// Solidarität statt Schockstarre

Am 8. März werden wir auf die Straße gehen, um für die Rechte von Frauen und queeren Menschen zu kämpfen. Eigentlich wollten wir dieses Editorial dem sich ausbreitenden Faschismus widmen und der Notwendigkeit, weiterhin feministisch aktiv zu sein, um diese Rechte zu verteidigen. Dann stellten wir fest, dass wir genau dieses Edi schon letztes Jahr geschrieben hatten (siehe LN 597). Diese Feststellung ist keineswegs nur ein Déjà-vu, sondern veranschaulicht eine besorgniserregende Realität: Die Situation bleibt nicht etwa nur gleich, sie wird sogar schlimmer. Vor diesem Hintergrund haben wir uns die Frage nach unserer Rolle als unabhängigem Medium gestellt. Die Presse wird zwar oft als „vierte Gewalt“ bezeichnet, doch ihre Unabhängigkeit ist heute weltweit enorm gefährdet.

Ein unabhängiges Medium zu sein bedeutet, zuverlässige Informationen zu produzieren, die frei von politischen und wirtschaftlichen Vorgaben sind. Diese Möglichkeit ist keine Selbstverständlichkeit: In Mittelamerika ergab eine Studie der Universität von Kalifornien, dass bei sieben von zehn Journalist*innen der Staat über ihre Veröffentlichungen Kontrolle ausübt. Acht von zehn sehen Drohungen und Druck als unvermeidlichen Alltag an. Angriffe auf die Presse sind kein isoliertes Phänomen und steigen nicht nur in diesen Teilen der Welt an: Sie folgen einem eingespielten Muster. Überall dort, wo autoritäre Regime an die Macht kommen, greifen sie in erster Linie unabhängige Medien an. Denn diese stören: Sie recherchieren, prangern an, decken Korruption und Menschenrechtsverletzungen auf.

In vielen sogenannten demokratischen Ländern wie auch Deutschland gibt es zwar keine offizielle Zensur, dafür aber ein komplizenhaftes Schweigen zu heiklen Themen: Femizide, Polizeigewalt, linker Aktivismus usw. Das liegt unter anderem daran, dass unabhängig zu sein nicht bedeutet, frei von Zwängen zu sein. Die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Stimmung und das Werben um die Gunst der Leser*innen kann indirekt Druck auf Redaktionen aufbauen.

Noch viel direkteren Einfluss nimmt die Finanzierung durch Förderungen: Im Januar 2025 fror die Trump-Regierung mehr als 268 Millionen US-Dollar ein, die für die Unterstützung unabhängiger Medien vorgesehen waren und versetzte viele lateinamerikanische Medien in Schock (siehe Seite 30). Die finanzielle Lage vieler unabhängiger Medien ist instabil. In einer Zeit, in der Milliardäre zeitgleich die meisten großen Medien aufkaufen und so zur Verankerung rechtsextremer Ideen im gesellschaftlichen Diskurs beitragen, ist die Unterstützung unabhängiger Strukturen ein Akt des Widerstands.

Unabhängigkeit ist nicht mit Neutralität gleichzusetzen. Sich zu weigern, im Sold der Mächtigen zu stehen, heißt, kritisch und engagiert Bericht zu erstatten, sich nicht den Interessen großer Unternehmen zu beugen, sondern denen eine Stimme zu geben, die sonst zu wenig Gehör finden. Es ist oft investigativem Journalismus zu verdanken, dass Menschenrechte vorangebracht werden: So hat beispielsweise die Berichterstattung über die dramatische Realität illegaler Abtreibungen den Kampf für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch befeuert (siehe Seite 40).

Den unabhängigen Journalismus zu unterstützen bedeutet, einen Raum zu verteidigen, in dem Kritik möglich ist, in dem feministische, queere, antirassistische und soziale Kämpfe kompromisslos weitergetragen werden können. Es bedeutet auch, Solidarität aufzubauen, Netzwerke zu bilden und sich gegenseitig zu schützen. In diesem Sinne rufen wir zu Spenden auf, um unabhängige und feministische Medien in Lateinamerika zu unterstützen (siehe Nebenseite). Denn „kritisch, solidarisch, unabhängig“ sind nicht nur Worte, sondern Prinzipien, für die wir uns seit unserer Gründung einsetzen.


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„Es erfordert Mut, trans zu sein“

Pamela Montaño Díaz, Foto: Lea Rux

Kannst du uns etwas von deiner Organisation Asociación TransMujer erzählen?
Mir kam die Idee damals, als ich begann als Sexarbeiterin zu arbeiten und zum ersten Mal die Probleme und Bedürfnisse der vielen trans Frauen auf der Straße sah. Die meisten hatten keine andere Wahl; die Gesellschaft hatte sie quasi zur Sexarbeit verdonnert. Ich sah wie so viele ins Krankenhaus kamen und dort von Ärzten und Pflegepersonal einfach abgelehnt wurden. Da kam mir die Idee, eine Organisation zu gründen, um ihnen zu helfen. Heute ist TransMujer aber offen für alle. Ich arbeite mit vielen cis Frauen, weil sie genauso viel gesundheitliche Unterstützung brauchen – wenn nicht mehr. Viele sind Mütter, unsichtbare Sexarbeiterinnen, die das Stigma und die Scham besonders trifft. Ich unterstütze sie bei Untersuchungen zur sexuellen Gesundheit und organisiere Bildungs- und Präventionsprogramme. Zum Glück habe ich Zugang zu allen Etablissements in Cali, vom edelsten Bordell bis zur kleinsten Absteige. Ich werde dort sehr geschätzt. Ich habe Verbindungen zu verschiedenen Organisationen, die mir bis zu 15.000 Kondome für diese Frauen stellen: das wichtigste Arbeitsmittel der Sexarbeiter*innen.

Was ist deine Erfahrung mit der wachsenden TERF-Bewegung (eng.: trans-exlusionary radical feminists, dt.: trans-ausschließende Radikalfeministinnen), die sich offen transfeind­lich zeigt?
Sie behaupten, dass trans Frauen cis Frauen parodieren würden, aber das ist Unsinn. Schon vor 20 Jahren habe ich damit Erfahrung gemacht. Damals wollte ich dem Frauentisch in Santiago de Cali beitreten, um dort Sexarbeiterinnen zu vertreten. Angeblich sollte das der beste sein. Aber es ist ein schrecklicher Verein. Sie haben mir das Leben schwer gemacht. „Wie soll eine trans Frau bitte eine cis Frau vertreten?“, haben sie mir gesagt. Ich habe trans und cis Frauen zusammengedacht, weil ich mich für beide einsetze. Wir haben die gleichen Bedürfnisse bezüglich Gesundheit und Sexarbeit. Ich glaube, viele Leute verstehen Feminismus einfach falsch.

Warum glaubst du, dass so viele trans Frauen in der Sexarbeit tätig sind?
Ich glaube, das es aus der Notwendigkeit heraus passiert. Ich bin große Befürworterin der Sexarbeit, weil kein anderer Job mehr Geld einbringt. Die Nachfrage nach trans Sexarbeiterinnen ist groß. Sexarbeit garantiert uns trans Frauen ein Einkommen. Wir geben so viel Geld aus: die Implantate und die Operationen sind teuer. Und je mehr man macht, desto mehr verdient man als Sexarbeiterin. Viele von uns sind außerdem zu der Überzeugung gelangt, dass Geld das Wichtigste ist: So viele von uns wurden von unseren Familien verstoßen. Und einige gehen dann nach Europa, verdienen eine Menge Geld und plötzlich akzeptiert ihre Familie sie wieder.

Was würdest du jungen trans Personen sagen, die mit ihrer Geschlechtsangleichung beginnen wollen?
Naja, das Hauptproblem ist die Familie, die Eltern. In meiner Jugend hatten wir keine familiäre Unterstützung, weil einfach die Bildung zum Thema fehlte. Meine Familie hat mich nie akzeptiert, weshalb ich mit 13 Jahren weggelaufen bin. Zum Glück hat mich dann eine sehr offene, gebildete Frau mit ihren zwei Kindern aufgenommen. Bei ihnen konnte ich mich frei entfalten. Das Wichtigste ist diese Unterstützung, dieser „Familienkern”, der einem die Möglichkeit gibt, sich zu entwickeln, wie man möchte, zu einem Menschen mit eigenen Werten, mit einem richtigen Job. Viele trans Frauen haben ein Leben lang mit dem Trauma der Ablehnung durch ihre Familie zu kämpfen. Man trägt das für immer tief in seiner Seele, dass die eigene Familie einen nicht akzeptiert hat. Und deshalb glaube ich, dass es Mut erfordert, trans zu sein. Nicht jeder hat das Zeug dazu. Ein Mann hätte ironischerweise nicht die Eier, sich ein Kleid anzuziehen, auf die Straße zu gehen und sich der Gesellschaft zu stellen.

Wie kam es damals zu der Klage für deine Namensänderung?
Es war mir sehr unangenehm, einen männlichen Namen im Ausweis zu haben. Immer wenn ich ihn vorzeigen musste, haben Leute das gesehen. Deshalb bin ich irgendwann zum Dritten Notariat in Cali gegangen, um das zu ändern. Und erst hat der Notar mich ganz nett empfangen, aber als er gemerkt hat, dass ich keine cis Frau war, hat er sich schrecklich aufgeregt und meinte nur: „Wie kommen Sie auf die Idee? Sie sind ein Mann!“ Diese Ungerechtigkeit wollte ich nicht akzeptieren. Zu dieser Zeit hat Kolumbien seine Verfassung erneuert und es war grade die Tutela-Klage herausgekommen (Anm. d. Autorin: Ein Rechtsweg, um Menschenrechtsverletzungen anzuklagen). Erst wurde ich von einem Gericht zum anderen geschoben. Außerdem haben mich alle möglichen Anwälte abgewiesen. Gratis war das alles auch nicht. Aber zum Glück hatte ich die finanzielle Unterstützung meines damaligen Partners. Und irgendwann fand ich dann auch eine Anwältin, die vorschlug, eine Tutela-Klage einzureichen. Und das hat tatsächlich funktioniert. Ich habe die erste Tutela-Klage in Kolumbien gewonnen. Aber es war hart für mich. Und als die Medien davon berichtet haben, nannten sie mich auch noch „den ersten Mann, der seinen Namen ändern durfte“. Trotzdem, die Klage hat als Präzedenzfall vielen meiner Schwestern geholfen. Und es war der Grundstein für viele weitere Fortschritte in der LGBTIQ+-Gemeinschaft. Inzwischen haben wir sogar die gleichgeschlechtliche Ehe. Ich fühle mich stolz als Aktivistin, meinen Beitrag dazu geleistet zu haben.


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Xochicuicatl e.V.: 
Asociación de mujeres latinoamericanas (Verein lateinamerikanischer Frauen)

Xochicuicatl bedeutet auf Nahuatl „Gesang der Blumen“. Seit 1992 setzt sich der gemeinnützige Verein für die Unterstützung lateinamerikanischer Migrant*innen in Berlin-Pankow ein. Gegründet von zehn lateinamerikanischen Frauen, hat sich Xochicuicatl e.V. zu einer wichtigen Anlaufstelle entwickelt – nicht nur für konkrete Hilfsangebote, sondern auch als Ort des Austauschs, der Begegnung und der politischen Reflexion über Migration, Exil, Feminismus und Rassismus.
Der Verein bietet individuelle Beratung zu sozialen und rechtlichen Fragen zum deutschen Schul- und Sozialsystem sowie zu psychischen Belastungen und häuslicher Gewalt an. Neben professioneller Unterstützung finden außerdem regelmäßig Deutschkurse statt. Ein besonderer Fokus liegt auf der Stärkung und Selbstermächtigung von Frauen in der Diaspora.
Darüber hinaus organisiert Xochicuicatl e.V. zahlreiche Aktivitäten, die den interkulturellen Austausch fördern. Seit 2019 bringt zum Beispiel das Projekt Ladies Meet and Do It! (Frauen treffen sich und machen es!) Migrantinnen, Geflüchtete und Nachbarinnen zusammen, um sich gegenseitig zu unterstützen und gemeinsame Initiativen zu entwickeln. Über die Woche verteilt gibt es zusätzliche Angebote wie den Chor Raiz Waki, Lotusblumen Yoga, einen Lesekreis zu lateinamerikanischen Schriftstellerinnen und eine Austauschrunde von Müttern für Mütter.


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Intersektionale Ansätze

Lélia Gonzalez – Kritik am 
hegemonialen Feminismus aus „Améfrica Ladina”

Foto: Cezar Loureira

Lélia de Almeida wurde am 1. Februar 1935 in Belo Horizonte, Minas Gerais, als Tochter einer Haushaltsangestellten und eines Bahnarbeiters geboren. Sie übernahm ihren Nachnamen Gonzalez von Luiz Carlos Gonzalez, einem Spanier, den sie Ende der 1960er Jahre heiratete. Als sie acht Jahre alt war, zog sie mit ihrer Familie nach Rio de Janeiro, wo sie bis zu ihrem Lebensende lebte. Wie ihre Geschwister musste sie von klein auf als Kindermädchen und Haushaltshilfe arbeiten. 1958 machte sie ihren Abschluss in Geschichte und Geografie und studierte dann Philosophie. Sie unterrichtete an Hochschuleinrichtungen in Rio de Janeiro, wie der Staatlichen Universität von Rio de Janeiro und der Päpstlichen Katholischen Universität. Parallel zu ihrer akademischen Arbeit beteiligte sich Lélia am politischen Widerstand gegen das Militärregime (1964-1985), gründete die Vereinte Schwarze Bewegung gegen Rassendiskriminierung, nahm an der Gründung der Arbeiterpartei (PT) teil und gründete die Organisation Nzinga – Black Women’s Collective.

In der Schwarzen Bewegung prangerte sie den Mythos der Rassendemokratie an, forderte ein Ende der Gewalt und Diskriminierung, der Schwarze tagtäglich ausgesetzt sind, und verlangte eine öffentliche Politik zugunsten der Afro-brasilianischen Gemeinschaft. Lélia wies auch auf den Sexismus hin, der den weiblichen Teil der Schwarzen Bewegung oft zum Schweigen bringt. „Die Mitglieder reproduzieren die sexistischen Praktiken des herrschenden Patriarchats und versuchen, uns aus den Entscheidungsräumen auszuschließen“, betonte sie. Angesichts der Diskriminierung von Frauen in der schwarzen Bewegung sahen sich schwarze Aktivistinnen veranlasst, sich wirksam an der feministischen Bewegung zu beteiligen – die jedoch auch die Dimensionen des Rassismus im Leben von „Women of Colour“ ignorierte. Lélia zufolge behinderten die „eurozentrische Weltsicht und der Neokolonialismus“ des weißen feministischen Aktivismus den Kampf gegen die Unterdrückung der Schwarzen Frauen.
Sie war Pionierin darin, Klassismus und Rassismus des hegemonialen Feminismus in Frage zu stellen, und setzte sich für die Dekolonisierung des Feminismus und die Gründung eines „Afro-lateinamerikanischen Feminismus“ ein, der von Schwarzen und Indigenen Frauen in Lateinamerika angeführt wurde, das sie in „Améfrica Ladina“ umbenannte – um den nicht-weißen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Akteur*innen in diesem Gebiet Sichtbarkeit zu verleihen.

