Die Pyramide umdrehen

25. Jahrestag des Aufstandes Aufmarsch der Milizen der EZLN im Caracol La Realidad (Foto: Anne Haas)

Die Silvesterfeier 23/24 ist Jubiläumsfeier der zapatistischen Aufstände in Chiapas. 30 Jahre ist es her, dass das Ejército Zapatista de Liberación Nacional (Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung, EZLN) zu den Waffen griff und den „Krieg gegen das Vergessen“ begann. In den 90er Jahren wurden die autonom regierten Teile des südlichen Bundesstaats Mexikos zu Orten der Hoffnung und Inspiration für linke Bewegungen weltweit. Internationalistische Brigaden reisten nach Chiapas, bis heute ist die Solidaritätsarbeit mit organisierten Gruppen in der Region stark. Die „Reise für das Leben“ der zapatistischen Delegation durch Europa 2021 stärkte alte Strukturen und schuf neue Netzwerke.

Die fünf Caracoles (sp.: Schneckenhäuser; so werden die Verwaltungszentren der autonom verwalteten Gemeinden genannt), seit 2019 auf zwölf erweitert, waren als Sitze der Räte der Guten Regierungen stets Anlaufpunkt für die lokale Bevölkerung, mexikanische und internationale Solidarität sowie unterstützende NGOs. Mit der Pandemie, und zuletzt der steigenden Gewalt in Chiapas wurde es jedoch etwas ruhiger um die Caracoles. Schilder mit der Aufschrift „Caracol geschlossen“ hingen seit Anfang 2023 an den Eingängen. Folglich wuchsen im Laufe des Jahres Sorge als auch Neugierde in Chiapas, vorangetrieben durch kecke Kommentare einzelner compas, Mitglieder der Zapatistischen Bewegung: „Ihr wisst, wir können nichts verraten, aber es wird etwas Großes kommen.“

Die Aufregung war daher groß, als im Oktober die ersten Kommuniqués auf der Internetseite enlace zapatista erschienen. Gleich in der zweiten Meldung wurde der symbolische Tod von Subcomandante Galeano, der 2014 Subcomandante Marcos ersetzt hatte, verkündet. Statt ihm tritt nun Capitán Insurgente Marcos als neue Identität auf den Plan, nebst dem seit 2014 offiziellen Sprecher Subcomandante Moisés, auch freundschaftlich bekannt als Sub Moy. Bereits seit zehn Jahren stecken die Zapatistas in den Vorbereitungen für die nun angekündigten Veränderungen, so Sub Moy im dritten Kommuniqué. Diese seien notwendig im Angesicht der katastrophaler werdenden Bedingungen durch staatliche Aggressionen und Drogenkrieg, den Klimawandel, Migration sowie die Pandemie.

„Der Sturm ist schon da, die ersten Tropfen fallen“, schreibt der Subcomandante, er komme schneller als gedacht und die bisherigen Strukturen seien ihm nicht gewachsen. Die Analyse der Zapatist*innen ist nicht optimistisch, sie ist realistisch und praxisnah. Sie verfallen jedoch auch nicht in apokalyptische Lähmung, stattdessen denken sie langfristig. Die gesetzten Ziele sollen ein Leben in Freiheit und mit Verantwortung für diejenigen ermöglichen, die in 120 Jahren leben, die siebte Generation von Kindern. Im Kommuniqué werden sie durch die Ururururenkelin des jungen zapatistischen Mädchens Dení symbolisiert. „Leben zu vererben“, so dass kommende Generationen mit Eigenverantwortung Entscheidungen treffen können, soll die Perspektive sein. In der vierten, der neunten und der zehnten Meldung wird konkretisiert, wie genau die neuen Strukturen aussehen werden. Die Auflösung der Zapatistischen Rebellischen Autonomen Landkreise (Municipios Autónomos Rebeldes Zapatistas, MAREZ) und der Räte der Guten Regierung (Juntas de Buen Gobierno, JBG) sorgten zunächst für vorschnelle Gerüchte über das Ende der Zapatistas. Diese wurden jedoch schnell, in ironischem Ton und mit Seitenhieb auf schlecht recherchierte Pressearbeit von den Zapatistas selbst ausgeräumt: „Die jetzige Regierung sagt, genau wie die früheren Regierungen, wir seien verschwunden oder seien geflohen oder hätten große Niederlagen erlitten, oder es gäbe gar keine Zapatistas mehr und wir seien in die USA oder nach Guatemala abgehauen. Aber schau nur: Hier sind wir. In Widerstand und Rebellion.“

Nach wie vor lebendig, widerständig und rebellisch

Dafür sollen die MAREZ und die Räte der Guten Regierung durch Lokale Autonome Regierungen (Gobiernos Autónomos Locales, GAL) abgelöst und Macht und Verantwortung dadurch nach unten an die Basis zurückgeführt werden. Die Gemeinden sollen einerseits besser und schneller auf die steigende Anzahl von Aggressionen reagieren können, worauf sich insbesondere auch der bewaffnete Arm der Bewegung, die EZLN vorbereitet. Gleichzeitig soll jedoch die hierarchische, pyramidenhafte Machtverteilung in der zivilen Regierung, wo die Verantwortung bei einigen wenigen liege und Entscheidungsträger*innen von Gemeinden trenne, aufgelöst beziehungsweise umgedreht werden. Die alten MAREZ und JBG waren wichtig, um etwas über basisdemokratisches Regieren zu lernen, hätten über die Jahre aber ihre Schwachstellen gezeigt. Die Regierungsstrukturen werden durch die GAL, von denen eine in jeder zapatistischen Gemeinde existieren wird, dezentralisiert und vor allem entbürokratisiert, um schnelle Entscheidungsfindung zu ermöglichen, so Subcomandante Moíses. Für Anliegen, die in größeren Zusammenschlüssen organisiert werden müssen, wie beispielsweise die Wasser- oder Gesundheitsversorgung und Organisation von Bildung, können die GAL sich regional und gemeinsam in den Kollektiven der autonomen zapatistischen Regierungen (Colectivos de Gobiernos Autónomos Zapatistas, CGAZ) zusammen­schließen, welche sich wiederum in größeren Zonen in Vollversammlungen vereinen können (Asambleas de Colectivos de Gobiernos Autónomos Zapatistas, ACGAZ). Dabei werden die Entscheidungen von der Basis in die Regionen und Zonen getragen, anstatt umgekehrt, vor allem auf den oberen Ebenen zu entscheiden und die Basis nur zu informieren, wie es sich den selbstkritischen Meldungen Neun und Zehn zufolge eingebürgert hatte.

Die Kommuniqués Nummer 13 und 14 sind bei Redaktionsschluss die letzten Kommuniqués vor zwei als fünfzehnte und sechszehnte Meldung veröffentlichten Videos. Sie stellen die politischen Analysen der Zapatistas in Bezug darauf vor, was in den letzten Jahren in Chiapas, Mexiko und der Welt passiert ist. Dabei nehmen sie auch immer wieder Bezug auf andere Kämpfe, wie die unermüdliche Arbeit der Buscadoras (dt.: die Suchenden; gemeint sind die Mütter von Personen, die gewaltsam verschwinden gelassen wurden, Anm. d. Red.) in Mexiko, den Konflikt um Zypern oder den historischen und aktuellen Widerstand der palästinensischen Zivilbevölkerung. Die Rolle des neu auf den Spielplan gerufenen Capitán Insurgente Marcos sei, nach den abgelösten Subcomandantes Galeano und Marcos, die kritische, pessimistische Stimme des Zapatismus zu sein und immer das Schlimmste vorherzusagen, um es zu verhindern. Der aktuelle Horizont aus dieser Perspektive ist eine apokalyptische Hypothese – die Menschheit ist nicht mehr zu retten. Vernichtungskriege und die fortschreitende Zerstörung der Natur sind notwendig zur Erhaltung des Systems und daher mehr Normalzustand als Ausnahme. Der Capitán selbst widerlegt seine Hypothese nach eigenen Regeln jedoch sogleich wieder mit Beispielen für Gegenbewegung. Die Zapatistas lassen trotz deprimierendem Ausblick keinen Raum für Zynismus: „Die bloße Möglichkeit – minimal, winzig, unwahrscheinlich bis zu einem lächerlichen Prozentsatz –, dass Widerstand und Rebellion zusammenfallen, bringt die Maschine ins Straucheln. Das bedeutet noch nicht ihre Zerstörung. (…) Und doch muss eine neue Hypothese entworfen werden.“

Wenn keine Türen mehr da sind, braucht es Risse im System

Dazu müssen auch europäische und andere solidarische Bewegungen von unten und links, wie die Zapatistas sagen, ihren Beitrag leisten. Die kleinen Risse, die sie im System erzeugen, müssen ausgeweitet werden, Bewegungen kreativ bleiben und nicht nach den Regeln des Feindes spielen, um Kooptierungsversuchen durch den Staat und grünen Kapitalismus zu widerstehen. Aus Chiapas kommen dafür kreative, philosophische und, angesichts der prekären Lage, überraschend humorvolle Impulse und Analysen. Jahrhunderte des Widerstands härten ab. „Wir müssen weiterlaufen, inmitten des Sturms. Aber das kennen wir als (indigene) Völker schon, zu laufen, mit allem gegen uns.“ Und obwohl einschneidend, sei die Restrukturierung der Autonomie noch lange nicht alles, was die Zapatistas in den kommenden Wochen anzukündigen hätten. Mehr Neuigkeiten aus dem lakandonischen Urwald können also mit Spannung erwartet werden.

„WIR WISSEN WIE WIR LEBEN WOLLEN!“

ANGEL SULUB, JUAN CAAMAL, NISAGUIE CRUZ

„Ich bin Angel Sulub, ein indigener Maya aus Yucatán und Mitglied des Nationalen Indigenen Kongresses (CVI). Ich wurde zum Delegierten ernannt, um diese zapatistische Tour zu begleiten.“

„Ich bin Juan Caamal auch aus Yucatán. Ich bin ebenfalls ein Mitglied des CNI und wurde auch als Teil der Delegation mit dieser Tour beauftragt.“

„Mein Name ist Nisaguie Cruz, ich komme aus der Gemeinde Zapaoteca Chitan, Oaxaca. Ich bin auch eine Delegierte des CNI und begleite diese Tour“
(Foto: Videoclips Freundeskreis)


 

Wie ist es Ihnen, dem CNI, den Zapatistas und anderen gelungen, für dieselbe Idee zusammenzuarbeiten?
Angel Sulub: Wir als CNI sind der Meinung, dass dieser Kampf um das Leben ein Kampf für die gesamte Menschheit ist und dass das kapitalistische, patriarchalische und koloniale System in allen Regionen dieser Welt präsent ist. Die Macht und die Unterwerfung in den Ländern ist unterschiedlich und geschieht auf verschiedenste Weise, aber letztlich ist es ein System, das zum Zusammenbruch der Menschheit führt. Sie zerstören den Planeten und das, was in einem Teil der Welt passiert, hat Auswirkungen auf andere Teile. Bei uns in den Minen, in den Bergbaugebieten, sterben die Menschen wegen der Verschmutzung des Wassers.
Juan Caamal: Wir als Indigene teilen den Schmerz, die Kämpfe und die Ereignisse. Eines, was wir tun werden, ist, zu einer gemeinsamen Organisation aufzurufen. Unsere Forderung ist es, uns zu organisieren und damit zu beginnen nach anderen Lebensweisen in Koexistenz mit Mutter Natur zu suchen. Wir suchen nach einer Welt, in die viele Welten passen. Eine Welt, in der Anarchisten und Sozialisten in Frieden miteinander leben. Und auch wir bitten, in Mexiko als Mayas glücklich und zufrieden leben zu dürfen, in Koexistenz mit Anarchisten und Sozialisten. Wir müssen uns gegenseitig schützen – das kapitalistische System scheint dabei der einzige Zerstörer zu sein. Deshalb fordern wir eine gemein- schaftliche, politische, psychologische und soziale Organisation zum Schutz und zum Zusammenleben auf der Erde.

