmt. Immer noch wird auf die Bergbauindustrie als „Lokomotive für die Entwicklung Kolumbiens“ gesetzt und verheerende Folgen für die Bevölkerung werden in Kauf genommen.

Während die Mine für die ansässige Bevölkerung den Inbegriff von Gewalt und Ungerechtigkeit darstellt, importieren Unternehmen wie Vattenfall, RWE oder E.ON weiterhin kolumbianische Kohle, um sie unter anderem in Deutschland zu verstromen. Die versprochene Energiewende in Deutschland, und das Einstellen der eigenen Steinkohleproduktion bis 2018, ist tatsächlich nur durch das Festhalten an Kohleimporten möglich. Deutschland allein importiert momentan pro Jahr rund 54 Millionen Tonnen Steinkohle und ist damit Spitzenreiter in der EU.

Rund ein Drittel der Importe stammt aus Russland. Nummer zwei der Importländer ist Kolumbien mit ungefähr 20 Prozent. Weiterhin gibt es kaum Transparenz über die Lieferbeziehungen, was der Missachtung von Grundrechten Tür und Tor öffnet. Laut einer aktuellen Studie von den Nichtregierungsorganisationen Germanwatch und MISEREOR betrifft ein Drittel der unternehmensbezogenen Vorwürfe zu Menschenrechtsverletzungen den Energie- und Rohstoffsektor. Anders als Frankreich, Großbritannien und die Niederlande hat sich Deutschland jedoch immer noch nicht dazu durchringen können, Gesetze mit Menschenrechtsvorgaben für Auslandsgeschäfte von Unternehmen zu verabschieden.

So kann ein hier geführter Protest gegen Vattenfall und Co. die Gemeinden in der Guajira ganz konkret in ihrem alltäglichen Widerstand unterstützen. Auch das ist eine Botschaft der drei Aktivist*innen. Die Ziele und Vorstellungen der betroffenen Menschen müssen in den Vordergrund gestellt werden, um Chancen und Möglichkeiten der Zusammenarbeit und Solidarität auszumachen.

Auftaktveranstaltung der Rundreise war die Filmvorführung des Dokumentarfilms La buena vida (Das gute Leben) von Jens Schanze in Berlin. Der Film erzählt die Geschichte der Dorfgemeinschaft Tamaquito am Río Ranchería, die 2011 zum Vorzeigeprojekt „gelungener Umsiedlung“ unter „Einhaltung internationaler Standards“ durch El Cerrejón werden sollte. Dies misslang vollauf.

Catalina Caro Galvis, ebenfalls Aktivistin und Bergbaureferentin der Umweltorganisation CENSAT – Agua Viva kann im Kampf gegen das Kohlegeschäft aber auch von Erfolgen berichten. So wurde im März 2017 ein Besuch einer Konzerndelegation von Vattenfall in der Guajira erwirkt, bei dem die Führungsebenen des schwedischen Staatskonzerns mit den Menschenrechtsverletzungen in den Minen Kolumbiens konfrontiert werden sollten. Die Besonderheit: Kolumbianische Aktivist*innen, unter anderem Caro Galvis, bestimmten den Ablauf dieses Besuches. Bis heute steht das versprochene Abschlussgutachten von Vattenfall jedoch aus. Caro Galvis vermutet, dass jede weitere zeitliche Verzögerung dazu führen wird, dass die Zustände abgeschwächt und beschönigt werden. Einmal mehr ruft sie daher dazu auf, von Deutschland aus Druck auf Vattenfall auszuüben und die Veröffentlichung eines weitreichenden und transparenten Gutachtens einzufordern.

Vattenfall spielt weiterhin auch im deutschen Kohleabbau eine bedeutende Rolle. Ironischerweise finanziert der Konzern seit 2006 das „Archiv verschwundener Orte“, in dem an die 136 Dörfer erinnert wird, die allein in der Lausitz seit 1924 dem Braunkohlebergbau ganz oder teilweise weichen mussten. Bei einer Fahrradtour um den Braunkohletagebau Jänschwalde an der deutsch-polnischen Grenze tauschen die kolumbianischen Gäste ihre Erfahrungen aus der Guajira mit deutschen und polnischen Klimaaktivist*innen aus. Arregoces zieht aus diesem Zusammentreffen vor allem eine Erkenntnis: dass Kohleabbau überall auf der Welt mit einer gewaltvollen Geschichte von Vertreibung und Umweltzerstörung verbunden ist – auch in Deutschland, dem vermeintlichen Vorreiter des Umweltschutzes und der Menschenrechte. Strategie, Logik und Argumentation der Konzerne seien überall auf der Welt gleich, wenn auch die Bedingungen der Vertreibung mehr oder weniger gewaltvoll sein können, schlussfolgert er aus der Rundreise. „Hinter all dem steht die gleiche Grundidee“, sagt er.

„Extraktivismus und Wirtschaftwachsum gehen vor, Menschen müssen weichen und Lebensräume werden zerstört.“

In den noch bis vor Kurzem bedrohten sächsischen Ortschaften Grabko, Atterwasch und Kerkwitz in der Lausitz können die Anwohner*innen mittlerweile aufatmen.

