// STRASSE UND INSTITUTIONEN

„Si tocan a une, tocan a todes!“ Diese Erkenntnis aus Argentinien ging als Kampfruf durch die feministischen Bewegungen Lateinamerikas und der Welt: „Wenn sie eine* anfassen, fassen sie uns alle an!“ Feministische Bewegungen haben gezeigt, dass Kämpfe auf allen Ebenen stattfinden können – zu Hause, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft und auf der Straße. Und auch vor und in politischen Institutionen. Warum das funktioniert? Weil es um das Alltägliche geht!

Weil es um das Alltägliche geht!

Die Politisierung der eigenen alltäglichen Erfahrungen patriarchaler, rassistischer, queerfeindlicher oder ökonomischer Gewalt ist der Dreh- und Angelpunkt der feministischen Theorie und Praxis in Lateinamerika: Zu verstehen, dass es nicht daran lag, was ich an hatte oder wo ich war, zu begreifen, dass das, was mir passiert, nicht selbst verschuldet oder mein Schicksal ist, sondern eine geteilte Erfahrung. Das feministische Kollektiv Minervas aus Uruguay brachte es so auf den Punkt: „Die Beziehungen zwischen uns neu zu gestalten und Gemeinsamkeiten vor dem Hintergrund wirtschaftlicher, patriarchaler und rassistischer Verhältnisse herzustellen“, das sei das Wesentliche

Wie kraftvoll die Politisierung von Erfahrungen sein kann, zeigen in den vergangenen Jahren – wie kaum andere – die Kämpfe für die Liberalisierung von Abtreibungsgesetzen in zahlreichen Ländern Lateinamerikas. Erst vor wenigen Tagen hat das kolumbianische Verfassungsgericht entschieden, dass eine Schwangerschaft bis zur 24. Woche ohne Einschränkungen abgebrochen werden kann. Wir erinnern uns an die mit grünen Halstüchern gefluteten Straßen Argentiniens Ende 2020, als nach Jahren der feministischen Organisierung das Recht auf sichere und kostenlose Schwangerschaftsabbrüche garantiert wurde. „Das hat klargemacht, wie wichtig ein unermüdlicher Kampf ist, in dem Demonstrationen mit Lobbyarbeit im Parlament verbunden werden“, erklärt Verónica Gago im Interview mit LN. Gleichzeitig argumentiert sie, dass die Verabschiedung von Gesetzen nie das Ende feministischer Kämpfe bedeuten dürfe, sondern lediglich die Form der Kämpfe verändere.

Angewiesen auf politische Mehrheiten, um Forderungen von der Straße gesellschaftliche Realität werden zu lassen, besteht immer die Gefahr, dass soziale Bewegungen vereinnahmt werden und damit an Radikalität, Mobilisierungs- und Analysefähigkeit einbüßen. Wie ein direkter Dialog mit den sozialen Bewegungen aus dem Parlament heraus geführt werden kann, zeigt das feministische Kollektiv JUNTAS Codeputadas aus Brasilien. Bestehend aus fünf Frauen, haben die JUNTAS seit 2018 ein feministisches, partizipatives und transparentes Abgeordnetenmandat im Landesparlament des Bundesstaats Pernambuco. Ihre Erfahrungen zeigen, dass der Einzug in politische Institutionen nur einer von vielen Ansätzen feministischer Kämpfe ist, aber ein entscheidender sein kann.

„Räume zu besetzen – in Parteien, in der Gesetzgebung – in denen wir selbst über unsere Rechte entscheiden können, das gibt uns und unseren Kämpfen Sinn“, sagt Joelma Carla, eine der JUNTAS, im Interview mit LN . Sie hoffen, dass sie mit ihrem Format der Verbindung zwischen Parlament und sozialen Bewegungen andere Frauen inspirieren, „effektive Politik für unsere Anliegen“ zu machen. Denn es geht auch um konkrete Verteilungskämpfe, die in der politischen Arena ausgetragen werden – um Zugang zu öffentlicher Infrastruktur für alle, um eine gerechte und gute Gesundheitsversorgung, um reproduktive Gerechtigkeit oder um bezahlbaren Wohnraum. Errungenschaften, die auf der Straße, in asambleas und letztlich auch in Parlamenten erkämpft werden.

Der Wunsch alles zu verändern, beginnt weder in den Parlamenten, noch endet er dort. Der Wunsch, alles zu verändern, ist ein Prozess, der sich durch alle Fasern unserer Gesellschaft, unserer Körper und Beziehungen erstreckt.

EIN SIEG IM RÜCKEN UND MIT DER BEWEGUNG ALS HORIZONT

Verónica Gago ist Aktivistin, Journalistin und Mitglied im Kollektivverlag Tinta Limón. Gago lehrt als promovierte Sozialwissenschaftlerin an den öffent­lichen Universitäten UBA und UNSAM in Buenos Aires (Foto: Florencia Trincheri)

Mit der Konjunktur des Feminismus in den vergangenen Jahren ist auch wieder ein liberaler Feminismus in Mode gekommen. Die breite Bewegung in Argentinien führt Diskussionen, die über die zur „gläsernen Decke“ hinausgehen und eine Klassenanalyse miteinschließen. Kannst du diesen Charakter der argentinischen Bewegung etwas beschreiben?

Die feministische Bewegung in Argentinien ist eine rebellische Bewegung. Sie hat das Ziel wirklich etwas zu verändern. Sie ist eine Bewegung, die sich gegen Ungerechtigkeit, Missbrauch und Ausbeutung auflehnt. Wir sehen es in den Slogans, die sie hervorgebracht hat, die anti-neoliberale, anti-patriarchale und anti-koloniale Fragen zusammenbringen: „Keine einzige weniger!“, „Wir wollen frei und schuldenfrei leben!“, „Gegen die Prekarität des Lebens!“, „Wir zahlen die Krise nicht mit unseren Körpern und Territorien!“, „Wir Frauen gegen Verschuldung!“, um nur einige zu nennen. In diesen Slogans liegt eine Diagnose davon, woher die Gewalt kommt, die Feminizide und Vergewaltigungen zulässt, strukturellen Rassismus ermöglicht, prekäre Arbeitsbedingungen und institutionelle Gewalt von Sicherheitskräften legitimiert. Anders gesagt, wenn wir über rassistische Gewalt sprechen, wenn wir „Nicht eine weniger ohne Wohnung” fordern, wenn die Auslandsschulden zu einem feministischen Slogan auf der Straße werden, dann machen wir die Materialität dessen deutlich, was man Gewalt nennt. Ihre radikalste Form findet diese Gewalt in Feminiziden, aber sie existiert auch als alltägliche Gewalt, die ein würdevolles und freies Leben verhindert.

Wie ist es gelungen, diese gesellschaftlichen Herausforderungen zu akuten Themenfeldern der feministischen Bewegung zu machen?

Das ist gelungen, indem der Feminismus als politische Bewegung aufgebaut wurde, in der verschiedene Konflikte und Protagonist*innen dieser Konflikte miteinander in Beziehung gesetzt werden. Das erfordert Koordination zwischen Gewerkschaften, Basisorganisationen, Studierenden, Migrant*innenkollektiven, Sexarbeiter*innen, prekär Beschäftigten, Sorgenetzwerken, Organisationen von Kleinbäuer*innen und Arbeiter*innen in der solidarischen und informellen Wirtschaft, Fridays For Future, den Kollektiven von Travestis, trans und nicht-binären Personen, den Kampagnen für das Recht auf Abtreibung und indigenen Frauenorganisationen. Die Tatsache, dass die feministische Bewegung in dieser politischen Zusammensetzung existiert, ermöglicht ihr eine praktische Interpretation der Aktualität, die sozioökonomisch, klassenbezogen und anti-extraktivistisch ist – die mit verschiedenen Sprachen spricht und mit sehr diversen Strategien.

Was ist deine Analyse zu den liberalen Tendenzen, die wir heute an vielen Stellen beobachten?

Natürlich gibt es Versuche, die Bewegung zu vereinnahmen und zu einer Mode zu machen, sie auf Themen zu reduzieren, die „ungefährlich“ für den Neoliberalismus sind. Aber ich glaube, die Mobilisierungsfähigkeit und der Wunsch nach Veränderung sind stärker, denn die feministische Bewegung geht auf eine Reihe sozialer Kämpfe zurück, die sich immer schon gegen den Status quo gestellt haben. Ich sehe den liberalen Feminismus ganz klar als konterrevolutionäre Aktion. Es ist ein Versuch, die Kraft dieser queerfeministischen Transformation, die jetzt seit einigen Jahren schon eine beispiellose Präsenz auf globaler Ebene erreicht hat, zu begrenzen und sie in eine andere Richtung zu lenken. Es ist der Versuch, die Veränderung zu neutralisieren, die sich zeitgleich auf verschiedenen Ebenen vollzieht: in unserer Sensibilität, in der Art und Weise, unsere Körper und unser Begehren zu erleben, in der Fähigkeit, kollektive Forderungen zu stellen und in der Stärkung von Organisations- und Protestformen. Die feministische Bewegung ist eine Praxis des Ungehorsams, der täglichen Auflehnung, die gleichzeitig die Fähigkeit hat, strukturelle Gewalt zu hinterfragen und zu bekämpfen. Diese simultane zweifache Ebene ist es, die als Bedrohung empfunden wird. Das ist der Grund, warum ein Faschist wie Bolsonaro seine Präsidentschaft mit einer Rede gegen die „Gender-Ideologie” beginnt. Oder warum versucht wird, Feminismus auf die Forderung nach Quoten zu reduzieren, ohne die bestehenden Hierarchien anzutasten. Und warum versucht wird, den Feminismus von anderen sozialen Forderungen abzukoppeln, weil es das ist, was wirkliche politische Bündnisse schafft. Es gibt daher viele Versuche, ihn zu spalten und mit dem Neoliberalismus kompatibel zu machen.

Mit der Legalisierung der Abtreibung in Argentinien vor einem Jahr habt ihr ein lang gefordertes Recht erkämpft – ein Riesenerfolg. Die Kampagne war jahrzehntelang Motor der Bewegung und auch identitätsstiftendes und verbindendes Element zwischen den Generationen. Was kommt jetzt, wo der Kampf gewonnen wurde?

Dass wir diesen Sieg errungen haben, ist fundamental. Das hat klargemacht, wie wichtig ein unermüdlicher Kampf ist, in dem Demonstrationen mit Lobbyarbeit im Parlament verbunden werden. Wie wichtig es ist, dabei eine feministische Pädadogik zu betreiben, um überhaupt diskutieren zu können, was Selbstbestimmung schwangerer Körper bedeutet. Das hat eine „grüne Welle“ losgetreten, die über Grenzen hinausging. Es wurde das öffentliche Gesundheitssystem diskutiert, die Sexualerziehung an Schulen, Schwangerschaftsabbrüche von Schuld gelöst und Mutterschaft entromantisiert. Die Diskussion wurde an Orten in Gang gebracht, an denen sie vorher tabuisiert war. Dieser Kampf war von zentraler Bedeutung, weil er sowohl eine sehr konkrete Forderung enthielt, als auch ein Türöffner zu vielen weiteren Problematiken war. Das Recht auf Abtreibung steht außerdem im Mittelpunkt neokonservativer Angriffe nicht nur in unserer Region: das ist so in den USA, bei der neu gewählten Präsidentin des EU-Parlaments und bei den Rückschritten in Polens Gesetzgebung. Mit der Verabschiedung des Gesetzes in Argentinien ist der Kampf noch nicht beendet, er ändert nur seine Form. Jetzt müssen wir uns für die effektive Umsetzung des Gesetzes einsetzen, gegen medizinische und juristische Manöver, die vielerorts den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen blockieren und für die Verbreitung des Gesetzes selbst, da die Informationen nicht überall ankommen. Und obwohl das Gesetz bereits vor einem Jahr verabschiedet wurde, feiern wir es immer noch.

Es stimmt jedoch, dass das verbindende Moment dieser Forderung auf irgendeine Weise ersetzt werden muss. Wir sind gerade dabei, neu darüber nachzudenken, was wir wollen, wohin wir unterwegs sind und wie wir nach zwei Jahren Pandemie wieder Räume für Gespräche und Austausch schaffen können. Wir reden von einer Zeit, in der es viel schwieriger war, sich zu treffen, und in einer Zeit, in der ein „Ende“ der Pandemie mit einer brutalen Wirtschaftskrise einhergeht. Es ist also an uns, mit diesem Sieg im Rücken – aber auch mit dem als Horizont, was die Bewegung bereits erreichen konnte – zu überdenken, wie wir uns den kommenden Herausforderungen stellen können.

Was sind die Themen, die den Feminismus in Argentinien derzeit bewegen?

Im Fall von Argentinien ist die Frage der Schulden als ökonomische Gewalt ein Thema. Im Laufe der Jahre haben wir viel mit dem Slogan „La deuda es con nosotres” (Die Schulden habt ihr bei uns) gearbeitet. Es ist wichtig, dass der Feminismus das Thema Verschuldung wieder aufgreift, denn er hat es auf den Tisch gebracht und dabei öffentliche und private Schulden und Sparmaßnahmen miteinander in Verbindung gebracht. Wir bestehen darauf: ohne ökonomische Unabhängigkeit gibt es keine Möglichkeit, die machistische Gewalt zu stoppen. Dies bezieht sich auf die Auslandsverschuldung seit dem IWF-Kredit 2018 und auch darauf wie die Verschuldung der Haushalte angesichts einer immer schneller zunehmenden Verarmung „obligatorisch” wird. Hier ist für die antineoliberale Dynamik des Feminismus und seine Fähigkeit zur konkreten Intervention wichtig, die soziale Situation neu zu diskutieren, die durch die Verschuldung und die vom IWF auferlegten Bedingungen hervorgebracht wurde: Gas, Strom- und Telefontarife, Lebensmittelpreise und Mieten, die in Folge der erzwungenen Kürzungen der öffentlichen Mittel erhöht wurden. Sie fördern Spekulation und lassen die Bevölkerung in beschleunigtem Tempo verarmen.

Der feministische Streik als Instrument der Bewegung ist in den vergangenen Jahren sehr wichtig gewesen. Jetzt ist es stiller geworden um den Streik als Aktionsform. Warum? Welche Rolle spielt der Streik bei den diesjährigen Mobilisierungen?

Wir beginnen gerade, die Rolle des Streiks und andere Strategien für diesen 8. März zu diskutieren. Ich habe den Eindruck, dass es schwieriger geht, weil die Pandemie die Prekarität beschleunigt hat. Die Care-Arbeit hat zugenommen, die Arbeitszeiten haben sich verlängert und es gibt eine gewisse psychische Erschöpfung, wenn es darum geht, wieder rauszugehen und die Straßen einzunehmen. Es gibt aber ein gemeinsames Bedürfnis danach, dass die feministische Bewegung wieder eine führende Rolle auf der Straße einnimmt. Wir diskutieren hier sehr viel über diese Idee: Wir müssen zurückkehren und sind gleichzeitig nie weg gewesen. Auch in der Pandemie haben wir die Krise entprivatisiert, nur auf andere Art und Weise, aber auf jeden Fall in einem kollektiven Kraftakt. All dies müssen wir berücksichtigen, wenn wir über den Streik in der gegenwärtigen Situation nachdenken wollen. Das ist wichtig, weil, wie wir wissen, hat es der feministische Streik geschafft, die verschiedenen Formen der Arbeit, der Prekarität und der Gewalt in den Fokus zu nehmen.

Mein Eindruck ist, dass sich Streik und Demonstration verbinden werden, an manchen Orten wird die eine Dynamik stärker ausgeprägt sein als die andere, aber klar ist, dass der 8. März ein Kampftag ist, ein Datum, das wir nicht „hergeben“ werden, weil er ein Moment der Begegnung, des Austausches und der Arbeit am Programm der Bewegung ist.

FEMINISTISCH, PARTIZIPATIV, TRANSPARENT

(Foto: © JUNTAS Codeputadas)

In Kürze ist der 8. März, der Internationale Frauentag. Wie sehen Sie als JUNTAS dem Tag entgegen?
Joelma Carla: Wir beteiligen uns immer an den Kundgebungen zum Internationalen Frauentag. Der 8. März 2019 und 2020 waren fantastisch: wir inmitten unserer Wähler*innenschaft, eine super Stimmung. Der 8. März 2021 war dagegen wegen der Pandemie sehr traurig. In diesem Jahr bereiten wir eine Kundgebung vor, die wir fundamental wichtig finden, sie erinnert an Marielle Franco, eine Schwarze, feministische Abgeordnete in Rio de Janeiro. Es ist jetzt mehr als drei Jahre her, dass sie ermordet wurde. Sie war Mitglied unserer Partei, der PSOL. Wir fühlen uns verpflichtet, öffentlich zu machen, wie die Rechte der Frauen durch den Staat gebrochen werden.