Welche Gefahren stellen Megaprojekte wie der Tren Maya, der interozeanische Transportkorridor, das Morelos-Integralprojekt und der Flughafen Santa Lucia aus Sicht der indigenen Gemeinden dar?
A.S.: Die Megaprojekte verschärfen die Situation der pueblos originarios (indigene Gemeinden, Anm. d. Red). Sie verfolgen alle dieselbe kapitalistische, extraktivistische Logik, die darauf abzielt, die Völker zu enteignen, uns unser Land wegzunehmen und uns auszubeuten. Sie plündern unsere natürlichen Ressourcen wie Wasser, Land, Holz und alles, was unseren Gemeinden heilig ist. Die von Ihnen genannten Beispiele sind nur einige von vielen anderen Megaprojekten, die weiterhin das Leben unserer Völker bedrohen. Das Bahnprojekt, das fälschlicherweise Tren Maya genannt wird und eines der von der derzeitigen Regierung am meisten geförderten Projekte ist, soll fünf Bundesstaaten des Landes durchqueren, etwa 1.500 Kilometer. Aber wir sagen immer: Es ist keine Bahn und mit Maya hat sie nichts zu tun. Es handelt sich nicht nur um eine Bahn, sondern um eine Reihe von miteinander verbundenen Megaprojekten wie: Energie, Tourismus, agroindustrielle Projekte, Schweinefleischproduktion, die Schaffung von Industrieparks, Infrastrukturprojekte wie neue Flughäfen, Urbanisierung und Immobilienentwicklung. Es gibt viele Projekte, die mit den Interessen des so genannten Tren Maya verbunden sind, von denen jedes einzelne nicht nur die Umwelt, sondern auch die Selbstversorgung der Völker, die Autonomie der Völker, ihre Identität und ihre Organisationsformen bedroht. Mit anderen Worten: Die Auswirkungen jedes dieser Megaprojekte auf unsere Gebiete sind so groß, dass wir sie hier in Europa anprangern und teilen müssen. Wir erleben eine Situation der Ausplünderung und der Verletzung der Rechte unserer Völker.
Nisaguie Cruz: Im Falle des Transportkorridors wollen sie auch eine Grenze errichten, um die gesamte Migration aus dem Süden stoppen zu können. Ein Ort, um Billiglohnfabriken zu errichten, wo Migrant*innen als schlecht bezahlte Arbeitskräfte eingesetzt werden. Nicht nur sie, sondern auch die Menschen, die dort leben, sollen ausgebeutet werden. Und all das bringt eine Menge Gewalt mit sich. Wir wissen bereits, was in Cuidad Juárez, an der mexikanischen Nordgrenze passiert ist. Es gibt Verschwundene, es gibt Morde und es gibt Feminizide (siehe LN 551). Und genau das wird auch mit uns geschehen. Es ist eine Form von Völkermord, um uns verschwinden zu lassen.

Können Sie einige dieser Unternehmen oder kriminelle Banden nennen, die dort tätig sind?
A.S.: Am Bau des Tren Maya sind viele Unternehmen beteiligt, sowohl bei der Konstruktion als auch bei der Beratung. Mexikanische Unternehmen wie die Carson-Gruppe, die Carlos Slim gehört, einem der reichsten Männer der Welt, ist an der Bahn interessiert und beteiligt sich am Bau, ebenso europäische Unternehmen wie Renfe aus Spanien oder die Deutsche Bahn und viele weitere Unternehmen. Aber es gibt auch Tourismusunternehmen, die über die touristischen Entwicklungspole davon profitieren werden. Vor allem spanische Unternehmen, die im Bundesstaat Quintana Roo ansässig sind und auch Unternehmen, die durch ihre Anteile an diesen Unternehmen mit ihnen verbunden sind.
Darüber hinaus gibt es viele Drogenkartelle und bekannte kriminelle Organisationen, die ebenfalls in diese Gebiete vordringen. Das passiert mit der Komplizenschaft der Regierung von Bund, Ländern und Gemeinden. Sie sind Teil desselben politischen Systems in Mexiko und desselben globalen kapitalistischen Systems.
N.C.: Bei den Windparks handelt es sich überwiegend um spanische und französische Anlagen. Im Moment haben wir ein Verfahren gegen EDF laufen, ein französisches Unternehmen. EDF will unsere Kolleg*innen dort schikanieren und kriminalisieren, ebenso wie die FEMSA-Gruppe, Coca-Cola, Walmart und andere. Viele der Unternehmen arbeiten dabei zusammen.
A.S.: Ein weiterer problematischer Akteur bei Megaprojekten sind die Bergbauunternehmen. Es gibt viele Bergbaukonzessionen, die beispielsweise an kanadische Unternehmen vergeben wurden, die für die tägliche Zerstörung des Territoriums und Todesfälle verantwortlich sind. Ich möchte daran erinnern, dass Samir Flores Soberanes, einer der Gegner des Projektes Morelos-Integral (Infrastruktur-Projekt der staatlichen mexikanischen Stromgesellschaft CFE, Anm. d. Red.), vor zwei Jahren ermordet wurde und er ist nicht der Einzige. Allein während dieser Legislatur sind viele andere Verteidiger*innen dieser Gebiete ermordet worden.

Manchmal scheint es, dass indigene Gemeinschaften durch die Megaprojekte gespalten werden, weil einige von ihnen plötzlich Geld verdienen oder es mehr Arbeit gibt als anderswo. Erkennen Sie hier das Teile- und-herrsche-Prinzip?
A.S.: Das war schon immer eine Strategie der politischen Parteien und der nationalen politischen Systeme, befördert durch die Steuerung der Menschen durch Wohlfahrtsprogramme. Die Regierung verfolgt also eine äußerst gut durchdachte Strategie, die Menschen zu spalten. Ein Weg das zu erreichen, erfolgt über die politischen Parteien. Die Mayas, die dort in den Gemeinden als Würdenträger autonom handeln und ihre Entscheidungen eigenständig treffen, wurden durch die Parteien gespalten. Die Organisation und das autonome Gemeinschaftsgefüge brechen zusammen und es kommt zu Konflikten. So verlieren die Gemeinden und der Widerstand gegen die Megaprojekte ihre Stärke. Das Prinzip der Spaltung ist also immer allgegenwärtig.

Welche Hauptgemeinsamkeiten verbinden die indigenen Gemeinschaften?
A.S.: Die indigenen Gemeinden Mexikos sind keine Relikte der Vergangenheit, wir leben und leisten Widerstand. Wir sind nicht diejenigen, die in Museen oder an archäologischen Stätten ausgestellt werden, sondern wir sind Völker, die eine lebendige Kultur haben. Wir sind bereit, uns mit den Unternehmen und den Regierungen anzulegen, und zwar nicht, weil wir den Konflikt suchen, sondern weil wir verteidigen, was wir sind, wir verteidigen unser Territorium. Wir wollen eine menschenwürdige Lebensweise für die Menschen aufbauen. Das ist nicht nur unser Kampf, sondern der Kampf aller. Das was wir schützen, ist das Leben, die Wälder, das Wasser, das Land – wir wollen, dass sich alle dem Kampf für das Leben anschließen. Sie sollen sich organisieren und zusammenschließen, auf ihre Art und Weise, nach ihrem Tempo, nach ihrer Denke und ihrem Sein, aber sie sollen für das Leben kämpfen. Denn wir stehen vielleicht vor der letzten Chance, die Menschheit und den Planeten zu retten.
N.C.: Wir wissen, wie wir leben wollen. Wir sind eine starke, intelligente Gemeinschaft, wir haben Weisheit und wissen, was wir wollen. Auch wenn viele denken, dass wir unwissend sind – wir sind es nicht! Wir wollen frei leben, wir wollen leben, ohne schikaniert zu werden, ohne getötet zu werden und ohne zu verschwinden. Wir wollen diesen Krieg nicht mehr, in den sie uns hineingezogen haben. Wir haben diesen Krieg nie gewollt. Wir haben mehr als 500 Jahre lang Widerstand geleistet und wir werden es auch weiterhin tun!

ALS HORIZONT DIE WELT

Zapatistas demonstrieren in Madrid (Foto: Timo Dorsch)

Ein Schiff ist auf dem heißen Madrider Asphalt unterwegs. Bunt geschmückt, stehen an der Reling sieben Indigene aus Mexiko. Sie winken der Menge hinter und neben ihnen zu, werfen ihnen Papierflieger entgegen. Das Thermometer zeigt, auch am frühen Abend noch, Temperaturen weit über der 40 Grad-Marke an. Es ist Freitag der 13. und es ist kein gewöhnlicher Unglückstag. Ein halbes Jahrtausend zuvor wurde an diesem Datum die Unterwerfung Mexikos durch die Spanische Krone besiegelt. Dass die sieben Indigenen, allesamt Zapatistas, in der spanischen Hauptstadt Präsenz zeigen, ist Ergebnis einer Verkettung von Unmöglichkeiten sowie einer langen Geschichte des Widerstandes.

Denn Widerstand kennt viele Gesichter. Er lebt von der Kreativität und der Fähigkeit, sich neu zu erfinden. Ganz besonders der Widerstand der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN). Deren Repertoire des politischen Kampfes reicht von der klandestinen Vorbereitung auf den bewaffneten Aufstand gegen die mexikanische Regierung, der Ausarbeitung eines landesweiten Gesetzespaketes im Austausch mit der mexikanischen Regierung, bis zur Umsetzung eines umfassenden Autonomieprojektes auf befreitem zapatistischem Gebiet fernab der mexikanischen Regierung. Das jüngste Element im Widerstandsrepertoire der Massenbewegung ist die seit Herbst letzten Jahres öffentlich geplante Reise für das Leben.

Es ist Oktober 2020, als die EZLN ankündigte, eine zapatistische Delegation in die Welt entsenden zu wollen. Erstes Ziel sollte Europa werden, andere Kontinente würden später bereist werden. Der Reise zugehörig ist eine Delegation des Nationalen Indigenen Kongresses (CNI), wovon die EZLN Teil ist, wie auch Mitglieder des regionalen Widerstandsnetzwerkes Frente De Pueblos Morelos Puebla Tlaxcala. Nebst der Verbindung zum früheren antikolonialen Widerstand jährt sich gegenwärtig der zapatistische Marsch der Farbe der Erde, der im Jahr 2001 insgesamt 1.111 Zapatistas nach Mexiko-Stadt führte, zum zwanzigsten Mal.

Sodann wurde am 1. Januar 2021, dem 27. Jahrestag des zapatistischen Aufstandes, eine Erklärung für das Leben veröffentlicht. Unterschrieben wurde sie von tausenden Gruppen, Organisationen, Einzelpersonen und Zusammenhängen weltweit. Ihrer Analyse der mexikanischen und globalen Verhältnisse folgend, zuletzt umfassend dargelegt auf dem 2015 stattgefundenen EZLN-Kongress angesichts der kapitalistischen Hydra, kann der Kampf gegen die kapitalistische Verwüstung der Welt kein partikularer, sondern allein ein universeller Kampf sein.

Die EZLN beabsichtigt zeitversetzt in mehreren Gruppen insgesamt 501 Zapatist*innen auf den Weg gen Europa zu schicken. Die erste Gruppe, ungefähr 150 Personen stark, besteht zu 80 Prozent aus Zapatistinnen. Alle Generationen des zapatistischen Kampfes sollen vertreten sein. Auf der Erkundungstour sollen primär Zusammenkünfte und Treffen mit hiesigen Gruppen, Zusammenhängen und Organisationen erfolgen, die unter den europäischen Bedingungen eigene Formen des politischen Kampfes erproben. Denn, so die Zapatist*innen: „Das Andere zu sehen und zu hören, wird uns vielleicht helfen auf unserem Weg – oder auch nicht. Das Andere zu kennen, ist jedoch auch Teil unseres Kampfes und Unterfangens – unserer Menschlichkeit.“

Der Vorschlag der EZLN mündete in der Gründung landesweiter Vorbereitungsstrukturen, so auch in Deutschland. Er führte dazu, dass unabhängig von der politischen Ausrichtung und Strömung all jene zusammenkamen, die sich an der Ermöglichung dieser Reise beteiligen wollen. Ähnlich zu den zapatistischen internationalen Frauentreffen der letzten Jahre, bei denen mehrere tausend Frauen und Queers aus aller Welt teilnahmen, ist auch dieses Mal erstaunlich, über welches Anrufungspotential die EZLN auch heute noch verfügt.