In den noch bis vor Kurzem bedrohten sächsischen Ortschaften Grabko, Atterwasch und Kerkwitz in der Lausitz können die Anwohner*innen mittlerweile aufatmen. Die jahrelangen Forderungen von Umweltschützer*innen erfüllen sich: Der Tagebau Jänschwalde wird nicht erweitert und Welzow-Süd in der Niederlausitz auf Eis gelegt. Fest steht nun: Spätestens 2050 ist Schluss mit der Kohleverstromung in der Lausitz. Und bereits im Oktober 2018 sollen in Jänschwalde erste Generatoren stillgelegt werden, voraussichtlich Mitte der 2020er Jahre wird das Feld ausgekohlt sein. Der Austausch bestärke alle Beteiligten einmal mehr, weiterzukämpfen, so die Aktivist*innen. Nicht nur der Protest, sondern auch die Möglichkeiten eines sozialverträglichen Kohleausstiegs und alternative Erwerbskonzepte müssten global gedacht werden.

Jakeline Romero Epiayu, Sprecherin von Fuerza de Mujeres Wayúu, macht sich darüber hinaus bei einem Vernetzungstreffen mit Berliner Anti-Kohle-Aktivist*innen von den Bewegungen Kohleausstieg Berlin, Ende Gelände und anderen dafür stark, das Thema Klimagerechtigkeit und Energie in den Diskurs um einen möglichen Frieden in Kolumbien zu integrieren. Sie fordert einen Friedensvertrag, in dem das aktuelle neoliberale Wirtschaftsmodell infrage gestellt wird. Eben dieses Modell sei seit jeher Triebfeder des Konfliktes. Romero Epiayu sagt das sowohl mit Blick auf die Situation der vertriebenen Gemeinden in der Guajira, als auch in Hinblick auf das Gebiet Catatumbo. Durch die dort herrschende Guerilla ist die Region bisher weitgehend von extraktivistischen Großprojekten verschont worden. Nun könnte Catatumbo jedoch als lukrativer Standort der Kohle- und Ölförderung ins Blickfeld der Konzerne geraten. Aktionen des zivilen Ungehorsams, wie sie Ende Gelände in den vergangenen Jahren in Deutschland durchführte, seien in Lateinamerika jedoch undenkbar, glaubt Romero Epiayu. „In Kolumbien gleicht eine Mine einer militärischen Festung und das Verhältnis zum Staat ist ein anderes“, erklärt sie. „Wenn du einen Tagebau betrittst, kann das jederzeit mit einem tödlichen Schuss enden.“ Gerade in der derzeitigen Implementierungsphase des Friedensabkommens werden Aktivist*innen in erhöhtem Maße Opfer von Kriminalisierung und Bedrohung. Auch Jakeline und Samuel erlebten bereits konkrete Gewaltandrohungen aufgrund ihrer politischen Tätigkeit. „Schutz, Unterstützung und Sichtbarmachung für Betroffene, als auch deren Familien, muss ein internationales Interesse werden“, fordert Romero Epiayu.

Letzte Station der Rundreise: Der Gipfel der Globalen Solidarität im Rahmen des Anti-G20-Protests in Hamburg. „Wir wollen erreichen, dass die Regierungschefs beim Thema Klimaschutz uns indigenen Gemeinschaften zuhören“, sagt Romero Epiayu. „Immerhin haben wir unsere Territorien und natürlichen Ressourcen über Jahrhunderte konserviert. Unsere Hoffnung ist, dass ein Leben ohne Minen und so, wie wir es uns vorstellen, irgendwann wieder möglich ist.“ Die Zukunft sieht die Aktivistin in lokalen Initiativen und kommunitären Formen des Zusammenlebens. Agerroces ergänzt: „Was man aus dem Süden in den Norden schafft, kontaminiert den ganzen Planeten. Vielleicht erinnern sich die G20 irgendwann daran, dass wir in einem einzigen gemeinsamen Ökosystem leben.“ Was die beiden zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen können, wenige Tage nach dem Gipfel jedoch feststeht: US-Präsident Donald Trump hat in Hamburg in Sachen Missachtung des Pariser Klimaabkommens einen Verbündeten gefunden. Überraschend stellt nun auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Umsetzung des Pariser Vertrages durch sein Land infrage. Ein Grund mehr für Aktivist*innen, sich weltweit zu verbünden.