Kátia Cunha: Außerdem wollen wir am 8. März mit unseren Wähler*innen über alle Maßnahmen sprechen, die wir in diesen drei Jahren für Frauen durchgeführt haben und gemeinsam bewerten, was wir noch nicht geschafft haben. Wir sind in einem Wahljahr. Es ist daher wichtig, unseren Wähler*innen zu sagen, dass die Stimme der Frauen durch unser Mandat großen Widerhall hatte, aber wir noch sehr viel mehr tun müssen.

Wie bewertet das Kollektiv denn die bisherige Amtszeit?
KC: Das aktuelle Landesparlament in Pernambuco ist das fundamentalistischste seit den 1980er Jahren. Unter den Abgeordneten gibt es einen Wettstreit darum, wer der größte Anhänger des Bolsonarismus ist oder der beste Evangelikale. Es ist daher nicht einfach Gesetze durchzubringen, die Frauenrechte garantieren.

Wir haben das Mandat 2019 mit sehr viel Enthusiasmus angetreten. Wir haben geglaubt, wir könnten die ganze Welt verändern (lacht), zumindest aber Pernambuco. Und dann sahen wir uns dieser Realität hier im Abgeordnetenhaus gegenüber. Trotzdem geben wir nicht auf und versuchen Gesetze durchzubringen. Die Pandemie hat unsere Form der Politik viel schwieriger gemacht: Wir konnten nicht mehr auf die Straße gehen und versuchten auf virtuelle Treffen auszuweichen. Wir konnten niemanden mehr einladen, niemanden treffen. Das war tragisch, denn das Markenzeichen unseres Mandats ist, dass wir sehr nah dran sind an den Menschen.

Würden Sie sagen, dass die politische Teilhabe in Ihrer Amtszeit zugenommen hat?
KC: Ja, auf jeden Fall. Wir haben zum Beispiel alle 14 indigenen Völker, die es in Pernambuco gibt, zu einer Sitzung in das Abgeordnetenhaus eingeladen. Dieses Gebäude hat das Aussehen eines Palastes, es ist sehr schick. Wenn Wähler*innen hier vorbeikommen, bleiben sie auf dem Bürgersteig vor dem Gebäude, sie haben Angst, es zu betreten. Und es gibt eine Kleiderordnung, es darf nicht in Shorts betreten werden. Aber wir haben es geschafft, dass die Indigenen in ihrer eigenen Kleidung kommen konnten, obwohl es einiges an Aufruhr und Diskriminierung am Eingang gab.

JC: An der Struktur dieses Abgeordnetenhauses haben wir wirklich etwas verändert. Die Leute wussten nicht einmal, dass sie sich in diesem Raum beteiligen oder wenigstens zuhören können. Ich erinnere mich an eine Anhörung wegen eines fundamentalistischen Abgeordneten und der Sicherheitsdienst ließ die Bürger*innen, die zuhören wollten, nicht hinein. Wir sind dann an den Eingang gegangen und haben dafür gesorgt, dass sie hineingelassen wurden. Das ist ihr Recht als Bürger*innen.

Wie hat sich die Partizipation der sozialen Bewegungen während der Pandemie entwickelt?
JC: Die Pandemie hat es unmöglich gemacht, dass wir die Territorien besuchen, die Quilombos, die indigenen Gemeinden, die Peripherie der Städte. All das gehört zu unserem Selbstverständnis als kollektives Mandat der Basisorganisationen. Wir versuchen, maximal transparent zu sein, wir machen nichts, was nicht veröffentlicht werden kann, was die Leute nicht wissen dürften. Im Gegenteil: Wir haben ein sehr transparentes und partizipatives Mandat gestaltet. Wir sind die Brücke zwischen Legislative und sozialen Bewegungen.

KC: Wir sind fünf Frauen, die sehr divers sind. Wir haben sogar Scherze darüber gemacht, dass wir es schaffen, omnipräsent zu sein, denn wir können uns ja an fünf Diskussionen gleichzeitig beteiligen. Wir haben das genutzt, um mehr Forderungen aus den Bewegungen aufzunehmen. Allein im ersten Jahr haben wir 17 öffentliche Anhörungen organisiert und 87-mal im Abgeordnetenhaus gesprochen. Wir haben 17 Gesetzesvorhaben eingebracht. In dieser Hinsicht hat das kollektive Mandat sehr gut funktioniert.

Was würden Sie als Ihren größten Erfolg bezeichnen?
KC: Das war die Umsetzung des Gesetzes zur Verhinderung von Zwangsräumungen (Lei despejo zero, Anm. der Red.). Niemand darf gezwungen werden, seinen Wohnraum zu verlassen, während es einen Notstand gibt. Das Gesetz gab es schon vor der Pandemie. In Pernambuco gibt es sehr viele bankrotte Zuckerbetriebe. Die Arbeiter und ihre Familien nutzen das Land daher, um Nahrungsmittel anzubauen. Die Besitzer dieser Betriebe versuchten während der Pandemie, die Besetzungen räumen zu lassen und die Arbeiter zu vertreiben.

Wir haben es geschafft durchzusetzen, dass alle Landbesetzungen von vor dem 20. März 2020, dem offiziellen Beginn der Pandemie, nicht geräumt werden durften. Dadurch haben wir sehr viele Familien vor der Räumung bewahrt, die sonst obdachlos auf der Straße gestanden hätten.

Gab es auch Niederlagen während der Amtszeit?
JC: Die extreme Armut hat in Pernambuco sehr zugenommen. Heute leben hier 1,2 Millionen Familien mit einem Pro-Kopf-Einkommen von null bis achtzig Reais (14 Euro, Anm. der Red.). Wir haben daher der Landesregierung das Projekt eines Notfall-Grundeinkommens vorgeschlagen, das es 60.000 Familien ermöglicht hätte, über sechs Monate 350 Reais (62 Euro, Anm. der Red.) zu beziehen. Das war vor zwei Jahren. Die Landesregierung hat dieses Projekt zwei Jahre lang ignoriert. Sie geht einfach über die Menschen hinweg, die nicht wissen, was sie zum Frühstück oder zu Mittag essen können. Es gibt keine Politik der öffentlichen Hand, die bei der Schwarzen Bevölkerung in der Peripherie oder in den indigenen Territorien ankommt. Wir finden das sehr besorgniserregend.

Wie groß ist die Bedrohung für weibliche, linke Abgeordnete in einem Brasilien unter Bolsonaro – hat es in den drei Jahren Gewalt oder Drohungen gegen Sie gegeben?
JC: Wir sind vor allem dem Widerstand einiger fundamentalistischer konservativer Parlamentarier ausgesetzt. Sie haben Schwierigkeiten zu akzeptieren, dass Frauen diesen Ort der Macht besetzen. Sie haben gefordert, dass Robeyoncé Lima aus dem Abgeordnetenhaus entfernt wird. Sie ist Schwarz und trans und das stört das System. Was dauernd passiert, ist die Bagatellisierung von Gewalt. Früher haben die Leute in der Politik gegeneinander verbale Gewalt ausgeübt, jetzt gibt es auch direkte physische Aggressionen. Wir bewegen uns also in einem sehr gefährlichen Umfeld, selbst wenn wir keine direkten Bedrohungen erlebt haben.

2022 wird auch der Präsident Brasiliens gewählt. Wie schätzen Sie die Stimmung im Wahljahr ein?
KC: Wir sammeln gerade alle Kräfte, um diesen inhumanen Präsidenten abzuwählen. Die großen Parteien der Linken vereinen sich, um Bolsonaro zu besiegen. Wir als PSOL werden auf nationaler Ebene eine Allianz mit der Arbeiterpartei PT eingehen, um Präsident Lula zu wählen. Er ist die einzige Person, die in der Lage ist, Bolsonaro zu schlagen. Wir glauben nicht, dass Bolsonaro heute die Kraft hätte, einen Putsch anzuzetteln, aber er wird alles tun, um im Amt zu bleiben. Das Problem ist, dass es nicht nur Bolsonaro gibt, sondern auch seine Anhänger, die sehr gewalttätig sind. Wir befürchten also, dass es zu Gewaltakten kommen wird. Hier in Pernambuco ist die Situation ein bisschen anders, denn die PT unterstützt die Landesregierung der PSB. Deshalb werden wir eine eigene Kandidatur der PSOL unterstützen.

Wie blicken die JUNTAS in die Zukunft?
JC: Ich bin mir bewusst, dass zwischen uns Frauen Unterschiede bestehen, Klassenunterschiede, Unterschiede zwischen Schwarz und weiß. Aber der feministische Kampf ist der Kampf, der uns vereint. Räume zu besetzen, in Parteien, in der Gesetzgebung, in denen wir selbst über unsere Rechte entscheiden können, das gibt uns und unseren Kämpfen Sinn. Unser kollektives, feministisches, antirassistisches Mandat hat auf nationaler Ebene Bedeutung als Inspiration und Referenz gewonnen. Wir haben 33 Mandate von Frauen in der vergangenen Wahl von 2020 hinzugewonnen. Aber wir sind uns bewusst, dass wir noch mehr werden müssen. Denn ein einziges Mandat im Bundesstaat Pernambuco ist nicht genug. Und wir sind nicht der Gouverneur, sondern Abgeordnete.

KC: Wir hoffen, dass dieses Format, in dem wir Politik machen, dieses kollektive Mandat, andere inspiriert. Vor allem andere Frauen. Damit mehr von ihnen den Mut gewinnen, sich zu engagieren. Denn wenn wir die anderen einfach machen lassen, stellen wir ihnen einen Blankoscheck aus. Es ist notwendig, dass mehr Frauen institutionelle Räume besetzen und effektiv Politik für unsere Anliegen machen. Die Idee ist, dass wir es schaffen, zu inspirieren, zu fördern und mehr Frauen hierher zu holen, um diese Form der politischen Partizipation auszuüben.

DAS PATRIARCHAT HACKEN

Erstes analoges Treffen Feministische Kollektive im Austausch über digitale Protestformen (Foto: MediaRe)

Digitale Protestformen sind in Uruguay seit 2015 immer sichtbarer geworden. Damals waren es zuerst #NiUnaMenos aus Argentinien und digitale Aktionen zu lokalen und aktuellen Anlässen, die feministischen Protest ins Netz brachten. Zuletzt haben die Pandemie und der monatelange Lockdown gezeigt, wie wichtig digitale Plattformen geworden sind. Aus diesem Grund haben feministische Kollektive wie die Gruppe Entramada Feminista in Uruguay das erste cyberfeministische Treffen des Landes einberufen. Es fand Anfang November im Departament Durazno statt und wurde mit Geldern der feministischen Stiftung Fondo de Mujeres del Sur und dem Fondo Indela für digitale Rechte gefördert.

Außer den Organisator*innen aus den Kollektiven Datysoc, MediaRed, dem Encuentro de Feministas Diversas (EFD) und Durazno nahmen Dutzende Mitglieder feministischer Gruppen teil. Viele der Teilnehmer*innen kannten sich noch nicht oder standen bisher nur über Videokonferenzen oder Chatgruppen in Kontakt. Der Zusammenhalt, der den digitalen Kontakt bisher geprägt hatte, setzte sich auch an den zwei Tagen des Treffens fort. Bereits am Samstagmorgen kamen die Teilnehmer*innen zusammen, mit Enthusiasmus und der Freude, sich in einem gemeinsamen Raum in die Augen blicken zu können.

Der Cyberfeminismus stützt sich im Wesentlichen auf zwei Aspekte: Einerseits betont er die Notwendigkeit, zu verstehen, wie digitale Plattformen funktionieren, wer das Internet aufbaut und wie Algorithmen definiert werden. Das alles sind Aufgaben, von denen Frauen häufig ausgeschlossen sind. Andererseits geht es dem Cyberfeminismus darum, digitale Räume praktisch zu nutzen, um Kommunikationsstrategien und Aktionen gegen digitale Gewalt gegen Frauen und antifeministische Diskurse im Netz zu entwickeln. So erklärte es María Goñi Mazzitelli, Mitglied von Datysoc, gegenüber la diaria. Es gehe darum, Frauen zu empowern, damit sie die Angst, diese Räume für sich zu besetzen, verlieren.

„Heutzutage ist ein Feminismus ohne virtuellen Aktivismus unvorstellbar“

Goñi Mazzitelli meint, dafür „braucht es nicht notwendigerweise ein elaboriertes Wissen über das Netz“, aber „jede, die Plattformen benutzt, kann mit bestimmten Aktionen dazu beitragen“. Dazu zählen beispielsweise „Aktionen zum Selbstschutz und zum kollektiven Schutz und Reflexionen darüber, wie wir mit anderen kommunizieren und welche Narrative wir erschaffen wollen“. In gewissem Sinne seien alle feministischen Aktivist*innen auch Cyberfeminist*innen. Denn „heutzutage ist ein Feminismus ohne virtuellen Aktivismus unvorstellbar“, so Mazzitelli.

Um diese Themen ging es auch im ersten Workshop des Treffens. Die Teilnehmer*innen tauschten sich über individuelle und kollektive Nutzungsmöglichkeiten der sozialen Netzwerke aus, teilten Erfahrungen digitaler Gewalt und problematisierten den ungleichen Zugang zum Internet für unterschiedliche Geschlechter. Auch das Thema digitale Rechte wurde besprochen.

In diesem Zusammenhang stellten die Organisator*innen von Datysoc eine Sammlung von Prinzipien für den Aufbau eines „feministischen Internets“ vor: ein Internet ohne Gewalt und Diskriminierung, in dem Frauen sich ausdrücken können, ohne sich von anderen Personen „ausgespäht zu fühlen“. Zu ihren Forderungen gehören ein gerechterer Zugang zum Internet, die Stärkung der Meinungs- und sexueller Freiheit in digitalen Räumen, die Möglichkeit Bewegungen und Mitbestimmung aufzubauen und das Recht, über die eigene digitale Identität zu bestimmen – sei es die tatsächliche, eine anonyme oder ein Pseudonym.

Viele der teilnehmenden Kollektive sind zwar in sozialen Netzwerken präsent, verfolgen aber bisher keine konkreten Strategien. Diana von Mujeres en Libertad aus San José etwa erzählt, wann ihr Kollektiv in den sozialen Netzwerken wie reagiert. „Wenn etwas zu viel Lärm macht, sprechen wir Klartext“, versichert sie. Eines sei jedoch klar: Die Gruppe antwortet nicht auf gewalttätige Kommentare, denn „die Menge der Leute, die sich auf diese Weise ausdrücken, ist belastend.“

Für Colectiva Durazno hat der Lockdown in Zeiten der Pandemie die Notwendigkeit eines Wandels sichtbar gemacht, meint Silvana Cunha, eine der Aktivist*innen des Kollektivs. Deshalb habe die Gruppe ihre Aktivitäten in sozialen Medien gestärkt und nach Werkzeugen gesucht, „sicher“ in diesen Räumen unterwegs zu sein. Ihre Netzwerke seien als „konstruktiver und informativer Raum“ gedacht, damit „andere Personen die Veröffentlichungen lesen und interagieren wollen“. Wenn es aber Gewalt gegen Frauen und Queers gäbe, würden sie nicht zögern, diese auch im Digitalen anzuprangern.

Die feministische Aktivistin Camila Díaz erzählt, dass sie sehr aktiv in persönlichen Netzwerken ist und Fotos und Informationen über Feminismen teilt, die andere Personen oder Kollektive erstellen. Díaz meint, es sei wichtig, dass feministische Diskurse im Netz präsent seien, um mehr Menschen zu erreichen. Viele junge Feminist*innen würden die Netzwerke nutzen, um ihre Meinung auszudrücken, Gewalt anzuprangern und an Bewegungen teilzunehmen, auch wenn sie nicht in Kollektiven organisiert seien.