Eigentlich sollte die Delegation im Juli per Flugzeug in Paris eintreffen. Doch eine verzögerte Passausgabe in Mexiko aus rassistischen Gründen, restriktive Einreiseregelungen seitens Frankreichs und die allgemeine Corona-Lage (Mexiko ist weltweit auf Platz vier bezüglich der absoluten Todeszahlen) verhinderten dies. Am Internationalen Tag der Verschwundenen, dem 30. August, gab die Organisation schließlich bekannt, dass sie am 14. September in Wien landen werden.

An diesem Freitag jährte sich also zum 500. Mal das Massaker, das am 13. August 1521 die Spanische Krone an der Bevölkerung von Tenochtitlán, dem heutigen Mexiko-Stadt, verübt hatte. In jener Nacht wurden, so die Schätzung, 80.000 Aztek*innen von den Spaniern massakriert. Das Massaker markiert die Unterwerfung des damaligen Aztek*innen-Reiches gegenüber der Spanischen Krone und damit auch die Eroberung des heutigen Mexikos. Ähnlich zu Oktober 1992, dem 500. Jahrestag seit Beginn der Eroberung Amerikas durch Spanien, steht dieses Datum symbolisch für Kolonialisierung wie auch für Widerstand.

Widerstand lebt von der Kreativität und der Fähigkeit, sich neu zu erfinden

Und wie zum jetzigen 500. Jahrestag hatten sich die Zapatist*innen auch 1992 öffentlich politisch geäußert. Sie beteiligten sich damals am 12. Oktober – noch nicht unter der öffentlichen Flagge der EZLN, sondern lediglich in Form einzelner Mitglieder – an einer Demonstration in der Kolonialstadt San Cristóbal de las Casas, die sie am 1. Januar 1994 militärisch einnehmen würden. Auf dieser Demonstration wurde die Statue des spanischen Eroberers Diego de Mazariegos gestürzt und geköpft.

Die EZLN schickte dieses Jahr, noch vor der eigentlichen Delegation, eine Vorhut, das Geschwader 421, um auf maritimen Weg Europa zu erreichen. Nach fünf Wochen Atlantiküberfahrt auf dem umgetauften deutschen Segler Stahlratte, Baujahr 1903, erreichte die Gruppe am 20. Juni europäisches Festland. Das Geschwader 421 besteht aus vier Frauen, zwei Männern, und einer*einem Anderer*m bzw. otroa im zapatistischen Sprech. Marijosé, die*der otroa, betrat als erste*r Zapatista europäischen Boden. Marijosé war die*der erste*r Zapatista, die*der das Wort ergriffen hat. Dass eine*r Andere*r diesen zentralen Platz in dieser zapatistischen Kampagne einnimmt, ist kein taktisches Manöver. Die EZLN steht seit ihrem öffentlichen Auftreten für einen Gesellschaftsanspruch, der Identitäten über alle Grenzen hinweg einschließt, divers und offen ist. Ausgehend von der eigenen Marginalisierung als Indigene hat die EZLN stets versucht, Brücken des Kampfes zu bauen, die Situation der Ausgeschlossenen zu thematisieren und das Gemeinsame zu betonen.

Weltweit unterzeichneten Gruppen die Erklärung für das Leben der Zapatistas


Auch wenn das historische Datum des 13. Augustes vor neun Monaten seitens der EZLN als Tag einer europaweiten Demonstration gesetzt wurde, fanden sich an diesem frühen Abend weniger Menschen ein als erwartet. Geschätzte 3000 Sympathisant*innen der zapatistischen Bewegung kamen und liefen dem Schiff hinterher. Zwischen ihnen marschierte eine Polizei-Kette, die es zuvor geschafft hatte, Demonstrationszug und Schiff ohne jeglichen Widerspruch voneinander zu trennen. Die Dekoration des Schiffes, mit bunten Luftballons und Wimpeln, wirkte eher karnevalesk und weniger wie ein politisches Statement. Das lag auch daran, dass die Bedeutung genau dieses Schiffes nicht deutlich wurde.

Es war nicht irgendein Schiff. Das Schiff ist Ausdruck eines utopischen Gedankens, eines unmöglichen Wunsches. Das Schiff ist Teil der Madrider politischen Geschichte, entsprungen aus dem Arbeiter*innenviertel Vallecas, wo 1981 eine Gruppe junger Menschen am Rande eines katholischen Festes eine Wasserschlacht organisierte. Aus dieser Schlacht entsprang der Wunsch nach einem eigenen Hafen. Und das in einer Stadt, die weit entfernt von einem großen Fluss, geschweige denn vom Meer liegt. Die Wasserschlacht wird alljährlich begangen, ihr politisches Motto variiert jeden Sommer: sei es gegen den Machismus oder auch gegen die Klimakrise. Begleitend zur Wasserschlacht wurde ein Schiff gebaut. Der Regierung missfiel es, sie verbot in den 1990er Jahren das „Fest von unten“, musste jedoch eingestehen, dass der Wunsch größer als die Repression war, die ihn nicht befrieden konnte. Die Feierlichkeiten gibt es noch immer. Auf diesem Schiff ohne Meer fand sich die zapatistische Delegation ein. Kurzum: Auf diesem unmöglichen Schiff standen unmögliche Rebell*innen, die sich auf einer unmöglichen Reise befinden.

Die Demonstration endete am Kolumbus-Platz. Hier fand sich die Menge ein, ihnen gegenüberstehend die zapatistische Vorhut. Die Rede, die sie hielt, trägt den Titel „Erst 500 Jahre später“. Jede*r von ihnen verlas einen Teil der Rede. An zwei Stellen sprachen sie gemeinsam. Die Rede, neben einer fundamentalen Kritik gegenüber den Negativfolgen der Moderne, beinhaltet eine erneute Betonung dessen, worauf es ihnen in ihrem Kampf gegen den Kapitalismus und für die Menschheit ankommt: „Denn zu leben, bedeutet nicht nur, nicht zu sterben, bloß zu überleben. Als Menschen zu leben, bedeutet, in Freiheit zu leben. Leben ist Kunst, ist Wissenschaft, ist Freude, Tanz, ist Kampf.“ Anders als andere Befreiungsbewegungen beansprucht die EZLN in diesem Kampf keine dominante oder alles bestimmende Position. Auch 25 Jahre nach ihrer vierten Erklärung aus dem lakandonischen Dschungel sind diese Sätze noch immer gültig: „Für alle das Licht. Alles für alle. Für uns der Schmerz und die Angst, für uns die freudige Rebellion, für uns die verweigerte Zukunft, für uns die rebellische Würde. Für uns nichts.“

„LA VIOLENCIA ESTÁ EN TODAS PARTES”

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CARLOS GONZÁLEZ GARCÍA
es abogado y miembro del comité de coordinación del CNI. Él participa allí desde los inicios del Congreso, fundado en 1996 por la, ahora difunta, comandanta Ramona del Ejército Zapatista de Liberación Nacional (EZLN).
(Foto: Heriberto Paredes)


Las denuncias de comunidades indígenas organizadas en el CNI debido a agresiones y ataques no cesan. ¿A qué se debe tanta violencia?
La violencia que se desató y continúa en contra de las comunidades, es por el despojo. Son las empresas nacionales y transnacionales que pretenden deshacer las comunidades de sus recursos y territorios. El despojo lo vemos como una cuartada que permite desarticular, destruir, desplazar y, a la vez, ocupar el territorio. Lo que vemos es una guerra continua contra las comunidades indígenas.

Lo que Usted describe es extremadamente violento y criminal. ¿No tienen que actuar las empresas conforme a la ley?
Hemos visto en varias ocasiones que los intereses de los carteles se articulan con los intereses de las empresas. Vemos que hay o una asociación directa o una coincidencia en la actuación de los grupos delictivos, las empresas y, muchas veces también, con diferentes fracciones del gobierno.

¿Qué significa esto en concreto?
En concreto se trata de corporaciones policiales y militares. Se han hecho partícipes de los carteles, sea de manera directa o porque no obstruyen su accionar. Muy claro es el caso de Ostula, una pequeña comunidad indígena en la costa pacífica del estado de Michoacán. Allí hay una disputa importante por el territorio con la empresa Ternium, una de las empresas de hierro más grande a nivel mundial (véase LN 543/544). La presencia del cártel de los Caballeros Templarios creció allí cuando la Marina se posicionó en nuevos puntos de la costa. Junto con este posicionamiento creció la influencia de los criminales en términos logísticos y militares. Otro caso es el de Morelos, donde tanto el gobierno anterior como el actual ayudaron de manera decidida a llevar a cabo el Proyecto Integral de Morelos [un megaproyecto para la generación de energía con gas natural, contra el que la población indígena y campesina de la región ha mostrado resistencia, nota de la redacción]. A la par de este proyecto, creció la presencia del crimen organizado. No necesariamente tiene que haber una articulación o trabajo conjunto entre los carteles y el gobierno, pero sí vemos una simultaneidad.

En febrero 2019, Samir Flores Soberanes, un miembro del CNI y figura central en una protesta regional contra el Proyecto Integral de Morelos, fue asesinado
Era integrante y promotor de la radio comunitaria. Yo lo conocí personalmente. No tenemos los elementos para decir quién lo hizo o cuál era el motivo, pero sí tenemos la suficiente claridad para afirmar que fue asesinado por su lucha. Después de su asesinato, la lucha no se detuvo. La lucha es siempre de una comunidad, no solamente de una persona. Sí pesan las personas en lo individual, pero lo que pesa más es la comunidad y lo colectivo. Hay miedo, hay preocupación, pero la lucha sigue.

Entretanto se modificó la constitución y se creó la controvertida Guardia Nacional (véase LN 539). ¿Desempeña el nuevo órgano militar un papel en los proyectos mencionados?
Hasta ahora no hemos visto que la Guardia Nacional haya sido usada de manera directa para llevar a cabo los megaproyectos. No obstante, en los asentamientos donde hay mayor interés en los megaproyectos (extracción de gas y petróleo, proyectos de comunicación) hay mayor presencia de la Guardia Nacional. Un caso paradigmático es el del Estado de Chiapas donde se encuentra el Ejercito Zapatista de Liberación Nacional (EZLN). Allí el tema de la delincuencia organizada es secundario y, sin embargo, Chiapas es el estado donde hay un mayor número de efectivos de la Guardia Nacional. Eso nos confirma que los militares guardan estrecha relación con la imposición de tales proyectos.

¿Por qué no logra el gobierno poner un fin a los ataques contra los pueblos indígenas?
La violencia no es solamente contra los indígenas, la violencia está en todas partes. En zonas rurales, en zonas urbanas, en todas las regiones. La situación está descontrolada. El gobierno no puede contener la violencia. Desafortunadamente, los militares y el poder judicial están profundamente penetrados y controlados por grupos de la delincuencia organizada.

El CNI se opuso a una alianza con MORENA, el partido del actual gobierno. Una alianza que había sido propuesta hace tres años por el EZLN. ¿Fue esto un error por parte del CNI?
El CNI no es partidista. Es un espacio de los pueblos indígenas, abierto a opiniones diversas, incluso a personas cercanas a los partidos. Pero hay principios que nos mantienen lejos de los partidos políticos. No hubiera sido congruente optar por alianzas a nivel electoral por convivencia temporal. Vemos complicada la alianza que llevó a AMLO a la presidencia. Vemos partes fundamentales de su programa complicados, tales como su alianza con el partido evangélico – Partido Encuentro Social (PES). Asimismo criticamos sus megaproyectos y su política en materia de hidrocarburos y energía.