Ein weiterer Aspekt von Lélias antirassistischer Kritik war ihre Auseinandersetzung mit der akademischen Sprache, da ein großer Teil der Schwarzen Bevölkerung keinen Zugang zu formaler Bildung hatte. Daher versuchte sie, leichter zugängliche und verständlichere Texte zu verfassen, wobei sie häufig die Sprache verwendete, die sie pretoguês („schwarzes Portugiesisch“) nannte, ein Zeichen der Afrikanisierung des brasilianischen Portugiesisch.

Die Philosophin und Schwarze Aktivistin Angela Davis bezeichnet Lélia Gonzalez als eine der Begründerinnen des schwarzen Feminismus, der in Brasilien entstanden ist: „Im Rahmen eines internationalistischen, feministischen Ökosystems müssen wir betonen, dass wir, die im globalen Norden leben, viel von den Bewegungen lernen können, die im Süden entstanden sind, insbesondere von den Traditionen des schwarzen Feminismus in Brasilien.“

Lélia Gonzalez starb am 10. Juli 1994 in Rio de Janeiro an den Folgen eines Herz-Kreislauf-Problems. Ihr Andenken und ihre Ideen leben weiter.

Liliana Angulo – 
Antirassistische Kunst in 
Kolumbien

Foto: Museo Nacional de Colombia vie Flickr (CC BY ND-2.0)

Liliana Angulo Cortés ist eine Afro-kolumbianische Künstlerin und Aktivistin, die 1974 in Bogotá geboren wurde und sich in ihren multimedialen Werken mit rassistischen und sexistischen Repräsentationen von Körpern, insbesondere von Afro-kolumbianischer Frauen in Kolumbien auseinandersetzt. In ihren Fotografien, Skulpturen und Installationen greift sie Themen wie Rassismus, Armut, Kolonialismus und soziale und geschlechterbasierte Ungleichheiten auf und konfrontiert die Beobachtenden mit Fragen wie: Wie ist es, als „Schwarze Frau in Kolumbien“ gesehen zu werden? Welche Bilder oder Abwesenheiten von Bildern hat die Kategorie „Schwarzsein“ in der kolumbianischen Gesellschaft konstruiert? Wie können diese Konstrukte durchbrochen werden?

Liliana Angulo verbindet Kunst und Afro-feministischen Aktivismus, was besonders im Projekt Quieto Pelo („Stilles Haar“, 2008) zu erkennen ist. In diesem Projekt beschäftigt sie sich mit der Praktik Afro-kolumbianischer Frauen, Frisuren als Protest- und Kommunikationsmittel einzusetzen. Afro-kolumbianische Frauen und Frisörinnen aus Quibdó, San Andrés und Tumaco berichten über das Frisieren als eine Form der Pflege und Selbstfürsorge für den eignen Körper. Sie erhalten zugleich eine Tradition, die zu Zeiten der Sklaverei eine wichtige kommunikative Rolle spielte. Damals enthielten die geflochtenen­
Haare, auch tropas („Truppen“) genannt, geheime Codes und Karten von Fluchtrouten, die so in der Gemeinschaft still weitergegeben werden konnten. Wie Angulo berichtet, wurde in den Haaren aber auch Saatgut und Gold versteckt, als Grundlage für ein Leben in Freiheit. Wie die Fotografien aus dem Projekt zeigen, lassen sich die Frisuren als gemein­schaftlich-verbindendes Element des Protestes verstehen, aber auch als individuelle Verwirklichung jeder einzelnen Haarkünstlerin.

In weiteren Arbeiten der Künstlerin wird auch ihre Kritik an der heutigen Repräsentation und Rolle von Afro-Kolumbianer*innen in Kolumbien deutlich. In der Serie Negro Utópico („Utopisches Schwarz“, 2001) inszeniert sich die Künstlerin selbst mit schwarz bemaltem Gesicht und einer Perücke aus Draht-Spülschwämmen. Dabei sieht man auf neun Fotos, wie sie Hausarbeiten wie Bügeln und Putzen verrichtet. Auf einem der Fotos ist sie gerade dabei, eine geschnittene Banane in einen Mixer zu geben, womit sie kritisiert, dass Afro-Kolumbianer*innen, die einen großen Teil der Arbeiter*innen auf Bananenplantagen ausmachen, selbst oft nicht die Konsument*innen des eigenen Produktes sind und verweist damit auf fortlaufende rassistische und kolonialgeprägte Strukturen, die Afro-Kolumbianer*innen marginalisieren. Seit 2024 ist Liliana Angulo Cortés die Direktorin des Nationalmuseums von Kolumbien.

Sicherlich lässt sich ihre Position als Direktorin eines Museums, hinter dem der kolumbianische Staat steht kritisieren, allerdings ist sie zugleich die erste Afro-Kolumbianerin, die eines der ältesten Museen Lateinamerikas leitet. Außerdem ist sie weiterhin politisch aktiv, zum Beispiel als Mitglied des Kollektivs Agua Turbia („Trübes Wasser“), einer Gruppe Schwarzer Künstler*innen in Bogotá, die versucht, durch Kunst auf rassistische Strukturen in der kolumbianischen Gesellschaft aufmerksam zu machen.

Miriam Miranda – Kämpfe für Körper-Territorien der 
Garífuna in Honduras

Foto: Honduras Delegation

Seit über 30 Jahren kämpft Miriam Miranda zusammen mit ihrer Gemeinde für die Rechte der Afro-Indigenen Garífuna in Honduras. Die Geschichte ihres Volkes ist legendenumwoben: Irgendwann in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, als Abertausende Afrikaner*innen von den Kolonialmächten verschleppt und versklavt wurden, um sie auf den Plantagen Amerikas dazu zu zwingen, für den Reichtum der Kolonien zu arbeiten, kaperte ein Schiff vor der Karibikküste. Die schiffbrüchigen Gefangenen konnten sich auf eine nahegelegene, von den Arawak bewohnte Insel, St. Vicente, retten.

Mit der Zeit verschmolzen die beiden Gruppen und eine neue Kultur mit eigener Sprache entstand, die Garífuna. Im Rahmen von Aufständen gegen verschiedene Kolonialmächte wurden immer wieder Garífuna in andere Teile der Karibik verschleppt, unter anderem nach Honduras, woher auch Miriam Miranda stammt. Noch hunderte Jahre nach ihrer Verschleppung halten die Garífunas in ihren Gemeinden zusammen und widersetzen sich der weiteren Vertreibung, sei es durch den Staat, durch transnationale Privatkonzerne oder durch Drogenkartelle. Insbesondere Landgrabbing durch die Tourismusbranche, Monokulturen und die Palmölindustrie sowie andere extraktivistische Projekte und die Folgen der sozialökologischen Krise stellen existenzielle Bedrohungen für die Afro-Indigene Bevölkerung der honduranischen Karibik dar.

Miriam Miranda hat dies auf unterschiedliche Weisen am eigenen Leib erfahren: Als Kind musste sie aufgrund des Mangels an Erwerbsmöglichkeiten mit ihrer Familie auf der Suche nach Arbeit und Bildungschancen durch das Land ziehen. Als Studentin in der Hauptstadt Tegucigalpa sah sie sich weiterhin mit Diskriminierung und Ungerechtigkeit konfrontiert, begegnete jedoch zugleich vielen Menschen aus dem Land, die dagegen kämpfen. Seit sie ihre Arbeit für die Rechte ihres Volkes begonnen hat, wurde sie mehrfach verhaftet, von Behörden misshandelt und von Kriminellen entführt. Doch auch weiterhin steht Miranda als Koordinatorin der Organización Fraternal Negra Hondureña (OFRANEH) in der ersten Reihe dieser Kämpfe.

In einem Interview mit dem feministischen Medienportal Capire beschreibt sie die Organisation als „eine Communityorganisation, die mit verschiedenen Gemeinden und Gruppen zusammenarbeitet und heute die politische Repräsentation der Garífuna in ihrem Kampf für kollektive Rechte und ihre angestammten Territorien ist.“ Dass Frauen dabei an vorderster Front stehen, leitet sich für Miranda sowohl aus den matrilinearen Traditionen der Garífuna ab als auch aus dem Bewusstsein, das viele Frauen durch die Aufgaben, die sie gesellschaftlich übernehmen, entwickeln: „Wie viele Frauen müssen so viele Kilometer laufen, um nur ein bisschen Wasser zu holen? Wie viele Frauen müssen ihr Saatgut verteidigen? In den letzten Jahrzehnten sind die Frauen hervorgetreten, um den Fortbestand der Menschheit zu sichern. Damit die neuen Generationen wirklich genießen können, was da draußen ist, und ein erfülltes Leben haben, gut essen, frische Luft atmen und die Natur genießen können.“ Mit ihren Mitstreiter*innen von OFRANEH hat Miriam Miranda es geschafft, lebendige Alternativen zum dominanten, kapitalistischen Lebensmodell wie das 1500 Hektar umfassende Vallecito zu schaffen und selbstverwaltete Strukturen aufzubauen, die das Leben in den Mittelpunkt stellen. Sie beschrieb das Projekt in einem Interview mit pbi als „das Zentrum der Garífuna-Gemeinden, ein Paradies.“ Dort wird die konkrete Arbeit für Ernährungssouveränität mit verschiedenen Themen verbunden. Zum Beispiel mit dem Aufbau autonomer Gesundheitszentren, die mit traditionellen, ganzheitlichen Heilmethoden arbeiten, mit Bildungs- und Medienarbeit und dem Kampf gegen geschlechtsbezogene Gewalt.

Mirandas Analysen auf Basis ihrer konkreten Lebenserfahrung zeigen deutlich, wie verschiedene Gewaltstrukturen wie Kolonialismus, Kapitalismus und Patriarchat nur gemeinsam bekämpft werden können. Ihre Arbeit beweist, dass radikale Alternativen nicht nur notwendig, sondern auch möglich sind.


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RÜCKKEHR NACH VORNE?

“Glücklich wird der Tag sein, an dem keine fehlt” Feministische Demonstration in Montevideo am 25. November 2024 (Foto: Santiago Ares)

Es war der bisherige Höhepunkt: Die feministische Großdemonstration zum 8. März brachte 2016 über 300.000 Frauen auf die Straßen von Montevideo. Die Mobilisierung reichte bis in sonst verschlafene Orte im Landesinneren. Seitdem hat die feministische Bewegung zu ungekannter Stärke gefunden.  Eine der Gruppen, die zu Mobilisierungen am 8. März aufrufen, ist die Coordinadora de Feminismos (feministische Koordination). Sie geht zurück auf die Vernetzung feministischer Gruppen, eine davon war Las Decidoras (Die Entscheiderinnen). Las Decidoras wurde Ende der 1990er Jahre von Aktivistinnen aus verschiedenen linken Organisationen gegründet. Mitstreiterin María Delia Cúneo erinnert sich: „Wir haben uns zunächst viel mit Autonomie beschäftigt, denn die parteipolitischen Strukturen waren – auch wenn sie sich zur revolutionären Linken zählten – absolut patriarchal geprägt. Dort wurden Frauen ebenso unterdrückt wie in staatlichen Strukturen, Institutionen oder anderen Parteien.“

Ausgehend von der Lektüre feministischer Texte und den eigenen Erfahrungen als Frauen, hat die Gruppe mit Straßenperformances als „kollektive Anklage“ eine in Uruguay bis dato kaum genutzte Protestform etabliert. „Wir wollten auf Themen, die uns wichtig waren, im öffentlichen Raum aufmerksam machen und Zustände anprangern, aber mit unseren Körpern, nicht nur mit Worten.“

Zur breiteren Vernetzung mit feministischen Gruppen aber kam es erst anlässlich eines Treffens Ende 2015. „Dort kamen alle Feminismen zusammen: Akademikerinnen, aus NGOs, aus Institutionen, andere, die nirgendwo organisiert waren, und wir“, erzählt Cúneo. Auf diesem Treffen nahm, mit dem Aufruf zur Demonstration am 8. März 2016, die neue Stärke der feministischen Bewegung ihren Anfang. Feminizide wurden zu einem zentralen Thema der Koordination: „Jedes Mal, wenn eine Frau von einem Mann ermordet wurde, sind wir zu einer Alerta Feminista auf die Straße gegangen“, so Cúneo. Bis heute seien sie immer bereit, eine Alerta zu organisieren. Zur Demonstration zum 25. November vergangenen Jahres, anlässlich des Internationalen Tages zur Beseitigung von Gewalt an Frauen, rief die Coordinadora unter dem Motto „Von Abya Yala bis Palästina, feministischer Widerstand“ auf.

Zu neuen, progressiven Regierung äußert sich Cúneo zurückhaltend. „Wenn wir in fünf Jahren rechter Hetze etwas gelernt haben, dann, dass wir von der Politik konkrete Lösungen für konkrete Probleme fordern müssen. Beispielsweise treffen Gesetzesnovellen wie die Verschärfung des Strafmaßes für geringfügigen Drogenhandel Frauen im besonderen Ausmaß.“ Denn dies führe dazu, dass Frauen, die inhaftierten Angehörigen kleine Mengen von Drogen zukommen lassen, ihrerseits ins Gefängnis kommen. Das sei auch dramatisch für deren Kinder, die dann in die Obhut des INAU (Instituto del Niño y del Adolescente del Uruguay, Uruguayisches Kinder- und Jugendinstitut) oder irgendeines Angehörigen kämen.

„Auch wenn der Ausgangspunkt der Unterdrückung und der Gewalt im System selbst liegt, die Probleme der Frauen sind real“, macht Cúneo deutlich. Es brauche politische Maßnahmen, um die Konsequenzen dieser vom Staat selbst verursachten Probleme zu beheben, wiedergutzumachen oder zu lindern. „Dabei spreche ich von Frauen, die Opfer von Gewalt, sexueller Ausbeutung, und Missbrauch geworden sind, von Kindern und Jugendlichen, die vergewaltigt worden sind und in perversen Institutionen wie dem INAU untergebracht, wo sie wiederum Gewalt und Missbrauch erleiden. Ich spreche von der Notwendigkeit, Zentren zu schaffen, die Frauen mit Suchtproblematik helfen und solchen, die auf der Straße leben.“ All dies sei, so Cúneo, Ergebnis eines patriarchalen Systems, welches sich durch solche Maßnahmen nicht abschaffen lassen würde. „Aber es bleibt notwendig, im Konkreten Lösungen zu verlangen, und gleichzeitig an einem anderen Paradigma zu arbeiten, aus dem Feminismus heraus und aus uns selbst.“ 

“Keine der staatliche Maßnahmen können den Weg zur Emanzipation für die Frauen in Uruguay eröffnen”

Auch ohne größere Hoffnungen in die neue Regierung zu setzen, sieht Cúneo die Möglichkeit, wenigstens diese politischen Maßnahmen einzufordern. Wenn auch in dem Bewusstsein „dass keine dieser staatlichen Maßnahmen den Weg zur Emanzipation für die Frauen in Uruguay eröffnen kann.“ Diese könne nur durch „den eigenen Kampf“ erreicht werden.