Digitale Gewalt muss ebenso anerkannt werden wie physische Gewalt

Das Kollektiv EFD ist in sozialen Netzwerken entstanden: Zuerst auf Twitter und später auf Telegram. Von Beginn an sei es darum gegangen, mit digitalem Aktivismus Präsenz zu zeigen, erzählen Gabriela Mathieu und Natalia Vera. In diesem Prozess hätten die Frauen sich auch die entsprechenden technischen Mittel angeeignet. „Heute haben wir eine eigene Cloud über Nextcloud und unterstützen andere sichere Vorgehensweisen für den virtuellen Raum“, meint Mathieu. „Was wir anderen Kollektiven vielleicht mitgeben müssen, ist die Nutzung anderer Messengerdienste und sicherer und freier Technologien.“ Der virtuelle Raum sei zwar wichtig und bringe viele Werkzeuge für den Aktivismus mit sich. „In einem feministischen Raum aktiv zu sein, bedeutet jedoch auch, körperlich in diesem Umfeld präsent zu sein.“ Diese Meinung teilen auch andere Aktivist*innen. Diana von Mujeres en Libertad meint etwa: „Virtuelle Präsenz zu zeigen ist wichtig. Aber auf den Straßen sichtbar zu sein ist wichtiger. Denn der Wandel geschieht nicht in den Netzwerken.“

Durch alle Workshops zieht sich das Thema der digitalen sexualisierten Gewalt. „Die geschlechtsspezifische Gewalt in digitalen Umgebungen gegen Frauen und Queers beruht auf patriarchalen Mechanismen“, definiert Mariana Fossatti von Datysoc das Problem. Diese Gewalt drücke sich zum Beispiel in Kommentaren in Privatnachrichten oder öffentlich in sozialen Netzwerken aus, häufig auch in der Verbreitung von Bildern und Videos ohne vorherige Zustimmung des Opfers. „Dazu zählt jede Handlung mit dem Ziel, eine unterdrückerische, unbehagliche und unaushaltbare Atmosphäre für Frauen und Queers zu erschaffen und uns aus diesen Räumen zu vertreiben“, erklärt Fossatti. Diese Gewalt führe zu psychologischem und emotionalem Schaden und ziehe Verpflichtungen in Mitleidenschaft. So könnte digitale Gewalt Auswirkungen auf die Arbeitssituation der Opfer haben und zu wirtschaftlichen Verlusten führen. Ebenso könnte sie zu Formen physischer, auch sexueller Gewalt führen. „Deswegen sagen wir, dass digitale Gewalt real ist“, denn ihr Effekt „beschränkt sich nicht auf den digitalen Rahmen“, meint Fossatti. Sie erklärt, dass es daher nicht ausreiche, Konten zu schließen und Geräte abzuschalten. Digitale Gewalt müsse genauso anerkannt werden wie physische Gewalt, so die Aktivistin von Datysoc.

Frauen befähigen, digitale Räume für sich zu besetzen

In einem der Workshops wurden unterschiedliche Strategien zur Vorbeugung digitaler Aggressionen vorgestellt. Schon das Nutzen sicherer Passwörter und Browser könne verhindern, dass Daten und Inhalte für alle zugänglich sind. Außerdem könnte man auf intimen Bildern das Gesicht unkenntlich machen und anonyme Profile unter Pseudonymen verwenden. In einem sind sich die Feminist*innen einig: Das wichtigste sei es, nahestehende Vertrauenspersonen oder feministische Kollektive zu kontaktieren und ein Verzeichnis gewalttätiger Kommentare und Fotos mithilfe von Screenshots anzulegen.

Der Workshoptag ging mit einem Seminar zu antifeministischen Diskursen im Internet weiter. Dazu gehören etwa frauenfeindliche, rassistische, transfeindliche, homofeindliche Einstellungen oder auch das sogenannte Bodyshaming. Die Teilnehmer*innen diskutierten über Meinungsfreiheit und darüber, welche Äußerungen unter dieses Recht fallen und welche nicht. Ebenso ging es darum, sichere Strategien zu entwickeln, um eine starke Antwort entgegenzusetzen, ohne sich einerseits selbst in Gefahr zu begeben und andererseits der Nachricht noch mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Antifeministische Diskurse können unterschiedliche Effekte zur Folge haben. Da wäre zum einen die individuelle oder kollektive Selbstzensur, etwa „Kommentare aus Angst vor den Antworten viel stärker zu analysieren“ oder sogar „das Löschen eigener Konten“, erklärte Fossatti. Außerdem habe dieses Verhalten einen „kulturellen Zweck“: Antifeministische Diskurse haben zum Ziel, „zu disziplinieren“ und versuchen „zur Norm zurückzukehren“, indem feministische und queere Kollektive aus den virtuellen Räumen verbannt werden.

Vor dem Ende des Treffens verteilten sich die Teilnehmer*innen auf unterschiedliche Gruppen, um aus Bildern eine Collage über ihre Erfahrungen, Gefühle und das Gelernte zu erstellen. Die Aufgabe verstand sich als „Feministisches Hacking antifeministischer Diskurse“. „Die Entramada soll hier nicht enden“, machte Federica Turbán, Mitglied von MediaRed, in der abschließenden Runde klar. So gibt es die Möglichkeit, die Strategien in weiteren Treffen an unterschiedlichen Orten des Landes weiterzuführen. Für das Jahr 2022 ist schon ein weiteres Treffen geplant.: „Raus aus dem Zoom und aus Montevideo!“, rief eine compañera spontan aus. Bis dahin bleibt die Entramada Feminista über die digitalen Medien verbunden

„DIE HERAUSFORDERUNG IST, VERBUNDEN ZU BLEIBEN“

In den vergangenen Jahren hallte der Aufschrei des feministischen Widerstandes durch ganz Lateinamerika. Auf dem Kontinent haben wir in dieser Zeit eine ganze Reihe von Transformationen erlebt: Die Stimmen wurden vielfältiger, die sozialen Netzwerke für Massenkampagnen genutzt und Themen wie Antirassismus, Repräsentation und die Frage, wer aus welcher Position heraus spricht, bekamen größere mediale Sichtbarkeit. Heute setzen wir trotz der Ermordung der Stadträtin Marielle Franco im Jahr 2018 (siehe LN 537) unseren Kampf fort: für eine gerechtere und gleichberechtigtere Welt, in der Frauen mehr Freiheit haben.

Die positive Bilanz unserer jahrelangen feministischen Kämpfe erlaubt uns, besser hinzusehen und unsere Unterschiede und Diversität anzuerkennen. Als Bewegung nehmen wir wahr, dass wir uns manchmal so sehr diversifizieren, dass wir uns zerstreuen. Als die Nutzung von Plattformen wie Facebook und Twitter immer wichtiger wurde, um zu Protesten aufzurufen und diese zu organisieren, sah es anfangs so aus, als ob es einfacher würde, sich zusammenzuschließen. Gleichzeitig haben wir aber größere Schwierigkeiten, die Kontinuität unserer Aktionen zu erhalten.

Wir stellen viele Gemeinsamkeiten zwischen den politischen Kontexten der Länder unserer Region fest. Besonders die Tatsache, dass 2015 in verschiedenen Ländern Lateinamerikas Frauen auf die Straße gingen, um ein weiteres Mal die Gewalt gegen Frauen anzuprangern. Ni Una Menos verwandelte sich nicht nur in einen Aufschrei, in einen Protest, sondern in einen gemeinsamen Kampf für das Ende patriarchaler Gewalt. Der Begriff „Feminizid“ eroberte die Presse als eine Form der Anklage der Morde an Frauen. Von dort aus verbreiteten sich die Demonstrationen über den Rest des Kontinents.

In Brasilien war 2015 das Jahr, in dem sie uns das Recht auf Abtreibung in Fällen sexualisierter Gewalt nehmen wollten – parallel zum Prozess des misogynen und rassistischen Putsches, der Dilma Rousseff um die Präsidentschaft brachte. Wir protestierten im „Frühling der Frauen“ auf der Straße, als „Marsch der Margeriten“ und als „Marsch der Schwarzen Frauen.“ Wir organisierten uns auf unterschiedliche Weise, teilten aber eine gemeinsame Empörung.

2015 war auch das Jahr, in dem Marielle Franco mit der fünfthöchsten Anzahl von Stimmen zur Stadträtin von Rio de Janeiro gewählt wurde. Mehr als 46.000 Wähler*innen entflammten die Hoffnung der Frauen inmitten der Gewalt und Vernachlässigung, die in der alten Hauptstadt Brasiliens so verbreitet sind. Als Schwarze Frau und Bewohnerin eines Armenviertels war Marielle auch Mutter und offen bisexuell. Marielle wusste, dass ihr Mandat auch das Ergebnis der feministischen Mobilisierungen von 2015 war. Außer ihr wurden weitere Schwarze Frauen gewählt. Nicht etwa, weil es eine gemeinsame Strategie gab, eine Entscheidung der feministischen Bewegung, sich zu institutionalisieren. Sondern, weil die Proteste es notwendig machten, Schwarze Frauen zu wählen: Diejenigen, deren Leben und Körper von der Tragödie der Ungleichheit gezeichnet waren.

„Frauen sind wie Wasserläufe, sie wachsen, wenn sie sich vereinen“

Im darauffolgenden Jahr, 2016, gab die Politik eine harte konservative Antwort. Die Rechte übernahm in verschiedenen Ländern Lateinamerikas die Macht, im Fall von Brasilien durch einen Putsch, den die juristischen und legislativen Gewalten – und auch die Massenmedien – hervorgebracht hatten. 2019 sah Brasilien dann zu, wie ein Faschist die Macht übernahm. Jair Bolsonaro repräsentiert die Politik des Todes, die für den Neoliberalismus in diesem Moment der Weltgeschichte fundamental ist. Der parlamentarische Putsch in Brasilien bricht mit der Demokratie, vertieft die Ungleichheiten, die Intoleranz, den Rassismus, die Feindseligkeit gegenüber Lesben und trans Personen und alle Formen der Gewalt.

Während des internationalen Frauenstreiks von 2019 erkannten wir in der Annäherung der verschiedenen Feminismen unser größtes Potential: das als Bewegung. Diese Idee formulierten Frauen aus Altamira, in Pará, einer Region im Norden Brasiliens, beispielhaft: „Frauen sind wie Wasserläufe, sie wachsen, wenn sie sich vereinen“. Der Kampf um Freiheit, gegen den Kapitalismus, den Rassismus und das Patriarchat überschreitet Grenzen und ist jedes Mal stärker Schwarz, indigen, gemeinschaftlich, lesbisch und trans.

Daher war der internationale Frauenstreik eine Möglichkeit, unsere Aufschreie zu vereinen und daran zu erinnern, dass Frauen in ganz Lateinamerika bereit sind, Widerstand zu leisten. Der Aufruf kam von unseren argentinischen Schwestern, er war ein notwendiger Schritt, um die politische Kraft von Ni Una Menos zu verbreiten. Nicht als vereinheitlichte Bewegung, sondern als Idee, als Netzwerk, als eine gemeinsame Form des Widerstandes mit der notwendigen Kraft, um dem Voranschreiten des Konservatismus zu begegnen, den religiösen Fundamentalismen und der Machtübernahme durch die Rechte.

Der aktuelle politische Kontext stellt Genderfragen in das Zentrum der politischen Debatten. Es gibt eine starke und gut vernetzte Kampagne auf dem gesamten Kontinent gegen das, was sie „Genderideologie“ nennen. Wir haben Angst, die Rechte, die wir erobert haben, wieder zu verlieren, und Rückschritte bei dem wenigen, das wir erreicht haben, hinnehmen zu müssen. Dennoch sehen wir mit Freude, dass die Bewegung lebendig und pulsierend bleibt und mit doppeltem Einsatz mobilisiert, um die legale Abtreibung für alle Frauen zu garantieren.

Der Kampf um die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in Brasilien und die Verankerung dieser Forderung in der demokratischen Agenda waren sehr mühsam. Die 2008 gegründete „Nationale Initiative gegen die Kriminalisierung der Frauen und die Legalisierung der Abtreibung“ vereint bis heute auf nationaler Ebene verschiedene Bewegungen von Frauen und Feministinnen, um die brasilianische Gesellschaft mit dieser Debatte zu konfrontieren.

In Brasilien wird eine Abtreibung nur in den Fällen nicht als Verbrechen betrachtet, in denen das Leben der Schwangeren bedroht oder die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung ist. Diese beiden Möglichkeiten werden im Strafgesetzbuch von 1940 genannt. In der dreißigjährigen Geschichte der brasilianischen Demokratie hat es die Legislative nicht geschafft, hier voranzukommen. Das, was sich verbessert hat, setzte die feministische Bewegung durch. Heute besteht der Kongress zur großen Mehrheit aus ultrakonservativen Abgeordneten, die ständig versuchen, unsere Erfolge zunichte zu machen.

Marielle, presente! Wandbild der ermordeten Stadträtin und feministischen Aktivistin in São Paulo (Foto: Jurre van B. via Flickr (CCo 1.0)

Im August 2018 reichte die Nichtregierungsorganisation ANIS und die links-sozialistische Partei PSOL beim Obersten Gerichtshof STF eine Verfassungsklage ein, um Abtreibungen auf juristischem Weg zu legalisieren. Während der ersten Erörterung des STF lancierten wir die Kampagne „Weder inhaftiert noch tot“ und das „Festival für das Leben der Frauen“. Beides trug dazu bei, die Frage der Abtreibung auf die nationale Tagesordnung zu setzen.

Gleichzeitig mobilisierte die feministische Bewegung in Argentinien für die Abstimmung im Senat, was auch in Brasilien mobilisierte. Die argentinischen und mexikanischen Schwestern erreichten 2020 und 2021 bedeutende Fortschritte in der Gesetzgebung, was uns mit Hoffnung erfüllt. Die Bewegung vernetzte sich, um junge Feminist*innen in diesem Kampf willkommen zu heißen und die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in den Forderungskatalog der Demonstrationen gegen den Faschismus aufzunehmen. Seitdem Bolsonaro die Macht in Brasilien übernommen hat, ergreift der Staat direkte Maßnahmen, um zu verhindern, dass Mädchen und Frauen abtreiben, auch in den gesetzlich erlaubten Fällen.

Die Angst lähmt uns nicht, im Gegenteil, sie bewegt uns

Die Bewegung der Schwarzen Frauen hat in Brasilien die Debatte um die Frage der reproduktiven Gerechtigkeit bereichert. Sie fordert, dass nicht nur alle Frauen das Recht erhalten sollten, eine Schwangerschaft abzubrechen, sondern auch das Recht, Kinder auf gesunde und gleichberechtigte Weise zu bekommen. Dieses Konzept erkennt die extrem grausame Lebensrealität von Schwarzen Frauen an, die sich im Alltag institutionellem Rassismus und der Prekarität ihrer Lebensbedingungen stellen müssen. Es ist eine Herausforderung, alle Forderungen zusammenzuführen und gleichzeitig diesen Kampf fortzusetzen und zu stärken.

In einer Welt voller Widersprüche machen wir weiter, indem wir Trauer in Widerstand verwandeln. Die Angst lähmt uns nicht, im Gegenteil, sie bewegt uns, weiter zu kämpfen. Vor ihrer Ermordung sagte Marielle Franco in ihrer Rede zum 8. März: „Wir müssen so handeln, als sei die Revolution möglich.“ Auch wenn es in diesem politischen Szenario sehr schwierig erscheint, halten wir daran fest, dass es möglich ist, dass die Welt für Frauen gerechter und gleichberechtigter wird.

In jedem Land haben die Kämpfe unterschiedliche Nuancen, die sich zu globalen Kämpfen summieren. In Brasilien, einem sehr großen und sehr ungleichen Land, ist es niemals einfach für uns, eine landesweite Aktion zu organisieren. In fast zwei Jahren Pandemie hat sich die soziale Tragödie verschärft und die wirtschaftliche Situation der Menschen verschlechtert, besonders die der Frauen. Es gibt verschiedene Studien und Untersuchungen, die dies bestätigen, vor allem den Anstieg der Gewalt in einer Gesellschaft, die sowieso schon sehr gewalttätig ist. Im Jahr 2020 wurden 1.388 Frauen ermordet, die meisten von ihnen waren Schwarz – was ein weiteres Mal zeigt, wie sich die Kluft der strukturellen und sozialen Ungleichheit in einem rassistischen und sexistischen Land verbreitert.

Es hat uns in dieser Zeit viel gekostet, den Kampf in digitaler Form zu organisieren. Diese Entwicklung innerhalb der Bewegung ist nicht abgeschlossen, denn das Internet verändert unsere Wahrnehmung von Raum und Zeit, unsere Formen der Kommunikation, das Verständnis unserer Vereinbarungen und unserer Unterschiede. Hinzu kommt die Ungleichheit im Zugang, in der Form des Gebrauchs und des Umgangs mit diesen Technologien. Diese Fragen waren bereits in anderen historischen Momenten der Bewegung präsent, aber die Prozesse intensivieren und beschleunigen sich, während es gleichzeitig schwierig ist, unseren gemeinsamen Aktionen und Dialogen Kontinuität zu geben. Dennoch sind wir 2020 und 2021 gegen die genozidale Politik der aktuellen Regierung auf die Straße gegangen: in Demonstrationen gegen den Rassismus, für das Recht auf Land und für die Rechte der indigenen Gemeinschaften. Die Märsche gegen den Genozid an der Schwarzen Bevölkerung, der „Marsch der Margeriten“ der Landfrauen und der Marsch der indigenen Frauen waren einige der wichtigsten Demonstrationen in den vergangenen Jahren.
In jeder Region integrierten andere lokale Kämpfe ihre Forderungen, wie der Kampf um Wasser, um menschenwürdiges Wohnen oder für Kinderbetreuung. Wir glauben, dass die gesammelte Energie und diese globale, feministische politische Kraft den Kampf gegen Kapitalismus, Rassismus und das Patriarchat weiter ausweiten wird, vor allem in Lateinamerika.