¿Cuál será la respuesta del CNI ante estas agresiones?
Los ataques van a seguir, porque es un problema a nivel mundial. El capitalismo se reproduce a través de guerras. La guerra contra los kurdos es un ejemplo de ello. Todo eso a tal punto que pone en riesgo a la misma humanidad. Parar la violencia no depende de las facultades de los Estados nacionales o de sus gobiernos. Son las empresas las que controlan la economía del mundo. Nos queda nada más que seguir con la perspectiva que tenemos. Crear autonomía, crear espacios culturales y económicos en vinculación con organizaciones que luchan contra el capitalismo.

GEGENSTIMMEN WERDEN LAUTER

„Projekt des Todes“ Geplante Strecke des Tren Maya in grün (Grafik: Carlos Pacheco via wikimedia.com, CC BY-SA 4.0)

Kann die neoliberale Epoche per Dekret beendet werden? Der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador scheint davon auszugehen. „Aus dem Nationalpalast erklären wir formell das Ende der neoliberalen Politik“, sagte der 66-Jährige bei der Vorstellung des Entwicklungsplans für seine sechsjährige Amtszeit im März 2019. Erst vier Monate zuvor hatte López Obrador, kurz AMLO genannt, das Präsidentenamt angetreten, nachdem er im Juli 2018 die Wahlen mit der historischen Mehrheit von 53,2 Prozent der Stimmen für sich entscheiden konnte.

Bei den zwei vorausgegangenen Urnengängen 2006 und 2012 scheiterte AMLO noch aufgrund von Wahlmanipulationen und medialen Hetzkampagnen. Doch angesichts der wirtschaftlichen Krise, der anhaltenden Gewalt und der grassierenden Korruption im Land fanden seine sozialdemokratischen Positionen im Jahr 2018 immer mehr Anklang bei der von der politischen Klasse frustrierten Bevölkerung. Auch nach mehr als einem Jahr im Amt steht die mexikanische Bevölkerung weiter hinter AMLO.

Doch während die Zugstimmungswerte zu der von López Obrador versprochenen Transformation des Landes ungebrochen hoch sind, zeichnen sich auch klare Widersprüche im Regierungsprojekt von AMLO und seiner Partei Bewegung Nationale Erneuerung (MORENA) ab, die das angekündigte Ende des Neoliberalismus als bloßes Lippenbekenntnis erscheinen lassen. Exemplarisch dafür steht die von AMLO vertretene Entwicklungspolitik sowie seine damit verbundene Haltung zu den indigenen Gruppen.

Denn um das Versprechen vom wirtschaftlichen Aufschwung Wirklichkeit werden zu lassen, setzt die mexikanische Regierung in Allianz mit der Unternehmerelite des Landes vor allem auf infrastrukturelle Großprojekte, durch die periphere Regionen in die nationale und internationale Wertschöpfungskette eingebunden werden sollen.

Besonders drei Projekte stechen heraus: Erstens die mehr als 1.500 Kilometer lange Zugstrecke namens Tren Maya, die die verarmten südöstlichen Bundesstaaten Chiapas, Tabasco, Campeche, Yucatán und Quintana Roo dem Massentourismus zugänglich machen soll. Zweitens, der Corredor Transístmico, eine Verbindung von Atlantik und Pazifik an der Meerenge des Isthmus von Tehuantepec durch den Ausbau von Zugstrecken, Logistikzentren und Häfen, die Mexiko zu einer Schaltstelle des internationalen Handels machen soll. Und drittens, das Proyecto Integral Morelos, das aus verschiedenen Wärme- und Erdgasanlagen besteht und Zentralmexiko mit Energie versorgen soll.

Wirtschaftlicher Aufschwung durch infrastrukturelle Großprojekte

Bereits unter den neoliberalen Vorgängerregierungen wurde immer wieder die Möglichkeit der wirtschaftlichen Erschließung des Südens diskutiert. Dass nun ausgerechnet ein sozialdemokratischer Präsident im Verbund mit nationalen und internationalen Großunternehmen an der ökonomischen Umstrukturierung ganzer Regionen arbeitet, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Gleichzeitig macht erst die Popularität des Präsidenten derartige Vorhaben möglich, denn große Teile der mexikanischen Linken stehen nach wie vor fest hinter AMLO.

Doch während in der mexikanischen Verwaltung mit Hochtouren an der Realisierung der Megaprojekte gearbeitet wird, werden die Gegenstimmen immer lauter. Vor allem sind es die zapatistische Bewegung und die im Nationalen Kongress der Indigenen (CNI) organisierten Indigenen Mexikos, die sich gegen den Tren Maya und andere von ihnen als „Projekte des Todes“ bezeichneten Großprojekte der Regierung stellen.

Bereits während des Wahlkampfes positionierten sich die Zapatistas und CNI klar gegen AMLO und dessen Partei MORENA und setzten auf die Etablierung eines Indigenen Regierungsrates (CIG), der der besseren Vernetzung der autonomen indigenen Bewegungen auf dem gesamten Staatsgebiet dienen sollte. Die alternative Kampagne der Sprecherin des CIG, María de Jesús Patricio Martínez, besser bekannt als Marichuy, bescherte der antikapitalistisch-indigenen Bewegung in Mexiko erheblichen Aufwind, obwohl die nötigen Unterschriften für eine unabhängige Präsidentschaftskandidatur Marichuys bei weitem nicht erreicht wurden.

Gleichzeitig darf nicht vergessen werden, dass der Einfluss der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) und des CNI bei aller medialen Reichweite gesamtgesellschaftlich eher marginal ist. Doch ihre Kritik trifft einen wunden Punkt und wird immer breiter rezipiert. Die Kernfragen lauten: Welches Entwicklungsmodell kann Mexiko aus der ökonomischen und sozialen Krise führen und somit auch zu einer Verbesserung der Sicherheitslage führen? Wer entscheidet, ob und wie ein Entwicklungsprojekt umgesetzt wird? Und wer profitiert eigentlich schlussendlich?

Massive Kritik an Informationspolitik der Regierung

Im Laufe des Jahres 2019 zeigte sich zudem, dass die Regierung bei der Umsetzung der genannten Projekte nicht gerade zimperlich vorgeht. Während López Obrador im Wahlkampf noch versprochen hatte Teile des umstrittenen Energievorhabens Proyecto Integral Morelos angesichts des Widerstandes der betroffenen indigenen Gemeinden auszusetzen, änderte er nach seinem Amtsantritt schnell seine Meinung. „Hört zu, ihr Linksradikalen, ihr seid für mich nichts anderes als Konservative“, sagte er im Februar 2019 bei einer Veranstaltung im Bundesstaat Morelos angesichts von Protesten. Einige Tage später wurde der bekannteste Aktivist gegen das Energieprojekt, der 36-jährige Samir Flores, von unbekannten Tätern vor seinem Haus erschossen. Der Mord an dem Delegierten des CNI ist nach wie vor nicht aufgeklärt.

Und auch im Rahmen der Realisierung des Tren Maya nimmt es die mexikanische Regierung mit gesetzlichen Standards nicht allzu genau. Im Rahmen einer Konsultation der betroffenen indigenen Gemeinden am 15. Dezember 2019 stimmten zwar 92,3% für den Bau des Touristenzuges, allerdings nahmen nicht einmal drei Prozent der Wahlberechtigten an der Abstimmung Teil. Schon im Vorfeld hatte es massive Kritik an der Informationspolitik der Regierung gegeben, die in den Broschüren für die Konsultation nur positive Aspekte des Projekts betonte, dessen Gefahren und Risiken jedoch unerwähnt ließ. Zudem hatte es in der Woche vor der Abstimmung Morddrohungen gegen den indigenen Aktivisten und Kritiker des Tren Maya, Pedro Uc, gegeben. Selbst das Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen in Mexiko äußerte Zweifel an der Einhaltung nationaler und internationaler Menschenrechtsstandards.

Angesichts der sich zuspitzenden Konflikte rund um die Megaprojekte ist absehbar, dass die Infrastrukturpolitik zu einem der zentralen Prüfsteine der Regierungszeit López Obradors werden dürfte. Noch mag der Widerstand von EZLN und CNI als gering erscheinen, doch ist es nicht auszuschließen, dass sich um die indigenen Organisationen eine linke Opposition gegen AMLO etabliert, der sich auch andere Teile der gesellschaftlichen Linken anschließen und die auch andere Teile des Regierungshandelns angreift. Denn spätestens Ende 2020 werden auch die linken Unterstützer*innen AMLOs erste handfeste Ergebnisse der Regierung erwarten. Wenn es bis dahin bei dem neoliberalen Weiter-so bleibt, dürfte es auch in Mexiko wieder zu sozialen Protesten kommen, die sich gegen weit mehr richten als gegen die Infrastrukturpolitik.

FRAUEN AN DIE MACHT?

Unterschriften sammeln gegen das System: Um als Präsidentschaftskandidatin antreten zu können, braucht die Indigene Marichuy einige hunderttausend Unterstützer*innen. Außerdem muss sie viele bürokratische Hürden über­winden. Doch es geht um viel mehr.

Fotos: Thomas Zapf

Es ist kurz vor halb sechs nachmittags. Die Dämmerung setzt ein an diesem Freitag den 13. Oktober, als sich die Karawane langsam in Bewegung setzt. Sie besteht aus Delegiert*innen des Nationalen Indigenen Kongresses (CNI), seinem frisch gewählten Regierungsrat (CIG) und seiner Sprecherin María de Jesús Patricio Martínez, meist Marichuy genannt. Langsam, denn es gilt, neun PKW und zwölf Busse durch die Stadt San Cristóbal de Las Casas zu führen, vom indigenen Ausbildungszentrum CIDECI, das den Zapatisten nahe steht, am nordöstlichen Stadtrand zum anderen Ende der Stadt, wo die Fernstraßen beginnen. Wie noch öfter in den folgenden Tagen bleiben einige Busse zeitweise zurück. Für diesen ersten Streckenabschnitt, der den Großteil der Karawane in zwei weitere Städte des Bundesstaats Chiapas im südlichen Mexiko führt, braucht sie statt der gewöhnlichen zwei Stunden drei Mal so lange, bis Mitternacht.

Fast auf den Tag genau ein Jahr zuvor, als die fünfte Versammlung des CNI tagte, hatte die Generalkommandantur der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) dem indigenen Kongress den Vorschlag unterbreitet, einen Indigenen Regierungsrat zu gründen und durch eine von diesem ernannte Sprecherin an den Präsidentschaftswahlen 2018 teilzunehmen. Der Vorschlag zur Beteiligung am politischen System der „schlechten Regierung“ durch eine Kandidatur verursachte viel Aufregung unter den anwesenden Delegierten des CNI und den Beobachter*innen. Schließlich wurde er im Dezember 2016 aber mehrheitlich angenommen (siehe LN 510). Was einfach klingt, stellt sich bei genauer Betrachtung als komplizierter heraus. Es gehe nämlich, wie subcomandante Galeano im November 2016 in einem Kommuniqué erläuterte, nicht vornehmlich darum, die Wahlen zu gewinnen, sondern die mögliche Teilnahme daran im Vorfeld zu nutzen, sich zu organisieren und den CNI mit seinem Regierungsrat zu einer ernst zu nehmenden Kraft zu machen, damit die Stimme der indigenen Bevölkerung wieder Gehör finde.

Am nächsten Morgen wird schon um 4.30 Uhr aufgestanden in den Räumen der kleinen katholischen Kirche in Las Margaritas, wo der Tross um Marichuy übernachtet hat. Schließlich muss genug Zeit für mehrere hundert Leute und den Einstieg in die Busse sein, bis es kurz vor Sonnenaufgang losgeht in den Lakandonischen Urwald. An diesem Samstag geht es bis nach Guadalupe Tepeyac zur ersten Kundgebung auf zapatistischem Gebiet. Die Wahl des Ortes hat symbolischen Wert. Hier begann vor etwas mehr als 23 Jahren, im August 1994, mit dem „Nationalen Demokratischen Konvent“ der Austausch der EZLN mit der Zivilgesellschaft.