Einen Schlussstrich unter das Thema der Verschwundenen und der Menschenrechtsverletzungen der bis dato letzten zivil-militärischen Diktatur ziehen: Das war Ziel der Kommission für den Frieden, die Präsident Jorge Batlle von der liberalen Partido Colorado (Bunte Partei) im Jahr 2000 einberief. In Reaktion darauf gründete eine Gruppe ehemaliger politischer Gefangener, Angehöriger und Aktivist*innen das Plenaria Memoria y Justicia (Plenum für Erinnerung und Gerechtigkeit). „Wir waren der Überzeugung, dass dieses Thema nicht abgeschlossen ist, es keinen Schlussstrich gibt“, sagt Nieves Cancela, die seitdem dort aktiv ist.

Das Plenum organisiert Escraches (Mobilisierungen vor den Häusern von Verbrechern der Militärdiktatur, Anm. d. Aut.) und versucht, die Erinnerung wachzuhalten: „Wir brauchen eine aktive Erinnerung, die wir für unsere aktuellen Kämpfe nutzen können, ohne die Forderung nach Gerechtigkeit aufzugeben.“ Ein Problem sei, dass die Repression in ein Gestern und Heute eingeteilt werde. Dabei handele es sich um die gleiche Straflosigkeit, die sich heutzutage nur in einer anderen Form als in der Diktatur ausdrückte. In den Gefängnissen foltere der Staat weiter und es gäbe weiterhin Personen, überwiegend junge Frauen, die verschwänden. Manche tauchten wieder auf, von anderen höre man nie wieder. „Das sind die Opfer von Menschenhandel und Sexkauf.“

Dass der Kampf um die Erinnerung von großer Aktualität bleibt, zeigen erschütternde Aussagen von Lucía Topolansky, Ex-Vizepräsidentin und Frau von Ex-Präsident José Pepe Mujica: Sie versicherte Ende 2024, dass sie Aktivisten kenne, die vor der Justiz gelogen hätten, damit Ex-Militärs in Prozessen um Menschenrechtsverbrechen verurteilt werden. Diese Aussage wurde von Mujica bestätigt. Auf Seiten von Menschenrechtsorganisationen stießen die Äußerungen auf großes Unverständnis und Ablehnung.

„Es gibt aberhunderte Aussagen von Genossen, die gefoltert worden sind, es gibt hunderte Verschwundene und Ermordete“ sagt Cancela, und dennoch werde Zweifel gesät. „Sowohl Topolansky als auch Mujica haben gesagt, dass sie keine alten Menschen im Gefängnis sehen wollen. Damit meinen sie Militärs und Zivilisten, die wegen Verbrechen in der Diktatur inhaftiert sind.“ Der Fall hat eine zwielichtige Vorgeschichte: Ex-General Guido Manini Ríos, Parteivorsitzender der rechtspopulistischen Partei Cabildo Abierto, hatte Pepe Mujica auf seinem berühmten Hof besucht. Dort schlug er Mujica vor, dass ältere, gefangene Ex-Militärs freigelassen werden. Einen Monat nach dem Besuch wurden dann die Äußerungen von Topolansky öffentlich bekannt.

Wenige Erwartungen an die neue Regierung

Nieves hat wenige Erwartungen an die neue Regierung, die am 1. März antritt. Auch in früheren Regierungsbeteiligungen der Frente Amplio hätte es Repression und keine Fortschritte auf der Suche nach Wahrheit, Erinnerung und Gerechtigkeit gegeben. Nieves kritisiert, dass es keine klare Äußerung zum Genozid in Gaza gegeben habe. „Es wird sicherlich Unterschiede geben zur Regierung Lacalle, aber ob das einen bedeutsamen Fortschritt beim Thema Menschenrechte bedeutet, bleibt abzuwarten“, schließt sie.

Seit einigen Jahren erhält das Thema der Erinnerung wieder mehr Aufmerksamkeit. Ein Beispiel ist der große Marsch der Stille, der von Müttern und Angehörigen von Verschwundenen Gefangenen veranstaltet wurde. Jedes Jahr am 20. Mai versammeln sich zu dieser Gelegenheit über 30.000 Personen in Montevideo, darunter immer mehr jüngere Menschen. Auch in Orten im Landesinneren gibt es ähnliche Gedenkveranstaltungen.

Auch die Umweltbewegung ist zuletzt stark gewachsen. Ihr Kampf dreht sich vor allem um Trinkwasser, die wichtigste natürliche Ressource Uruguays. Die ist bedroht: Nach einer langen Dürre im Jahr 2023 fielen die Trinkwasserreservoirs, die die Metropolregionen von Montevideo, Canelones und San José versorgen, fast vollständig trocken. Dort lebt mehr als die Hälfte der Einwohnenden des Landes. Die Regierung mischte daraufhin das Trinkwasser mit dem des Río de la Plata, obwohl das dort entnommene Wasser ungenießbar und für den menschlichen Verbrauch nicht geeignet ist. Wer es sich leisten konnte, stieg auf abgefülltes Wasser um. 

Auch eine der wichtigsten Wasserquellen des Landes, der Río Santa Lucía, ist bedroht durch das Agrobusiness und Agrargifte, die für Monokulturen, von beispielsweise gentechnisch verändertem Soja oder der Forstwirtschaft, genutzt werden. „Dadurch kommt es zu Verschmutzung mit Blaualgen, wie momentan an der Küste, aber auch in wichtigen Stauseen zur Trinkwasserbereitung“, sagt Marcos Umpiérrez, Dozent der Kunstfakultät und Mitglied der Asamblea por el Agua del Río Santa Lucía (Versammlung für das Wasser des Río Santa Lucía). Sie haben bereits verschiedene Demonstrationen zur Verteidigung das Wassers organisiert. Das regionale Modell eines Agrobusiness, welches auf großen Monokulturen von Soja und Forstwirtschaft basiert, setze auf die Ausbeutung von Gemeingütern wie Wasser und Territorien.  Dies führe weiterhin, so Umpiérrez, zu einer Verklappung giftiger Agrochemikalien in die Wasserläufe und ruhende Gewässer und in der Folge zur giftigen Blaualgenblüte.

Hinzu kommt der Trend zum grünen Wasserstoff, in Europa und vor allem in Deutschland. Um Wasserstoff zu erzeugen, werden die wasserführenden Schichten angezapft, um möglichst reines Wasser zu entnehmen. „Grün“ wird der Wasserstoff vor allem genannt, da zu seiner Produktion erneuerbare Energien vorgesehen sind. Deshalb ist auch die Errichtung großer Felder mit Solarzellen geplant. Der Wasserstoff soll schließlich Methanol erzeugen und als Treibstoff nach Europa exportiert werden. „Das Problem daran ist“, erklärt Umpiérrez, „dass sie Süßwasser aus unseren Territorien verwenden, weil es für sie viel günstiger ist. Wahrscheinlich wird ihnen für das Wasser nichts berechnet, wie etwa UPM, die für das Wasser zur Zellstoffproduktion nichts bezahlen müssen.“ Das finnische Zellstoffunternehmen, war für mehrere Leckagen von toxischen Produkten verantwortlich. So gelangten etwa tausend Kubikmeter Natriumhydroxid in einen Zufluss des Río Negro.

Auch das sogenannte Proyecto Neptuno (Neptun-Projekt) versetzt die Umweltbewegungen in Alarmbereitschaft. „Sie wollen bei Arazatí im Departamento San José Wasser aus dem Río de la Plata entnehmen, um es in die Metropolregion Montevideo zu leiten“ berichtet Umpiérrez. Er betont, dass der Río de la Plata nicht nur einer der verschmutztesten Flüsse der Welt ist, sondern dass das Projekt auch unglaublich teuer ist. „Es heißt, dass es 300 Millionen Dollar kostet, aber im Endeffekt wird die uruguayische Bevölkerung bis zu 900 Millionen Doller zahlen müssen.“ Er bezeichnet das Projekt zudem als verfassungswidrig: Es verstoße gegen Artikel 47 der Verfassung, der besagt, dass die Trinkwasserversorgung Angelegenheit des Staates und der Zivilgesellschaft ist.

Zudem wird vor Buenos Aires ein Abwassersystem gebaut, welches die Abwässer der argentinischen Hauptstadtregion praktisch direkt in Richtung Arazatí leitet. „Das Wasser wird also von extrem schlechter Qualität sein. Außerdem lassen sich so nur 25 Prozent des Wassers gewinnen, das nötig ist, um die Metropolregion zu versorgen“, warnt Marcos. Die OSE (Obras Sanitarias del Estado, öffentliche Firma, die das Monopol der Trinkwassererzeugung hat, d. Red.) sei völlig unterfinanziert und verliere zudem über die Hälfte des von ihnen produzierten Trinkwassers. Und dennoch: „Die Entscheidung fällt zugunsten dieses Projekts, anstatt die strukturellen Probleme der Trinkwasserversorgung zu lösen. Dafür wären etwa 400 Millionen Dollar nötig.“

Angesichts des Regierungswechsels hofft Marcos, dass der Artikel 47 der Verfassung respektiert wird. Doch weder in den Jahren der Regierung der Frente Amplio noch unter der rechten Koalitionsregierung wurde anerkannt, dass Wasser ein fundamentales Menschenrecht ist und der Umgang mit diesen Gemeingütern in Abstimmung mit der Zivilgesellschaft reguliert werden soll. „Wir hoffen, dass die neue Regierung der Frente Amplio die Verfassung respektiert und den Kollektiven und der Wissenschaft zuhört. Sie sollen das Wasser verteidigen, aber wir wissen, dass dies nicht geschehen wird.“ Danach sieht es jedoch nicht aus: Bei Redaktionsschluss wurde bekannt, dass die noch bis 1. März amtierende Regierung von Luis Lacalle Pou den Vertag zum Bau des Proyecto Neptuno unterschreiben hat.


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Gestärkte Rücken

Jedes Jahr seit 1986 kommen viele tausend compañeres aus ganz Argentinien an einem Ort zusammen. Das Treffen ist ein Ort der Stärkung für kommende Kämpfe, dort, wo es am notwendigsten ist. In diesem Jahr fiel die Wahl auf die Provinz Jujuy. Im Wahljahr 2023 hatte der damalige Gouverneur der Provinz eine Änderung der Verfassung von Jujuy angeordnet, die nicht nur die extraktivistische Wirtschaft vorantrieb, sondern sich auch über die Gemeinschaftsrechte der Indigenen Völker und Arbeitsrechte hinwegsetzte (siehe LN 591/592). Der breite Widerstand dagegen löste eine heftige Repression gegen die Jujeñxs aus.

Horizontal und partizipativ

Auf den Treffen gibt es verschiedenste Workshops, kulturelle Programmpunkte und mindestens zwei Demonstrationen: eine gegen Trans- femizide und Hassverbrechen gegen LGBTIQ+-Personen und eine große Abschlussdemonstration.

In diesen Tagen begegnet man Menschen aus dem ganzen Land, die lokal aktivistisch tätig sind. Plötzlich entstehen mögliche gemeinsame Pläne, Erklärungen und Initiativen, um sich wieder zu treffen. Die Dynamik ist horizontal und partizipativ. Es wird nicht abgestimmt, sondern versucht, geteilte Positionierungen über das jeweilige Thema zu erreichen.

In der derzeitigen politischen Lage, mit einer ultrarechten Regierung, die den Staat aushöhlt und feministischen und Menschenrechtsaktivismus offen angreift, haben sich viele von uns dafür entschieden, an einem Workshop teilzunehmen, der auch schon im vergangenen Jahr gut besucht war: der Antifaschismus-Workshop. Dort haben wir uns über Begriffskonzepte ausgetauscht, um das Phänomen zu verstehen und Erfahrungen geteilt, wie wir das vergangene Jahr in unseren sozialen Bewegungen politisch erlebt haben. Gleichzeitig haben wir uns mit den Charakteristiken der Ultrarechten in jeder Provinz vertraut gemacht. Wir haben unsere feministischen Errungenschaften Revue passieren lassen und verstanden, dass wir nicht aus Zufall Lieblingsobjekt der Angriffe sind: In unserem Land scheinen die traditionellen und ultrarechten Gruppen ihre Gemeinsamkeiten im frauen- und LGBTIQ+-feindlichen Diskurs und in der allgemeinen Stigmatisierung unserer Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit zu finden.

Die Auseinandersetzung über den digitalen Raum als Ort, in dem Ultrarechte sich wohlfühlen, war auch eine Möglichkeit, uns über unsere Recherchewerkzeuge auszutauschen. Viele von uns sind der Meinung, dass die sozialen Netzwerke sehr wichtig sind, um zu verstehen, wie Ultrarechte agieren, wer sie sind und wie ihre Agenda aussieht. Wir wollen damit nicht nur das alte Motto „Wissen ist Macht” verteidigen, sondern die Recherche auch in unsere alltäglichen politischen Praxen aufnehmen.

Jahrzehnte der Organisierung und des gemeinsamen Kampfes stärken uns den Rücken. In Momenten des Rechtsrucks ist es manchmal leicht, das zu vergessen. Aber die Möglichkeiten sind da. Es reicht zu sehen, wie wir uns die Straßen jeder Provinz zurückholen, gemeinsam und vergeschwistert in einer gemeinsamen Bewegung, um zu wissen: Dieser traurige Zustand bleibt nicht für immer.


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„Wir wollen uns lebend, frei und unverschuldet!“

“Wir wollen uns lebend, frei und unverschuldet” Plakar auf einer Demonstration von Ni una Menos Santa Fe (Foto: TitiNicola via wikimedia commons (CC BY-SA 4.0))

In euren jüngsten Publikationen aktualisiert ihr die These von Gewalt als Produktivkraft. Was versteht ihr darunter und inwiefern ist sie für eine politische Analyse der letzten Jahre hilfreich?
Verónica Gago: Die Idee der Gewalt als Produktivkraft ist zentral für das feministische Weiterdenken der ursprünglichen Akkumulation sowohl bei Maria Mies als auch bei Silvia Federici, die damit ein ganz neues Diskussionsfeld eröffnen. Besonders interessant erscheint mir, Gewalt als Produktivkraft mit den feministischen Debatten der letzten Jahre über die Gewalten im Plural zu verbinden. Wenn in den letzten Jahren von Gewalt oder Gewalten die Rede war, wurde oft eine strukturelle Dimension vergessen, die mit der Kapitalakkumulation und den daraus entstehenden Formen von Gewalt zusammenhängt. Gewalt als Produktivkraft zu verstehen, verschiebt den Fokus auf die strukturelle, auf die kapitalistische, patriarchale und rassistische Dimension von Gewalt und bindet sie damit an ihren produktiven Charakter zurück.