Wir Feminist*innen stellen uns der Herausforderung, diese Vernetzung fortzusetzen. Wir nutzen die bereits geleistete Mobilisierung und werden sie über das Internet in konkrete Aktionen verwandeln. Wir werden in der feministischen Bewegung die Perspektive der Horizontalität stärken, indem wir die sozialen Kontexte der Kämpfe und des Widerstandes einbeziehen. Mit dem Fortschritt des Ultrakonservatismus in Lateinamerika und in der Welt wird die feministische Vernetzung immer wichtiger, um eine Weltanschauung voranzutreiben, die den sozialen Problemen mit konkreten Vorschlägen begegnet. Die feministischen Bewegungen haben es geschafft, sich über konkrete Kämpfe zu verbinden. Die Herausforderung ist, verbunden zu bleiben.

SELBSTSCHUTZ VOR SEXISTEN WIE DER POLIZEI

„Hört auf, uns zu töten!“ Proteste gegen Polizeigewalt in Cali (Foto: Leonard Mikoleit @mikolente)

Colombia Informa: Wie ist die Idee einer feministischen Selbstverteidigungsorganisation beim Generalstreik entstanden?
Hier in Boyacá, insbesondere in Duitama, haben wir die unterschiedlichsten Gewalterfahrungen gemacht. Deshalb haben wir uns als Menschenrechtler*innen, Künstler*innen, Handwerker*innen, Journalist*innen zusammengeschlossen; jede bringt andere Ideen und Erlebnisse mit, aber uns allen ist bewusst, dass es wichtig ist, uns als Frauen, als Feministinnen zu organisieren, Sicherheit für Frauen und Queers zu garantieren und Gewalt vorzubeugen. In einigen Organisationen und sozialen Bewegungen herrschen immer noch Ignoranz, männliche Komplizenschaft und Vertuschung. Deshalb haben wir beschlossen, als Teil der Protestbewegung unsere Themen selbst in die Hand zu nehmen, uns zu organisieren und innerhalb der politischen Strukturen selbst für unsere Sicherheit zu sorgen. Auf sexistische und patriarchale Gewalt reagieren wir mit eigenen Sanktionen. Mit der feministischen Selbstschutzorganisation haben wir schon verschiedene Aktionen durchgeführt, zum Beispiel die 24-stündige Besetzung in Duitama. Wir haben auch bei der ersten Nationalversammlung in Boyacá mitgemacht. Das Treffen wurde von der Guardia Campesina (Anm. d. Red.: Bäuer*innen-Schutz), dem Cimarrona-Schutz (Anm. d. Red.: Schutz der afrokolumbianischen Gemeinden), der Guardia Indígena (Anm. d. Red.: indigener Schutz) und der Guardia Popular (Anm. d. Red.: „Volksschutz“) begleitet und geschützt. Ich hatte dann die Idee, innerhalb der Nationalversammlung eine feministische Selbstschutzorganisation, die Guardia Feminista, aufzubauen, weil ich dachte: Alle diese Guardias haben sich anhand ihrer Schwerpunkte und ihrer gemeinsamen Erfahrungen gegründet. Das sollten wir auch machen: unseren eigenen Schutz aufbauen, mit feministischem und antipatriarchalem Fokus.

Welche Ansprüche formuliert ihr aus feministischer Perspektive an die Guardia Popular?
Wir arbeiten am Konzept einer Guardia Popular, der sich sämtliche feministische Strömungen anschließen können. Eine Organisation, die einen Raum bietet für Erfahrungen aus unterschiedlichen Vierteln, Bezirken und Gemeinden und sie verbindet. Also Erfahrungen, die beim Kampf auf der Straße, bei den Gemeinschaftsküchen und bei politischen Aktionen entstanden sind. Es geht um eine generationenübergreifende Schutzorganisation, die verschiedene soziale Gruppen zusammenbringt. Wir fangen gerade erst an, dieses Schutzkollektiv aufzubauen, ohne fertig ausgearbeitetes Konzept oder Prinzipien. Das ganze Schutzkonzept befindet sich noch im Entstehungsprozess, aber natürlich denken wir an eine breite Basis, da die Idee aus der Nationalversammlung heraus entstanden ist.

Welche Schwerpunkte soll eure Guardia im Einzelnen haben?
Was uns vorschwebt, ist ein Unterstützungsnetzwerk, in dem es Raum zum Zuhören, für Hilfestellung und für feministische Selbstverteidigung gibt. Damit wir in jeder Situation in der Lage sind, uns zu schützen. Manchmal begehen nämlich Frauen den Fehler zu denken, man mache besser nichts, um die Räume nicht zu gefährden. Aber das Gegenteil ist der Fall, das hat die Geschichte uns gelehrt: Wo wir uns nicht eingebracht haben, wurden Räume komplett von Männern dominiert, insofern ist es an der Zeit, dass wir aktiv werden.

Was würdest du sagen: Inwiefern hat der landesweite Generalstreik auch Frauen und Queers beeinflusst, die nun auf der Straße protestieren?
Die aktuelle politische Mobilisierung hat auf jeden Fall dazu geführt, dass Frauen und Queers, sowie unterschiedliche Lebensrealitäten vielmehr Anerkennung und Sichtbarkeit erfahren. Wir haben unsererseits auch massiv darauf hingewiesen, dass dieser Streik uns Frauen in allen Punkten betrifft. Wir verkörpern diesen Streik mit der Verteidigung von Menschenrechten; indem wir organisieren, Strukturen aufbauen, anführen; wir verkörpern ihn bei den direkten Aktionen, in gemeinschaftlichen Küchen, mit kulturellen Beiträgen, mit Kunst und Musik. Und schließlich auch was das Umsorgen betrifft, denn die Rolle der Mütter war gigantisch. Was queere Themen und sexuelle Diversität betrifft, möchte ich unbedingt die verschiedenen Performances erwähnen, z.B. die Vogue-Tanzperformances. Auf der anderen Seite hat auch die allgegenwärtige Gewalt ihre verschiedenen Ausprägungen. Wir haben es mit drei Arten von Gewalt zu tun: Der staatlichen Gewalt, der Gewalt innerhalb der Organisationen und der Gewalt im Zusammenhang mit der Primera Línea, der Speerspitze bei den Aktionen und Demos. Wir finden es richtig und wichtig, was die vordersten Reihen machen, wir unterstützen und begleiten ihre Aktionen, wo wir können, aber man muss einen Haufen Präventions- und Sensibilisierungsarbeit machen. Wir hatten es da schon mit einigen ziemlich autoritären, patriarchalen Verhaltensweisen zu tun.

Bei der Asamblea Nacional Popular, also der Nationalversammlung der Bewegungen in Cali, haben Frauen und Queers die Bühne besetzt. Warum?
Erstmal ist wichtig zu betonen, dass wir uns bei der Organisation in Cali ziemlich rausgehalten haben. Nichtsdestotrotz hat die Asamblea Nacional Popular ihrerseits auch nicht gerade den Anschein erweckt, als hätte sie uns Frauen und Queers mitgedacht und von sich aus überlegt, wie unsere Beteiligung aussehen könnte.

Das heißt, es wurde davon ausgegangen, dass wir schon irgendwie teilnehmen werden, aber wie dann Gleichberechtigung in der Praxis aussehen kann und was wir als Frauen und Queers brauchen, um an den Kommissionen und Diskussionsrunden teilzunehmen, tja… Daran, dass der antipatriarchale Fokus auf alle Bereiche ausgedehnt werden muss, daran wurde nicht gedacht. Die Art und Weise, wie die Versammlung in Cali organisiert wurde, hat das ganz deutlich gemacht: In der Grundstruktur waren wir_nicht vertreten und in den Diskussionsrunden auch nicht. „Frauen und Queers“ war irgendwie so als Unterthema einer Arbeitsgruppe geplant. An diesem Punkt haben wir alle zusammen beschlossen, uns unabhängig zusammenzuschließen und in unserem eigenen Tempo und zu unseren eigenen Fragen zu arbeiten. Wir waren mit Vielem nicht einverstanden und dass wir einbezogen werden, war überhaupt nicht garantiert. Unter anderem deswegen haben wir entschieden, die Bühne zu besetzen.

In Duitama, Boyacá war der feministische Selbstschutz besonders aktiv. Kannst du uns mehr zu den Erfahrungen dort erzählen?
In Duitama hat sich deutlich gezeigt, dass jegliche Sicherheitsgarantien für die Teilnahme von Frauen an der Streikbewegung fehlen und dass geschlechtsspezifische Gewalt nicht beachtet oder nicht ernst genommen wird. Das Kollektiv Chinas Berriondas in Duitama hat unter anderem die 24-stündige Besetzung der Straße San Luis initiiert und den Aufbau der Guardia Feminsta Popular wesentlich vorangetrieben. Jenifer Solano, Mitglied des feministischen Selbstschutzes vor Ort hat es so ausgedrückt: „Wir haben während des Streiks psychische Gewalt und sexuelle Schikane erlebt. Wir mussten uns vor Sexisten genauso schützen wie vor der Polizei“. Mit dem Aufbau der Schutzorganisation wurden verschiedene spezifische Gewaltakte analysiert und entsprechende Selbstverteidigungstaktiken entwickelt, die Frauen helfen sollen, sich in verschiedenen Angriffsszenarien zu schützen.

„WIR WAREN SCHIMMELPILZE”

Foto: Wagenbach Verlag

Vor einem Jahr haben die LN ein Dossier zum Thema Feminizide und feministische Gegenwehr herausgegeben. Du behandelst die Problematik in deinen Romanen aus der Fiktion heraus. Welche Rolle kann die Literatur bei der Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt spielen?
Ich habe mich nie bewusst dafür entschieden, geschlechtsspezifische Gewalt anzuprangern. Vielmehr habe ich in meinem Leben die Folgen dieser Gewalt gesehen, ich bin mit ihr aufgewachsen, wenn auch mit gewissen Privilegien. Ich habe sie nicht so erlebt wie viele andere, aber auch ich habe familiäre Gewalt, Beziehungsgewalt, psychische Gewalt, körperliche Gewalt und auch sexuelle Gewalt erlebt. Das Schreiben war meine Art, darüber zu sprechen. Es hat mit dem Erfolg von Saison der Wirbelstürme zu tun, dass mich viele Leute danach fragen und ich mich hinsetzen und darüber nachdenken musste, was ich geschrieben habe. Aber so unschuldig war es auch nicht. Als ich mit Saison der Wirbelstürme fertig war, sagte ich mir: Ja, das ist, was in Mexiko passiert, das ist, was mich an Mexiko beunruhigt. Ich weiß nicht, ob die Rolle der Literatur darin besteht, die Dinge zu verändern. Ich persönlich bin der Meinung, dass Literatur kein angemessener Mechanismus für einen allgemeinen sozialen Wandel ist, weil sie von Person zu Person wirkt. Und in diesem Sinne denke ich, dass andere kreative Aktionen nützlicher sind. Ich denke zum Beispiel an das Lied und die Choreographie von LASTESIS. So ein poetisches Ausdrucksmittel, das Performance und Kollektivität beinhaltet, ist im übergreifenden Sinne viel mächtiger als ein Buch. Ich glaube schon, dass die Literatur dazu beitragen kann, einen sozialen Wandel herbeizuführen, aber das ist ein sehr langsamer Prozess, er beginnt mit der Erosion einer einzigen Person. Ich denke, die Literatur kann nur dann eine Veränderung bewirken, wenn sie darauf verzichtet, eine Veränderung bewirken zu wollen. Wenn sie von den Rändern eines Problems aus agiert. Wenn sie darauf verzichtet, Pamphlet zu sein, und darauf, eine Lektion zu erteilen. Wenn sie undurchsichtig arbeitet.

In deinen Romanen befasst du dich mit Feminiziden, es handelt sich aber um so komplexe Fälle, dass sie sich im Rahmen des juristischen Diskurses nicht so einfach einordnen lassen, sondern sich den Kategorien entziehen.
In Mexiko wurde viel darüber diskutiert, den Feminizid zu typisieren, ihn gesetzlich zu erfassen. Zum Beispiel, ob Verbrechen gegen Frauen, die mit dem organisierten Verbrechen zu tun haben, Feminizide sind. Viele sagten: „Nein, das hat mit den Narcos zu tun.“. Aber wer eine Frau tötet, um sich an einem Mann zu rächen, betrachtet diese Frau als ein Objekt des Mannes, daher denke ich, dass es sich sehr wohl um Feminizid handelt. Und wenn die Leiche in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt wird, ist das eine der Typisierungen von Feminiziden in Mexiko, die auch aus den Erfahrungen der Juárez-Morde (siehe LN Dossier Nr. 18) resultiert. Die Sache mit den Feminiziden war etwas, das Saison der Wirbelstürme zugeschrieben wurde, aber nichts, was ich mir vorgenommen hatte. Der Roman wurde jedoch mit der Zeit als derjenige bekannt, der von Feminiziden in Mexiko handelt. Manchmal wurde nicht berücksichtigt, dass die Hauptfigur, die Hexe, eine trans Frau ist, dass sie manchmal auch genderfluid zu sein scheint. Das ist etwas, das ich auf undurchsichtige Weise behandeln wollte, weil ich mit der Mehrdeutigkeit der Figur spielen wollte. Ich wollte, dass sie eine vielschichtige, komplizierte Figur ist, die mehrere Aspekte thematisieren kann. Und mehr noch als eine direkte Problematisierung der Transphobie zu erreichen, wollte ich darstellen, wie eine bestimmte Person das Symbol für alle Ängste sein kann, die Männer eines Dorfes gegenüber Frauen im Allgemeinen empfinden. Und gleichzeitig erkunden, wie Frauen auch Gewalt ausüben, dass wir oft nicht nur passive Opfer sind. Ich denke, die wichtigste Lektion der Literatur besteht darin, dem Publikum zu zeigen, dass die Dinge nicht so einfach sind.

Etwas Ähnliches geschieht mit der intersektionalen Diskriminierung in deinen Romanen. Also mit jenem Konzept, das die vielen Marginalisierungsmechanismen beleuchtet, die Menschen ausgrenzen und sich gegenseitig beeinflussen. Ist diese Mehrdeutigkeit, diese Ungewissheit etwas Programmatisches in deinem Schreiben?
Ich habe nie über diese Kategorien nachgedacht. Ich kenne das Konzept, aber wenn ich schreibe, denke ich nicht daran. Mich interessiert dieses menschliche Element einzubringen, das immer mehrdeutig ist. Und jenseits der Kategorien schreibe ich über die Realitäten, die ich gesehen habe und die ich von innen kenne. Ich habe das Gefühl, dass wir uns im militanten Feminismus sehr darauf konzentrieren – aus gutem Grund – die Gewalt anzuprangern, die Männer gegen Frauen ausüben. Aber wir schweigen oft über die Gewalt, die wir selbst ausüben. Das ist etwas, das mich sehr motiviert. Ich fühle mich nicht wie ein perfektes Opfer. Ich war selbst Opfer von Gewalt, und ich habe Gewalt ausgeübt. Weil ich in einer Macho-Gesellschaft aufgewachsen bin, habe ich auch diesen Macho-Blick gelernt, und ich habe gelernt, anderen Frauen gegenüber machohaft zu sein. Ich habe all dies in meine Lebensweise integriert. Im Schreiben habe ich mich selbst dekonstruiert. Es ging darum, meine eigenen Narrative aus dem Kontext herauszunehmen, in dem sie entstanden sind, und mich zu fragen: Glaube ich das wirklich? Es ging darum, meine Narrative zu hinterfragen. Und dann ein anderes Narrativ zu konstruieren. Eins, das meinen wahren Ansichten gerechter wird.

Hast du dich auch deswegen in Paradais dafür entschieden, die Geschichte aus der Perspektive der toxischen Männlichkeit zu erzählen?
Ja. Paradais teilt viele Anliegen mit Saison der Wirbelstürme. Und ich fragte mich: Hey, willst du wirklich noch einen Roman über Männer schreiben, die Frauen schreckliche Dinge antun? Und ich sagte mir: Nun, das ist die Geschichte, die ich erzählen will. Denn ich war daran interessiert, mit diesen Schatten zu sprechen. Viele Leute überrascht das, sie fragen mich: Fernanda, wie schaffst du es, über die fragmentierte, gewalttätige Sexualität der Männer zu sprechen, wie kannst du das als Frau tun? Für mich ist das eine Möglichkeit, das zu erforschen, was ich kenne. Ich habe das alles doch auch verinnerlicht. Durch das Zusammenleben mit Männern, durch Gespräche, dadurch, dass ich sie lese, sie beobachte. Ich analysiere meine Beziehungen zu Männern. Ich verstehe nicht, warum das so überraschend sein soll, wenn doch Männer in der Lage sind, tiefgründig über weibliche Erfahrung zu schreiben und dies schon immer getan haben.