Ein erster, ungeplanter Halt der Karawane ereignet sich schon kurz nach der Abfahrt. Im Dorf El Encanto haben sich Einwohner*innen versammelt, um Marichuy und den Regierungsrat zu empfangen. Als es weitergeht, wird die Karawane vom „Zapatistischen Motorisierten Geschwader“ flankiert, dessen Motorradfahrer*innen mit ihren komplett schwarzen Helmen einen recht futuristischen Eindruck machen. Das Geschwader wächst auf dem Weg bis nach Guadalupe Tepeyac. Einen Kilometer vor Ortseingang wird es von einer Reiterstaffel abgelöst, die Marichuy bis zum Versammlungsplatz begleitet. Dort warten schon über tausend Zapatistas und Sympathisant*innen aus den Dörfern der Region auf die Karawane.

Die Kundgebung findet auf einem Basketballplatz unter dem Schutz eines riesigen Wellblechdaches statt, wie es die chiapanekische Regierung in tausenden Dörfern bauen ließ. „Die Situation heute ist schlimmer als vor 23 Jahren“, erklärt Comandanta Everilda im Namen der Generalkommandantur der EZLN. „Die Ausbeutung, die Demütigung, die Verachtung, das Vergessen, die Marginalisierung und der Tod dauern an.“ Ausführlich erklärt sie den Zusammenhang zwischen dem kapitalistischen System und der Rolle der Regierung als Hand­langerin, berichtet von der Umweltverschmutzung und aktuellen Formen der Ausbeutung und Bedrohung, die dies für die Indigenen sowie Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, aber auch für die ärmeren Schichten in den Städten darstellt. „Auf dem Land und in der Stadt ist die Situation für uns Frauen noch viel schlimmer“, fährt sie fort. „Als Frauen, Indigene und Arme leiden wir dreifach. Es ist das kapitalistische System, das diese Situation gegen uns geschaffen hat. Wir leiden doppelt an seiner Gewalt, denn durch seine Adern fließt das Blut der machistischen Gewalt, der Ausbeutung und Verfolgung von uns Frauen“.

Der Kampf findet nun auch innerhalb des Systems statt, zumindest was die Teilnahme Marichuys an den Präsidentschaftswahlen angeht. Eine Wahlrechtsreform unter Präsident Calderón (2006-2012) ermöglicht seit 2014, dass sich jede*r Mexikaner*in ab einem bestimmten Alter als unabhängige*r Kandidat*in für ein öffentliches Amt registrieren lassen kann, wenn eine bestimmte Anzahl an Unterschriften zur Unterstützung der Kandidatur gesammelt werden. Außerdem muss ein Verein gegründet werden, über den die Buchhaltung und Abrechnungen laufen und der beim Finanzamt wie eine Partei behandelt wird. Am 6. August gab der Indigene Kongress bekannt, dass mit der Gründung eines Vereins auch diese Hürde genommen worden war. Ihm gehören bekannte Intellektuelle wie Pablo González Casanova und Magda Gómez, oder auch Musiker*innen wie die Band Panteón Rococó und El Mastuerzo an. Zudem hat sich schon im Vorfeld der Karawane ein Unterstützungsnetzwerk für den indigenen Regierungsrat und Marichuy gebildet, das es sich zur Aufgabe macht, im Verlauf der Karawane Unterschriften für ihre Kandidatur zu sammeln.

Nach der Kundgebung leert sich der Platz schlagartig, was bei den tropischen Temperaturen des Urwalds nach mehreren Stunden des Wartens und Zuhörens kein Wunder ist. Anschließend bringt ein kurzer Schauer ein wenig Abkühlung, bevor bei Einbruch der Dunkelheit sich der Platz wieder mit Dorfbewohner*innen füllt, die noch bis tief in die Nacht zu Musik tanzen.
Bereits der erste Tag dieser Rundreise durch zapatistisches Gebiet macht auf verschiedene Weisen deutlich: Es ist die Stunde der Frauen. So wird die Karawane von einer Frau koordiniert. Nicht allen Männern fällt es leicht, sich ihr unterzuordnen. Begleitet wird Marichuy auf der ganzen Rundreise von einer Delegation von elf Comandantas der EZLN. Bei allen politischen und kulturellen Auftritten ist auf der Bühne nur Platz für die Frauen des Regierungsrates, nicht aber für den männlichen Teil des Rates. Und wie in Guadalupe Tepeyac werden auch auf den folgenden Stationen in den Caracoles, den zapatistischen Verwaltungszonen von Morelia, La Garrucha und Roberto Barrios, in Palenque sowie im Caracol von Oventik ausschließlich Frauen das Wort ergreifen. Und das hat es in sich.

“Unsere Großmütter waren noch nicht frei.”

In Morelia, wo der Tross mit sieben Stunden Verspätung ankommt und trotzdem einen begeisterten Empfang erfährt, ist es Comandantatin Miriam, die im Namen der EZLN spricht. Sie erinnert daran, dass die Großeltern der heutigen Generationen von Zapatistas noch die Zeiten des Landguts „Finca“ mit ihren Großgrundbesitzern erlebt haben, als ganze Familien unter sklavenähnlichen Bedingungen für den Besitzer arbeiten mussten. Als sie sich der Unterdrückung bewusst wurden, flohen die meisten. „Aber unsere Großmütter waren noch nicht frei. Denn unsere Großväter hatten das Denken des Großgrundbesitzers übernommen und gelernt, wie diese die Frauen behandelten. Die Männer respektieren die Frauen nicht, sondern misshandeln sie, schlagen sie, verachten sie“. Erst als die Frauen begannen sich zu organisieren, veränderte sich diese Situation. Comandanta Rosalinda weist im Caracol von La Garrucha auf die erreichten Fortschritte der zapatistischen Frauen hin: „Wir haben unsere Ausbilderinnen für Gesundheit, Hebammen, Lehrerinnen und auch Ausbilderinnen für Lehrer. Wir üben Ämter aus, als Gemeinderätinnen, lösen Probleme bei Landkonflikten und sind Teil der Räte in den Autonomen Landkreisen. Wir zapatistischen Frauen diskutieren, analysieren, äußern unsere Meinung, machen Vorschläge und treffen Entscheidungen, so wie auch die Männer“.

Ab Montag, den 16. Oktober ist es möglich, Unterschriften für die Teilnahme unabhängiger Kandidat*innen zu registrieren. An jenem Tag durchquert die Karawane die Kreisstädte Altamirano und Ocosingo auf dem Weg vom Caracol Morelia ins Caracol von La Garrucha. Bereits in Altamirano war festzustellen, dass die Funknetze, die für die Registrierung der Stimmen über eine App notwendig sind, nicht zur Verfügung standen. Als die Unterstützer*innen von Marichuy in Ocosingo auf den gleichen Umstand treffen, ist für sie klar, dass es sich nicht um Zufälle handelt, sondern die Sammlung und Registrierung der Unterschriften sabotiert werden. Hinzu kommt, wie Marichuy in ihrer Rede in Palenque am 18. Oktober anprangert, dass vom INE als geeignet eingestufte Smart­phones nicht zur Sammlung von Unterschriften taugen. Zudem beklagen die Helfer*innen, dass die Registrierung nicht die genannten viereinhalb Minuten dauere, sondern oft um ein vielfaches mehr an Zeit beansprucht. Deutlich wird daran, dass diese Form der Beteiligung nicht für Kandidat*innen wie Marichuy gedacht ist, die den Zuspruch bei den Kleinbäuerinnen und Kleinbauern sowie Indigenen suchen und nicht in einer der großen Metropolen leben. Dennoch lassen sie sich nicht davon abbringen, weiter Unterschriften zu sammeln, so auch am 19. Oktober in Oventik.

Dichter Nebel liegt über dem Ort und so ist es unmöglich, aus 30 Metern einen Blick auf die Bühne zu erhaschen. Trotz der schlechten Sicht ist es mit über fünftausend Teilnehmer*innen die meistbesuchte Kundgebung dieser ein­wöchigen Reise.
Comandanta Hortencia macht bei ihrer Rede den Unterschied zu anderen „Unabhängigen“ deutlich: „Es gibt Frauen, die eine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen anstreben. Aber diese Frauen haben das gleiche Interesse an Macht und Geld wie die korrupten Männer, Mörder, Diebe, die jahrelang das Land schlecht regiert haben. Diese Frauen da oben reden wie machistische Männer, denken, schauen und hören wie machistische Männer“.

Es ist eine Anspielung auf Margarita Zavala Gómez del Campo, die Ehefrau von Ex-Präsident Calderón. Ihretwegen hatte das INE die Anmeldefrist für Kandidat*innen im Oktober um eine Woche verlängert. Sie kann nun auf Strukturen zurück greifen, die es ihr leichter als anderen Kandidat*innen machen, die notwendigen Unterschriften zu sammeln.

Marichuys Stolz liegt hingegen in dem Anspruch auf politische Bewegung von unten. Seit Anfang November bereist sie in kleinem Kreis die verschiedensten Winkel des Landes. Angefangen in Pijijiapan an der Pazifikküste von Chiapas, geht es in verschiedene kleine Ortschaften sowie die Metropolen. Nach anfänglich großem medialen Interesse hat seit Mitte November die Auf­merksamkeit der kommerziellen Medien ab­genommen, wenngleich vereinzelt Radio- und Fernsehsender und große Printmedien Interviews mit Marichuy führen. So bleibt es den alternativen, unabhängigen Medienkollektiven vorbehalten, die Rundreise im Rahmen ihrer Möglichkeiten so gut und ausführlich wie möglich zu begleiten und in die Öffentlichkeit zu tragen.

Am 28. November tritt Marichuy auf dem Campus der Nationalen Autonomen Universität Mexikos (UNAM) auf. Dort ruft sie zur „Dekolonisierung des kapitalistischen, individualistischen und patriarchalen Denkens“ auf, damit die Wissenschaft wieder zu Diensten der Bevölkerung, und nicht zugunsten kapitalistischer Interessen betrieben werde. In Guadalajara spricht sie sich am 5. Dezember gegen das im Parlament diskutierte „Gesetz der Inneren Sicherheit“ aus, mit dem „die schlechte Regierung die Diktatur und die Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und Militär“ legalisieren würde. Das Gesetz sieht unter anderem den Einsatz von Militär im Landesinnern vor.

Sollte Marichuy das Ziel der knapp 870.000 Unterschriften bis zum 19. Februar 2018 nicht erreichen, könnte ihre Rundreise durchs Land doch der notwendige Anstoß zur Organisation gewesen sein. Wie sie selbst bei einer Kundgebung in San Cristóbal am 8. November hervorhebt, werden „die Probleme immer größer und von oben ist keine Lösung zu erwarten. Wir müssen uns organisieren, uns anschauen und gemeinsam überlegen, was wir tun können, um das wieder aufzubauen, was dieses System des Todes zerstört“.

MEXIKANISCHER KREUZWEG

In kaum einem Land der Welt dürfte dem Amtsantritt Donald Trumps ähnlich entgegen- gezittert worden sein wie in Mexiko. Die Ankündigung des neuen US-Präsidenten, Millionen illegalisierte Mexikaner*innen aus den USA abzuschieben und eine durchgehende Grenzmauer zu errichten, erhitzt die Gemüter. Ebenso die Ungewissheit, wie sich Trumps protektionistische Pläne auf die mexikanische Wirtschaft auswirken, die aufgrund ihrer strukturellen Abhängigkeit ungemein anfällig ist für Turbulenzen im Nachbarland. Das mexikanische Boulevardblatt El Gráfico titelte am Tag nach der Wahl Trumps mit fetten gelben Buchstaben: „FUUUCK!“. Und als dieser Ende Februar Anspielungen auf eine vermeintliche Sicherheitskrise in Schweden machte, fragte die überregionale Tageszeitung La Prensa auf ihrer Titelseite: „Was hat der denn geraucht?“.

Die bilateralen Beziehungen erreichten bereits kurz nach Trumps Amtsantritt einen neuen Tiefpunkt.

Es war nicht der erste Selbstmord, als sich am Morgen des 21. Februar ein 40-jähriger Mexikaner, der aus den USA abgeschoben worden war, von einer Brücke in der Grenzstadt Tijuana in den Tod stürzte. Doch die Verzweiflungstat steht symptomatisch für die aktuelle Situation. Ebenso die neu aufkommende Unsicherheit des indigenen Stammes der Tohono O’odham darüber, wie sie mit einer Mauer umzugehen haben, die ihr Territorium durchschneidet.