LENÍN AUF CORREAS SPUR

Die Ecuadorianer*innen hatten am 2. April die Qual der Wahl: Sie sollten sich zwischen dem Bankier Guillermo Lasso, Chef der Banco de Guayaquil, und dem ehemaligen Vizepräsidenten Lenín Moreno entscheiden. Letzterer – selbst Rollstuhlfahrer – wurde vor allem bekannt durch sein Programm zur Unterstützung von Menschen mit Behinderungen. Am Wahlabend verkündete die Wahlbehörde den knappen Sieg von Moreno mit etwas über 51 Prozent der Stimmen. Lasso hingegen sprach von Wahlbetrug und forderte eine komplette Neuauszählung. Dem kam die ecuadorianische Wahlkommission in Teilen nach. Aber auch die Neuauszählung von etwa 1,3 Millionen – knapp zehn Prozent der Stimmen – bestätigte den knappen Sieg von Lenín Moreno. Die Wahlbetrugsvorwürfe der Opposition seien unbegründet, so die Behörde. Lasso boykottierte die Neuauszählung und will das Ergebnis weiter nicht anerkennen. Stichhaltige Beweise für den Wahlbetrug blieb er bisher schuldig.

Mit Morenos Sieg geht in Ecuador zumindest nominell das progressive politische Projekt weiter.

Mit Morenos Sieg geht in Ecuador zumindest nominell das progressive politische Projekt weiter, das 2006 mit Rafael Correa seinen Anfang nahm – anders als in Argentinien, Brasilien oder Paraguay, wo inzwischen wieder Kräfte aus dem entgegengesetzten politischen Lager am Ruder sind.

Der 2. April setzte einem außerordentlich schmutzigen Wahlkampf ein Ende, in dem Diffamierungen und Gerüchte in den digitalen Netzwerken das soziale Klima weiter polarisierten und die Regierungspartei Alianza País unbeanstandet auch den Staatsapparat für Wahlkampfzwecke nutzte, obwohl das gesetzlich untersagt ist. Beide Kandidaten ergingen sich in Wahlversprechen, die angesichts leerer Staatskassen unerfüllbar sein dürften, wie beispielsweise einer Erhöhung der monatlichen Finanzhilfe für die Ärmsten von umgerechnet 50 auf rund 150 Dollar. Teilweise nahmen sich die Kandidat*innen im Wahlkampf wie im Basar aus, in dem sich die Händler*innen gegenseitig überbieten, ohne dass ein Bezug zur Realität dabei ins Gewicht fiele.

Wenn Lenín Moreno am 24. Mai das Präsidentenamt antritt, wird dennoch niemand wissen, wer die Staatsgeschäfte effektiv lenkt. Der scheidende Rafael Correa hat sich widersprüchlich geäußert – mal geht er ins Ausland nach Belgien, mal plant er ein baldiges Comeback, eventuell sogar durch vorgezogene Neuwahlen. Die Möglichkeit einer unbegrenzten Wiederwahl ist bereits in der Verfassung verankert, sie war aufgrund massiver Proteste im Jahr 2015 nur für diese eine Wahl ausgesetzt worden. Schwere Korruptionsskandale um die staatliche Ölfirma Petroecuador und die brasilianische Baufirma Odebrecht warten auf ihre Aufklärung – die mit allen möglichen Tricks sorgsam bis nach den Wahlen verschleppt wurde. Insbesondere der gewählte und auch noch amtierende Vizepräsident Jorge Glas, der für die inkriminierten Projekte politisch verantwortlich ist, könnte dabei in Mitleidenschaft gezogen werden. Glas gilt als der Vertrauensmann von Correa in der neuen Regierung, während sich Moreno durch eine betont versöhnliche Rhetorik von seinem Vorgänger abzugrenzen versucht, dessen Stil von Intoleranz, Verbalattacken und gerichtlichen Klagen gegen Dissident*innen aller Art geprägt ist.
Auch wenn Morenos Friedensbotschaft in dem extrem polarisierten und krisengeschüttelten Land gut ankommt, ist sie durch wenig konkrete politische Programmatik untermauert und erweckt eher den Eindruck einer neuen Tünche über dem alten Gebäude aus Extraktivismus, Zentralisierung der Macht in der Exekutive und Repression gegen Andersdenkende.

Für die unabhängige, oppositionelle Linke war die Stichwahl am 2. April eine zwischen Pest und Cholera.

Für die unabhängige, oppositionelle Linke, deren Bündnis im ersten Wahlgang mit dem sozialdemokratischen Ex-Bürgermeister von Quito und pensionierten General Paco Moncayo lediglich 6,7 Prozent erhalten hatte, war die Stichwahl am 2. April eine zwischen Pest und Cholera. Viele Stimmen aus diesem Lager riefen letztendlich zur Wahl des neoliberalen Lasso auf. Nach zehn Jahren systematischen Angriffen auf jegliche Form autonomer sozialer Organisierung setzen sie ihre Priorität auf ein unbedingtes Ende der Herrschaft des Correismus mit seinen verkrusteten, alle staatlichen Institutionen umspannenden Strukturen. Lasso hatte es vor diesem Hintergrund leicht, sich als Kandidat der Rückkehr zur Demokratie darzustellen. Angesichts der militanten Ablehnung von Abtreibungen seitens Rafael Correas wirkte sogar er, dessen Mitgliedschaft im Opus Dei bekannt ist, in Sachen Selbstbestimmung über den eigenen Körper liberal: „Ich habe nicht vor, mich als moralischer Führer des Landes aufzuspielen“, sagte er wiederholt. Auch im Hinblick auf die Umweltpolitik machte er erstaunliche Wahlversprechen – zum Beispiel, das Öl im Yasuní-Nationalpark im Boden zu lassen oder bei Bergbauprojekten das Ergebnis der Vorab-Befragung der Lokalbevölkerung als bindend zu betrachten. So entscheidend diese Dinge auch wären für eine nachhaltige Politik in dem mega-biodiversen Tropenland, so naiv wäre es gewesen, diese Versprechen angesichts der leeren Staatskassen und des auch regional verankerten politischen Hintergrunds von Lasso für bare Münze zu nehmen.