Wenn wir uns der Frage zuwenden, was heute im Zuge der kapitalistischen Akkumulation Gewalt produziert, dann konzentriere ich mich auf das, was einige von uns in Lateinamerika seit Jahren als die extraktive Dimension des Kapitals analysieren. Es gibt eine Verbindung zwischen Territorien und feminisierten Körpern, die gleichzeitig von Ausbeutungsprozessen gekennzeichnet sind – durch Dispositive direkter Gewalt (Enteignung und Vertreibung) und durch vermittelte Gewalt über finanzielle Dispositive, insbesondere Schulden (ökonomische Gewalt und finanzielle Gewalt).

Luci Cavallero: Wenn Mies die Abgrenzung vornimmt, dass Gewalt nicht mehr als außerökonomisches Element gedacht werden kann, dann scheint mir das auch ein Stück weit die Pädagogik des (feministischen) Streiks zu sein, die ökonomische Gewalt als Teil und intrinsisch verbunden mit geschlechtsbezogener Gewalt begreift. Gewalt als Produktivkraft zu denken, ist also nicht nur eine Diagnose oder eine theoretische Entscheidung, sondern hat auch politische Konsequenzen, wenn es um das Agenda-Setting zur Bekämpfung von Gewalt geht. Mit anderen Worten, es handelt sich um eine feministische Agenda, die auch eine Aushandlung mit dem Staat beinhaltet. Diese staatliche Dimension ist oft wie ein Versuch den Kampf gegen machistische Gewalt auf einen Alarmknopf zu reduzieren, während wir sagen, dass der Kampf auch Zugang zu Wohnraum und Arbeitsrechte in Haushalten umfasst. Die Idee von Gewalt als Produktivkraft beeinflusst auch die Art und Weise, wie wir innerhalb des Kollektivs Ni Una Menos über Bündnisse nachdenken und wie wir darin das Verhältnis zwischen ökonomischer und geschlechtsbezogener Gewalt aufgreifen.

An welche Art von Bündnissen denkst du, Luci?
Luci Cavallero: Für eine Anti-Gewalt-Agenda sind wir verschiedene politische Bündnisse eingegangen, zum Beispiel mit Mieter*innenbewegungen, die insbesondere die Rolle von Frauen als Haushaltsvorständen im Kampf um Wohnraum hervorheben. Denn im Kampf gegen machistische Gewalt kannst du verschiedene Arten von Bündnissen bilden, von der rechtlichen bis hin zur künstlerischen Ebene. Aber wenn du sagst, dass Gewalt auch eine Produktivkraft ist, dann bedeutet sich der Gewalt entgegenzustellen auch, sich dem finanzialisierten Immobilienextraktivismus entgegenzustellen.

Argentinien befindet sich seit Jahren in einer Wirtschaftskrise mit wenigen Höhen und vielen Tiefen. Ihr stellt die staatliche sowie die individuelle Verschuldung, die daraus resultiert, ins Zentrum eurer Überlegungen. Aber wie hängen Verschuldung und Gewalt als Produktivkraft zusammen?
Luci Cavallero: Ja, seit 2018 erleben wir in Argentinien eine soziale Tragödie, die mit einem wichtigen Ereignis begann: der Rückkehr des Internationalen Währungsfonds (IWF) in die Mitregierung der argentinischen Ökonomie im Jahr 2018 unter der Präsidentschaft von Mauricio Macri. Diese ultra-neoliberale Regierung hat den schnellsten Verschuldungsprozess in der Geschichte Argentiniens eingeleitet, der sogar den der Militärdiktatur übertrifft: 100 Millionen Dollar, die Hälfte davon bei externen Gläubigern, also Investmentfonds, und die andere Hälfte bei internationalen Kreditinstituten. Seither ist eine deutliche Prekarisierung der Lebensbedingungen für die große Mehrheit der Bevölkerung zu beobachten, die sich in verschiedenen Aspekten manifestiert. Darunter fällt eine stark wachsende Verschuldung der Bevölkerung, die immer mehr auf den Kauf von Gütern und Dienstleistungen der sozialen Reproduktion abzielt. Das breitet sich aus, nicht nur in der Arbeiter*innenklasse, sondern auch in den Mittelklassen. Einkommen reichen nicht aus und jeden Monat müssen neue Schulden aufgenommen werden, um das Einkommen aufzustocken.

Seit dem Wahlsieg von Milei ist diese Dynamik, die wir schon seit einiger Zeit untersuchen, geradezu explodiert. Aktuell befinden wir uns bereits in einem Szenario der Hyperinflation. Vor diesem Hintergrund ist der Wunsch nach einem radikalen Wandel zu verstehen, der sich in der Wahl derjenigen zeigt, die eine Dollarisierung versprochen haben. Der Dollar gilt als die einzige stabile Währung. In einer Ökonomie, die grund­legende Güter und Dienstleistungen, beispiels­weise Wohnraum, dollarisiert hat, wirkt Mileis Vorschlag zur Dollarisierung wie ein Stabilitätsversprechen – auch wenn es offensichtlich nur um den Preis extremer Verarmung zu haben ist.

Welche Rolle spielen Feminismen darin? Oder: Warum braucht es eine feministische, materia­listi­­­sche und dekoloniale Perspektive, um Inflation und Verschuldung zu analysieren?
Luci Cavallero: Die kriminelle Verschuldung während der Präsidentschaft von Mauricio Macri fällt mit einem Höhepunkt des feministischen Widerstands zusammen. Schulden und Verschuldung werden zum Thema auf den Asambleas (Versammlungen) und im Rahmen der feministischen Streiks organisierten wir eine Aktion vor den Toren der argentinischen Zentralbank. Dort brachten wir zum ersten Mal das Transparent mit dem Slogan: „Wir wollen uns lebend, frei und unverschuldet!“ (¡Vivas, libres y desendeudadas nos queremos!) an. Diese Politisierung der Schulden beleuchtet etwa die Verbindung zwischen externer Verschuldung, Austeritätsprogrammen und Haushaltsschulden. Es sind hauptsächlich Frauen, die Schulden aufnehmen müssen, was wiederum das Verhältnis zwischen finanziellen Verpflichtungen und Geschlechteranforderungen in wirtschaftlichen Krisenzeiten aufzeigt.
Auf der einen Seite ermöglicht diese feminisierte Verschuldung, Notsituationen zu bewältigen, aber gleichzeitig ist es eine Verschuldung, die häufig Frauen an die Haushalte bindet, in denen Gewalt herrscht. Nach dem Motto: „Ich kann dieses Zuhause nicht verlassen, weil ich einen Haufen Schulden habe. Etwa um Schulmaterial für meine Kinder zu kaufen, die darauf angewiesen sind, dass ich drei Schichten arbeite und außerdem mein Partner arbeitet.“

Der IWF hat in das Abkommen mit Argentinien von 2018 eine vergeschlechtlichte Sprache aufgenommen. Darin wird der argentinische Staat aufgefordert, die weibliche Erwerbsarbeit und die finanzielle Inklusion von Frauen im Sinne von ökonomischer Autonomie zu fördern und zu erhöhen. Wir haben darauf folgendermaßen geantwortet: Mehr Erwerbsbeteiligung ohne Rechte taugt nichts! Und zweitens bedeutet finanzielle Inklusion nicht ökonomische Autonomie. Die Genossinnen sind bereits finanziell integriert, allerdings in Form von Verschuldung. Verschuldung ist auch eine Form der Inklusion!

So üben Schulden auch eine Form von Gewalt aus, weil sie dazu führen, dass du für weniger Lohn mehr arbeitest. Ein Beispiel: Ab dem Jahr 2018 sind innerhalb von vier Monaten 700.000 Frauen auf den Arbeitsmarkt gekommen, und gleichzeitig ist die Verschuldung am stärksten gestiegen. Sprich: Du bist zu längeren Arbeitszeiten und mehr Schichten gezwungen, während die externe Verschuldung dir nicht das Existenzminimum garantiert, sondern du dich noch weiter verschulden musst. Ich würde sagen, die Verschuldung ist der Mechanismus par excellence, der Gewalt als Produktivkraft auszeichnet.

Verónica Gago: Ich möchte hinzufügen, dass dies auf zwei weitere Momente in der Geschichte Argentiniens verweist: die Krisen von 2001 und 1989, die die größten ökonomischen und politischen Krisen seit der Militärdiktatur waren. Im Jahr 1989 musste Raúl Alfonsín, der erste Präsident nach der Diktatur, vorgezogene Neuwahlen ausrufen, woraufhin Carlos Menem an die Macht kam und die brutalsten neoliberalen Reformen der 1990er Jahre durchführte. Im Jahr 2001 waren die Wirtschaftskrise und Verschuldung ebenfalls sehr schwerwiegend und führten zu großen Protesten und einem Massenaufstand. Die Dollarisierung der Wirtschaft, ein Projekt der wirtschaftlichen Eliten, wurde dank dieser Proteste verhindert. Wie oben erwähnt, bestritt Milei als Kandidat der extremen Rechten den Wahlkampf mit der Idee der Dollarisierung. Das macht für viele Menschen Sinn, weil diese bereits de facto in den Bereichen Lebensmittel und Wohnen existiert – das sind dollarisierte Märkte. In allen drei Fällen handelt es sich also um Hyperinflationskrisen und um politische Krisen. Das heißt es sind Krisen, die einen Regierungswechsel oder eine tiefgreifende Umstrukturierung eben dieses politischen Systems mit sich bringen. Aktuell geht es um die Umstrukturierung eines fortgeschrittenen Extraktivismus- und Landnahme-Modells. Seit dem Triumph Mileis sehen wir, dass all dies mit Nachdruck bestätigt wird, mit einer zusätzlichen Komponente: einer extremen Geschwindigkeit in der Deregulierung der Grenzen für Unternehmen und in der Organisation der Plünderung selbst.


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Pizza, Champagner und Wut

Die Nachrichten aus Argentinien sind in letzter Zeit ziemlich beschissen. So abgedroschen es auch klingt, aber in dieser Zeit kommt das neue Album des transfeministischen Reggaeton-Projekts Chocolate Remix genau richtig. Die Frage, ob sich eine lesbische Person wie Romina Bernardo a.k.a. Chocolate, alle Pronomen, eine als immer noch hauptsächlich sexistisch und frauenfeindlich gelabelte Musikrichtung aneignen darf, ist sowas von 2010er Jahre. Minga, ein argentinischer Lieblingsausdruck von Chocolate, der sich etwas harmlos geraten mit „auf gar keinen Fall!“ übersetzten lässt, heißt das dritte Album der Produzentin und MC aus dem nordargentinischen Tucumán. Denn auf gar keinen Fall wird sich Chocolate von dem Faschisten, der seit Dezember 2023 in Argentinien an der Macht ist, die Laune verderben lassen.

Und so beginnt „La Fiesta“, der Opener des Werks, mit einer synthetischen Trompete, die das emble­matische „Todavía Cantamos“ von Victor Heredia schmettert. Im Eröffnungstitel geht es nicht nur um die Party als Ort des Widerstands – etwa für queere Personen – sondern auch um all die Demonstrationen, die festlich, aber entschlossen den Protest auf die Straße bringen. Dabei darf die Hoffnung und Kampf ausdrückende Hymne von Heredia aus postdiktatorischen Zeiten nicht fehlen. Darauf folgt „Otario“, ein aus der Hauptstadtschnauze lunfardo bis nach Brasilien verbreitetes Wort, welches im harmlosesten Fall „Idiot“ bedeutet. Im schnellen Rhythmus eines dominikanischen Dembow lässt Choco der Frustration und Hilflosigkeit über den Sieg Mileis freien Lauf und spuckt den Libertären ihre Wut entgegen. „Sie glauben, dass sie frei sind, die Liber-Otarios“– so das Wortspiel zwischen Libertär und Otario. Das Video zum Song wurde während der ersten Proteste gegen die Regierung Milei aufgenommen und zeigt Choco vor den Polizeiketten tanzend.

Harten, klassischen Reggaeton gibt es in „Pizza con Champagne“: Chocolate ist in den 90ern groß geworden, in jener bizarren Zeit, in der sich die Mittelschicht als Gewinnerin der dann 2001 platzenden Finanzblase wähnte und in einer aus heutiger Sicht grauenhaft trashiger Oberflächlichkeit eben Champagner zu ihrer Pizza gönnte. Ob manche auch in nostalgischer Erinnerung an diese Zeit Milei gewählt haben? Wie damals wird das Land völlig ausverkauft und privatisiert, aber Glamour lässt sich nicht erkennen, erklärt Chocolate in einem Reel auf Instagram.

Auf Minga geht es weiter durch verschiedene Stile und Themen: Da ist der House „Mostra“ mit seinen hypnotischen Wiederholungen; juicy wird es in dem sexpositiven Neoperreo „Pornostar“. In „Ey maricón“ nimmt Chocolate queerfeindliche Äußerungen auf und hält sie denen entgegen, die ihre Überforderung, ob Chocolate Mann, Frau oder wasauchimmer ist mit Hass ausdrücken – vielleicht sind sie ja heimlich fasziniert?

Das Album schließt mit einem Remix von Fede Haro von einem der besten Songs von Chocolate, „Quién Sos“, und lässt mit Wut und Hoffnung auf bessere Zeiten tanzen – ein bisschen Energie tanken, Kraftstoff für den Widerstand gegen den aufkeimenden Faschismus.

Mit seiner Energie und vor allem unermüdlichen Touren durch Europa erreicht Chocolate Menschen weit über die Grenzen Argentiniens hinaus – und verbindet Kämpfe in Zeiten der weltweit erstarkenden Rechten. Mit Freude kämpfen, obwohl die Umstände ziemlich ungut aussehen. Etwas, was der deutschen Linken eher abgeht.


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“Unsere Leben implodieren”

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In 20 Jahren stark gewachsen Das Kollektiv YoNoFui begann mit einem Poesieworkshop und bietet heute Unterstützung in zahlreichen Bereichen an (Foto: YoNoFui)

Wir treffen uns einen Tag nach dem brutalen Anschlag auf vier Lesben – Pamela, Roxana, Andrea und Sofía – im Stadtteil Barracas von Buenos Aires. Wie lässt sich dieser Anschlag in der gegenwärtigen politischen Situation erklären?