Einer der gravierendsten Unterschiede zwischen den beiden Romanen ist der Mangel an Zärtlichkeit in Paradais. Obwohl Saison der Wirbelstürme sehr roh und gewalttätig ist, gibt es dort Zärtlichkeit und Solidarität, Zuneigung zwischen Figuren. Hast du dich für Paradais davon verabschiedet?
Ich denke, wir werden bis zu einem gewissen Grad zur Empathie mit Polo, der Hauptfigur in Paradais, angehalten. Wir denken: armer Kerl. Er hat es echt nicht leicht. Er hat keine Vaterfigur, seine Mutter ist eine Frau, die mit allen Wassern gewaschen ist, und sie will ihm die Lektion erteilen: „Sohn, das Leben ist hart, auch du musst hart sein“. Und das ist alles irgendwo verständlich. Es ging mir darum, herauszustellen: Ja, armer Polito, aber er trifft schreckliche Entscheidungen, die viele Menschen betreffen, und diese feige ‚Es war doch nicht meine Schuld‘-Haltung hat mich an ihm sehr gestört. In Paradais gibt es also eine größere Distanz zur Figur. Und deshalb gibt es auch nicht so viel Empathie. Ich wollte aufzeigen: Seht euch diesen Kerl an, der sich für einen Macho hält, seht euch an, was er gerade getan hat, seht euch an, was für ein Feigling er ist. Seht euch an, wie er versucht, alle Frauen in seinem Leben für seine Misere verantwortlich zu machen, anstatt sich selbst zu betrachten. Ich habe das Gefühl, dass ich etwas weniger traurig und etwas wütender war, als ich Paradais geschrieben habe.

Ähnlich ist es mit der Hoffnung. In Saison der Wirbelstürme gibt es eine Spur Hoffnung, die in Paradais nicht existiert.
Paradais ist der Moment, in dem jemand erkennt, was er getan hat. Dass es kein Zurück mehr gibt und er an die Lüge denkt, die er allen erzählen wird. Es ist ein äußerst klaustrophobischer Roman. Saison der Wirbelstürme ist ein offenerer Roman, in dem diese Momente der Zärtlichkeit, von denen du gesprochen hast, sehr notwendig waren. Es gibt dort Personen, die wissen, dass sie schreckliche Dinge getan haben, oder die wissen, dass sie mehr verdient haben. Und die erkennen, dass sie anders hätten sein können, aber nicht konnten, eine sehr schmerzhafte Erkenntnis. Doch in Paradais scheint, von wenigen Ausnahmen abgesehen, der Hass zu überwiegen. Einer der wenigen Momente der Solidarität zwischen seiner Mutter und seiner Cousine ist Polos schlimmster Albtraum. Selbst die señora aus der Luxusanlage glaubt an Polo, während er nur aus seinem Hass heraus handelt. Ich wollte, dass der Roman das mentale Labyrinth einer Person darstellt, die von den Konditionierungen ihres Lebens völlig niedergewalzt wird. Der Alptraum eines Lebens, das in dem Versagen gefangen ist, das der machismo ist. Deshalb ist der Roman so schrecklich, aber auch so menschlich.

Der internationale Erfolg deiner Bücher seit Saison der Wirbelstürme ist außergewöhnlich. Hast du den Eindruck, dass es ein wachsendes Interesse an vielfältigen Stimmen in der Literatur aus Lateinamerika gibt?
Wir erleben heute, dass zum Beispiel in Europa ein großes Interesse daran besteht, Stimmen von Frauen aus der sogenannten Dritten Welt zu lesen. Das klingt ein bisschen seltsam. Neulich habe ich das auf einem Podium in Barcelona gesagt, und alle waren schockiert. Dort fragten sie uns: Welche Rolle spielt Barcelona als Zentrum des Verlagswesens der spanischsprachigen Welt in Ihrer Literatur? Und ich habe gesagt, dass wir eigentlich Pilze waren, Schimmelpilze, wir wuchsen im Dunkeln, in der Stille, niemand hat uns probiert, bis ein Markt uns entdeckt hat und festgestellt hat, dass es ein großes Interesse gibt, dass wir eine exquisite Speise sind und dass jeder über uns Bescheid wissen sollte. Tatsächlich schrieben wir, ohne jemals etwas zu erwarten. Jetzt sehe ich lateinamerikanische Autorinnen, die mit ihren ersten Romanen unter Vertrag sind und schon in Spanien veröffentlichen, was früher sehr selten war. Wir erleben gerade eine Art Bewusstseinserweiterung vieler Menschen und ein großes Interesse an Übersetzungen, sogar in Ländern wie Deutschland, die mit ihrer Nationalliteratur ziemlich verschlossen waren. Und diese Offenheit hat viel mit Feminismus zu tun, mit dem, was du über die Intersektionalität gesagt hast. Viele Menschen erkennen, dass es nicht ausreicht, immer nur das Gleiche zu lesen, dass sie an anderen Stimmen interessiert sind, an anderen Positionen und Orten.

DEKOLONIALER FEMINISMUS

Anthropologie und Aktivismus Rita Laura Segatos Analyse deckt die vielschichtigen Dimensionen geschlechtsspezifischer Gewalt auf (Foto: Universidade de Brasilia CC BY 2.0)

Die leidvolle Realität geschlechterspezifischer Gewalt an Frauen und Queers und die dagegen gerichteten Kämpfe lateinamerikanischer Feminismen sorgen auch im hiesigen Kontext für immer größere Aufmerksamkeit. Ende 2019 ging etwa das Video der Performance des chilenischen Kollektivs LasTesis „Un violador en tu camino“ (Ein Vergewaltiger auf deinem Weg) viral und wurde weltweit nachgeahmt (Interview in den LN 547). LasTesis klagen an: „Der repressive Macho-Staat vergewaltigt uns mit jeder Tat!“ Dabei beziehen sie sich explizit auf die Theorien der argentinischen Anthropologin Rita Laura Segato (LN 553/554, Interview in den LN 525). Die Übersetzung ihres ursprünglich 2018 erschienenen Buches Wider die Grausamkeit zeigt nun erstmals einer deutschsprachigen Leser*innenschaft eine akademische Perspektive auf das Thema auf. Segato verwebt die Kerngebiete ihres Schaffens – den Feminismus und die Dekolonialität – miteinander. Darüber hinaus stellt sie ihr Werk der Dominanz des eurozentristischen Systems der Wissensproduktion entgegen.

Die Analyse folgt ihrem Werdegang als Anthropologin, sowie ihrem aktivistischen Kampf für Rechtsgrundlagen in verschiedenen lateinamerikanischen Kontexten, so etwa ihre Schlüsselrolle bei der Durchsetzung der Quote für Schwarze und Indigene Studierende an den brasilianischen Universitäten Anfang der 2000er Jahre. Das Buch greift auch die zentralen Gedanken ihrer wichtigsten Publikationen auf.
Eine der ersten Stationen ist dabei ihre Auseinandersetzung mit der zunehmenden geschlechterspezifischen Gewalt im öffentlichen Raum in Brasília Anfang der 1990er Jahre. Ethnographische Gespräche mit verurteilten Vergewaltigern im Gefängnis bringen sie zur Annahme, dass Vergewaltigungen für die Täter keine „instrumentelle” Funktion erfüllen, also nicht der Befriedigung ihres sexuellen Triebes dienen: Mit dem Akt der Vergewaltigung kommuniziert der Angreifer auf einer Ebene komplizenhaft mit anderen Männern, um das „Mandat der Männlichkeit” zu erfüllen, das vom Mann das Eintreiben eines „Tributs” von der „weiblichen Position” fordert.

Bei einem Forschungsaufenthalt im mexikanischen Ciudad Juárez im Jahr 2004 sucht Segato nach Antworten auf das massenhafte Verschwindenlassen, Vergewaltigen und Ermorden von meist jungen Fabrikarbeiterinnen in der Zeit nach der Verabschiedung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens. Segato stellt die politische These auf, dass para-staatliche Akteure der organisierten Kriminalität ihre „Fähigkeit zur Grausamkeit“ in den entstellten und willkürlich entsorgten Körpern der ermordeten Frauen mit der stillen Billigung des Staates „einschreiben” und somit ihre Macht über ein „Körper-Territorium“ demonstrieren. Diese Feminizide, die Segato in ihrem Ausmaß auch als „Femigenozid“ einstuft, sind kein bloßes Mittel, sondern der Höhepunkt einer kriegerischen Strategie.

Zentral ist auch Segatos Verständnis der Kategorie Geschlecht als in seiner strukturellen Entstehung parallel zu „Raza“ (race). Im Kern werden biologische Unterschiede festgeschrieben, um Ungleichheit zu zementieren. Sie folgt dabei der Theorie der „Kolonialität der Macht“ des peruanischen Soziologen Aníbal Quijano, der die historische Entstehung des Systems Rassismus zu Beginn der Conquista verortet. Anders als Raza sei Geschlecht laut Segato aber so alt wie die Menschheit selbst. Sie geht davon aus, dass selbst vor der Kolonisierung und bis heute, in autochthonen Gesellschaften ein „Patriarchat niedriger Intensität“ besteht. Hier beobachtet sie einen schleichenden Prozess der Verdrängung eines „pluralistischen Dualismus“ der Geschlechter, in dem die Existenz von trans und nicht-binären Identitäten selbstverständlich ist, durch einen eurozentristischen „modernen Binarismus“, der die Frau immer als „das Andere des Mannes“ konstruiert.

In Anlehnung an Quijano bevorzugt Segato den dekolonialen in Abgrenzung zum postkolonialen Begriff, um das Fortwirken von kolonialen Beziehungen zwischen Lateinamerika und dem globalen Norden zu betonen. Hier merkt sie auch an, dass viele „afroindigene“ Pueblos sich dieser Dynamik bewusst entziehen und sich ihre Zukunft durch ein eigenes „historisches Projekt“ erhalten. Aufgrund ihrer „Scharnierposition zwischen zwei Welten“ sind Männer dieser Gesellschaften jedoch korrumpierbarer hinsichtlich des eurozentristischen „Projekts der Dinge“, einschließlich weißer Männlichkeit. Daher tragen hier Frauen die Verantwortung und Chance eines lebensbejahenden „historischen Projekts der Bindungen“, wozu auch der Kampf gegen die Entpolitisierung des häuslich-familiären Kontextes mit der damit einhergehenden Angreifbarkeit ihrer Körper gehört.

Segato hat in Wider die Grausamkeit eine Kompilation von Vorlesungen mit anschließenden Gesprächsrunden zusammengestellt – unkonventionell und nahbar. Sandra Schmidt liefert eine gelungene Übersetzung und Aufbereitung für die deutschsprachige Leser*innenschaft, mitsamt hilfreichen editorischen Einordnungen emischer Begriffe. Segatos Stil – eine Mischung aus „mäandernder“ Analyse und sprachlicher Direktheit – bleibt in der Übersetzung ebenfalls erhalten. Es entsteht das Gefühl, mit ihr im Hörsaal zu sitzen.

Leider beantwortet Segato die intersektionale Frage danach, warum und wie rassifizierte, prekarisierte und dadurch mehrfach marginalisierte Frauen und Queers besonders von geschlechterspezifischer Gewalt betroffen sind, nur unzureichend. So findet etwa der alarmierende Anstieg von Transfeminiziden in Lateinamerika nicht ausreichend Beachtung.

Die Erwartungshaltung bezüglich eines neuen feministischen Gesellschaftsentwurfes von Segato sollten die Leser*innen zurückschrauben. Denn Lösungsansätze reißt sie nur als Gegenüberstellung zur „Pädagogik der Grausamkeit“ an. Eigentlich lässt ihre Profession als Anthropologin, deren Methode das Forschen mit den Menschen darstellt, aber gerade die Beleuchtung handfester Strategien erhoffen, die die Erfahrungen von widerständigen Gemeinschaften und Aktivist*innen ausmachen. Doch Segato erwähnt nur flüchtig die Gesprächspartner*innen ihrer Feldforschungen und konzentriert sich mehr auf analytische Schärfe und klare Thesen. Sie sieht ihre Verantwortung als Wissenschaftlerin vielmehr darin, so viele Fäden wie möglich zu einer „wirkmächtigen Rhetorik“ zusammenzuweben, nutzbar für das historische Projekt der Bindungen.

So ist Rita Laura Segatos Werk zu einem theoretischen Fundament für Aktivist*innen der Vierten Feministischen Welle in Lateinamerika geworden. Ihr „Vokabular“ vermag es auch hierzulande, ungehorsame Gedanken und Aktionen sowie die weitere transnationale Verbindung feministischer Kämpfe anzustiften.

LÖWINNEN GEGEN WOLFSRUDEL

© Fabula

„Wie viele Frauen sind verschwunden, wie viele hat die Erde verschluckt?“ fragt Ana Tijoux im Titelsong zu La Jauría (Die Meute). In der Serie ist es die Jugendliche Blanca Ibarra, deren Verschwinden acht spannende Folgen füllt.

Alles beginnt mit Protesten an einer katholischen Privatschule, die sich mit Missbrauchsvorwürfen mehrerer Schüler*innen gegen einen Lehrer konfrontiert sieht. Ganz im Stil der zahlreichen feministischen Schul- und Universitätsbesetzungen im Jahr 2018 (siehe LN 528) blockieren die Schüler*innen die Eingänge und fordern Aufklärung. Als mit Blanca ihre Anführerin verschwindet, steht fest: Die Protestierenden werden nicht aufhören, bis der beschuldigte Lehrer entlassen und ihre Freundin zurück ist.

Nicht nur die Jugendlichen, auch die Kommissarinnen der chilenischen Ermittlungspolizei PDI, eindrucksvoll gespielt von Antonia Zegers, María Gracia Omegna und Daniela Vega (rechtes Bild), sehen sich im Fall Blanca Ibarra mit den immer gleichen Narrativen konfrontiert. Sie hätte es doch gewollt, durch ihr Auftreten provoziert, es gebe keine Beweise, sonst würde man den jungen Frauen natürlich sofort glauben, so verkünden es die Mitschüler aus der Rugbymannschaft, der Priester und Schulleiter und der Polizeichef. Auch dann noch, als ein Video auftaucht, auf dem Blanca von mehreren Männern vergewaltigt wird.

Statt eines großen gesellschaftlichen Aufschreis bräuchte man einfach eine Festnahme, so die hohen Tiere in den Behörden – allesamt Männer. Doch die Ermittlungen zeigen schon bald, dass Blanca kein Einzelfall ist. Tatsächlich entspinnt sich ein Netz von Verbrechen, die vom „Spiel des Wolfes“, einem männerbündischen digitalen Netzwerk mit Anführer, ausgehen. Die Suche nach dem Wolf und seinen Rudeln aus hasserfüllten Männern dringt nicht nur in das Privatleben und die Vergangenheit der Kommissarinnen ein, sondern bringt auch Blancas Schwester Celeste, stark verkörpert von Paula Luchsinger, in Gefahr.

Das Produzent*innenteam um die Brüder um Juan de Dios und Pablo Larraín hat für dieses besondere Projekt weite Teile der chilenischen Filmprominenz um sich versammelt. Die schon in Pablo Larraíns Ema (siehe LN 557) überzeugende Mariana di Girolamo ist ebenso dabei wie ihre Tante, die bekannte Fernsehschauspielerin und Theaterregisseurin Claudia di Girolamo. Daniela Vega aus Una mujer fantástica brilliert diesmal als geniale Kommissarin. Und auch Ana Tijoux tritt nicht nur als Sängerin der Titelmelodie auf. Umso erfreulicher also, dass die Serie, die zuerst auf Chiles staatlichem Fernsehsender TVN ausgestrahlt wurde, nun auch international zu sehen ist.

Dabei ist beeindruckend, wie viele hochaktuelle Dimensionen geschlechtsspezifischer Gewalt La Jauría auf die Bildschirme bringt. Es geht eben nicht um Gewalt an Frauen als „Liebesdrama“, wie es allzu oft dargestellt wird, sondern um jene Strukturen und Narrative, die sie immer wieder und in dieser Größenordnung möglich und meist straflos machen: Männerbünde, Incel-Culture und digitale Gewalt werden ebenso problematisiert wie der alltägliche Sexismus in Gesellschaft, Kirche und Polizei. Gerade in Chile, wo das Thema seit einigen Jahren mehr Aufmerksamkeit erhält (siehe LN 547, 555/556), ist dies eine wichtige Aussage.

Zwar wirkt die Kulisse von La Jauría mit dem Reichenviertel Las Condes in Santiago etwas austauschbar und macht die Gewalt in ärmeren Gesellschaftsschichten in vielen Szenen unsichtbar. Hier und da driftet die Serie in klassische Krimimuster ab und büßt dafür an Realitätsnähe ein. Doch spannend ist La Jauría trotzdem, dafür sorgt neben zahlreichen Twists auch ein packender Soundtrack.