Die Wahl am 2. April war eine zwischen einer neoliberalen, marktkonformen Rechten und einer etatistischen, autoritären Pseudo-Linken. Von dem großen Transformationsprojekt, das der Wahlsieg von Rafael Correa im Jahr 2006 symbolisierte, ist heute nicht mehr viel zu spüren. Lenín Moreno verfügt aufgrund des knappen und umstrittenen Wahlergebnisses nicht nur über eine geringe Legitimität, er tritt auch ansonsten ein problematisches Erbe an: Ein Land, das sich auf Jahrzehnte verschuldet und obendrein überteuerte Kredite mit Zinssätzen von teils über zehn Prozent aufgenommen hat. Die natürliche Vielfalt des Landes und die Optionen künftiger Generationen hat die Regierung Correa aufgrund eines kurzfristigen politischen Kalküls längst verpfändet. Eins der produktivsten, zuvor staatlichen Ölfelder verscherbelte sie vor kurzem gegen schnelles Geld an Schlumberger, das weltweit größte Unternehmen für Erdölexplorations- und Ölfeldservice mit Sitz auf der niederländischen Karibikinsel Curaçao. Zudem wurden zwei Häfen konzessioniert – ganz im Gegensatz zur Politik der frühen Jahre, die den Anteil der Staatseinnahmen aus dem Ölgeschäft erweitert hatte. Außerdem wurde ein beträchtlicher Teil der an sich schon eher bescheidenen verbleibenden Ölreserven im Voraus an China verkauft. Die damit gedeckten Darlehen sind längst investiert. Auch die erwarteten Lizenzgebühren aus dem beginnenden Bergbau flossen bereits im Voraus in Schulneubauten und andere Projekte. Da bleibt in Zukunft kaum finanzieller Spielraum für staatliche Politik.

“WIR HOFFEN, MIT DEM STAAT IN EINEN DIALOG ZU KOMMEN”

Sie haben den UN-Menschenrechtsrat in Genf vor der Überprüfung der Menschenrechtslage im April besucht. Welche Eindrücke haben Sie dort gesammelt und welche Erwartungen haben Sie an das Gremium?
Mónica Vera Puebla (MVP): Unsere Erwartungen sind, dass wir durch unseren Beitrag den Mitgliedern des Menschenrechtsrates vermitteln konnten, wie sich die Ernährungs- und Menschenrechtslage in Ecuador derzeit gestaltet. Dabei geht es insbesondere um den Zugang zu Land, Saatgut und Krediten, aber auch das Thema der Vertreibung, ohne andere Themen auszusparen. Uns ging es darum, einen integralen Blick auf die Menschenrechtsverletzungen darzulegen. Unsere Zielsetzung ist es, Räume für einen Dialog zu eröffnen, wie diesen Menschenrechtsverletzungen beizukommen ist. Unser Eindruck ist, dass uns das in Genf gelungen ist. Wir haben Statistiken über die Ernährungs- und Menschenrechtslage vorgestellt und Lösungsvorschläge unterbreitet, die auf offene Ohren gestoßen sind. Leider war es erforderlich, bis nach Genf zu fahren, um solche Dialogräume zu eröffnen. Dort sind wir mit der diplomatischen Vertretung Ecuadors ins Gespräch gekommen, die erste Annäherung an die ecuadorianische Regierung. In Ecuador selbst ist uns das mit der Regierung von Rafael Correa nicht gelungen. Unsere kritischen Anmerkungen zur Menschenrechtslage sind dort nicht gut aufgenommen worden. Unsere Dialogangebote wurden ausgeschlagen, auch der Versuch über die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) zu einem Dialog zu kommen, schlug fehl. Deswegen versuchen wir nun den Weg über die UNO und ihren Menschenrechtsrat.

In Ecuador gab es gerade Präsidentschaftswahlen. Der Kandidat der Regierungspartei, Lenín Moreno, hat knapp gewonnen, die zehnjährige Ära von Rafael Correa geht am 24. Mai zu Ende. Könnte es mit dem neuen Präsidenten nicht mehr Raum für Dialog geben?
MVP: Diese Hoffnung haben wir in der Tat. An einem möglichen Dialog sollten alle sozialen Organisationen teilnehmen. Wir hoffen, dass Moreno einen partizipativen Prozess mit der Zivilgesellschaft einläutet, so wie er das in Aussicht gestellt hat. Das halten wir für extrem wichtig, um die existierenden Spannungen zu mildern. Wichtig ist auch, dass Menschenrechtsverteidiger in diesem Raum geschützt werden und ihre Arbeit als wichtig anerkannt wird, statt als unbotmäßige Kritik zurückgewiesen zu werden.