Dieser spezifische Fall zeigt, wie die Hassreden der Regierung von Milei später konkrete praktische Auswirkungen haben. Wir halten es für wichtig, darauf hinzuweisen, dass diese Reden nicht erst von dieser Regierung stammen. Sie brodelten schon länger unter der allgemeinen Oberfläche, aber jetzt gibt es eine Legitimation von höchster institutioneller Ebene, diese expliziten Grausamkeiten auch auszuüben. Und das ist definitiv gefährlich. Die derzeitige Regierung ist erklärtermaßen antifeministisch und gegen dissidente Körper. Letzte Woche hat einer von Mileis Biografen gesagt, dass Homosexualität von linken Parteien finanziert sei.
Aber wir leisten auch Widerstand: Gestern gab es eine Versammlung von etwa 400 Lesben aus verschiedenen Teilen des Landes, um zu besprechen, was zu tun ist. Die Situation ist sehr kompliziert, aber sie hat gerade erst begonnen. Unsere Leben implodieren. Jeden Tag gibt es Nachrichten aus dem nahen Umfeld, die uns umhauen. Die Krise der mentalen Gesundheit, in der wir uns aktuell wiederfinden, wirft viele Fragen auf, etwa wie wir gegen diesen Krieg ankämpfen können, der nicht nur kulturell und ökonomisch, sondern auch emotional geführt wird.

Aber mit diesen Hassreden hat Milei doch Wahlkampf gemacht. Wie erklärt ihr euch, dass ihn so viele Menschen gewählt haben?

Es gibt nicht eine einzige Antwort, sondern viele Gründe. Wir beobachten eine Veränderung in den Subjektivierungsprozessen, die sich nach der Pandemie verstärkt haben. Dabei gehen historische, geteilte Erfahrungen verloren, die dazu geführt haben, dass wir heute stehen, wo wir stehen. Zum Beispiel, dass wir ein Land sind, das Prozesse der Bildung und des Kampfes um eine historische Erinnerung hat oder hatte. Wir dachten, dies sei eine feste Säule der Gesellschaft, aber uns wurde klar, dass sie sehr fragil ist.
Als Teil einer Selbstkritik glauben wir, dass dies mit einer Omnipotenz der Menschenrechtsbewegungen und der linken Bewegungen zu tun hat, die einige Diskussionen bereits für erledigt hielten, anstatt sie zu radikalisieren. Ökonomisch hat der Kirchnerismus einen großen Teil der Bevölkerung über Konsum integriert – mit dem ganzen neoliberalen Ballast. Letztlich war es aber kein „wir konsumieren alle“ als Modus einer Umverteilung von Reichtum, denn es gab gleichzeitig viele Menschen in sehr prekären Situationen, denen es schlecht ging. Die Kluft hat sich weiter vergrößert. Jetzt ist es offensichtlich schlimmer. Die Mittelschicht hat noch nie derartige Verluste erlebt.

Bevor wir zu dieser Selbstkritik kommen: Könnt ihr uns mehr über YoNoFui erzählen?

YoNoFui entstand im Jahr 2002 aus einem Poesieworkshop, den María Medrano, eine unserer Genoss*innen, im Gefängnis von Ezeiza gegeben hat. Dort sind wir auf die Schwierigkeiten gestoßen, die jemand hat, der*die die Freiheit wiedererlangt. Es gab keine öffentliche Politik für die Zeit nach der Inhaftierung. Also begannen wir, uns zu treffen und Workshops an verschiedenen Orten zu veranstalten. Das Kollektiv wurde größer, es vergingen mehr als 20 Jahre. Heute sind wir ein Kollektiv mit verschiedenen Bereichen. In unserem Gemeinschaftshaus befindet sich die Kooperative mit verschiedenen Produktionseinheiten: Textil, Buchbinderei und Siebdruck. Dann gibt es noch die neuste Produktionseinheit für Ästhetik und Körperpflege mit dem Namen „Bell, jede Schönheit ist Politik“, die sich in unseren anderen Räumlichkeiten im Stadtteil Palermo befindet. Hier im Gemeinschaftshaus in Flores hast du die Anti-Knast-Bibliothek. Wir machen auch Bücher, wir haben einen Verlag. Unser Kollektiv ist ja aus einem Poesieworkshop hervorgegangen – es gibt also etwas an der Sprache, das uns stetig herausfordert zu hinterfragen.
Ein weiterer Bereich des Kollektivs ist der Segundeo. Das ist ein bisschen schwierig zu erklären. Hier auf der Straße sagt man primerear, um sich vor jemanden zu stellen, als ob man konkurrieren würde – ohne, dass dir der*die andere etwas ausmacht. Stattdessen meint segundear zusammen gehen. Es ist sozusagen das Gegenteil von primerear. Segundeo zeigt auch die Art, wie wir uns im Laufe der Zeit umbenannt haben: Am Anfang haben wir „soziale Unterstützung“ gesagt, dann „Begleitung“ und heute macht der Begriff Segundeo für uns mehr Sinn, denn Segundeo ist eine Praktik der Gegenseitigkeit, zu zweit, des gemeinsamen Werdens darin, es ist eine ganz bestimmte Haltung, die wir sehr schätzen.

Was heißt das in der konkreten Praxis?
Segundeo hat mehrere Instanzen. Im juristischen Segundeo haben wir aktuell Genoss*innen, die aus ihrer Zeit im Gefängnis viel juristische Erfahrung haben, und vier antikarzerale und abolitionistische (Strömungen, die sich für die Überwin­dung von Institutionen staatlicher Gewalt wie Gefängnissen einsetzen, Anm. d. Red.) Anwält­*innen. Gemeinsam verfolgen wir die Fälle der Genoss­*innen. Wir haben auch Ansätze der kollektiven Mediation. Wir sind ein Kollektiv und auch hier gibt es Konflikte. Mit dem Segundeo versuchen wir dafür Lösungen zu finden, die weder strafend noch sanktionierend sind. Einen anderen Segundeo nennen wir „Autonomie und Selbstverwaltung des Alltagslebens“: staatliche Beihilfen beantragen, einen Lebenslauf erstellen, Orte zum Wohnen suchen und das Alltagsgeschäft des Gemeinschaftshauses verwalten. Nach der Pandemie haben wir gesehen, dass es einen großen Bedarf an Raum für psychische Gesundheit gab. Deshalb haben wir auch noch den Segundeo für mentale Gesundheit eröffnet. Hier haben wir Raum für Gruppen- und individuelle Betreuung. Wir arbeiten ausgehend von einer Idee, die sich vielleicht gegen die hegemoniale Vorstellung richtet, die Gesundheit nur im Sinne von individuellem Wohlbefinden und Glück versteht.
Obwohl wir seit sehr vielen Jahren Erfahrungen mit Kunst- und Handwerksworkshops sammeln, haben wir erst dieses Jahr unsere Schule für Kunst, Handwerk und politisches Experimentieren eröffnet. Wir sind sehr verliebt in dieses pädagogische und politische Projekt, weil wir unseren Raum für die Community öffnen und etwas sehr Lebendiges entsteht, ein Zufluchtsort in einem so komplexen Moment. Es sind 70 Personen eingeschrieben und fast alle sind queer.

Ihr habt die Selbstkritik in diesen Zeiten schon angesprochen. Vielleicht etwas allgemeiner: Mit welchen Problemen seid ihr heute konfrontiert?

Wir sind der Meinung, dass wir immer noch nicht genügend berücksichtigen, welche Auswirkungen das Gefängnis auf jegliche Bindungen in unserem täglichen Leben hat. Nicht nur, ob du im Gefängnis warst oder nicht. Da gibt es etwas, das gesellschaftlich geleugnet wird, etwas in den prak­tischen und alltäglichen Auswirkungen unseres Umgangs miteinander, das als ständige Bedrohung mit uns lebt wie ein Gerücht, das nicht verstummt.
Eine weitere Herausforderung, der wir uns zu stellen versuchen, ist die Notwendigkeit, eine Sprache zur Abschaffung der Gefängnisse aus südamerikanischer Perspektive oder aus dem Globalen Süden zu schaffen. Denn alle Vorstellungen, die wir haben, kommen aus dem Globalen Norden mit der Entstehung der kritischen Kriminologie oder Angela Davis. Das ist alles brillant und hilfreich, aber wir wollen auch in einem regionalen Kontext denken: Was ist hier ein Gefängnis? Was ist hier Bestrafung? Welche ist hier die Ökonomie der Bestrafung? Wie denkt man Gerechtigkeit? Die Konzepte aus dem Globalen Norden kommen wie eine verschlossene Kiste bei uns an. Also haben wir angefangen, ein Mapping von alternativen Gerechtigkeiten anzulegen, zum Beispiel indigene Gerechtigkeiten oder die Art, wie wir im Alltag Konflikte lösen, die auch Teil einer anderen Art von Gerechtigkeit ist. Das Gleiche gilt auch für innerhalb des Gefängnisses: Was bedeutet es, Gerechtigkeit innerhalb des Gefängnisses herzustellen? Was bedeutet es, Gemeinschaft innerhalb des Gefängnisses aufzubauen? In einer Welt, die zur Hyperindividualisierung neigt, kann der Aufbau von Gemeinschaft ein Weg sein, Gerechtigkeit zu schaffen.
Und gleichzeitig ist es jetzt sehr schwierig. Jetzt haben wir zum Beispiel das Problem, dass sie mit einer Justizreform das Alter der Strafmündigkeit auf 12 Jahre senken wollen. Aber was machst du da? Plötzlich vertrittst du eine konservative Position und sagst: „Nein, halt! Lasst uns nicht auf die 12, lasst uns auf die 18 zurückgehen.” Aber auch das funktioniert für uns nicht. In einem Punkt ist es zwar weniger schlimm, aber als Kollektiv sind wir nicht einverstanden mit diesem strafenden System. Vielleicht wäre jetzt ein guter Moment, uns zu fragen: Was wird kriminalisiert?

Wie arbeitet ihr in dieser Situation mit anderen, vielleicht transfeministischen oder auch anarchistischen Bewegungen zusammen?

Im Allgemeinen sind wir wenige Kollektive aus unabhängigen Aktivist*innen, die keine Parteifahnen hinter sich haben. Und wir halten diesen autonomen Raum aufrecht. Uns erscheint es sehr wichtig aus der Autonomie heraus zu sprechen. Eine Autonomie, die immer in wechselseitiger Abhängigkeit steht. Dieses Jahr haben wir für den 8. März zusammen mit transfeministischen und queeren Aktivist*innen den Mostri-Block gebildet. Das hat uns sehr begeistert, denn die Idee dieses Blocks war es, über die Diskussion um Identität hinauszugehen. Mostri kann jemand sein, der*die im Knast war, Mostri kann eine Person mit Behinderung sein, Mostri können wir antipunitivistischen Kollektive sein, Mostri kann die queere Community sein. Und dann begannen wir uns mit travesti-trans, schwulen, lesbischen Kollektiven, dem gesamten LGBT-Kollektiv und anderen Mostri-Aktivist*innen zu versammeln. Im Alltag kooperieren wir mit dem Kollektiv der Sexarbeiterinnen und mit No Tan Distintes („Nicht so verschieden”), ein Kollektiv, das mit Menschen auf der Straße arbeitet. Aber mit manchen Feminismen ist es kompliziert, vor allem wenn sie sehr frauenzentriert, akademisch und punitivistisch sind. Als antipunitivistisches Kollektiv zur Abschaffung von Strafen beharren wir darauf, dass das Gefängnis keine Lösung ist. Deshalb sagt eine Genossin, Eva Reinoso, immer: „Wir sind unbequem für den Feminismus, aber die Betten in den Gefängniszellen sind viel unbequemer.”
Und mit anarchistischen Bewegungen gibt es eine Nähe zu bestimmten Ideen, sofern wir Anarchismus als Praxis gegen Autorität verstehen. Außerdem stehen die Bündnisse in einer historischen Tradition: Die Anfänge der Kriminalisierung sexuell dissidenter Menschen und Sexarbeiterinnen fallen mit der Kriminalisierung von anarchistischen und kommunistischen Bewegungen zusammen.

Vielleicht hilft das auch die Beziehungen innerhalb des Kollektivs, aber auch nach außen zu stärken. Wie blickt ihr auf die nächsten Wochen?

Uff, schwierig. Wir glauben, dass die nächsten Wochen immer komplexer werden, aber gleichzeitig ist es auch wichtig, dass wir uns weiter verbünden. Mit der Erfahrung des Macrismo, der nicht mal ein Zehntel so schlimm, aber dennoch schrecklich war, können wir vielleicht eine Haltung weder der Hoffnung noch des Optimismus haben. Denn das war auch ein großer Moment der Alternativen: Wir waren so erstickt, so unterdrückt, so unfähig gemacht zu leben, dass wir Leben schaffen mussten. Und die einzige Möglich­keit war, sich zusammenzuschließen und zu mobilisieren. Das Gleiche tun wir jetzt. Aber die Aussicht ist ziemlich entmutigend und eine große Herausforderung. Es ist sehr traurig und schmerz­haft. Gleichzeitig war zum Beispiel der Mostri-Block auf der Demo vom 8M ein Fest und hat uns eine Lebendigkeit wiedergegeben. Deshalb beharren wir, ohne Hoffnung und ohne Optimismus, auf die Traditionen des Kampfes in un­seren Territorien, die sehr mächtig sind und die in uns wohnen.


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Wege des Widerstands

Melissa Martínez, Angehörige der afro-indigenen Gruppe der Garífuna in Honduras, wird direkt auf der ersten Seite sehr passend mit brennendem Herzen dargestellt. Denn sie brennt für ihr Territorium, ihre Familie, ihre Arbeit: Als Heilkundige wirkt sie in einem gemeinschaftlichen Gesundheitszentrum mit, das der Gemeinde, insbesondere den Frauen auf der Insel Roatán auch als Gemeindezentrum dient. Roatán ist das angestammte Gebiet der Garífuna. „Wir sind Menschen des Landes und des Meeres“, sagt Melissa. Menschen mit sowohl tiefer spiritueller als auch praktischer Verbindung zu ihrem Territorium, von dem die Garífuna als Fischer*innen und Landwirt*innen leben: „Es sind die Dinge, die wir mit unseren eigenen Händen schaffen und beginnen, deshalb so zu lieben.“ Doch das von ihnen geliebte karibische Land wird auch von Investor*innen begehrt: Gegen den vom Staat gebilligten oder sogar unterstützten Landraub durch Unternehmen muss sich Melissa zusammen mit den anderen Gemeindemitgliedern immer wieder heftig wehren. Nicht aufzugeben, wie sie es tut, kann dabei lebensbedrohlich sein.