Die bilateralen Beziehungen erreichten bereits kurz nach Trumps Amtsantritt einen neuen Tiefpunkt. Geleakte Ausschnitte aus einem vertraulichen Telefongespräch zwischen dem mexikanischen Staatspräsidenten Enrique Peña Nieto und seinem neuen Amtskollegen offenbarten, dass der Nachbar damit drohte – ob im Scherz oder im Ernst ist unklar – die eigene Armee auf mexikanisches Territorium zu schicken, falls Mexiko mit dem Gewalt- und Drogenproblem der organisierten Kriminalität nicht eigenständig zurecht kommen werde: „Ich glaube, Ihre Armee hat Angst. Unsere nicht; ich könnte sie dorthin schicken, damit sie sich [um die ‘bad hombres’] kümmert“, soll Trump gesagt haben.
Diese Äußerungen lassen schlimmste nationale Ohnmachtsgefühle aufleben. Während des Kriegs 1846-1848 besetzen US-Truppen das Land, Mexiko kapitulierte und musste mehr als die Hälfte seines Gebietes an die USA abtreten.

Nur wenige Tage nach dem Telefonat folgte eine Militäroperation der mexikanischen Marine, die seit einigen Jahren im Inneren des Landes zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität eingesetzt wird. Mit einem Black-Hawk-Hubschrauber – der normalerweise in Kriegsgebieten wie Irak oder Afghanistan eingesetzt wird – wurde der Anführer des Beltrán-Leyva-Kartells zusammen mit sieben weiteren Männern regelrecht niedergemäht. Mit der Aktion, auf die weitere folgten, sollte dem nördlichen Nachbarn signalisiert werden, dass man sehr wohl in der Lage sei, die eigenen Problemen zu lösen.

Mitte März wurde die bisher größte Anzahl an geheimen Massengräbern entdeckt.

Das Gelingen darf bezweifelt werden. Seit 2006 die extrem konservative Partei der Nationalen Aktion (PAN) das Militär in den Kampf gegen die Drogenkartelle schickte, versinkt das Land immer weiter in der Gewalt. Die 2012 gewählte Revolutionäre Institutionelle Partei (PRI) – der Inbegriff einer korrupten, skrupellosen Partei – führte das Gleiche fort. Medienwirksam kam es immer wieder zu Verhaftungen oder Tötungen von Kartellbossen. Geändert hat sich wenig, viel zu tief ist die Verstrickung der politischen Eliten und deren Handlanger bei Polizei und Armee in die illegalen Milliardengeschäfte. Dass sich unter den geschätzten 200.000 Toten – verlässliche offizielle Zahlen gibt es nicht – „nur“ 489 Soldat*innen befinden, lässt außerdem Rückschlüsse auf Dynamiken und Strategien der Regierungspolitik zu. Die allgemeine Bevölkerung gilt per se als Zielscheibe, ungestraft darf auf sie geschossen werden. Und selbst in den Fällen, bei denen es sich um Kriminelle handelt: In einem funktionierenden Rechtsstaat hätten auch sie den Anspruch auf ein faires juristisches Verfahren.

Aktuellster Beleg für die tiefe Krise Mexikos ist die Entdeckung der bisher größten Anzahl an geheimen Gräbern mit menschlichen Überresten Mitte März im Bundesstaat Veracruz. Verantwortlich für die Funde ist die Organisation Colectivo Solecito, gegründet von Müttern, die nach verschwundenen Angehörigen forschen. Die gemeinsame Suche mit der Staatsanwaltschaft begann bereits im August vergangenen Jahres, nach einem Tipp aus der Organisierten Kriminalität: Auf einem Blatt Papier waren mit Kreuzen am Hafen von Veracruz, rund um die Wohnsiedlung Colinas de Santa Fe, über 120 geheime Gräber eingezeichnet worden. Mehr als 250 menschliche Schädel und über zehntausend Knochenreste wurden gefunden. Die Anzahl an menschlichen Überresten lässt darauf schließen, dass die Zahl der Opfer viel höher als 250 ist. Unter den bisher nur sehr wenigen identifizierten Überresten befinden sich die eines Staatsanwalts und dessen Sekretärin, die 2013 von korrumpierten Polizisten entführt worden waren. Der international bekannte und mit Menschenrechtspreisen ausgezeichnete katholische Priester Solalinde kommentierte den Fall so: „Das ist nichts im Vergleich zu dem, was noch kommt.“

Hoffnungsvoll sieht ein Teil der mexikanischen Linken die Präsidentschaftswahlen im Juni 2018. Die 2014 gegründete Mitte-Links-Partei MORENA (Bewegung der Nationalen Erneuerung) hat Chancen, das Rennen für sich zu entscheiden, und damit auch, wenigstens offiziell, den Krieg im Land zu beenden. Erstmals zugelassen zur Wahl sind auch unabhängige Kandidat*innen. Am interessantesten scheint eine indigene Präsidentschaftskandidatin zu sein, die noch aus den Reihen des Nationalen Indigenen Kongresses (CNI) bestimmt wird, mit dem Ziel zivilgesellschaftliche Mobilisierung zu stärken und politischen Wandel anzuregen (siehe LN 512). Der CNI agiert unabhängig, wurde aber 1996 von der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) gegründet.

Der Präsidentschaftskandidat von MORENA, Andrés Manuel López Obrador, versucht dagegen bereits zum dritten Mal in Folge sein Glück. Ein Unterschied zu den Wahlen von 2006, als er seinem Widersacher Felipe Calderón um 0,5 Prozentpunkte unterlag und bei denen gemeinhin von Wahlbetrug ausgegangen wird, ist vor allem in seiner medial-politischen Strategie zu sehen. Er klingt nicht nur wesentlich moderater in Interviews, sondern sucht bewusst den Schulterschluss mit Prominenten aus dem politischen und wirtschaftlichen Establishment Mexikos, die er in den letzten Wochen nach und nach in sein Team geholt hat.

Sollte es Trump gelingen, den Ausweg USA abzuriegeln, verschärft das die soziale Lage zusätzlich.

Zu ihnen zählt zum Beispiel Esteban Moctezuma Barragán, den López Obrador als Verantwortlichen für den Regierungsbereich Soziale Entwicklung benannte. Barragán hatte das Amt bereits unter dem PRI-Staatspräsidenten Ernesto Zedillo (1994-2000) inne. 1995 war er maßgeblich dafür verantwortlich, den Verrat an den Friedensgesprächen organisiert und der Generalkommandantur der EZLN eine militärische Falle gestellt zu haben. Ebenso wurde Alfonso Romo in AMLOs Schattenkabinett berufen. Der reiche Unternehmer ist unter anderem Gründer des Biotechnologiekonzerns Grupo Pulsar. Dieses war Anfang der 2000er Jahre maßgeblich daran beteiligt die Biodiversität des Urwaldgebiets Selva Lacandona, damals wie heute Stammgebiet der EZLN, zu privatisieren.

Mitte März befand sich López Obrador in den USA, um unter den dort lebenden mexikanischen Migrant*innen auf Stimmenfang zu gehen. Zugleich machte er bei der neuen US-Regierung Eigenwerbung: Mit ihm als Präsidenten sei es weitaus einfacher, das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA, das seit 1994 in Kraft ist, neu auszuhandeln. Trumps erklärtes Ziel trifft sich hier mit einer alten Forderung der mexikanischen Linken (und Teilen der US-amerikanischen), wenn auch unter anderen Vorzeichen. Von NAFTA profitiert hat auf mexikanischer Seite vor allem die Makroökonomie, der versprochene flächendeckende trickle-down-Effekt hinunter zu den armen Bevölkerungsschichten ist ausgeblieben. Vor allem auf dem Land hat NAFTA die Armut befördert: Mit den subventionierten US-Exporten wie Mais, Weizen und Bohnen konnten die kleinbäuerlichen Produzent*innen nie mithalten, viele mussten aufgeben. Doch auch in den Städten ist die Kehrseite von weltmarktbasierten Preisen auf Grundnahrungsmittel wie Tortillas, die immer wieder starken Schwankungen unterliegen, im Geldbeutel oder Magen spürbar. Als Nebeneffekt steht dem (inter)nationalen Niedriglohnsektor ein Reservoir an völlig mittellosen, meist jungen Bevölkerungsgruppen zur Verfügung – und ebenfalls den Drogenkartellen. Sollte es Trump tatsächlich gelingen, den Ausweg USA weitgehend abzuriegeln, verschärft das die soziale Situation weiter. Gründe, NAFTA dringend neu zu verhandeln, gibt es genügend. Verhandlungen auf Augenhöhe werden es sicherlich nicht sein.

Zweifellos um endlich einmal das Staatszepter in den Händen halten zu können, begibt sich die institutionalisierte Linke auf wackeliges Terrain. Ein wirklicher Bruch mit der neoliberalen Wirtschaftspolitik ist angesichts der fragwürdigen Parteipersonalien bei MORENA kaum vorstellbar. Andererseits hat Mexiko nach elf Jahren Abwärtsgang unter den Präsidenten Calderón und Peña Nieto kaum noch etwas zu verlieren. So setzen weite Teile der organisierten Zivilgesellschaft und wichtige Persönlichkeiten auf López Obrador. So auch Pater Solalinde, für den MORENA und Obrador „das letzte Mittel sind, um Mexiko friedlich in Ordnung zu bringen. Wenn er versagt oder er dazu gebracht wird zu versagen, oder verhindert wird, dass er gewinnt, dann wird das, was kommt, schlimmer sein.“ Gottvertrauen klingt anders.

PARTEILOS, WEIBLICH, INDIGEN

Nach monatelangen Basisbefragungen in zahlreichen Regionen Mexikos hat der autonom und basisdemokratisch organisierte Nationale Indigene Kongress (CNI) beschlossen, eine indigene Frau aus den Reihen des CNI als Präsidentschaftskandidatin aufzustellen. Die Kandidatin wird explizit keiner politischen Partei angehören, sondern soll als Sprecherin und ausführende Kraft eines ebenfalls parteiunabhängigen Indigenen Regierungsrates fungieren, in dem Vertreter*innen aller 62 indigenen Bevölkerungsgruppen Mexikos vertreten sein sollen.

Konzentrierte Gesichter: Zapatistas sind bekannt für ihre ungewöhnlichen Strategien (Foto: Tejemedios)

Die zentralen Forderungen des CNI für das durch Gewalt, Korruption, Ausbeutung, Diskriminierung und Medienmanipulation zerrissene Land sind die Einhaltung aller Menschenrechte, Geschlechtergerechtigkeit und Respekt für sexuelle Präferenz, die demokratische Selbstverwaltung in allen Gesellschaftssektoren, die Kontrolle der Produktionsmittel, der Ländereien und der Dienstleistungen durch die im jeweiligen Bereich arbeitenden Menschen, das Recht auf kostenlose laizistische Bildung, solidarische Gesundheitsversorgung, erschwinglicher Wohnraum, Glaubens- und Meinungsfreiheit sowie ein konsequenter Naturschutz.

Der CNI wurde 1996 auf Initiative der EZLN gegründet, er ist die einzige landesweite autonome Vernetzungsstruktur der Indigenen und verpflichtet sich radikaldemokratischen Prinzipien. Dies bedeutet, dass alle Funktionsträger*innen jederzeit ersetzt werden können, wenn sie ihre Arbeit nicht zur Zufriedenheit ihrer Basis ausführen. Der geplante Indigene Regierungsrat soll Ende Mai konstituiert werden und versteht sich keineswegs nur als Vertretung der indigenen, sondern aller marginalisierten Bevölkerungssektoren und hat eine klare linke und antikapitalistische Ausrichtung.