Immer wieder wird deutlich, dass das Thema der weiblichen Selbstbestimmung die Gesellschaft spaltet. Da fragt die Mutter eines beschuldigten Schülers Kommissarin Fernández in der Vernehmung eiskalt und spöttisch: „Meinen Sie etwa, wir erleben jetzt hier einen Moment der Schwesternschaft?“. Die gibt es hingegen unter den Schüler*innen umso öfter. Es ist das yo sí te creo hermana, „Ich glaube dir, Schwester“ und die geteilten Erfahrungen, die sie aus der Wut immer wieder Kraft schöpfen lassen. Dass die Serie junge Frauen nicht nur als passive Opfer, sondern vor allem als mutige Löwinnen darstellt, ist besonders wichtig.

So hinterlässt die erste Staffel das Fazit, dass gegen eine misogyne Meute nur eines hilft: sich zuhören, Vertrauen schenken, verbünden, zusammen jede Art von Gewalt sichtbar machen und dagegen kämpfen. Auf die Rache an den Wölfen in den angekündigten Staffeln 2 und 3 lässt sich schon jetzt hoffen. Ob die so radikal wird, wie der Soundtrack es andeutet, bleibt abzuwarten: „Nein zur Kirche, nein zum Staat, dieser ganze komplizenhafte Apparat ist schuld. Über meinen Körper bestimme ich, deine Gesetze will ich nicht. Über meinen Körper bestimme ich!“

SO WIRD GESCHICHTE GESCHRIEBEN

“Entscheiden ist mein Recht” Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrrüchen jetzt! (Foto: Karen Toro)

Es scheint skandalös, aber trotz einer langjährigen Debatte über Frauenrechte und des unermüdlichen Kampfes von Aktivist*innen und feministischen Organisationen, blieb in Ecuador bis 2014 ein Strafrechtskodex von 1938 bestehen, wonach eine Abtreibung nur erlaubt war, wenn die Schwangerschaft eine Gefahr für die Gesundheit oder das Leben der Mutter darstellte, oder wenn es sich um eine Vergewaltigung einer „geisteskranken oder idiotischen Frau“ handelte. „Geisteskrank oder idiotisch“, so stand es im Gesetz.

Bereits 2013 wurde die Entkriminalisierung von Abtreibung nach einer Vergewaltigung und die Reform des Strafgesetzbuches in der ecuadorianischen Nationalversammlung debattiert. Paola Pabón, derzeitig Abgeordnete von Rafael Correas Partei Allianz des Landes (AP), stellte den entsprechenden Antrag, welcher von 20 ihrer Mitstreiter*innen unterstützt wurde. Die Artikel 149, welcher das Strafmaß für medizinisches Fachpersonal regelt, das die Abtreibungen durchführt sowie der Artikel 150, welcher die Ausnahmen für eine Abtreibung nach einer Vergewaltigung darlegt, sollten für verfassungswidrig erklärt werden.

Die Reaktion darauf war von Zensur und patriarchalen Drohungen geprägt. Unmittelbar nachdem der Antrag gestellt wurde, hielt der damalige Präsident Rafael Correa eine frauenfeindliche Rede im nationalen Fernsehen und sagte, er würde sein Amt niederlegen, wenn seine Partei „diesen Verrat“ vorlegen würde. Am nächsten Tag war es offiziell: Pabón zog den Antrag vor dem Plenum zurück – im Namen der innerparteiischen Einigkeit. Schlussendlich wurde während Correas Amtszeit lediglich die Formulierung „geisteskrank oder idiotisch“ (Artikel 150 Strafgesetzbuch, Paragraf 2) durch „Frauen mit geistiger Behinderung“ ersetzt.
Was Correa damals als Sieg betrachtete, war in Wirklichkeit ein durch Angst und politische Gewalt erzwungener Sieg und markierte den Beginn neuer Strategien und Aktionen der feministischen Bewegung.

Präsident Rafael Correa würgte Bestrebungen ab, das Abtreibungsrecht zu liberalisieren

Im September 2019 stimmte die ecuadorianische Nationalversammlung erneut darüber ab, Abtreibung in Fällen von Vergewaltigung zu entkriminalisieren. Nach einer langen Mahnwache von Hunderten von Frauen, die in der Nähe des Plenarsaals grüne Fahnen schwenkten, wurde die niederschmetternde Nachricht bekannt gegeben: Die Abtreibungsgegner*innen hatten sich erneut durchgesetzt. Geschmückt von Rosenkränzen und begleitet von mittelalterlichen Gesängen, griffen sie die Frauenbewegung im Namen der Religion an, während diese von Polizist*innen mit Tränengas beschossen wurde. Wieder einmal wurde die feministische Bewegung von der Gleichgültigkeit des Gesetzgebers enttäuscht. Und wieder einmal versprachen sie sich, nicht nachzugeben, nicht zu schweigen, laut zu sein, bis das Gesetz geändert würde. Die Regierung wiederum überließ die Entscheidung stillschweigend dem Verfassungsgericht, das sich für die Verkündung des Urteils fast zwei Jahre Zeit ließ. Seit 2019 wurden von sozialen Organisationen insgesamt sieben Klagen eingereicht, damit das Gericht reagiert und die Verfassungswidrigkeit der Artikel 149 und 150 des Strafgesetzbuches feststellt.

Nur rund 11 Prozent der Taten werden angezeigt

Die Staatsmacht kümmert sich nicht um die 14 Mädchen unter 14 Jahren, die in Ecuador jeden Tag in Folge einer Vergewaltigung schwanger werden. Auch die Tatsache, dass bei der Staatsanwaltschaft jeden Tag elf Anzeigen wegen Vergewaltigung eingehen, wobei 95 Prozent der Täter zum engen Kreis der Opfer und Überlebenden gehören, wurde ignoriert. Der Regierungsapparat verweigerte die Gelder zur Ausführung des „Integralen organischen Gesetzes zur Verhinderung und Beseitigung von Gewalt gegen Frauen“ und kümmerte sich nicht um die zerstörten Lebensentwürfe der Opfer. Die Frauen vergaßen dies nicht. Sie würden – mit erhobenen Fäusten – ein neues Kapitel schreiben.

Sie hätte davon träumen können, Ärztin oder Sängerin zu werden. Sie hätte daran denken können, nachmittags mit Freund*innen zu spielen, sie hätte die Abenteuer genießen können, die das Leben lebenswert machen. Stattdessen wurde Lucía mit 14 Jahren dazu gezwungen, Mutter zu werden. Sie lebte mit ihren vier Schwestern und Brüdern, ihrer Mutter und ihrem Stiefvater zusammen. Statt von ihrer Familie umsorgt und beschützt zu werden, erlebte Lucía furchterregende Nachmittage allein mit dem Mann ihrer Mutter. Eines Tages gab ihr Stiefvater ihr dann einen Drink, um sie zu betäuben und zu vergewaltigen. Es gelang Lucía nicht, dieses schreckliche Kapitel aus ihrem Leben verdrängen und zu vergessen, wie auch, wo sie schwanger war? Sie konnte nicht zur Schule zurückkehren, hatte keine Betreuungsmöglichkeiten für ihr Kind und konnte keine Therapie machen, um das Trauma des Missbrauchs zu überwinden. Wusste der Staat, was sie, eine Überlebende, und ihr Kind, im Stillen durchlebten, während der Angreifer auf freiem Fuß war? Ja, der Staat wusste es und sah tatenlos zu.

Die Zahlen sprechen für sich: 2019 erschienen mehr als 4.000 schwangere Mädchen zu ihrem ersten Vorsorgetermin. Im Jahr 2020, mitten in der Pandemie und mit eingeschränktem Zugang zur öffentlichen Gesundheitsversorgung, waren es mehr als 3.400. Alle von ihnen wurden vergewaltigt. Und das sind nur die offiziellen Zahlen: tatsächlich zeigen nach Angaben der Frauenrechtsorganisation Surkuna nur 10,8 Prozent der Frauen und abtreibungsfähigen Personen, die Opfer einer Vergewaltigung oder anderer Sexualverbrechen wurden, ihre Angreifer an.

Zwischen August 2014 und Ende 2020 wurden 419 Frauen wegen Abtreibung verurteilt

Der Kampf für mehr Gerechtigkeit begann nicht erst 2013. Im November 2007 antwortete die Aktivistin Ana Cristina Vera auf die Frage, warum Abtreibung legalisiert werden sollte mit „Weil wir glauben, dass wir diejenigen sind, die das Recht haben, über unseren Körper zu entscheiden, zu entscheiden, wann wir Mütter sein wollen, zu entscheiden, ob wir Mütter sein wollen“.

Im Jahr 2008 lud Ana Cristina Vera die niederländische Organisation Women on Waves („Frauen auf Wellen“) nach Ecuador ein, um Frauen zu einer sicheren Abtreibung zu verhelfen. Das Prinzip von Women on Waves ist einfach, aber genial: Die Frauen machen einen Termin aus und segeln so lange, bis das Boot internationale Gewässer erreicht hat, wo die Prozedur mit sicheren und legalen Medikamenten durchgeführt werden kann, ohne Angst vor strafrechtlicher Verfolgung haben zu müssen.

Am 17. Juni des gleichen Jahres wurde die „Virgen del Panecillo“, die 41 Meter hohe Jungfrauenstatue im Herzen Quitos, mit einer Botschaft geschmückt, die bis heute im Gedächtnis der Menschen bleibt. Die Statue war mit einem weißen Transparent geschmückt, auf dem „Deine Entscheidung. Sicherer Schwangerschaftsabbruch“ sowie eine Notrufnummer für sichere Abtreibungen zu lesen war. Ana, ihre Gefährt*innen und Mitstreiter*innen sind Teil dieser Geschichte für die Anerkennung von Frauen und Mädchen als Menschen mit Würde und helfen ihnen, sich ihre Körper wieder aneignen zu können und ihre Stimmen zurückzugewinnen.

Auch am 28. April dieses Jahres versuchten religiöse Fanatiker*innen und Abtreibungsgegner*innen sich den Aktivist*innen entgegenzustellen. Getrennt durch eine Kette von Sicherheitskräften hielten sie ein Transparent auf dem „Familie, Tradition und Eigentum“ stand. Ein Mann – aggressiv, mit abgewetzter Totenkopfmaske – kletterte auf einen Baum, als wolle er sich auf die Frauen stürzen, und schrie: „Mörder, Mörder! Dies ist eine satanische Veranstaltung.“ Und während er sich als „Pro-Life“ bezeichnete, beleidigte er die Aktivist*innen, die Gerechtigkeit forderten. Die Frauen antworteten mit lauten Sprechchören, sie sangen und tanzten. Ohne Aggression, nur mit Umarmungen und in steter Wachsamkeit. Die Abtreibungsgegner*innen verstummten und verließen den Ort.

Cristina Cachaguay, nationale Präsidentin der Organisation Frauen für den Wandel, verkündete zunächst inoffiziell: „Es ist ein historischer Moment im Land. Der Kampf einer jeden von euch, der Genoss*innen aus dem Hochland, von der Küste und dem Amazonas, trägt heute Früchte. Die Richter des Verfassungsgerichts haben grünes Licht für die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs gegeben.“

„Es ist eine gewonnene Schlacht“

Im strömenden Regen schrien, weinten und umarmten sich die Frauen vor Freude. Die Bestätigung des Urteils stand noch aus, aber die Freude ließ sich nicht mehr zügeln, nicht nach so vielen Jahren, nach der Gewalt und dem Schweigen des Staates, für die 419 Frauen, die wegen Abtreibung zwischen August 2014 und Dezember 2020 verurteilt wurden. Es gab, wie man so schön sagt, Hoffnung. Ecuador – eine Nation, die die Angreifer schützt und „die Familie“ verteidigt, anstatt den Opfern zu glauben – könnte besser sein. Inmitten des Chaos und einer nicht enden wollenden Pandemie gab es einen Lichtblick. Am Morgen des 29. April verkündete das Verfassungsgericht dann das offizielle Urteil. Die historische Entscheidung wurde mit sieben Ja-Stimmen und zwei Nein-Stimmen gefällt. Am 28. April erklärte das Gericht die in Artikel 150, Absatz 2 des Strafgesetzbuches enthaltene Formulierung ‘bei einer Frau, die an einer geistigen Behinderung leidet’ für verfassungswidrig.

“Der Vergewaltiger bist du!” Die Choreographie des Kollektivs Las Tesis hallt durch Quitos Straßen (Foto: Karen Toro)

Der Beschluss ist eindeutig: Mädchen, Frauen, Jugendliche und Gebärfähige, deren Schwangerschaft das Ergebnis einer Vergewaltigung ist, werden nicht mehr kriminalisiert oder bestraft, wenn sie sich für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden. Auch kann das medizinische Fachpersonal, das die Eingriffe durchführt, nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden.

Blanca Chancoso, indigene Führungspersönlichkeit und eine der Gründerinnen der Konföderation der Kichwa-Nation Ecuadors (Ecuarunari), antwortet auf die Frage, was es für sie bedeutet Geschichte zu schreiben: „Es bedeutet Leben zu retten. Das, was heute erreicht wurde. Von Dorf zu Dorf, von Frau zu Frau. Wir sind so oft vergewaltigt worden, haben so viel Gewalt erlitten, seit wir Kinder waren. Auch wir, als indigene Frauen, sind verletzt worden. Dieses historische Urteil wird Leben retten und es ist sehr wichtig. Es ist eine gewonnene Schlacht. Frauen müssen sich nicht mehr an unsichere Orte begeben, an denen ihre Gesundheit bedroht wird, um abzutreiben. Sie sollen sich nicht verurteilt fühlen und wir sollen uns nicht verurteilt fühlen. Lasst uns weiter kämpfen um Chancengleichheit, für Bildung und Gesundheit.“

Die Entkriminalisierung der Abtreibung bei Vergewaltigung war dringend notwendig. Sie ist das Minimum. Die feministische Bewegung wird nicht müde. Sie ist bereit, die nächsten Schritte auf dem Weg zu einer liberalen Gesetzgebung zu ebnen. Wir werden nie wieder schweigen. Ja. So wird Geschichte geschrieben.

LYRIK AUS LATEINAMERIKA

Illustration: Luciana Amado Sandberg (@_lulu_lunera_)

Afuer (a) dentro

Llegué
dejé el pañuelo
el cartel
la bandera
los volantes
/me saqué
los borcegos
la ropa
/quedé
desnuda
de calle
de lucha
de marcha
de plaza
/te pedí
que me llenes
de algo
que sea
solo
de vos
y de mí


Drauß
en
drinn

Angekommen
das grüne Tuch*
das Transpi
die Fahne
die Flyer
abgelegt
/ mir
die Stiefel
die Klamotten
ausgezogen
/ ich blieb
nackt zurück
von der Straße
von der Demo
von der Plaza
/ ich wollte von dir
dass du mich füllst
mit etwas
dass nur
dir
und mir
gehört

* Das Pañuelo ist ein grünes Halstuch, das Symbol der argentinischen Bewegung für das Recht auf Abtreibung.

„SOS, SIE TÖTEN UNS“

„So viel Angst haben sie vor uns?“ Mauer in Mexiko-Stadt (Foto: Itzel Plascencia)

Ein Wall aus Metall, an einigen Stellen über drei Meter hoch, umgab von einem Tag auf den anderen großflächig den Nationalpalast und weitere Gebäude in Mexiko-Stadt. Bereits am 5. März ließ Präsident Andrés Manuel López Obrador ihn aufbauen, um das Regierungsgebäude von dem Protest der Frauen zu trennen, die drei Tage später zum Internationalen Frauenkampftag auf die Straße gingen. Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Noch am gleichen Tag twittert Patricia Olamendi Torres (ehemalige stellvertretende Staatsanwältin von Mexiko-Stadt) ein Foto der Mauer mit dem Satz „So viel Angst haben sie vor uns?“ und auch die mexikanische Investigativ-Journalistin Lydia Cacho fragte: „Kein Präsident hat die mexikanischen Frauen bisher so gefürchtet und die Einforderung unserer Menschenrechte. Vor was fürchten Sie sich, Präsident?“.

In mehreren seiner morgendlichen Pressekonferenzen diskreditierte López Obrador die Proteste und sprach von konservativen Gruppen, welche die feministischen Bewegungen unterwanderten, nur um ihn und seine Partei politisch zu schwächen. Die Frauen hätten jedes Recht protestieren zu gehen, Angst habe er nicht, er habe die Mauer nur gebaut, um die Aktivist*innen, die Polizei und die historischen Gebäude zu schützen.