Auch Lina Prieto aus Bogotá, die zweite Protagonistin, hat sich schon oft in lebensbedrohlichen Situationen wiedergefunden. Sensibel für Ungerechtigkeit in der kolumbianischen Gesellschaft schloss sie sich in jungen Jahren der Guerilla FARC-EP an. Nach einer misslungenen Aktion wurde sie verhaftet. In den Jahren im Gefängnis entdeckte sie ihre Liebe zu Büchern. Sie entschied sich, statt Waffen Worte zu benutzen, um weiter für ihre Ideale einzustehen. Der landesweite Generalstreik von 2021 (Paro Nacional) reißt Lina mit und stellt sie vor neue Herausforderungen. Sie stürzt sich in die gefährliche Aufgabe, die Proteste mit journalistischen Mitteln zu begleiten.

Die Graphic Novel von Steffi Wassermann mit Zeichnungen der Künstlerin Paola Reyes ist eine nahe und berührende Darstellung der Kreativität und Widerstandskraft der beiden porträtierten Frauen. Sie zeichnet die Wege und persönlichen Bezüge zu ihren jeweiligen Kämpfen und den Mitteln, die sie dafür auswählen, einfühlsam nach. Dabei gibt sie Einblicke in die jeweiligen regionalen Kontexte und Herausforderungen von Melissa und Lina. Paola Reyes’ Zeichnungen stellen durch den Fokus auf Emotionen und die Details der abgebildeten Gesichter eine enge Verbindung zwischen Leser*innen und Gezeichneten her. Auch die künstlerische Darstellung der je eigenen Umgebung vermittelt unmittelbar sowohl die ruhige Stimmung der karibischen Natur als auch die immense Größe und Enge der kolumbianischen Hauptstadt. Kämpferinnen – Luchadoras bietet einen wichtigen, menschlichen Zugang zu komplexen Themen wie koloniale Kontinuitäten und dem Widerstand dagegen, kapitalistische Ausbeutung und Landraub, Protest, Polizeigewalt und patriarchale Unterdrückung. Mit der Graphic Novel wurden auch pädagogische Begleitmaterialien veröffentlicht, einsehbar auf der Homepage des FDCL.


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„Eine Weisse, von Männern dominierte Welt”

Lateinamerikanische Komponist*innen, Berliner Chöre Lena Brakel (unten, Mitte hinten) und Miriam Rosas Báez (oben, 2. von links) im Interview (Foto: Sonidos Interseccionales)

Frau Brakel, wie kam es zu der Idee eines gemeinsamen Konzerts mit dem Coro Contrapunto und was sind die Ziele des Chorprojekts?
Lena Brakel: Der Coro Contrapunto ist sehr eng mit uns befreundet und hat die gleiche hervorragende Dirigentin, Catalina Restrepo aus Kolumbien. Chöre, die wie EntreVoces und Contrapunto dem deutschen Chorverband angehören, können sich mit einer Projektidee auf die Sonntagskonzerte bewerben. Gemeinsam mit dem Coro Contrapunto hatten wir die Idee, die musikalischen Werke von Frauen aus Lateinamerika aufzuführen und damit auf die strukturellen Ungleichheiten in der Musik aufmerksam zu machen.

Was verbirgt sich hinter dem Chorprojekt Sonidos Interseccionales?
LB: Der Titel ergab sich aus dem Ansatz des Konzertprojekts. Mit Intersektionalität wollen wir die Ungleichheiten von Geschlecht, Herkunft und auch sozialer Klasse innerhalb der Musikwelt thematisieren. Diese Ungleichheiten sind nicht nur historisch, sondern bestehen auch heute noch. Die „klassisch“ genannte Musik, in der wir unsere A-cappella-Chöre grob verordnen, ist eine sehr weiße und von Männern dominierte Welt. Gerade in letzter Zeit habe ich mich viel mit Literatur über die geschlechtsspezifischen Ungleichheiten in der Musik beschäftigt. In Deutsch­­land beispielsweise gibt es ca. 130 Orchester, die öffentlich finanziert werden. Davon werden nur sechs von Dirigentinnen geleitet. Nur zwei Prozent aller Werke, die sie aufführen, wurden von Frauen geschrieben.

Wie versucht das Chorprojekt gegen diese strukturellen Ungleichheiten in der Musikbranche vorzugehen?
LB: Mit unserem Projekt wollen wir Komponistinnen aus dem Globalen Süden eine Bühne geben. Die sieben Komponistinnen – drei aus Mexiko, zwei aus Kolumbien, eine aus Argentinien und eine aus Chile – komponierten eigens für das Konzert Werke und werden auch selbst bei der Uraufführung in der Berliner Philharmonie anwesend sein.
Außerdem kommt ein großer Teil der Sänger*innen unseres Chors aus verschiedenen lateinamerikanischen Ländern. Wir singen in unserer Freizeit und machen auf Ungerechtigkeiten aufmerksam. Ich denke, das ist eine gute Möglichkeit, eine Botschaft zu vermitteln. Zunächst innerhalb der Gruppe, die wir bilden, und dann in der Philharmonie, in der Öffentlichkeit.
Und stellt nicht gerade die Berliner Philharmonie als Aufführungsort konkreten Widerstand dar? Es ist eine ziemlich prestigeträchtige Bühne, sehr bedeutend in Deutschland – hier die Möglichkeit zu haben, die Werke zusammen mit den Komponistinnen zu präsentieren, ist einfach großartig.

Frau Rosas Baéz, Sie sind eine der Komponistinnen, die ihre Werke am 16. Juni in der Philharmonie vorstellen werden. Warum haben Sie sich für das Projekt beworben? Worin liegen dessen Chancen?
Miriam Rosas Baéz: Ich halte es für eine großartige Gelegenheit, die nur einmal im Leben kommt. Besonders die Möglichkeit, in der Berliner Philharmonie aufzutreten, ist toll. Es ist sehr schwierig für Frauen, dort auf die Bühne zu kommen und es gibt nur sehr wenige mexikanische Komponistinnen, die das geschafft haben. Tatsächlich kenne ich nur eine, nämlich Gabriela Ortíz.
Generell gab es in Mexiko in den letzten Jahren einen regelrechten Boom in der Musik- und Genderforschung. Es wurde klar, dass Frauen nicht nur als Komponistinnen, sondern auch als Instrumentalistinnen, Chor- und Orchesterleiterinnen extrem ausgegrenzt werden. Sie werden schlechter bezahlt und haben weitaus weniger Möglichkeiten, eine Führungsposition einzunehmen. Es gibt also eine strukturelle Ungleichheit, und das ist es, was mir an der Idee des Chorprojekts so gut gefallen hat.
Als ich von dem Projekt und dem Aufruf für Komponistinnen aus Lateinamerika erfuhr, wollte ich mich auf jeden Fall bewerben. Mich zum Komponieren zu ermutigen, war eine Herausforderung für mich, aber es ist auch befreiend. Es geht darum, seine eigenen Ideen zu formulieren, darum, die Themen, die einen interessieren, einzubringen. Ich fing an, zu überlegen, wie es für mich klingt und was ich gerne hören würde. Das war eine sehr schöne Übung.

Die meisten Stücke werden auf Spanisch sein. Es sollen aber auch indigene Kulturen und Sprachen Lateinamerikas miteinbezogen werden. Wie genau geschieht das?
MRB: Es ist wichtig, in dem Konzert nicht nur auf Spanisch zu singen, sondern auch den sprachlichen Reichtum des lateinamerikanischen Kontinents aufzuzeigen. Ich mache zum Beispiel gerade ethnomusikologische Forschung im Hochland von Chiapas, Mexiko. Hier gibt es eine Fülle von Sprachen, wie beispielsweise Tzotzil, Tzetal und Chol. In einem Abschnitt des von mir vertonten Gedichts spricht die Autorin selbst ihr Gedicht auf Tzotzil. Ich denke, es ist wichtig, dass ihre Stimme und ihre Sprache gehört werden.
LB: Das Konzert ist eine herzliche Einladung nicht nur für alle, die sich für Musik interessieren, sondern auch für die, die sich für den sozialen Kampf einsetzen. Es wird eine Übersetzung für die spanischen und indigenen Texte geben. Es ist ein wundervolles Projekt und wir freuen uns besonders, dass die Komponistinnen beim Konzert am 16. Juni in Berlin sein werden!


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// Feminismus in die Offensive

Es ist einer der schwersten Angriffe auf die feministische Bewegung seit langem: Anfang Februar brachte die Partei des ultrarechten argentinischen Präsidenten Javier Milei einen Gesetzentwurf ein, mit dem das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche abgeschafft würde. Der Entwurf sieht stattdessen Strafen von bis zu zehn Jahren Haft vor. Damit wäre das Gesetz noch restriktiver als die Regelung vor der hart erkämpften Legalisierung von Abtreibungen im Dezember 2020. Eine Attacke sondergleichen, der nur wenig später die nächste folgte. Ende des Monats verkündete Mileis Sprecher Manuel Adorni, fortan sei die Nutzung inklusiver Sprache in der öffentlichen Verwaltung untersagt – eine Regelung, die bereits zuvor für die Streitkräfte festgelegt worden war. Auch die Antidiskriminierungsbehörde wurde von der Regierung aufgelöst. Im selben Stil verfügte der kürzlich im Amt bestätigte Nayib Bukele, Genderperspektiven aus Lehrplänen und Schulbüchern sowie Materialien im Gesundheitswesen in El Salvador zu entfernen.

Die Maßnahmen zeigen: Frauen und disidencias sollen unsichtbar und die von ihnen erkämpften Erfolge rückgängig gemacht werden. Die Rechte und Ultrarechte, die sich lateinamerika- und weltweit auf dem Vormarsch befindet, hat Angst vor Selbstbestimmung. Zu recht. Das macht die argentinische Aktivistin Verónica Gago klar, die von den Vorbereitungen der feministischen Bewegung in Buenos Aires für den feministischen Kampftag berichtet – der erste 8. März, an dem es „gegen eine ultrarechte Regierung mit dezidiert antifeministischer Agenda“ auf die Straße ging. Oft sind es gerade feministische Bewegungen, die am hartnäckigsten Widerstand leisten. Das zeigten Aktivist*innen in El Salvador, die die erste und bisher einzige Demonstration gegen den Wahlbetrug von Bukele organisierten. Der Widerstand gegen das rechte Verfassungsprojekt in Chile kam auch und vor allem aus der feministischen Bewegung.

Milei, das wird in Gagos Bericht deutlich, hat sich die Falschen zu seinen Feind*innen gemacht. Dabei bleiben die Feminist*innen nicht unter sich. Im Aufruf vom Bündnis Ni una menos hieß es: „Schließt euch mit denen zusammen, die hungrig sind, mit denen, die Angst haben, mit denen, die die Nase voll haben. Wir kommen zusammen, denn gemeinsam sind wir unbesiegbar!“ Wie die Afrofeministin Sandra Chagas betont, nehmen rassistische Gewalt und Diskriminierung auch durch die Hassreden der Regierung Mileis zu.

Um zusammenzukommen ist es notwendig, einander zuzuhören – insbesondere den Personen, die am stärksten von Gewalt und Marginalisierung betroffen sind. Nicht nur in Argentinien wird darauf großen Wert gelegt. Die Coordinadora Feminista 8M aus Chile rief für den 8. März zum landesweiten feministischen Generalstreik auf. Dafür vernetzt sie sich mit anderen Gruppen, so solchen aus den Kämpfen ums Wohnen, für menschenwürdige Arbeit, Pflege und Umwelt, mit Feminist*innen und disidencias. Verschiedene Ebenen werden so miteinander verknüpft. Die Coordinadora spricht in ihrem Aufruf explizit über die Zunahme von Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten, „wenn wir über Migrant*innen, rassifizierte Menschen, Pflegekräfte, die Gesundheit der Bevölkerung, verschuldete Menschen und die Kriminalisierung von Armut sprechen“.

Auch in Deutschland sind ultrarechte Kräfte auf dem Vormarsch, die erkämpfte Rechte in Frage stellen wollen. Sie sind noch nicht an der Macht, aber vereinnahmen geschickt Kritik und beeinflussen den gesellschaftlichen Diskurs. Um dem wirksam etwas entgegen zu setzen, muss es jetzt auch in Deutschland darum gehen, verschiedene Kämpfe zu verbinden. Die Feminist*innen Lateinamerikas zeigen, wie das gehen kann.


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Explosiver März gegen Milei

Ob organisiert oder nicht Die feministische Vollversammlung gibt allen eine Stimme (Fotos: Julieta Bugacoff)

Die feministische Vollversammlung fungiert als Koordinationsorgan der feministischen Bewegung Argentiniens: Seit 2016 bietet das Gremium den verschiedensten Strömungen der Bewegung einen Raum zur Vernetzung und Organisation. Auf dem Treffen diskutieren die Teilnehmer*innen, ob in politischen Strukturen und Kollektiven organisiert oder nicht, die aktuelle Situation und planen den Kampf auf der Straße. Dieses gemeinsame Treffen, welches auch immer einen Neuanfang darstellt, ist, was die Bewegung zu einer Einheit werden lässt.

Am 14. Februar fand das erste Vorbereitungstreffen für den kommenden 8. März im Hof der ATE, der Gewerkschaft der Staatsbediensteten von Buenos Aires, statt. Das Treffen war als Reaktion auf einen Eilaufruf zustande gekommen. Zugleich versuchte die Regierung, die parlamentarische Niederlage des Omnibus-Gesetzes zu vertuschen, indem sie einen schlecht recherchierten Gesetzentwurf zur erneuten Illegalisierung von Abtreibung aufsetzte. Ein wichtiges Anliegen der Vollversammlung war, die Empörung darüber nicht in den sozialen Medien verpuffen zu lassen. Damit fällt die feministische Bewegung nicht auf Mileis Provokationen herein, die ein doch nur zu offensichtliches Ablenkungsmanöver von der katastrophalen, aktuellen Situation darstellen, in welcher sich das Land befindet.

Die Vollversammlung wiederholt sich zwar jährlich, sie versucht jedoch jedes Mal, neue Antworten in Bezug auf aktuelle Geschehnisse zu finden. In ihr vereinigen sich Stimmen und Erfahrungen, die sonst in der Politik nicht gehört werden.

Der offene Charakter erlaubt es dabei auch Personen, die bisher nicht organisiert sind, sich einzubringen. Die erste Großdemonstration zum 8. März fand in Argentinien 2017 während der Regierung von Mauricio Macri statt. Der diesjährige 8M wird der erste gegen eine ultra-rechte Regierung sein, die schon im Wahlkampf ihren explizit antifeministischen Charakter zeigte und diesen seit der Übernahme der Präsidentschaft immer weiter bestätigt. Von seiner Rede vor dem Wirtschaftsforum in Davos, in der Javier Milei den Feminismus attackierte, bis hin zu seinen wiederholten Angriffen auf die Sängerin Lali, weist alles auf seine Besessenheit hin, den Feminismus als Feindbild zu konstruieren. Diese Sichtweise macht ihn zu einem Teil des globalen Skripts reaktionärer politischer Akteur*innen, die panische „Angst vor Gender“ haben, um den Titel eines kürzlich erschienenen Buches von Judith Butler zu verwenden.