Bei den kommenden Präsidentschaftswahlen 2018 ist es zum ersten Mal möglich, parteilose Kandidat*innen ins Rennen zu schicken. Die Realisierung der Kandidatur einer Vertreterin des CNI ist allerdings nicht einfach. Es gibt bürokratische Hürden, in 120 Tagen mindestens 820.000 Unterschriften von Wahlberechtigten in mindestens 17 von 32 Bundesstaaten zu sammeln. Zudem ist seitens des Staates und der ökonomischen Eliten mit Repression sowie mit medialen Desinformationskampagnen zu rechnen. Auch wenn die Chancen auf einen Wahlsieg sehr gering sind, erhoffen sich die Aktivist*innen einen enormen Mobilisierungs- und Organisierungsschub für die mexikanische Linke jenseits der korrupten institutionellen Sozialdemokratie, eine bisher nicht dagewesene Sichtbarmachung zahlreicher sozialer und ökologischer Probleme im Land sowie eine Verbreitung basisdemokratischer Politikpraktiken. “Es ist an der Zeit, dass die Würde dieses Land und diese Welt regieren – und mit ihr werden Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit erwachsen”, so CNI und EZLN in ihrer Erklärung vom 1. Januar 2017.

Es ist mit Repression und Desinformation zu rechnen.

Die etablierten sozialdemokratischen Parteien reagierten mit harten Worten auf den Vorstoß von CNI und EZLN. John Ackermann, ehemaliger Weltbankberater und heute loyaler Unterstützer des mehrfach erfolglosen sozialdemokratischen Präsidentschaftskandidaten Andrés Manuel López Obrador (früher für Partei der Demokratischen Revolution PRD, heute Chef der Partei Bewegung zur Nationalen Erneuerung MORENA) bemühte einmal mehr Verschwörungstheorien: „Ist es nicht so, dass der Wechsel der Taktik der Zapatistas [die Aufstellung einer unabhängigen indigenen Präsidentschaftskandidatin, Anm. d. A.] eine Kontinuität ihrer langjährigen politischen Strategie darstellt, um die Linke zu spalten und mit den Mächtigen zu verhandeln?“ Vom CNI und der EZLN wurde mehrfach klargestellt, dass es beide Organisationen keine politische Partei werden und dass die Präsidentschaftskandidatin in keinem Falle von den Zapatistas gestellt wird, die weiterhin auf den Ausbau ihrer De-facto-Autonomie im südmexikanischen Chiapas setzen und beachtliche Verbesserungen der Lebensqualität in ihren rund 1.000 Gemeinden erreichen konnten.
Nationaler Indigener Kongress von CNI und EZLN streben mit eigener Präsidentschaftskandidatin antikapitalistische Basisdemokratie für ganz Mexiko an. Die zapatistische Bewegung unterstützt den Beschluss des CNI ausdrücklich. EZLN-Sprecher Subcomandante Moisés unterstrich in seiner abschließenden Rede, die auf tosenden Beifall stieß: „Der Kapitalismus plündert, zerstört und unterdrückt auf der ganzen Welt Mensch und Natur. Der CNI hat entschieden, auf zivile und friedliche Weise zu kämpfen. Seine Ziele sind gerecht und nicht zu leugnen. Wir als Zapatistas werden den CNI unterstützen.“

“WISSENSCHAFT FÜR DAS LEBEN”

Das Treffen sei auf Wunsch der zapatistischen Basis organisiert worden, dort gebe es einen großen Wissensdurst nach tiefgründiger Bildung, so EZLN-Sprecher Subcomandante Moisés, es gehe um „eine Wissenschaft für das Leben, nicht für den Kapitalismus”. Besonderes Charakteristikum des Kongresses war, dass ausschließlich 100 zapatistische Schülerinnen und 100 zapatistische Schüler unterschiedlichen Alters Fragen an die Vortragenden stellen durften. Die Aufgabe dieser 200 Delegierten ist, ihre Eindrücke in ihren Heimatgemeinden weiterzugeben. Weit über 1.000 Interessierte aus Mexiko und aller Welt nahmen darüber hinaus am Treffen teil und tauschten sich aus. Viele neue Kontakte entstanden.
Neben der Wissensvermittlung prangern viele der Vortragenden die fehlende Ethik der Wissenschaft an. Sie stehe meist im Dienste der Eliten und nicht des Allgemeinwohls, wie die Mathematikerin Pilar Martínaz hervorhob: „Viele Wissenschaftler sind fest überzeugt, die Wissenschaft werde in einem neutralen Umfeld praktiziert. Doch Konzerne wie Bayer und Monsanto verbreiten genetisch modifiziertes Saatgut, das von Leuten wie uns entwickelt wird, um die ursprünglichen Sämereien zu verdrängen. Unser Wissen wird auch zur Produktion von Waffen verwendet. Viele Wissenschaftler kümmern sich mehr um ihre Publikationen als um die Studierenden. Die Zapatistas haben uns mehrfach gesagt, dass die kapitalistische Hydra alles zerstören wird. Wir haben hier dazu wissenschaftliche Erkenntnisse beigetragen. Die Zapatistas brauchen eine kritische Wissenschaft, um die Arche zu konstruieren, die uns retten kann.“
Beim feierlichen Kongressabschluss im Auditorium fasste eine Schülerin die Eindrücke der Zapatistas zusammen: „Viele Worte, die wir in diesen Tagen gehört haben und durch die wir gelernt haben, haben mehr Fragen als Erkenntnisse aufgeworfen. Eure Worte haben große Zweifel und Beunruhigung erzeugt. Eure Worte sind sehr groß, aber wir empfinden sie als sehr hart. Nicht, weil sie beleidigen, sondern weil es uns nicht immer gelingt, sie zu verstehen.“ Die patriarchale Praxis im Mainstream kritisierte sie hart: „In der sogenannten wissenschaftlichen Community werden die Beiträge und Forschungen der Frauen nicht anerkannt. Hier regiert der Machismo.“ Die Sprecherin betonte gleichzeitig, dass vieles in diversen Fachbereichen gelernt werden konnte und auch konkrete Vorschläge zur Verbesserung des Status Quo gemacht wurden.
Das Treffen endete in konstruktiver Stimmung, den Vortragenden wurde herzlich gedankt. Subcomandante Moisés kündigte an, dass ein langer gemeinsamer Weg begonnen habe und es weitere Treffen geben wird, um wirklich unabhängige, kapitalismus- und herrschaftskritische Wissenschaften zu fördern und zugänglich zu machen, zum Beispiel durch den Aufbau autonomer Hochschulen. Ende 2017 wird der nächste Wissenschaftskongress stattfinden.

ZAPATISTAS LASSEN ERDE BEBEN

Fotos: Mirjana Mitrovic

„Ich werde nicht zapatistischer sein als die Zapatisten“, sagt einer der mexikanischen Sympathisanten der zapatistischen Befreiungsarmee EZLN. Er spricht sich damit gegen den Vorwurf aus, die Bewegung habe mit dem Vorschlag, eine indigene Frau als Präsidentschaftskandidatin für die Wahl 2018 in Mexiko aufzustellen, ihre Prinzipien verraten. Die kleine internationale Runde von freien Medienschaffenden und Anhänger*innen der Sexta, eines Zusammenschlusses von Organisationen, die sich mit der EZLN solidarisieren, schaut sich an und lacht. Die angespannte Diskussion wird kurz unterbrochen und auf der quirligen Vergnügungsmeile Real de Guadalupe von San Cristóbal de las Casas mit einem Feierabendbier angestoßen. Doch es ist und bleibt das Thema, egal wo die Gruppe von Kongressteilnehmenden aus Italien, Deutschland, Spanien und Mexiko am 11. Oktober hingeht. Überall wird über die Neuigkeit diskutiert. Auch an den folgenden Tagen, denn der Vorschlag hat die Gemüter der Teilnehmenden erbeben lassen.

Es ist bereits der zweite Tag des 5. Nationalen Indigenen Kongresses (CNI), doch begonnen hat er für die Sympathisant*innen erst heute. Die über 300 Delegierten der indigenen Gemeinden und Bewegungen waren am Tag zuvor von dem Vorschlag der Zapatist*innen überrascht worden. Die darauffolgende, lang andauernde Diskussion bringt den Zeitplan bereits zu Beginn des Kongresses durcheinander. So warten die Sympathisant*innen den ganzen Tag über auf dem Gelände des Indigenen Zentrums zur integralen Ausbildung (CIDECI-Unitierra). Eigentlich werden hier die Bewohner*innen, vor allem aus der Region, in verschiedenen Arbeitsbereichen der Landwirtschaft und im Handwerk geschult. An diesem Tag stehen die Kongressteilnehmenden nun in Grüppchen zwischen Decken, auf denen Kunsthandwerk wie bunte Schals oder Zapatistapuppen auf Stoffpferden angeboten werden. Obwohl einige bereits des Wartens müde sind, will sich niemand darüber ärgern. Am Nachmittag werden sie dann unter anderem von Subcomandante Moisés, Sprecher der EZLN, gebeten, am nächsten Tag wiederzukommen. Vielen Dank für die Geduld. Es wird nicht verkündet, welcher Vorschlag gemacht wurde, nur dass er wegweisend für die zukünftige Arbeit des CNI sei. Die Spannung steigt.

Als der Kongress dann am nächsten Tag für alle beginnt, berichten die Delegierten an vier verschiedenen Tischen über Repressionen, die sie erleiden und von ihren Strategien des Widerstandes. Erstere entstehen in vielen Gemeinden oft durch die Durchsetzung von Megaprojekten oder die industrielle Ausbeutung der natürlichen  Ressourcen. Auch die vom Staat vorangetriebene Vermarktung indigener Kultur und der Naturreservate, in denen sie leben, wird oft als Verdrängung und Ausbeutung empfunden. Gleichzeitig bleibt die Diskriminierung wegen ihrer traditionellen Kleidung, Sprache und Kultur bestehen. Viele berichten aber auch von Gewalttaten, Inhaftierung, Verschwindenlassen und Mord. Die Drangsalierungen den Gemeinden gegenüber ähneln sich. Die Taktiken des Widerstandes sind vielfältig, vor allem eine starke Tendenz zur Autonomie sowie Beschluss- und Handelsfähigkeit durch Versammlungen ist erkennbar. Die Selbstorganisation der Sicherheit, aber auch der Elektrizität und der Müllentsorgung spielen eine wichtige Rolle. Der juristische Weg, ob national oder international, wird meist als gescheitert betrachtet. Als dritter Punkt steht die Bilanz des CNI auf der Tagesordnung und zum Schluss die Beratung über den Vorschlag, der für so viel Aufregung gesorgt hat: Die EZLN schlägt dem CNI vor, sich auf die Suche nach einer indigenen Frau zu machen, um diese als unabhängige Kandidatin für die Präsidentschaftswahl 2018 aufzustellen. Diese Neuigkeit verbreitet sich wie ein Lauffeuer und wird im Saal von Ohr zu Ohr geflüstert. Vor den Gebäuden des Kongresses sind die Diskussionen in vollem Gange. Während der eine sich einen Energieschub durch einen frischgepressten Organgensaft besorgt, holt sich die andere noch einen biologischen Zapatistenkaffee. Je nach gusto gibt es den aus der Thermo oder aus der Espressomaschine – zumindest wenn der selbsthergestellte Strom läuft. In den unterschiedlichen Gesprächsgruppen wirken viele überrascht, die wenigsten sprechen laut Kritik aus. Doch es ist immer wieder zu vernehmen, dass mit diesem Vorschlag die zapatistische Bewegung eine 180-Grad-Wende ihrer Einstellung zu den Präsidentschaftswahlen und somit zum Staat vollzogen hat. Dabei wird auch an „la otra campaña“ („die andere Kampagne“) vor der Präsidentschaftswahl 2006 erinnert. Damals zog die EZLN durch Mexiko und rief dazu auf, eine alternative Politik von unten links aufzubauen und sich von den staatlichen Wahlinstitutionen zu distanzieren.