Erwarten Sie von Moreno einen Kurswandel beim Wirtschaftsmodell, das vor allem auf Rohstoff- und Agrarexporten beruht?
MVP: Davon gehe ich nicht aus, zumindest keinen grundsätzlichen. Lenín Moreno kommt von der amtierenden Regierungspartei Alianza País und ist mit ihrem Personal verflochten. Zu erwarten ist, dass das vorherrschende Modell fortgesetzt wird. Das heißt eine Kontinuität des sogenannten Extraktivismus (Rohstoffförderung plus Export, Anm. d. Red.) und der Agrarindustrie. Dieses Modell ist bereits durch die Alianza País verankert worden. Moreno hat in Aussicht gestellt, den Dialog über den einen oder anderen Aspekt zu führen, aber es gibt keinerlei Signal, dass vom Modell abgewichen werden soll. Das bereitet uns durchaus Sorge. Zum einen geht mit der Agroindustrie eine Monokultur mit ihren ökologischen Risiken einher, zum anderen ist die Ausweitung des Bergbaus mit vielen lokalen Konflikten verbunden, weil die ansässige Bevölkerung ihre Lebensgrundlagen gefährdet sieht.

Herr Carpio Cedeño , Sie gehören der Bauerngemeinde ASOMAC an. Viele Bauernfamilien wurden im Zuge eines Landkonflikts von staatlichen Sicherheitskräften vertrieben. Wie steht es in diesem Konflikt derzeit?
Carlos Carpio Cedeño (CCC): Unsere Hoffnung besteht darin, dass wir mit dem Staat in einen Dialog kommen. Man muss klar feststellen, dass die Räumungen und Vertreibungen 2015 illegal waren. Die Familien, die der Bauerngemeinschaft ASOMAC angehören, hatten die Felder seit Generationen bestellt. Der Staat hatte ihren Anspruch auf das Land vor zehn Jahren anerkannt. Die Räumung erfolgte ohne vorherige Ankündigung, was gegen ecuadorianisches Recht verstößt. Die Sache ist vor dem Verwaltungsgericht gelandet, dort ist noch nicht abschließend geklärt worden, wie die Besitzansprüche sind. Es ist ein Konflikt unter Brüdern, unter unterschiedlichen Bauernfamilien über das Recht, bestimmtes Land bebauen zu dürfen, zwischen Bäuerinnen und Bauern sowohl von ASOMAC als auch der Asociación La Lagartera. Die Räumung war Folge eines Regierungsbeschlusses aus dem Jahr 2011, das Gebiet von ASOMAC um 150 Hektar zu verkleinern.

Wie wirkt sich die Räumung auf die Lebensumstände der Familien aus?
CCC: Katastrophal. Häuser, Felder und Bewässerungssysteme wurden komplett zerstört. Obdachlosigkeit und fehlende Einkommen führen seitdem zu Mangelernährung, Krankheiten und psychischen Problemen, insbesondere bei Frauen und Kindern. Niemand will dafür die Verantwortung übernehmen. Zudem haben wir den Zugang zu Wasser verloren und unser Versuch, wieder Zugang zu erhalten, blieb unbeantwortet. Ohne Wasser können wir nicht säen. Wir suchen nach Antworten. Das Verwaltungsgericht in Guayaquil hat uns im März 2016 recht gegeben und den Regierungsbeschluss für unzulässig erklärt. Das zuständige Ministerium legte jedoch Berufung ein. Nun muss der Oberste Gerichtshof in Quito entscheiden, sodass die Rechtsunsicherheit bestehen bleibt.

Und wie macht ASOMAC unterdessen weiter?
CCC: Wir kämpfen weiter um unser Land. Wir sind Landwirte, ohne Land und ohne Wasser können wir nicht leben. Das Agrarministerium fordert Geld für die nur noch 325 Hektar, die uns zur Bebauung zugesprochen wurden. Aber wie sollen wir sie ohne Wasser kultivieren? Wie sollen wir unter diesen Bedingungen Erträge erwirtschaften, um zahlen zu können? ASOMACs Verschuldung steigt und steigt. Was können wir machen, ohne die Möglichkeit, Land zu bepflanzen? Als wir das brachliegende Gebiet damals besetzten, hatten wir eine klare Linie: Besetzen, um Lebensmittel für unsere Familien zu produzieren. Dieses Land haben sie uns nun genommen.