Streiken gegen den Hunger

Der Raum der Vollversammlung im Februar war zum Bersten voll. Ihre Zusammensetzung und die Fürsorge als Teil der so genannten unsichtbaren politischen Arbeit ist das, was die „vielstimmige“ Gemeinschaft, wie Dora Barrancos sie zu Beginn nannte, zusammenhält. Unterschiedliche Stimmungen, Erwartungen und Sprechweisen treffen aufeinander, aber es gelingt ihnen, gemeinsame Strategien zu erarbeiten, um auf der Straße Schlagkraft zu entwickeln. Im Mittelpunkt der Redebeiträge stand dabei besonders die Frage des Hungers: Der Lebensmittelnotstand in den Suppenküchen, den Stadtvierteln und Haushalten. Dina Sánchez, stellvertretende Generalsekretärin der UTEP (Unión de Trabajadores y Trabajadoras de la Economía Popular; Gewerkschaft der Arbeiter*innen im informellen Sektor) sprach von der „leeren Tupperbox, mit der die Genossinnen aus Suppenküchen zurückkommen, die nicht alle versorgen können“.

Ihr Redebeitrag bringt etwas zum Ausdruck, was die feministische Bewegung in den letzten Jahren wie keine andere erreicht hat: Gleichzeitig von bezahlter und unbezahlter, formeller und informeller, sichtbarer und unsichtbarer, häuslicher und gemeinnütziger Arbeit zu sprechen. Dies hat es den feministischen Streiks des 8. März ermöglicht, viele unterschiedliche Realitäten zu berücksichtigen. Auch die derjenigen, die sich zunächst einen Weg zu streiken erfinden müssen: Erst durch die Abwesenheit der von ihnen übernommenen Aufgaben wird ihrer nicht als solchen anerkannten Arbeit Aufmerksamkeit zuteil.

Dass dabei die meisten zentralen gewerkschaftlichen Organisationen vertreten sind, zeugt von der Bedeutung des gewerkschaftlichen Feminismus. Angesichts der brutalen Abwertung von Löhnen, Renten und Subventionen unterstreicht die gewerkschaftliche Präsenz auch den Anschluss an den Generalstreik vom 24. Januar.

Neben analytischen Perspektiven auf die politischen Veränderungen werden deren direkte Folgen im Alltag beschrieben: Medikamente, die nicht mehr bezahlt werden können, Schulsachen, die zum Luxus werden, Mietpreise, die Diebstahl gleichkommen und alle drei oder sechs Monate erhöht werden, das SUBE-Guthaben (Anm. d. Red.: Bezahlsystem für den ÖPNV in Buenos Aires), das immer schneller verschwindet.

Feministisch zuhören Wie wirken sich die politischen Umstände auf den Alltag von FLINTA* aus?

Diese Erfahrungsberichte zeigen, dass das Zuhören eine zentrale Funktion der Versammlung ist. So ist sie ein Ort, an dem verständlich wird, wie das Leben durch die immer dringlicheren, prekäreren Umstände gefährdet ist, die selbst die grundlegendsten Alltagsroutinen durcheinanderbringen. Mehrere Beiträgen der Vollversammlung hoben die perversen Auswirkungen des DNU (Decreto de necesidad y urgencia; dt.: Dekret der Notwendigkeit und Dringlichkeit) hervor. Wie die Afrofeministin Sandra Chagas betont, schafft dieses Dekret eine Atmosphäre der Gewalt: Rassistische Gewalt und Diskriminierung gegen rassifizierte Menschen, insbesondere gegen diejenigen, die auf der Straße arbeiten, würden durch die Hassreden der Machthaber*innen gefördert und seien heute schon an der Tagesordnung.

Feministisch zuhören und analysieren

Ein weiteres Thema, das sich durch die Versammlung zog, war das der Kriminalisierung des Protests und politischer Verfolgung als zentrales Problem der feministischen Bewegung. Dabei wurde auch eine absurde Verdrehung feministischer Anliegen seitens der Institutionen zum Zwecke der Kriminalisierung aufgezeigt. So zum Beispiel im Fall der beiden Personen, die in Jujuy wegen eines Tweets verhaftet wurden und bei denen „geschlechtsspezifische Gewalt“ als strafverschärfender Faktor in den Urteilen verwendet wurde, wie die Lebensgefährtin einer der beiden Personen per Video erläuterte. Das Manöver ist unheimlich: Es handelt sich um einen Versuch, ein feministisches Anliegen heranzuziehen und zu instrumentalisieren, um Protest zu kriminalisieren und die Meinungsfreiheit aufzuheben.

Ebenfalls anwesend war die lesbische Aktivistin Pierina Nocchetti, die ohne Beweise beschuldigt wird, in Necochea ein Graffiti mit dem Slogan „Wo ist Tehuel?“ (Anm. d. Red.: Vermisstenfall eines jungen trans Mannes) gemalt zu haben, und die sich in der Woche des 8. März der Gerichtsverhandlung stellen muss.

Kehren wir zu Butlers Frage zurück: Warum ist „Gender“ zu einem phantomhaften Symbol geworden, das in der Lage ist, Ängste, Unsicherheiten und Befürchtungen so zu binden, dass es zur Grundlage für die Feindbildkonstruktion reaktionärer Politiker*innen und Machthaber*innen wird? Den Faschisten des 21. Jahrhunderts erlaubt dies, eine Art konzentrierte Schuld – und eine wirksame, gemeinsame Sache – für die Übel zu finden, die der Neoliberalismus an Unsicherheiten mitbringt, wie etwa Zukunftsängste, Beziehungsängste und Existenzängste. So wird die Fantasie der Rückkehr zur patriarchalen Ordnung erzeugt: Eine idyllische Zeit, die es nie gab, die aber die Rolle einer „natürlichen“ Ursprungsgeschichte spielt.

Die feministische Vollversammlung bietet für die kommenden Wochen ein Rendezvous inmitten des Trubels, einen Ort des arbeitsamen Treffens mit der Aufgabe, einen politischen Moment in einem März zu schaffen, der, wie man jetzt schon spürt, explosiv sein wird. „Wir werden nicht aufgrund unserer Fehler als Feinde bezeichnet, sondern weil wir tiefe Strukturen der Ungleichheit ins Wanken gebracht haben. Gegen diese werden wir uns organisieren“, fasste Luci Cavallero vom Kollektiv Ni Una Menos am Ende der ersten Versammlung zusammen.


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„Feminismus muss lernen, sich zu dekolonisieren“

Foto: Katia Sepúlveda

Als Yuderkys Espinosa (Santo Domingo, 1967) nach Buenos Aires kam, wurde sie mit einem Rassismus konfrontiert, den sie aus ihrer Heimat, der Dominikanischen Republik, nicht kannte. Als sie das erste Mal einkaufen ging, fragte sie der Ladenverkäufer: „Wie kann die Hausherrin Sie denn mit Ihrem Haar so ausgehen lassen?“, in Anspielung auf ihren angeblichen Status als Hausangestellte. Das war kein Einzelfall. Rassismus war nicht nur im Alltag, sondern auch in der Universität ein Thema.

Während ihres Studiums in Argentinien beschäftigte sich Yuderkys Espinosa mit dem lesbischen, autonomen Feminismus, einer intellektuellen Strömung, die in Ablehnung der Institutionalisierung des Feminismus durch den Staat und NGOs entstand. Sie distanzierte sich jedoch wieder davon, aufgrund des „epistemischen (wird oft als Synonym von ‚wissenschaftlich‘ verwendet, Anm. d. Red.) Rassismus“, der es ihr nicht zutraute, kritische und ernstzunehmende Gedanken zu entwickeln. Auch ihre spätere Annäherung an die Queere Theorie überzeugte sie nicht. Sie stellte fest, dass diese sich auf Thesen aus Europa und den USA konzentrierte und vor allem auf den Erfahrungen reicher, weißer Personen und Akademiker*innen beruhte – Erfahrungen, denen sie sich entfremdet fühlte.

Biografisch führt Espinosa ihren kritischen Geist auf ihren Vater zurück, einen Mann aus der Schwarzen Arbeiterklasse, der sie schon als Kind ermutigte, das Establishment zu hinterfragen. Später festigte ihre Liebe zum Lesen, vor allem aber ihr ständiger Dialog mit Frauen vom Land, aus der Arbeiterklasse, der indigenen und der Schwarzen Bevölkerung ihre rebellische Persönlichkeit und ihren kritischen Standpunkt.

Mit vielen Fragen im Hinterkopf und auf Basis ihrer Erfahrungen als Migrantin und afrokaribische Frau in Buenos Aires, landete Espinosa beim dekolonialen Feminismus. Diese Strömung, die sich auf die Widerstandserfahrungen der indigenen Völker Lateinamerikas und der Karibik stützt, greift auch auf theoretische Ausarbeitungen des Schwarzen Feminismus in den USA zurück. Sie kritisiert die feministische Theorie als eurozentrisch und bürgerlich.

Ein Wendepunkt in Espinosas theoretischer Entwicklung war die Lektüre von Género y descolonialidad (2008) der argentinischen, feministischen Philosophin und Aktivistin María Lugones mit Isabel Jiménez Lucena und Madina Vladimirovna Tlostanova. In diesem Buch fand sie ausformuliert, was sie selbst an der weißen Herkunft des Feminismus kritisiert hatte.

Angetrieben von dem Bedürfnis, über Lateinamerika nachzudenken und dabei indigene, mestiza und Schwarze Frauen in den Mittelpunkt zu stellen, näherte sich Espinosa den dekolonialen Ansätzen. Diese theoretische Strömung wurde in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren entwickelt. Die Kritik der europäischen Moderne, die Dekolonisierung des Wissens und das subalterne Subjekt gehören zu den theoretischen Hauptinteressen des Ansatzes, der stark von dem peruanischen Soziologen Aníbal Quijano und seinem Konzept der „Kolonialität“ beeinflusst wurde. Dieses weist auf das Machtgefüge hin, das die Bevölkerung der Welt historisch bis heute sowohl auf materieller Ebene als auch in Bezug darauf, was als Wissen anerkannt wird und was nicht, rassistisch klassifiziert und ordnet.

Die dekoloniale Wende verband verschiedene Strömungen des lateinamerikanischen Denkens, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit Themen wie den Beziehungen Lateinamerikas zu Europa und Nordamerika und der gegenwärtigen Dynamik von Herrschaft und Unterordnung auseinandersetzten. Auch kritische feministische Perspektiven durch Autorinnen wie María Lugones, die argentinische Anthropologin Rita Segato und Yuderkys Espinosa gewannen innerhalb der Strömung mit der Zeit an Bedeutung. Espinosas Arbeit hat sich unter anderem in ihrem letzten Buch De qué es necesario un feminismo decolonial (dt.: Warum ein Dekolonialer Feminismus notwendig ist) auf diese Perspektive konzentriert.

In Ihrem Buch De qué es necesario un feminismo decolonial stellen Sie eine kritische Genealogie (Genealogie als sozialwissenschaftliche Methode, mit der die Herkunft und Entwicklung z. B. von Konzepten nachgezeichnet wird, Anm. d. Red.) dessen auf, was Sie als „die Kolonialität der feministischen Vernunft in Lateinamerika und der Karibik“ bezeichnen. Können Sie diese Kritik etwas erläutern?

Sie bezieht sich auf die Tatsache, dass die Grundannahmen des Feminismus europäisch sind. Sie sind dem Projekt der westlichen Moderne verpflichtet, wo die Befreiung der Frau eine Befreiung in der Art und Weise bedeutet, wie die europäischen Länder sie verstehen. Es gibt zwar viele feministische Strömungen, doch viele davon teilen Grundlagen, die mit der modernen Rationalität zusammenhängen. Diese Grundlagen problematisieren wir.

Sie schlagen vor, dass es für eine Revision und Entflechtung des produzierten Wissens nicht mehr darum geht, über die Überschneidungen zwischen raza und Geschlecht wie im Ansatz der Intersektionalität zu sprechen, sondern sie als Ganzes zu betrachten, als „rassistische modern-koloniale Matrix des Geschlechts“. Was ist die Kritik an der Intersektionalität und was schlägt Ihr Konzept dagegen vor?

Das Hauptproblem besteht darin, dass intersektionale Ansätze bestimmte Identitätskategorien isolieren. Der Trend der letzten Jahre geht dahin, dass die Geschlechterforschung die Intersektionalität nutzt, um die Situation Schwarzer und indigener Frauen zu untersuchen. Es wird untersucht, wie sich raza und Klasse auf diese Frauen auswirken, dann werden weitere Variablen hinzugefügt: Behinderung, Geschlechtsidentität und so weiter. Wir nennen das „summative Betrachtung“ – man kann scheinbar alles addieren. Jede dieser Kategorien wird jedoch aus dem sozialen Ganzen herausgelöst und dabei immer aus der Erfahrung derjenigen herausgearbeitet, die innerhalb dieser Kategorie größere Privilegien genießen. María Lugones zeigt, dass es unmöglich ist, Herrschaft in voneinander unterteilten Variablen zu betrachten. Wir haben daher das Konzept der „kolonial-modernen, rassistischen Matrix des Geschlechts“ erarbeitet. Es zeigt auf, dass es nicht möglich ist, zu sagen „jetzt gerade spielt das Geschlecht die größte Rolle, jetzt gerade raza, jetzt die Klasse“.

Elizabeth González, Anführerin der Q’om-Frauen des Chaco in Argentinien, bekräftigt, dass die Q’om-Frauen das Gefühl haben, dass sie mit ihren Brüdern in ihrem Land eine Verteidigungseinheit bilden, „als ein Ganzes, das aus keinem Grund getrennt werden darf, da sie sonst nicht in der Lage sind, der Armut, der Marginalisierung und der Politik des Verschwindens zu begegnen“. Diese Vision, die vor allem im Rahmen des gemeinschaftlichen und/oder indigenen Feminismus entwickelt wurde, steht im Gegensatz zu der einiger Feminismen, einschließlich des separatistischen Feminismus, die sich von der Beteiligung der Männer an der Bewegung distanzieren. Sehen Sie Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Positionen?