Keine Mauer der Angst, sondern der Ignoranz


Bereits einen Tag nach dem Bau gestalteten feministische Kollektive die Mauer um: Sie verwandelten sie in einen Ort des Gedenkens an die in Mexiko ermordeten Frauen. In großen Lettern schrieben sie in weißer Farbe auf das dunkle Metall „Opfer von Feminiziden“ und darunter tausende Namen. Nachts wurden zudem leuchtende Forderungen auf den Nationalpalast projiziert, wie zum Beispiel „Legale Abtreibung, jetzt!“. Bislang gibt es diese nur in zwei Bundesstaaten.

Doch dabei blieb es nicht. Es folgten im Internet auf verschiedenen Plattformen Aufrufe, am darauf folgenden Nachmittag mit Blumen, Klebeband und lilafarbenem Papier vorbeizukommen. Die Teilnehmer*innen der Aktion steckten die Blumen an den Zaun, klebten sie zwischen die Namen, legten sie vor ihm ab. Eine beeindruckendes Meer aus Namen und Blumen entstand. Andere kamen zum Schauen, Lesen oder Gedenken vorbei. Am nächsten Tag, dem 8. März, gingen Fotos durch die Presse, wie Frauen auf der Demonstration diese Mauer schließlich eintraten.

Dieses Jahr gingen weit weniger Frauen auf die Straße als im vergangenen Jahr. Viele blieben zu Hause und protestierten online. So widmete sich beispielsweise das feministische Hacker*innen-Kollektiv Feminonymous México einer anderen Mauer: Sie hackten sich für einige Sekunden in den Twitter-Account der Regierungspartei Morena und tweeteten: „Nachricht an den Präsidenten López Obrador: Brich’ den Pakt, ansonsten wird brennen, was brennen muss! Wir sind böse, wir können noch schlimmer sein“. Die Nachricht war mit feministischen Hashtags und einem Link zu einem YouTube-Video versehen. In dem Video spricht eine vermummte Frau mit verzerrter Stimme, lilafarbenem Tuch und einer Anonymous-Maske auf dem Kopf. Sie droht unter anderem Informationen über weitere Morena-Kandidat*innen zu veröffentlichen, wenn López Obrador Felix Salgado Macedonio nicht seine Unterstützung entzieht. Letzterer ist als Morena-Kandidat Gouverneur für den Bundesstaat Guerrero. Mehrere Frauen beschuldigen ihn der Vergewaltigung, sexueller Übergriffe und/oder Gewalt an Frauen.

Mauer als Ort des Gedenkens an die in Mexiko ermordeten Frauen


Doch obwohl viele auch auf Grund der Covid-19-Pandemie zu Hause blieben, gingen immer noch tausende Frauen im ganzen Land auf die Straße. Einprägsame Bilder erinnern an diesen Tag. Im Fall von Mexiko-Stadt beispielsweise das zweier Frauen, die bereits vor Beginn der Demonstration an der Metro-Station Hidalgo von über 60 Polizist*innen eingekesselt werden. Sie umarmen sich fest, lassen sich nicht mehr los. Oder die Szene einer Frau, die während der Proteste auf dem zentralen Platz Zócalo steht und sieht, wie von der Polizei, die hinter dem Zaun steht, eine Rauchbombe auf die Demonstrant*innen geworfen wird. Sie rennt, lässt dabei den Wasserkanister los, den sie eben noch getragen hat, schnappt sich das rauchende Objekt, rennt wieder zu dem Metallzaun und wirft es zurück über die Absperrung. Die Frauen um sie herum jubeln. Im Netz wurde sie als #LaReinota (die große Königin) gefeiert.

Die polizeiliche Repression, die sich auch in diesen Situationen zeigt, hat nichts mehr mit der passiven und deeskalierenden Strategie bei den Protesten im August 2019 zu tun, als das erste Mal vermehrt Scheiben eingeschlagen und Monumente besprüht wurden. Diverse Verstöße seitens der Polizei wurden von unterschiedlichen unabhängigen Organisationen angeprangert. So fand die Brigada Humanitaria de Paz Marabunta (Humanitäre Brigade des Friedens Marabunta), welche seit mehreren Jahren zwischen Polizei und Demonstrierenden vermittelt, um Gewalt zu verhindern, auch Tränengas-Granaten, die vorherige Präsidenten eingesetzt hatten und von denen seitens der aktuellen Regierung versprochen wurde, sie nicht mehr einzusetzen. Für ihre Kritik am Polizeieinsatz wurde die zivile Organisation vom Präsidenten direkt verbal angegriffen.

Wie auch bereits bei den letzten Demonstrationen war der Fokus vieler Medien weder auf die Polizeigewalt noch auf die tanzenden und singenden Demonstrant*innen gerichtet, sondern auf den sogenannten autonomen schwarzen Block. Dieser lieferte, wie schon zuvor, medienwirksame Bilder: schwarz vermummte Frauen, mit Hämmern und Benzin ausgerüstet, schlugen Scheiben ein und legten Feuer. Spätestens seit August 2019 sind sie bekannt und stacheln jede feministische Demonstration an. Einige von ihnen besetzten im September mit Müttern von gewaltsam Verschwundenen die Menschenrechtskommission in der Hauptstadt. Aufgrund interner Differenzen verließen die Mütter den Ort, während der schwarze Block blieb und Frauen dort einen Zufluchtsort vor Gewalt anbietet.
Auch wenn die Demonstrant*innen immer wieder den schwarzen Block schützten („Wir waren es alle“), um sie vor Verhaftungen zu schützen, ist das Verhältnis zu den anderen feministischen Bewegungen nicht konfliktfrei. Ein großes Thema ist beispielsweise die Transfeindlichkeit des schwarzen Blocks. So lautete im März ein auf Instagram zirkulierender Aufruf: „Wir wollen keinen TRANSFEMINISMUS, weder deinen Papa, noch deinen Partner, noch deinen Freund etc. Wir möchten auch noch mal wiederholen, dass der Kampf für Frauen ist, DIE TRANS haben bereits ihren Kampf. Es wurde ihnen auf freundliche Art und wiederholt gesagt, dass sie nicht teilnehmen sollen, dies ist das letzte Mal, damit ihr uns die Scham erspart, euch bitten zu müssen zu gehen und euch rauszuhalten. Respektiert die RADIKALEN UND DEN SCHWARZEN BLOCK.“ Andere Feminist*innen, wie mehrere Mitglieder des feministischen Medienkollektivs Luchadoras (Kämpfer*innen), bedauerten und kritisierten diese Einstellung. Sie zeigten sich zum Tag der Transsichtbarkeit am 31. März solidarisch.

„Kinder sollten Träume haben, keine Särge tragen“


Allein zwischen dem Internationalen Frauenkampftag und dem Tag der Transsichtbarkeit zeigte sich wie wichtig die Proteste sind und wichtiger noch, ein entschiedener, schneller Wechsel der Politik in Bezug auf die Gewalt gegen Frauen nötig wäre. Am 22. März wurde der leblose Körper von Wendy (16) in Xonacatlán, im Bundesstaat Estado de México, in einem Abwasserkanal gefunden. Allein in diesem Jahr sollen nur in dem Bundesstaat bereits 39 Frauen ermordet worden sein, 26 davon werden als Feminizid eingestuft, berichtete in dem Zusammenhang die Wochenzeitung Proceso. Das Bild von mehreren Mädchen, die den Sarg ihrer Freundin Wendy zu Grabe trugen, ging durch die Medien und die Aktivistin Elvira Pablo kommentierte auf einer Veranstaltung der Vereinten Nationen bei der auch der französische Präsident Macron anwesend war: „Kinder sollten Träume haben, keine Särge tragen“. Nur wenige Tage später ging ein Video viral, das zeigt, wie die mexikanische Polizei in Tulum, im Bundesstaat Quintana Roo, auf offener Straße Victoria (36) ermordete. Sie war zweifache Mutter und Migrantin aus El Salvador mit Aufenthaltsstatus in Mexiko. Ihre Hände auf dem Rücken in Handschellen, lag sie bäuchlings auf der Straße im Staub während sich die Polizei auf sie stemmte, bis sie leblos am Boden lag. Später wurden in der Autopsie zwei gebrochene Halswirbel festgestellt.

Dies sind nur zwei von vielen Fällen von Feminiziden, die im März medial begleitet wurden und eine traurige Kontinuität vieler Fälle, die nicht diese Aufmerksamkeit bekamen.

Am 28. März haben die Kollektive, die schon vor den Demonstrationen feministische Parolen auf den Nationalpalast projizierten, wieder zu einer Aktion aufgerufen. Von 18 Uhr bis um 6 Uhr morgens des Folgetages kamen Freund*innen und Familien und lasen die Namen der seit 2010 über 4.000 gewaltsam Verschwundenen und/oder ermordeten Frauen vor. In leuchtenden Lettern waren die Namen und „SOS, sie töten uns“ auf der Fassade des Gebäudes zu lesen. Der Regierung und dem Präsidenten López Obrador wurden diese verzweifelten und wütenden Rufe nach Hilfe, die Aufforderung das Morden zu stoppen, wiederholt ins Gesicht gebrüllt. Doch die Regierung hat eine Mauer gebaut. Keine Mauer der Angst, sondern der Ignoranz. Das kostet in Mexiko jedes Jahr mehr Frauen das Leben. Im Durchschnitt werden am Tag zehn Frauen ermordet. Es ist zum Weinen. Es ist zum Schreien.

DAS PATRIARCHAT TÖTET WEITER

Wir sind alle Úrsula Der Feminizid an der 18-jährigen Úrsula Bahillo hat ganz Argentinien erschüttert (Fotos: Daniela Cilli)

„Wenn ich nicht zurückkomme, dann legt alles in Schutt und Asche“, schrieb die 18-jährige Úrsula Bahillo wenige Tage vor ihrem Tod auf Instagram. Und sie kam nicht zurück. Am 8. Februar wurde sie von ihrem Ex-Freund, dem Polizisten Matías Ezequiel Martínez, nahe der im Nordosten der Provinz Buenos Aires gelegenen Kleinstadt Rojas auf offenem Feld mit mehreren Messerstichen ermordet. Nach der Tat fügte sich Martínez selbst schwere Verletzungen zu und versuchte dennoch zu fliehen, als erste Einsatzkräfte den Tatort erreichten. Früher am selben Tag war er von der Hilfsstaatsanwaltschaft in Rojas darüber in Kenntnis gesetzt worden, dass er sich seiner Ex-Freundin nicht auf weniger als 200 Meter annähern darf. Es war nicht das erste gegen ihn ausgesprochene Annäherungsverbot, aber es blieb auf dramatische Weise ebenso wirkungslos.

Der Fall Úrsula Bahillo zeigt mit erschreckender Klarheit die Stellen auf, an denen bereits vor Jahren eingeführte Maßnahmen zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt in Argentinien nicht ausreichend in die Praxis umgesetzt wurden. Mindestens drei Anzeigen hatte die Betroffene allein in diesem Jahr gegen Martínez erstattet. Nachdem er das erste im Januar gegen ihn verhängte Annäherungsverbot mehrmals missachtet hatte, bat Bahillo den Friedensrichter Luciano Callegari um einen Antipanik-Knopf – ein kleines Gerät, welches bei Aktivierung automatisch einen Notruf sendet, die GPS-Daten übermittelt und das Geschehen aufnimmt. Jedoch war kein funktionierendes Gerät verfügbar. Bahillos Ersuchen wurde erst zwei Tage nach ihrer Ermordung stattgegeben. Callegari forderte damals auch ein psychologisches Gutachten von Bahillo an und trug so seinen Teil zu ihrer Reviktimisierung bei.

In der Zeitschrift Anfibia heißt es, Betroffene von geschlechtsspezifischer Gewalt würden bei dem Versuch, dem Teufelskreis machistischer Gewalt zu entkommen, in den nächsten Teufelskreis, den der institutionellen Gewalt, geraten. Und so auch hier: „Ich hätte nie gedacht, dass ich jemanden wegen geschlechtsspezifischer Gewalt anzeigen würde“, schrieb Bahillo auf ihrem Twitter-Profil, „Ich will die Letzte sein, die das tun muss.“ Polizei und Justiz nahmen die zahlreichen Anzeigen gegen ihren Ex-Freund nicht ernst; verzögerten ihre Arbeit; erkannten nicht einmal, dass der Täter bereits wegen anderer Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt hätte verurteilt werden müssen. Úrsula Bahillos Tod hätte, wie der so vieler Frauen und Queers, verhindert werden können.

Die politischen Maßnahmen sehen nur auf dem Papier gut aus

Hier zeigt sich, dass die politischen Maßnahmen der vergangenen Jahre auf dem Papier gut aussehen mögen, die zahlreichen Feminizide jedoch nicht stoppen. 59 Frauen und Queers sind laut der Nichtregierungsorganisation Observatorio contra la violencia patriarcal Lucía Pérez im Januar und Februar 2021 ermordet worden. Die Zahlen der Beobachtungsstelle MuMaLá belegen auch, dass bisherige Präventionsmaßnahmen nicht immer greifen: 17 Prozent der im Januar 2021 ermordeten Frauen und Queers hatten ein Annäherungs- oder Kontaktverbot gegen den Täter erlassen, nur vier Prozent hatten einen Antipanik-Knopf.

Schon frühere Regierungen hatten sich das Ziel gesetzt, der machistischen Gewalt ein Ende zu bereiten. Noch unter dem damaligen Präsidenten Mauricio Macri trat im Januar 2019 das Ley Micaela in Kraft, das jährliche verpflichtende Sensibilisierungsschulungen für Staatsangestellte auf allen Ebenen vorsieht, 2020 wurde jedoch nur etwa die Hälfte der Beamt*innen geschult.
Das unter Präsident Alberto Fernández gegründete Ministerium für Frauen, Geschlechter und Diversität rief 2020 einen zweijährigen Aktionsplan gegen geschlechtsspezifische Gewalt ins Leben, der finanzielle Unterstützung für Betroffene und Angehörige, die Schaffung neuer Schutzeinrichtungen, Sensibilisierungsprogramme und die Modernisierung der Hilfshotline 144 vorsieht.
Nach der historischen Entscheidung des argentinischen Parlaments zur Legalisierung von Abtreibungen Ende vergangenen Jahres (siehe LN 560) verkündete Fernández gar, „dem Patriarchat ein Ende bereitet“ zu haben. Die Bilanz der gerade einmal zwei Monate, die seitdem vergangen sind, und die Einzelheiten des Falls Úrsula Bahillo offenbaren das Gegenteil.

Es reicht! Landesweit wird gegen Feminizide protestiert

Dass Úrsula Bahillos Ex-Freund Martínez gewaltbereit ist, war schon lange bekannt – ohne Folgen. Möglicherweise war er zum Zeitpunkt von Bahillos Tod nur noch auf freiem Fuß, weil er Polizist war – wenn auch seit September 2020 suspendiert. Während Ermittlungen der Innen­revision wegen der Bedrohung einer Vorgesetzten wurde der Behörde bekannt, dass gegen Martínez zusätzlich eine Anzeige wegen der Vergewaltigung eines 14-jährigen Mädchens vorlag.

Der Mord an Úrsula hätte verhindert werden können

Die Innenrevision gab ein medizinisch-psychiatrisches Gutachten in Auftrag und entzog dem 25-Jährigen das Recht, eine Schusswaffe zu tragen. Im Fall der Vergewaltigung der 14-Jährigen hatte der Staatsanwalt zweimal die Verhaftung Martínez’ beantragt. Der erste Versuch im Januar wurde gerichtlich kassiert, auf ein zweites Ersuchen vom 4. Februar war nicht reagiert worden. Und während Martínez wegen des Feminizids an Úrsula Bahillo in Untersuchungshaft saß, verurteilte ein Gericht in Junín ihn am 22. Februar in einem anderen Fall geschlechtsspezifischer Gewalt an seiner Ex-Freundin Belén Miranda zu vier Jahren Haft. Die Beziehung der beiden, während der Martínez Miranda misshandelte und sie auch mit seiner Dienstwaffe bedrohte, lag da schon vier Jahre zurück.

Dass Polizisten gegenüber Frauen und Queers gewalttätig werden, ist keine Ausnahme. Landesweit wird laut einem Bericht des Dokumentationszentrums Correpi jeder fünfte Feminizid von Sicherheitskräften verübt. Weil viele Beamte die Dienstwaffe mit nach Hause nähmen, sei die Gefahr, als (Ex-)Partner*in eines Polizisten ermordet zu werden, 50 Prozent höher als im Durchschnitt. Bereits im Dezember erließ die Regierung ein Dekret, demzufolge Polizisten, die wegen geschlechtsspezifischer Gewalt angezeigt wurden, keine Waffen mehr tragen dürfen.