Der Gegner im Rechtsstreit ist die Asociación La Lagartera. Was verbirgt sich dahinter, eine große Firma oder Kleinbauer*innen?
CCC: Es sind auch Kleinbauern. Sie machen auch gute Projekte. Das Problem ist einfach, dass sie nicht berücksichtigt haben, gar nicht untersucht haben, dass wir bereits auf der Fläche des leer stehenden Gutes Leopoldina Landwirtschaft betrieben haben. Trotzdem hat die Asociación La Lagartera Ansprüche auf das Land angemeldet. Der Staat hört auf La Lagartera, aber auf ASOMAC reagiert er nicht.

Und wie lässt sich dieser Konflikt beilegen?
CCC: Über Dialog. Da wir in Ecuador nicht gehört wurden, haben wir als Opportunitätsfenster diesen internationalen Weg über den Menschenrechtsrat gewählt. Wir wollen einen Dialog, wir wollen eine Untersuchung darüber, was ASOMAC auf dem Land betrieben hat und was nun La Lagartera dort betreibt. Wir haben Flora und Flauna gepflegt, wir haben keine Bäume gefällt, wir haben der Umwelt keinen Schaden zugefügt. Aber was sehen wir jetzt: Monokultur! Bäume wurden gefällt, um Reis als Monokultur anzubauen.

Welche Bedeutung hat die Unterstützung von Solidaritätsgruppen und Organisationen wie FIAN für ASOMAC?
CCC: FIAN hat uns großartig geholfen, uns neue Wege gezeigt, wie wir unser Recht einfordern können. Dafür sind wir zu großem Dank verpflichtet. Umso mehr, als wir beim Staat kein Gehör für unsere Anliegen gefunden haben. Einer dieser Wege ist die Kleinbauernvereinigung Tierra y Vida (Land und Leben), der wir uns angeschlossen haben, um uns gegenseitig moralisch zu unterstützen und zu sehen, was wir gemeinsam in unseren Kämpfen bewegen können. An diesem Punkt befinden wir uns zur Zeit.

Zum Jahresbeginn ist ein Freihandelsabkommen zwischen Ecuador und der Europäischen Union in Kraft getreten, dem sich Ecuador lange verweigert hatte. Sind die Auswirkungen absehbar?
MVP: Der Freihandelsvertrag, der von der Regierung in Quito beschönigend als Übereinkommen bezeichnet wird, wurde Ende 2016 unterzeichnet, mitten im Wahlkampf, so dass es keine größeren Informationen für die Bevölkerung darüber gab. Die Organisationen der Zivilgesellschaft und ihre Befürchtungen wurden auch nicht im Verhandlungsprozess berücksichtigt. Auch die indigenen Völker wurden bei den sie betreffenden Punkten nicht konsultiert, obwohl sie darauf einen Rechtsanspruch haben. Unsere Erwartungen beruhen auf den Erfahrungen der Nachbarländer Peru und Kolumbien, bei denen dieses Freihandelsabkommen, dem Ecuador nun verzögert beigetreten ist, schon seit Mitte 2013 in Kraft ist. Was sich dort abzeichnet, ist eine Zunahme an Konflikten rund um die Kleinbauern, die durch die Marktöffnung einer europäischen Konkurrenz ausgesetzt sind, der sie nicht gewachsen sind.
In Bezug auf Ecuador müssen wir noch untersuchen, wie sich dieses Freihandelsabkommen auswirken wird. Wir befürchten dasselbe Szenario, wie in Peru und Kolumbien, auch in Ecuador: Sprich, dass eine Zunahme der agroindustriellen Monokultur die Kleinbauern verdrängt und die Konflikte um den Zugang zu Land sich verschärfen, wenn die Türen für Investitionen geöffnet werden. Transnationale Investoren werden vermutlich tausende von Hektar kaufen, um Plantagenwirtschaft in Monokultur zu betreiben. Damit besteht das Risiko, dass die kleinbäuerliche Familienlandwirtschaft verschwindet. Wir müssen sehen, wie sich die Preise bei Milch, Bananen, Früchten, beim Saatgut entwickeln. In Kolumbien gingen schon viele Milchbauern wegen der Einfuhr von EU-Milchpulver Pleite. Die Konkurrenz für und unter den Kleinbauern wird zunehmen.

VERPASSTE CHANCE

Es war eine historisch einzigartige Konstellation, die Lateinamerika vor gut zehn Jahren erlebte. In einem Land nach dem anderen gewannen linksgerichtete Kräfte demokratische Wahlen. Nach der Schuldenkrise der 1980er Jahre und den Jahren neoliberaler Strukturanpassung schien es möglich, dass ein ganzer Kontinent aus dem Mainstream des Primats von Finanz und Profit ausscheren könnte. Ein neuer Prozess regionaler Integration wurde eingeleitet, der ganz andere Ziele verfolgte als die von der US-Regierung gewünschte und ein Jahr zuvor von Lateinamerika abgelehnte gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA. In vielen Ländern, darunter Ecuador, hatten soziale Bewegungen nicht nur Regierungen unblutig zu stürzen vermocht, sondern auch Visionen einer anderen Gesellschaft entwickelt. Seit den späten 1960er Jahren hatte soziale Emanzipation nicht einen solchen Aufwind erlebt.