Das ist sehr schwierig. Ich denke, der separatistische Feminismus muss lernen, sich zu dekolonisieren. Dieser feministische Separatismus gibt dem Projekt der Moderne Kontinuität, indem er das gemeinschaftliche Band zerbricht. Die Vorstellung von Frauen auf der einen und Männern auf der anderen Seite ist eine Erwiderung auf dieses auf Individualisierung ausgerichtete Zivilisationsmodell. Für diesen Feminismus wie für die Moderne hat die Rückständigkeit der Menschheit mit der Aufrechterhaltung dieser gemeinschaftlichen Bindung zu tun. Deshalb drehen sich alle großen feministischen Phrasen und Slogans um das Ich: „Mein Körper gehört mir“, „Ich entscheide“. Wenn Frauen sich von der gemeinschaftlichen Bindung lösen, entsteht eine Form der Beziehung, die auf der Konstruktion fiktiver, politischer Gesellschaften beruht, und das ist die feministische Gemeinschaft.

Was geschieht, wenn es Frauen gibt, die körperliche, psychische oder wirtschaftliche Gewalt
erlitten haben und keine Gemeinschaftsbeziehungen mit gewalttätigen Männern eingehen wollen?

Die Antwort darauf kann nicht sein, dass wir jetzt eine Frauengesellschaft schaffen, als ob es diese Formen der Gewalt dann nicht gäbe. Es ist eine Verblendung seitens weißer Feministinnen, zu glauben, dass es sichere Räume für Frauen gibt, wenn wir ausschließlich unter Frauen sind. Das ist nicht die Erfahrung, die die meisten von uns, vor allem rassifizierte Frauen, gemacht haben. Wir haben auch gesehen, dass sich die größte Empörung oft gegen rassifizierte Männer richtet, die nicht die Macht in der Gesellschaft haben und die ihre Regeln nicht definiert haben. Woher kommt dabei der Gedanke, dass Frauen nicht in der Lage sind, Gewalt zu erzeugen? Das ist eine Idealisierung. Hier stellt sich die Frage nach der Erweiterung unseres Blicks. Wir sprechen über Gewalt, die produziert wird, weil sie Teil einer Struktur ist, in diesem Fall einer modernen, rassistischen, kolonialen Struktur. Auch das Geschlecht ist Teil dieser Struktur.

Wie können wir in Lateinamerika einen neuen Denkansatz für den Feminismus entwickeln, in einem Kontext, in dem der Rassismus ganze Gesellschaften durchdringt?

Ich denke, es ist nicht mehr nur ein erkenntnistheoretisches Problem, sondern auch ein ontologisches, das heißt, wie wir die Welt machen, nicht nur wie wir sie interpretieren. In diesem Sinne denke ich, dass die Entkolonialisierung bedeuten sollte, anzuerkennen, dass es andere mögliche Welten gibt, dass wir ein anderes Gesellschaftsmodell aus den kommunalen Geweben dieses Kontinents lernen können. Wir können nicht glauben, dass wir den Rassismus innerhalb der Ordnung der Moderne selbst beenden können. Denn diese ist ein zivilisatorisches Modell, das sich auf die bekannten Institutionen stützt: den Nationalstaat, mit seinen Aufrüstungskapazitäten, seinem Gewaltmonopol und seinem Justizsystem.

Pablo González Cassanova entwickelte in den 1970er Jahren das Konzept des „inneren Kolonialismus“, das später von Silvia Rivera Cusicanqui weiterentwickelt wurde, wobei er betonte, dass eine seiner schlimmsten Erscheinungsformen die Ablehnung von allem, was mit indigenen Völkern zu tun hat, durch Teile der Linken ist. Wie funktioniert dieser „innere Kolonialismus“, der nicht nur in konservativen und rechten Eliten, sondern auch in progressiven und linken Sektoren verwurzelt ist?

Die dekoloniale Wende ist eine Notwendigkeit der Bewegungen der späten 1980er Jahre. In dieser Zeit traten Subjekte, die bis dahin darauf beschränkt waren, aus einem marxistischen Vokabular und einer marxistischen Interpretation heraus gelesen zu werden, aus diesem Rahmen heraus. In den 1990er Jahren begannen diese Gruppen, sich authentischer auf der Grundlage ihrer eigenen Geschichte zu positionieren. Es ist eine Revision der lateinamerikanischen Philosophie notwendig, die sich bisher schwertat, ihr Paradigma zu ändern. Die Linke folgt diesem Muster: Sie sprach immer von einem Fortschritt, der eng damit verbunden war, sich wie Europa oder im Sinne der marxistischen Ideen zu entwickeln. Wenn es nun Misstrauen seitens der Linken gegenüber der dekolonialen Wende gibt, dann interpretiere ich das auch als eine Debatte darüber, wer die Macht hat, den gesellschaftlichen Diskurs zu dominieren.


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“Diese Verfassung ist schlimmer und gefährlich”

“Für meine Oma, für meine Mama, für meine Schwester” Feministischer Demonstrationszug am 8. März 2022 auf der Alameda in Santiago (Foto: Josefa Jiménez)

Die feministische Bewegung gehörte zu den ersten Akteur*innen, die sich gegen die neue Verfassung ausgesprochen haben. Warum? Was war der entscheidende Moment?
Wir haben von Anfang an kritisch auf bestimmte Aspekte hingewiesen. Zuerst einmal darauf, dass alle sozialen Bewegungen von diesem Ver­fassungs­­­prozess ausgeschlossen waren. Der Prozess wurde von jenen politischen Kräften getragen, die in den vergangenen 30 Jahren das neoliberale System verwaltet und während der sozialen Revolte breite Ablehnung erfahren haben. Er sah keine Geschlechter­parität vor, keine reservierten Sitze für Indigene. Er war in gewisser Weise das Gegenteil des ersten verfassung­gebenden Pro­zesses und eine fast schon strafende Antwort darauf. Das war das erste Alarmsignal. Zum zweiten Mal schlugen wir Alarm, als mit der Republikanischen Partei eine ultrarechte und neoliberale Kraft eine Mehrheit im Verfassungsrat gewann. Das dritte Alarmsignal war für uns das Ergebnis ihrer Arbeit im Verfassungsrat.

Welches sind – aus feministischer Perspektive – die kritischsten Punkte des Textes?
Wir sehen darin Verfassungsnormen, die unsere Leben als Frauen in Gefahr bringen und unsere Lage sogar verschlechtern würden. Zum Beispiel die Norm, die das Recht auf Abtreibung in drei Fällen in Gefahr bringt. Eine weitere Verfassungsnorm könnte das sogenannte Papito Corazón-Gesetz außer Kraft setzen. Das Gesetz ist erst im Mai 2023 in Kraft getreten und ermöglicht es dem Staat, unterhaltspflichtige Personen – in Chile sind das zu 95 Prozent Männer – dazu zu bringen, ihrer Verantwortung nachzukommen. Das Gesetz ist ein historischer Erfolg der Mütter in Chile und steht jetzt auf dem Spiel. Kritisch sehen wir auch den Umgang mit Sorgearbeit in der Verfassung. Sorgear­beit wird darin aus­schließlich auf den familiären Rahmen bezogen, nicht etwa auf die Gesellschaft als Ganzes wie etwa im ersten Verfassungsentwurf. Als feministische Bewegung kämpfen wir seit langem für die Anerkennung einer gesellschaftlichen Verantwortung von Sorgearbeit.

Als Coordinadora 8M konntet ihr nicht aktiv auf die Ausarbeitung dieser Normen einwirken. Wie habt ihr den Prozess von außen begleitet?
Wir haben an diesem Prozess nicht teilgenommen, denn wir waren davon ausgeschlossen. Unsere Rolle bestand vor allem darin, über die Gefahren dieses Verfassungsprojekts zu infor­mieren. Wir sehen das als unsere Pflicht an, denn der Entwurf ist nicht nur eine Gefahr für Frauen, Kinder und Queers, sondern auch für das ganze Land: Er behält die neoliberalen Elemente bei, die wir seit 30 Jahren kritisieren und die unsere Leben arm gemacht haben, oder vertieft sie sogar noch.

Wie sieht eure aktuelle Arbeit aus?
Wir haben die „Kampagne von Frauen und Queers für das Dagegen“ gestartet, die sich vor allem an Frauen und Jugendliche richtet, die noch unentschieden sind. Unter dem Motto „Die Verfassung ist noch schlimmer und gefährlich“ arbeiten wir mit anderen feministischen Organi­sationen zusammen, zum Beispiel ABOFEM, einer Vereinigung feministischer Anwältinnen, oder den compañeras von La Rebelión del Cuerpo. Unsere Arbeit folgt zwei Achsen: erstens die Verbreitung über soziale Netzwerke und Medien, zweitens die Arbeit vor Ort mit Frauen, Nachbar­schaftsgruppen und lokalen gemeinschaftlichen Zusammen-hängen. Letzte Woche waren wir zusammen mit Universitätsstudierenden unter­wegs, denn für sie steht auch das staatliche System für Hochschulbildung auf dem Spiel. Außerdem könnte die Verfassung die jüngsten Fortschritte beim Umgang mit Missbrauch in Bildungs-einrichtungen zunichtemachen.
Es ist eine mühsame Arbeit, aber wir sind überzeugt, dass wir die Ultrarechten nicht gewinnen lassen dürfen, denn das würde eine direkte Gefahr für die Leben von Frauen und Queers bedeuten.

Wie stehen die Chancen für den 17. Dezember?
Im Allgemeinen sehen die Prognosen einen Vorsprung für das „Nein” voraus. Wir haben aber beschlossen, den Umfragen nicht zu vertrauen und uns nicht darauf auszuruhen. Denn es gibt noch immer einen großen Anteil unentschiedener Wähler*innen, der das Ergebnis umdrehen könnte. Wir haben also noch nicht gewonnen, sondern müssen unsere Anstrengungen verdoppeln, um mit der Kampagne noch mehr Menschen zu erreichen.

Welche Themen werden gerade am meisten diskutiert?
Die Rechte setzt Themen und Diskurse, die wir widerlegen müssen. Dazu gehört die Behauptung: „Wenn das ‚Ja’ gewinnt, werden wir als Land stabiler.“ Wir vertreten die Ansicht, dass das nicht stimmt. Denn die Probleme, die seit 30 Jahren ungelöst sind, werden damit nicht gelöst. Die Rechte spielt mit der Idee, den Verfassungs­konflikt abzuschließen und bringt viele Leute dazu, für die neue Verfassung zu stimmen – ganz unabhängig von ihrem Inhalt, sondern nur, weil die Leute es müde sind, in ständigem Konflikt zu sein. Wir sagen klar: Dieser Konflikt bleibt ungelöst, denn wir haben als Land noch keine Lösung für die Probleme gefunden, die während der sozialen Revolte, aber auch schon davor eine Rolle spielten: seit 2000 mit der Schüler*innen- und Studierenden­ewegung und mit den sozialen und Umwelt­bewegungen. Denn das ist das Gefährliche an der Verfassung: Sie stärkt das System der Privati­sierung unserer Rechte, die komplette Kontrolle des Marktes.

Ein Nein zur neuen Verfassung ist ein Ja dazu, die Pinochet-Verfassung zu erhalten. Wie geht ihr mit diesem Dilemma um?
Wir stehen vor der Wahl, entweder die Verfassung von Pinochet zu erhalten oder eine Verfassung anzunehmen, die von Pinochetisten geschrieben wurde. Aber diese Verfassung kann 50 Jahre nach dem Putsch nicht die Alternative sein. Sie ist das Ergebnis des Scheiterns der Demokratie in den vergangenen 30 Jahren und zeigt, dass wir es nicht geschafft haben, wiederaufkommenden pinochetistischen Kräften klare Grenzen aufzuzeigen. Dazu gehört es, Diskurse, die Menschenrechtsverletzungen gutheißen, nicht einfach zuzulassen. Es fehlt auch eine Politik gegen die Straflosigkeit, für die Entschädigung der Opfer und Bildung in Sachen Menschenrechte und Erinnerungspolitik. Im jetzigen Moment können wir uns nicht erlauben, Rückschritte zu machen. Wir können keine Verfassung verabschieden, die noch schlimmer ist, wir können die kleinen Fortschritte, die wir als soziale Bewegungen gemacht haben, nicht einbüßen. Aber ja, natürlich ist das eine brutale Entscheidung.

Mit der Arbeit im Verfassungskonvent haben 2021/2022 viele Bewegungen wie die Coordi­nadora aktiv an einem institutionellen Prozess teilgenommen. Wie seht ihr das heute?
Als Coordinadora sind wir eine undogmatische Organisation. Wir haben damals die Möglichkeit erkannt, die Lage analysiert und bereuen es nicht, in die Institution gegangen zu sein, denn es handelte sich beim Verfassungskonvent um eine außerordentliche Institution. Uns war es aber immer wichtig, unseren eigenständigen Charakter nicht zu verlieren: die Unabhängigkeit von politischen Kräften in Machtpositionen, auch linken Parteien. Jetzt gerade sehen wir, dass es keine Möglichkeit gibt, auf die Institutionen einzuwirken. Wir sehen weder kurz- noch langfristig eine Chance darin, wieder in die Institutionen zu gehen. Unsere Anstrengungen werden sich weiterhin auf die Arbeit vor Ort, auf den Dialog und die Eigenständigkeit beziehen, die schon seit langem die Arbeit der femi­nistischen Bewegung in Chile auszeichnet.

In Chile und vielen anderen Ländern gewinnt die Rechte gerade an Kraft. Wie versucht ihr, dieser Entwicklung entgegenzutreten?
Eine der wichtigsten Aufgaben für feministische und andere soziale Bewegungen ist es jetzt, wieder eigene Alternativen zu schaffen und attraktive politische Projekte aufzubauen. Wir haben zu lange nur reagiert, statt selbst die Initiative zu ergreifen. Eine andere unmittelbare Aufgabe ist die des Zuhörens. Wir müssen die Menschen, die Probleme und Nöte, die wir alle erleben, wieder hören, aufmerksam sein und in Dialog darüber treten. Außerdem müssen wir breite Bildungsprozesse von unten schaffen. Darauf konzentrieren wir uns als Coordinadora und wollen ein Ausbildungs­zentrum aufbauen. Es soll nicht darauf ausgelegt sein, dass die Leute nichts wissen und wir schon, sondern zu einem Dialog einladen.
Bei alledem geht es darum, die Rebellion und Frustration der Menschen aufzufangen. Die Rechte hat genau das geschafft: Sie hat der Aufsässigkeit und dem Ärger der Leute einen Sinn gegeben und ihnen eine Alternative angeboten. Wir wissen, dass uns diese Alternative am Ende nicht helfen wird, denn zumindest in Latein­amerika bedeutet sie den Erhalt und Ausbau des neoliberalen Systems. Die Linke und wir soziale Bewegungen scheitern immer nur. Wir müssen dieses Scheitern jetzt als Möglichkeit sehen, als Impuls. Denn noch können wir uns neue Welten, neue Arten des Zusammenlebens miteinander und mit der Umwelt erträumen. Diesen Wunsch nach einer anderen Welt müssen wir uns wieder aneignen. Und dafür ist jetzt ein fruchtbarer Moment.


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