Der Vorwurf des Prinzipienverrats wird nicht nur von einigen aus dem Unterstützer*innenkreis gemacht. Auch der damalige Präsidentschaftskandidat der Par­tei der Demokratischen Revolution  (PRD), Andrés Manuel López Obrador, bezieht sich auf „la otra campaña“. Er reagiert bereits einen Tag nach dem öffentlichen Kommuniqué am Ende des Kongresses und twittert, die EZLN habe „dazu aufgerufen nicht zu wählen und jetzt werde sie eine unabhängige Kandidatin stellen“. Von den Befürworter*innen des Vorschlages wird daraufhin in der Presse betont, dass nie zum Wahlboykott aufgerufen wurde. Subcomandante Marcos, heute Galeano, sprach sich bereits während der Tour der Kampagne gegen die Verurteilung von Wahlwilligen aus. Auch Subcomandante Moisés äußerte sich dazu im April 2015 in einem Kommuniqué: „Als Zapatist*innen die wir sind, rufen wir weder zum Nichtwählen noch zum Wählen auf. Als Zapatist*innen die wir sind, ist das, was wir machen – so oft es möglich ist – den Menschen zu sagen, dass sie sich organisieren sollen um zu widerstehen, um zu kämpfen, um das zu erreichen, was nötig ist.” Mit der erstmaligen Möglichkeit, 2018 mit 800.000 Unterschriften auch unabhängige Kandidat*innen stellen zu können, wird eine neue Strategie der Organisation geschaffen.

Doch soweit denkt an diesem Abend noch niemand, zumindest nicht die kleine Unterstützer*innengruppe beim Feierabendbier. Die Nachricht ist noch frisch und es fehlt an Informationen. Vielleicht noch immer. Und noch bis Dezember. Perfekt, um hitzig darüber zu diskutieren, ob die EZLN sich damit gerade selbst zerlegt und wie groß der Verrat an den Prinzipien der Bewegung ist. Während die europäische Fraktion sich am meisten aufregt, bleibt die Mehrheit der mexikanischen Unterstützer*innen erstaunlich ruhig. Sie finden, es müsse erst abgewartet werden, welche Erklärung und welcher Plan hinter diesem Vorschlag stecken. Abwarten und Tee trinken also. In diesem Fall statt Tee Mezcal, der im Laufe des Abends dafür sorgt, dass eine Liste von Herzschmerzliedern erstellt wird, diese an den Barkeeper übergeben wird, um sich den Liebeskummer dann voller Inbrunst von der Seele zu singen.

Am nächsten Tag wird die Enttäuschung und Wut, vom Kater etwas überlagert, bei einem Fest im Caracol Oventik abgekühlt. Es ist eines der zapatistischen Verwaltungszentren und liegt ungefähr eine Stunde entfernt von San Cristóbal de las Casas, hoch in den Bergen. Mit dem Kombi wird bei der Fahrt nach oben die Wolkendecke durchbrochen. Der Tag ist ungewöhnlich sonnig, es herrscht Ausflugsstimmung. Die über 1.000 Teilnehmer*innen wurden von den Zapatist*innen eingeladen, zusammen mit hunderten Frauen, Männern und Kindern unter schwarzen Skimasken das 20-jährige Jubiläum des Kongresses zu feiern. Die Besucher*innen schlendern den stark abfallenden Weg zwischen Häusern, die bunt mit zapatistischen Motiven bemalt sind und in denen allerlei Ware bereit zum Verkauf liegt, hinunter zum Sportplatz. Dort gibt es ein ebenso buntes Programm aus Reden, Theater- und Tanzstücken und Musik. Der Nebel, der sich im Laufe des Nachmittags bildet und mit dem Wind über die Bühne fegt, wirkt wie bestellt. Der Platz ist umringt von im Matsch knienden Männern in khakifarbener Militärkleidung, ausgestattet mit Schlagstöcken und den berühmten schwarzen Masken. Daneben hängen Blumen zum Jubiläum des CNI. Paradoxe Erscheinungsbilder der zapatistischen Bewegung, die wohl bei diesem Kongress ihren Höhepunkt finden.

„Die Frauen nach vorne, die Männer dahinter“

Mit viel Applaus wird vor allem der Auftritt zum Thema Frauenrechte bedacht. Es ist eine Tanzaufführung von Frauen und Männern, bei der die Frauen von ihren Rechten singen. Der Refrain, der schnell zum Ohrwurm wird, lautet „Die Frauen nach vorne, die Männer dahinter“. Dabei beziehen sie sich auf das revolutionäre Gesetz der Frauen, welches 1993 von den Zapatist*innen verabschiedet wurde, also bereits vor dem ersten großen Auftritt der EZLN. Es zeigt die Bedeutung dieses Themas bei den Zapatist*innen, welches sich in der Entscheidung um die Aufstellung einer Kandidatin wiederspiegelt. Frauen leiden besonders unter Gewalt und Unterdrückung – auch in den indigenen Gemeinden. Doch von den wenigsten Delegierten wird dies erwähnt. Da scheint es noch das kleinste Problem zu sein, dass einige Delegierte andere darauf hinweisen müssen, von der Kandidatin und nicht von dem Kandidaten zu sprechen. Weshalb ausgerechnet eine indigene Frau als Präsidentschaftskandidatin aufgestellt werden soll, erklärt der wortgewandte Subcomandante Galeano  am nächsten Tag wie gewohnt einfach: „Die Kerle und Mestizen haben bewiesen, dass sie nicht regieren können.“ Doch es lässt sich mehr hinter dem Gedanken vermuten, ausgerechnet auf eine Kandidatin zu bestehen. Gerade angesichts der aktuellen Situation von Frauen in Mexiko. Nur eine Woche nach dem Kongress, am 19. Oktober,  sind lateinamerikaweit Frauen auf die Straße gegangen, um auf ihre dramatische Lage aufmerksam zu machen. Der Aufruf kam aus Argentinien. Der Auslöser war der Fall der minderjährigen Lucía Pérez, die vergewaltigt, misshandelt und anschließend ermordet wurde (s. Seite 29.). Mexiko hat die traurige Berühmtheit erlangt, eine alarmierend hohe Gewalt- und Mordrate an Frauen vorweisen zu können. Laut der Organisation Oberservatorio Nacional de Feminicidios wurden im Jahr 2015 im Durchschnitt täglich sieben Frauen in Mexiko umgebracht. Da dieses Verhalten mit einem tiefverankerten Machismo und diskriminierenden Frauenbild zusammenhängt, riefen auch Frauen in mexikanischen Städten zum Widerstand auf.

Am selben Tag des Kongresses folgt erneut eine Erklärung Subcomandante Galeanos bezüglich der wahnwitzigen Idee, bei den Wahlen mitzumischen: „Es muss dort angegriffen werden, wo die Party stattfindet: in der Politik.“ Es folgt die Darlegung des Schlachtplans und der Ziele. Es geht nicht darum zu gewinnen, es geht nicht um die Macht. Die indigene Frau soll das Gesicht eines indigenen Rates sein, welcher aus je einer Frau und einem Mann aus jeder Gemeinde besteht. Es soll keine Partei gegründet und auch nicht mit den etablierten Parteien zusammengearbeitet werden. Die antikapitalistische Zielrichtung bleibt bestehen. In erster Linie soll diese Aktion zur Stärkung des CNI beitragen und dafür sorgen, die Themen, Probleme und Kämpfe der indigenen Bewegungen wieder in die Öffentlichkeit zu bringen. Damit sich die mexikanische Gesellschaft wieder mit ihnen verbündet und sie dabei unterstützt, aus der oft prekären Lage zu entfliehen.

Die Delegierten des CNI stimmen am Ende des Kongresses zu, den Vorschlag in ihre Gemeinden zu tragen, dort zu diskutieren und Ende des Jahres den Kongress fortzuführen. Es scheint kein einfacher Schritt zu sein, denn bis zum Ende ist eine Spaltung deutlich. Einige Delegierte sprechen der zapatistischen Bewegung ihr Vertrauen aus, während andere viele Zweifel hegen. Es sind in jedem Fall noch einige Fragen offen. Einige Teilnehmer*innen verstehen, dass die indigene Kandidatin nur symbolisch aufgestellt wird, während andere gehört haben wollen, dass bereits überlegt wird, wie die 800.000 Unterschriften besorgt werden können, um die Kandidatin offiziell als Präsidentschaftskandidatin aufzustellen zu können. Die Teilnehmenden verlassen den Kongress mit gemischten Gefühlen.

An dieser Ambivalenz wird sich voraussichtlich bis zum 30. Dezember nichts ändern.

An dieser Ambivalenz wird sich voraussichtlich bis zum 30. Dezember, wenn der Kongress fortgesetzt wird, nichts ändern. Am 28. Oktober luden nun bereits einige Delegierte des CNI zum Gespräch mit den indigenen Gemeinden in Mexiko-Stadt ein. Viele Fragen sind die gleichen geblieben. Das Café Zapata Vive öffnet seine Türen, damit die Delegierten ihre Meinungen vortragen können und um das Publikum zu Wort kommen zu lassen. Der Frauenanteil der vortragenden Delegierten ist im Vergleich zum Kongress stark gestiegen: Es sind drei Frauen und ein Mann des CNI vor Ort. Zudem ein Überlebender des Falles Ayotzinapa. Letzterer übernimmt mit Genuss die Rolle des Provokateurs. So betont er, dass neben den indigenen Gemeinden viele andere Sektoren unsichtbar gemacht werden und sich die Frage stellt, ob der Vorschlag der EZLN eine Lösung für alle sei. Zudem sagt er, dass durch die Aufstellung einer indigenen Kandidatin natürlich die Linke geteilt werde und dadurch López Obrador, welcher dieses mal für die Initiative der Bewegung für nationale Regeneration (Morena) antritt, Stimmen „geklaut“ würden.

Die weiblichen Delegierten betonen vor allem, die Dringlichkeit etwas zu unternehmen. Dulce García bezieht sich auf Berta Nava, eine der Mütter der 43 verschwundenen Student*innen aus Ayotzinapa, um aufzuzeigen, dass es nichts zu verlieren gibt: „Was ist das Heiligste, was sie uns nehmen können, wenn sie unsere Söhne, unsere Studenten töten? Was haben wir zu verlieren, wenn sie unsere Töchter morden?“ Und Maria Marcario Salvador, auch Mitglied des CNI, sieht bereits den ersten positiven Effekt des Vorschlages: die mediale Aufmerksamkeit. „Sie drehen sich zu uns herum, um uns, um die indigenen Gemeinden anzusehen und insbesondere die Frauen, die wir so geringschätzig behandelt wurden.“ Die Schlagzeilen der vergangenen Tage geben ihr Recht. Der heute einzige männliche Delegierte, Juan Bobadilla, kritisiert die Fokussierung auf die indigene Kandidatin. Der Rat, der dahinter stehen soll, müsse seiner Meinung nach in den Vordergrund gerückt werden. Zudem kritisiert er, dass „etwas diskutiert wird, von dem wir bisher nicht wissen ob die Gemeinden ja oder nein sagen.“ Und dass das „kein einfacher Schritt“ sei, da viele indigene Gruppen Arbeit in die Autonomie und Unabhängigkeit vom Staat gesteckt haben. Wichtig ist ihm auch: „Wenn die Gemeinden nein sagen, dann werden wir es nicht machen.“ Die Entscheidung muss von unten kommen.

Auch wenn es einige kritische Stimmen zu hören gibt, wird vom CNI keine Ablehnung des Vorschlages erwartet. Die Türen im CIDECI-Unitierra stehen am 30. und 31. Dezember wieder offen, um mit den Entscheidungen der Gemeinden weiter zu diskutieren und zu planen. Am 1. Januar sind alle eingeladen, den 22. Jahrestag der Zapatist*innen mit ihnen im Caracol Oventik zu verbringen. Die Einladung der EZLN, das kommende Jahr gemeinsam anzugehen, ist symbolisch für einen gemeinsamen Weg zu sehen. Die meisten Mitglieder der kleinen Unterstützer*innengruppe werden die Einladung vorraussichtlich wieder annehmen. Doch falls der CNI den Vorschlag tatsächlich annimmt, werden, zumindest nach eigenen Aussagen, nicht alle die Aktion unterstützen. Da die Unterstützung der nationalen wie internationalen Sympathisant*innen aber schon immer wichtig war, wird es in jedem Fall spannend zu sehen, wer mit der EZLN und dem CNI die Erde erbeben lässt und wer zapatistischer als die Zapatist*innen ist.

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