In den ersten Jahren atmete Ecuador Demokartie von unten.

In dieser Konjunktur kam der Ökonom Rafael Correa in Ecuador an die Macht. Er begann seinen Wahlkampf als Außenseiter, doch gelang es ihm und seiner Bewegung Alianza País, die Forderungen der sozialen Bewegungen auf die wahlpolitische Ebene zu übersetzen. Das Land sollte am besten neu gegründet werden – eine neue Verfassung musste her. Der neue Präsident regierte in den ersten Monaten hauptsächlich mit Ausnahmedekreten, um das alte Establishment in Schach zu halten und das Parlament zu umschiffen. Dennoch atmete Ecuador in diesen ersten Jahren Demokratie von unten.

Student*innen, Indigene, die Frauenbewegung, Gewerkschaften – alle machten sich daran, ihre Vorstellungen von einer gerechteren Gesellschaft, vom Ende des Patriarchats, von kostenloser allgemeiner höherer Bildung, von wahrhaft interkulturellen Institutionen auszuformulieren: Institutionen, die nicht nur Indigene und Schwarze und Frauen per Quote beteiligen, sondern sich auch anderen Logiken als den herrschenden westlichen, patriarchalpaternalistischen und rassistischen öffnen sollten, was Vorstellungen von Gerechtigkeit und Rechtssprechung, von Gesundheit, ja vom Funktionieren des Staates selbst anbelangte. Das war die Vision eines entkolonialisierten, plurinationalen Staats, in dem die Ureinwohner*innen nicht nur am Funktionieren eines vorgegebenen, liberalen Räderwerks beteiligt werden sollten. Ihre eigene Erfahrung von Gemeinschaft, von Entscheidungsfindung und Konfliktlösung sollte dieses Räderwerk vielmehr selbst von Grund auf umbauen.

Zehn Jahre später ist diese Aufbruchstimmung in ihr Gegenteil umgeschlagen. Nach der Annahme der Verfassung per Volksabstimmung im Jahr 2009 ersetzten die Dynamiken der Realpolitik bald die Konjunktur der Visionen. Zum einen aufgrund der Wirkungsmacht der staatlichen Institutionen selbst. Die Correa-Regierung hat sie nach neoliberalen Managementkriterien modernisiert und auf Effizienz getrimmt. Wobei ihr interkultureller und emanzipatorischer Umbau, der nur als behutsamer, experimenteller Prozess möglich gewesen wäre, zwangsläufig auf der Strecke blieb.

Hinzu kam zum anderen die durch die außerordentlich hohen internationalen Rohstoffpreise attraktiv gewordene Vertiefung des Extraktivismus. Zwar sollte mit den Einnahmen aus dem Rohölexport die wirtschaftliche Diversifizierung und Abkehr von der strukturellen Abhängigkeit finanziert werden – doch blieb der vielbeschworene Cambio de la Matriz Productiva, also die strukturelle Veränderung der Produktionsmatrix, ein Papiertiger. Ecuador ist heute abhängiger von Rohstoffexporten denn je, und im amazonischen Nationalpark Yasuní, bis 2013 internationales Symbol für effektive Klimapolitik unter dem Motto „lasst das Öl im Boden“, entstehen die ersten von 600 geplanten Bohrlöchern. Die ecuadorianische Unternehmenslandschaft weist in vielen Bereichen einen hohen Konzentrationsgrad auf, den die Correa- Regierung nicht antastete. Während rhetorisch oft gegen die wirtschaftlichen Eliten gewettert wurde, erzielten diese unter der Bürgerrevolution historische Gewinnmargen.

Die Correa-Regierung nutzte, wie auch ‚linke‘ Regierungen andernorts, ihre hohe Legitimität, um Maßnahmen durchzusetzen, die unter einer rechten Regierung am Widerstand der organisierten Bevölkerung gescheitert wären. Ein Beispiel ist das zum 1. Januar 2017 in Kraft getretene Freihandelsabkommen mit der EU. Auch mit der Ausweitung des Extraktivismus – der Erschließung neuer Ölvorkommen im Amazonasbecken und der Einführung des transnationalen Megabergbaus in dem biodiversen Land – nahm die Regierung strukturelle Weichenstellungen vor, die nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Auswirkungen haben: Die für die Verteilung der Rente zuständige staatliche Zentralmacht wird gestärkt, die Kontrollinstanzen werden geschwächt. Dies begünstigt Korruption, und dass Ecuador hierbei keine Ausnahme darstellt, zeigen die zahlreichen Korruptionsskandale rund um das staatliche Ölunternehmen Petroecuador und die brasilianische Baufirma Odebrecht im Vorfeld der Wahlen. Diese warfen auch lange Schatten auf Jorge Glas, der für Alianza País erneut als Vizepräsident kandidiert. Dass sich diese Skandale nicht nennenswert auf die Wahlprognosen ausgewirkt haben, liegt unter anderem an der politischen Erlahmung der Bevölkerung angesichts eines Staates, der sich als einzig legitimer Akteur sozialen Wandels versteht. Aber auch an der Dominanz der Regierungssicht in der ecuadorianischen Medienlandschaft und der in den vergangenen Jahren aufgrund der Petrodollars intensivierten Konsumkultur.

