Die Nachrichten aus Argentinien sind in letzter Zeit ziemlich beschissen. So abgedroschen es auch klingt, aber in dieser Zeit kommt das neue Album des transfeministischen Reggaeton-Projekts Chocolate Remix genau richtig. Die Frage, ob sich eine lesbische Person wie Romina Bernardo a.k.a. Chocolate, alle Pronomen, eine als immer noch hauptsächlich sexistisch und frauenfeindlich gelabelte Musikrichtung aneignen darf, ist sowas von 2010er Jahre. Minga, ein argentinischer Lieblingsausdruck von Chocolate, der sich etwas harmlos geraten mit „auf gar keinen Fall!“ übersetzten lässt, heißt das dritte Album der Produzentin und MC aus dem nordargentinischen Tucumán. Denn auf gar keinen Fall wird sich Chocolate von dem Faschisten, der seit Dezember 2023 in Argentinien an der Macht ist, die Laune verderben lassen.
Und so beginnt „La Fiesta“, der Opener des Werks, mit einer synthetischen Trompete, die das emblematische „Todavía Cantamos“ von Victor Heredia schmettert. Im Eröffnungstitel geht es nicht nur um die Party als Ort des Widerstands – etwa für queere Personen – sondern auch um all die Demonstrationen, die festlich, aber entschlossen den Protest auf die Straße bringen. Dabei darf die Hoffnung und Kampf ausdrückende Hymne von Heredia aus postdiktatorischen Zeiten nicht fehlen. Darauf folgt „Otario“, ein aus der Hauptstadtschnauze lunfardo bis nach Brasilien verbreitetes Wort, welches im harmlosesten Fall „Idiot“ bedeutet. Im schnellen Rhythmus eines dominikanischen Dembow lässt Choco der Frustration und Hilflosigkeit über den Sieg Mileis freien Lauf und spuckt den Libertären ihre Wut entgegen. „Sie glauben, dass sie frei sind, die Liber-Otarios“– so das Wortspiel zwischen Libertär und Otario. Das Video zum Song wurde während der ersten Proteste gegen die Regierung Milei aufgenommen und zeigt Choco vor den Polizeiketten tanzend.
Harten, klassischen Reggaeton gibt es in „Pizza con Champagne“: Chocolate ist in den 90ern groß geworden, in jener bizarren Zeit, in der sich die Mittelschicht als Gewinnerin der dann 2001 platzenden Finanzblase wähnte und in einer aus heutiger Sicht grauenhaft trashiger Oberflächlichkeit eben Champagner zu ihrer Pizza gönnte. Ob manche auch in nostalgischer Erinnerung an diese Zeit Milei gewählt haben? Wie damals wird das Land völlig ausverkauft und privatisiert, aber Glamour lässt sich nicht erkennen, erklärt Chocolate in einem Reel auf Instagram.
Auf Minga geht es weiter durch verschiedene Stile und Themen: Da ist der House „Mostra“ mit seinen hypnotischen Wiederholungen; juicy wird es in dem sexpositiven Neoperreo „Pornostar“. In „Ey maricón“ nimmt Chocolate queerfeindliche Äußerungen auf und hält sie denen entgegen, die ihre Überforderung, ob Chocolate Mann, Frau oder wasauchimmer ist mit Hass ausdrücken – vielleicht sind sie ja heimlich fasziniert?
Das Album schließt mit einem Remix von Fede Haro von einem der besten Songs von Chocolate, „Quién Sos“, und lässt mit Wut und Hoffnung auf bessere Zeiten tanzen – ein bisschen Energie tanken, Kraftstoff für den Widerstand gegen den aufkeimenden Faschismus.
Mit seiner Energie und vor allem unermüdlichen Touren durch Europa erreicht Chocolate Menschen weit über die Grenzen Argentiniens hinaus – und verbindet Kämpfe in Zeiten der weltweit erstarkenden Rechten. Mit Freude kämpfen, obwohl die Umstände ziemlich ungut aussehen. Etwas, was der deutschen Linken eher abgeht.