Die hohe Konzentration der Unternehmen hat die Regierung nicht angetastet.

Die nach dem Neoliberalismus populäre Forderung nach der „Rückkehr des Staates“ ist in einem disziplinierenden Etatismus gemündet, der einige Steuerungsinstrumente des Realsozialismus des 20. Jahrhunderts mit dem Erbe der zutiefst kolonial geprägten, autoritär-populistischen und strukturell korrupten politischen Kultur Lateinamerikas verbindet: enge Verstrickung zwischen Staat und Partei, Personenkult und faktische Aufhebung der Gewaltenteilung, Koppelung von Vergünstigungen und Sozialleistungen an politische Loyalität, und schließlich eine Polarisierungslogik, in der Kritik und Debatte auch in den eigenen Reihen von vornherein unterbunden ist. So hat sich Alianza País 2014 einen Ethikcode gegeben, der zum Beispiel der eigenen Parlamentsfraktion das Öffentlichmachen von Dissidenz unter Androhung des Mandatsverlustes verbietet.

Die Bürgerrevolution hat dem Land eine lang ersehnte politische Stabilität und eine neue Infrastruktur beschert. Während sie darauf bedacht war, im Ausland ihr revolutionäres Bild zu pflegen und beispielsweise Julian Assange politisches Asyl zu gewähren, baute sie im Inland im Zuge der Digitalisierung staatlicher Dienstleistungen auch die staatliche Überwachung der Bürger*innen aus. Vor allem aber betrachtete sie jegliche Form autonomer sozialer Organisierung als Bedrohung der eigenen Macht und bekämpft sie – mit einigem Erfolg. Die Indigenen- und Studierendenbewegung sowie die Gewerkschaften sind heute nur noch ein Schatten ihrer selbst. Andauernde Diffamierung in der Öffentlichkeit, die Gründung von regierungstreuen Parallelorganisationen, aber auch Repression und Militarisierung, wie sie das im lateinamerikanischen Kontext außerordentlich friedliche kleine Land am Äquator nicht kannte, haben schließlich gefruchtet. Über 400 Gerichtsverfahren gegen Aktivist*innen sind derzeit anhängig. Im Süden des Landes, wo die indigenen Shuar-Gemeinden gegen die Konzessionierung ihrer angestammten Gebiete an eine chinesische Bergbaufirma protestieren, herrschen seit Monaten die Armee und der Ausnahmezustand.

Über 400 Gerichtsverfahren gegen Aktivist*innen sind derzeit anhängig.

Als Erfolg der Correa-Regierung gilt vor allem die Reduzierung von Armut und Ungleichheit – in deren Namen der Extraktivismus stets gerechtfertigt wurde. Zwischen 2007 und 2015 war die Armut nach offiziellen Angaben um 13,4 Prozentpunkte gesunken. Aufgrund des Zusammenbruchs der Ölpreise auf dem Weltmarkt seit der zweiten Jahreshälfte 2014 ist sie jedoch seitdem wieder gestiegen – was zeigt, wie wenig nachhaltig die von der Correa-Regierung ergriffenen Maßnahmen waren. Ein offener Brief der Shuar-Indigenen macht außerdem deutlich, wie monodimensional der produktivistische Armutsbegriff der Regierung ist: „Kommen Sie uns nicht damit, dass Sie Bergbau betreiben, um uns aus der Armut zu holen. Denn wir fühlen uns mit unserer Lebensweise nicht arm. Sagen Sie uns lieber, wie Sie uns als Volk und unsere Kultur schützen werden.“

Wer die bevorstehende Stichwahl gewinnt, tritt ein problematisches Erbe an. Er oder sie erbt ein Land, das sich auf Jahrzehnte verschuldet und obendrein überteuerte Kredite mit Zinssätzen von teils über zehn Prozent aufgenommen hat. Selbst die produktivsten, zuvor staatlichen Ölfelder wurden vor kurzem gegen schnelles Geld an transnationale Konzerne wie Schlumberger und die chinesische CERGG verscherbelt – ganz im Gegensatz zur Politik der frühen Jahre, die den Anteil der Staatseinnahmen aus der Ölförderung erweitert hatte.

Hinzu kommt, dass ein beträchtlicher Teil der an sich schon eher bescheidenen Ölreserven bereits im Voraus an China verkauft wurde und die Einnahmen hieraus längst ausgegeben sind – ebenso wie auch die erwarteten Lizenzgebühren aus dem erst beginnenden Bergbau bereits zu einem Großteil kassiert wurden und in Schulneubauten und Ähnliches geflossen sind. Da bleibt in Zukunft nicht viel finanzieller Spielraum für staatliche Politik. Vielmehr wurden die natürliche Vielfalt des Landes und die Optionen künftiger Generationen im Rahmen kurzfristigen politischen Kalküls verpfändet.

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