Jeder fünfte Feminizid wird von Sicherheitskräften verübt

Ohnehin fällt die hohe Zahl der Anzeigen gegen Polizisten ins Auge. Laut Recherchen des Portals Perycia, die sich auf behördliche Daten berufen, sind aktuell in der Provinz Buenos Aires knapp 6.000 Polizeibeamte im Dienst, die in den vergangenen sieben Jahren mindestens einmal wegen geschlechtsspezifischer Gewalt angezeigt wurden – also einer von neun Polizisten. 22 von ihnen arbeiten derzeit in Polizeiwachen, die auf ebenjene Form der Gewalt spezialisiert sind. In 80 Prozent führten die internen Ermittlungen lediglich zu einer kurzen Suspendierung vom Dienst.

Seit dem 8. Februar muss sich die Regierung dem Thema und dem Druck von Angehörigen wieder stärker stellen. Präsident Fernández zeigte sich erschüttert über den Feminizid an Úrsula Bahillo. Wenige Tage danach empfing er ihre Eltern im Präsidentenpalast und berief ein Treffen der Gouverneur*innen ein, um Pläne für eine nun angekündigte Bundesstelle für die Prävention und den Umgang mit Feminiziden, Travestiziden und Transfeminiziden zu schmieden.
Die politische Reaktion auf den Feminizid an Úrsula Bahillo ist gleichzeitig eine Antwort auf die bislang unerwiderten Fragen und Forderungen zahlreicher Angehöriger ermordeter Frauen und Queers. Organisiert im Colectivo Familiares Sobrevivientes de Femicidios haben sie seit Fernández‘ Amtsantritt im Dezember 2019 sechs offene Briefe mit der Bitte um Audienz an den Präsidenten geschickt. Ihre zentralen Forderungen wiederholen sich dabei immer wieder: volles Strafmaß und keine vorzeitige Entlassung für die Täter, finanzielle und unmittelbare Hilfe für die Angehörigen, die Umsetzung bestehender Maßnahmen. Zuletzt steht die Forderung nach staatlicher Anerkennung der Familien der Opfer. „Dieser Staat ist blind, taub und bestechlich. Wir sind es müde, dass all diese Fälle straflos bleiben. Und die Liste wächst weiter. […] Wir sind heute hier, aber wir wollen nicht, dass es auf diesem Platz noch mehr Angehörige werden“, so Marisa Rodríguez, die Mutter der 2017 ermordeten Luna Ortiz, gegenüber dem Nachrichtenportal lavaca.

„Dieser Staat ist blind, taub und bestechlich.“

Nach Úrsula Bahillos Tod füllten sich die Plätze und Straßen im ganzen Land. Schon als Familie und Freund*innen von Bahillos Tod erfahren hatten, waren sie spontan protestierend durch Rojas gezogen und vor der Polizeiwache durch die Beamt*innen angegriffen worden. Einige Tage nach dem Feminizid protestierten Tausende Menschen landesweit vor den Gerichten.

Die strukturelle Dimension der Verbrechen und das Versagen auf staatlicher Ebene sind klare Kritikpunkte der Protestierenden. Immer wieder wird gemahnt, dass Úrsula Bahillos Tod hätte verhindert werden können. So zitiert lavaca Alfredo Barrera, den Vater der 2019 ermordeten Carla Soggiu, bei einer Protestaktion: „Das mit Úrsula hätte nicht geschehen müssen und das mit meiner Tochter auch nicht. […] Hoffen wir, dass dies hier eine Wende ist und die bestehenden Gesetze jetzt angewandt werden.“ Soggiu hatte einen Antipanik-Knopf, sie betätigte ihn, doch keine Maßnahmen folgten.

Viele der Protestierenden gehen in ihren Forderungen noch weiter. So meint Mónica Ferreyra, Mutter von Araceli Fulles, deren Körper im Jahr 2017 erst Wochen nach ihrem Verschwinden aufgefunden wurde: „Ich fordere eine feministische Justizreform. Es ist vier Jahre her, dass sie meine Tochter ermordet haben und seitdem haben wir keine Gerechtigkeit.“ Dem schließen sich auch Hunderte von Aktivist*innen – darunter die Abuelas de Plaza de Mayo Nora Cortiñas und Estela de Carlotto sowie die Anthropologin und Feministin Rita Segato – in einem offenen Brief an Präsident Fernández an. Darin zeigen sie die Notwendigkeit konkreter Schritte im Kampf gegen sexualisierte Gewalt auf: die Erklärung des landesweiten Notstands und die sofortige Freigabe von Geldern für Betroffene und Behörden, eine bessere Zusammenarbeit zwischen juristischen Institutionen, den Sicherheitsbehörden und Verwaltungen zur besseren Informationsübertragung und Verknüpfung von Fällen. Weiterhin fordern sie besondere Schulungen für alle Beamt*innen und ein zentrales Melde- und frühzeitiges Alarmsystem für Anzeigen, das Betroffene 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche besser schützen soll. Hinter diesen konkreten Forderungen und Ideen zum Schutz von Frauen und Queers stehe jedoch die Forderung nach einer Justizreform unter Einbezug einer Geschlechterperspektive, so der offene Brief.

Für eine feministische Justizreform

Damit sprechen die Unterzeichner*innen auch das grundlegende Problem an. Härtere Strafen, effizientere Erfassung der Fälle und frühere Prävention können das Problem geschlechtsspezifischer Gewalt – wenn überhaupt – nur kurzfristig angehen. Langfristig lösen kann es nur breites gesellschaftliches Umdenken. So hält es auch Marisa Rodríguez, Mutter von Luna Ortiz, fest: „Wir brauchen eine Gesellschaft, die uns unterstützt.“ Eine Gesellschaft, in der Frauen und Queers sich sicher fühlen und selbstbestimmt leben und lieben können. Ohne Antipanik-Knopf, ohne die inzwischen so selbstverständlich von sich sorgenden Freund*innen und Angehörigen gestellte Frage „Bist du gut nach Hause gekommen?“, ohne Feminizide.

IN SCHÖNHEIT GETAUCHTE REVOLUTION


Bild: S. Fischer Verlag

Der Zuspruch für „Un violador en tu camino“ war und ist überwältigend, sowohl in Chile als auch international. Doch die breite Rezeption der Performance brachte auch unerwünschte Nebeneffekte mit sich. Unter anderem um diese geht es in dem zum 8. März in deutscher Übersetzung veröffentlichten feministischen Manifest des Kollektivs: Verbrennt eure Angst. Neben leidigen Selbstläufern wie Drohungen von Rechten und aus Kreisen selbsternannter „Lebensschützer*innen“, die ein striktes Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen fordern, wurden LasTesis von den chilenischen Carabineros, der nationalen Polizei, wegen mutmaßlicher „Erzeugung von Feindseligkeit gegenüber staatlichen Institutionen“ verklagt. Die Klage wurde kürzlich wieder fallengelassen, doch auch von Seiten der „Macholinken“, wie LasTesis sie nennen, wurden die Künstlerinnen massiv diffamiert – bis hin zu Verschwörungstheorien, die CIA würden das Kollektiv finanzieren, um so von sozial relevanten Themen wie Rente und Gesundheitsversorgung in Chile abzulenken.

Die hinter solchen Angriffen stehenden Mechanismen thematisieren LasTesis in ihrem Manifest aus einer kollektiven Position heraus: „Was eine von uns erlebt, erleben wir alle.“ Dieser erste Satz des Prologs deutet bereits an, warum LasTesis Schwesternschaft als die mächtigste Antwort auf die Vereinzelung und Individualisierung durch Kapitalismus und Patriarchat begreifen. Konsequenterweise ist der gesamte Text in der ersten Person Plural verfasst, die proklamierte Schwesternschaft vollzieht sich im Manifest auch performativ.

Der rote Faden ist die Dekonstruktion des Patriarchats

So wird in Verbrennt eure Angst deutlich, dass LasTesis Kollektivität als Motor für eine gerechtere, von diversen Personen gestaltete Gesellschaft verstehen, die Mechanismen intersektionaler Diskriminierung durch künstlerische Aktion bekämpft. Die Übersetzung von Theorie in Kunst – eines ihrer erklärten Ziele –, aber auch die Notwendigkeit eines interdisziplinären Ansatzes, der verschiedene Kunstformen in einer Aktion miteinander vereint, sind dabei Eckpfeiler ihrer Ästhetik und Strategie zugleich, eine breite Öffentlichkeit zu erreichen.

Das Kapitel, das sich dem Transformationspotenzial der Performancekunst widmet, ist das stärkste des Manifests. Denn hier zeigen LasTesis eindrucksvoll, welche Überzeugungen hinter ihrem künstlerischen Schaffen stehen, und wie sie feministische Theorie in die Praxis übersetzen: Indem sie aus der Hegemonie des geschriebenen Wortes ausbrechen und es in Aktion übersetzen. Der Kollektivanspruch, in der Aktion selbst und in ihrer Rezeption, steht dabei immer im Vordergrund.

Die bevorzugte Form der Umsetzung ist die Collage, eine nicht hierarchische Anordnungstechnik, die es den Zuschauer*innen ermöglicht, die einzelnen Elemente des Kunstwerks selbst immer wieder neu zusammenzusetzen. Genau diesem ästhetischen Prinzip folgt auch das Manifest. Die einzelnen Kapitel verweisen dabei implizit aufeinander, wobei einzelne Aspekte mehrfach aufgegriffen werden. Der rote Faden ist die Dekonstruktion des Patriarchats. Das Motto: Alles beseitigen, was uns schadet. Um dieses spinnen sich zahlreiche persönliche Anekdoten, Querverweise und historische und aktuelle Beispiele patriarchaler Gewalt und Gegenwehr in Lateinamerika. So springt der Text von aktuellen Themen wie der Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und der Kernfamilie als Ausdruck männlicher Dominanz hin zu einer cis-heteronormativen Justiz, die Betroffene reviktimisiere, und zu Unschuldsvermutungen zugunsten von Tätern, die andere Wahrheiten „niedermähen“.

Ein persönliches Manifest

Die Struktur des Manifests orientiert sich an unterschiedlichen Performances des Kollektivs, deren Texte den einzelnen Abschnitten voran-*gestellt sind. Einer der Abschnitte ist dem laut LasTesis „fatalen Bündnis“ aus Patriarchat und Kapitalismus gewidmet. Während die bereits erwähnte „Macholinke“ die feministische Bewegung diskreditiere und ihre Anliegen als zweitrangig markiere – ganz nach der Prämisse Klassenkampf zuerst, Feminismus später – zeigen LasTesis auf, wie konstruiert und gefährlich diese Trennung ist. Das fatale Bündnis thematisierte das Kollektiv bereits 2018 in ihrer ersten Performance „Patriarcado y capitalismo – Alianza Criminal“ („Patriarchat und Kapital, dieses Bündnis ist fatal“), die auf Grundlage der Schriften der italienischen Feministin Silvia Federici entstand. Diese argumentiert in ihrer Studie Caliban und die Hexe, dass der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus maßgeblich über die Ausbeutung und Zerstörung widerständiger, femininer Körper gelingen konnte. Denn wenn sich Frauen nicht ihrer vorgesehenen Rolle als Mutter und Hausfrau fügten, wurden sie als Hexen verfolgt und verbrannt. In ihren zahlreichen Referenzen auf die chilenische Geschichte machen LasTesis aber auch deutlich, dass patriarchale Gewalt in allen Gesellschaftssystemen tief verankert ist. So seien auch unter der sozialistischen Regierung Salvador Allendes Lesben, trans, inter und nonbinäre Personen nicht erwünscht gewesen.

Weibliche und dissidente Körper, das betonen LasTesis in ihrem Manifest, sind damals und heute Ort der Ausbeutung und des Widerstands zugleich. Für sie sind es diese vielgestaltigen Körper, die das Patriarchat Tag für Tag herausfordern. Das Patriarchat ist für sie Brutalität und Konkurrenzkampf. Beides Konzepte, die sie gänzlich aus der Gesellschaft entfernen wollen.
Trotz aller theoretischer Unterfütterung ist Verbrennt eure Angst keineswegs ein theoretisches Manifest, sondern ein sehr persönliches. Bisweilen ist es nicht ganz einfach, den damit verbundenen inhaltlichen Sprüngen zu folgen. Doch wer sich auf die fragmentierte Struktur einlässt, erkennt schnell die Zusammenhänge. Die Wut auf das Patriarchat und die kollektiven Reaktionen auf diese Wut sind jederzeit im Fokus.

Antworten darauf, wie eine postpatriarchale Gesellschaft konkret aussehen könnte, hat das Kollektiv noch keine – und das machen sie auch transparent. Aber LasTesis zeigen auch in ihrem Manifest wieder einmal, wie produktiv Wut sein kann. Und so endet der Prolog von Verbrennt eure Angst passenderweise mit einem Aufruf, queerfeministische Kunst ständig und überall zum Einsatz zu bringen: „Subversion, in Schönheit getaucht, ist Revolution.“

 

NEUER SCHWUNG FÜR ALTE DEBATTEN

Mexiko die Entscheidung in Argentinien macht Hoffnung, Foto: Producciones y Milagros Agrupación Feminista, Instagram: @produccionesymilagros

Die Reaktionen reichten von Verachtung bis Solidarität, nachdem der argentinische Senat am 30. Dezember vergangenen Jahres der Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen zustimmte. Während Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro die Entscheidung auf Twitter zutiefst bedauerte, feierten Feminist*innen weltweit und insbesondere in Lateinamerika in Solidarität mit den Genoss*innen in Argentinien.

Die hart erkämpfte Entscheidung des Parlaments in Argentinien, Schwangerschaftsabbrüche letztendlich zu legalisieren, wurde in vielen Ländern Lateinamerikas nicht nur in der Kommentarspalte erwähnt, sondern verleiht den bereits geführten Debatten auch andernorts neuen Schwung. „Wenn wir nach Argentinien blicken, gibt uns das Hoffnung“, erklärt Grecia Lozano vom Somos Muchas, einer Plattform die sich in Honduras für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und Zugang zu Informationen rund um das Thema einsetzt. „Es ist ein Zeichen, dass wir nicht alleine sind, wenn wir für reproduktive Gerechtig­keit für Frauen kämpfen.“

Abtreibungen sind seit jeher ein umkämpftes Feld. Mit dem Erstarken rechter und evangelikaler Strömungen in Politik und Gesellschaft ist es in vielen Ländern Lateinamerikas weiterhin für viele Frauen und Mädchen lebensgefährlich, eine Schwangerschaft zu unterbrechen, weil sie illegal und unter unsicheren Umständen durchgeführt werden muss. In einigen Staaten ist eine Abtreibung schlichtweg verboten, in vielen anderen darf eine Schwangerschaft nur bei lebensgefährlichen Komplikationen oder im Falle einer Vergewaltigung abgebrochen werden. Letztere muss allerdings meist erst gerichtlich anerkannt werden, was eine große Hürde für die Betroffenen darstellt. Zudem findet sexualisierte Gewalt oft im privaten Umfeld statt, in dem dann die Betroffenen dazu gedrängt werden, erst gar keine Anzeige zu erstatten. Landesweit legal sind Abtreibungen nur in Uruguay, Guayana, Französisch-Guayana, Kuba und nun auch in Argentinien.

„Argentinien hat Lateinamerika eine gehörige Lektion erteilt“

Argentiniens Schritt stärkt ohne Zweifel die Position feministischer Bewegungen in ihren Forderungen um sexuelle Selbstbestimmung. Denn dieser hat durchaus das Potential, den politischen Diskurs rund um die Legalisierung von Abtreibungen zu verschieben und verleiht ähnlichen Forderungen in anderen Ländern Nachdruck. Daher werden im Folgenden schlaglichtartig Reaktionen in anderen Ländern auf die Entscheidung aufgegriffen, um die Tragweite solcher Momente sichtbar zu machen.

Nur einen Tag nach der Zustimmung des Senats in Argentinien erklärte der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador, auch AMLO genannt, in Reaktion auf die Entscheidung in Argentinien, dass es an der Zeit wäre, über eine landesweite Legalisierung von Schwangerschafts­abbrüchen zu diskutieren. Teile seiner sozial­demo­kratisch ausgerichteten Partei Morena thematisierten seit dem Regierungsantritt 2018 gelegentlich eine mögliche Legalisierung. Vor dem Hintergrund, dass AMLO selbst in öffentlichen Ansprachen immer wieder die Einheit der Familie und traditionelle Rollenbilder betont, ist das dennoch eine bemerkenswerte Aussage. In Mexiko ist ein freiwilliger Schwangerschaftsabbruch lediglich in zwei Bundesstaaten legal. Während in Mexiko-Stadt bereits seit 2007 eine Abtreibung straffrei vorgenommen werden kann, gilt dies für den Bundesstaat Oaxaca erst seit 2019. In weiteren Bundesstaaten sind erst vor wenigen Monaten konkrete Gesetzesinitiativen in letzter Instanz gescheitert. Landesweit ist ein Abbruch unter anderem nur dann möglich, wenn das Leben der schwangeren Person in Gefahr ist oder eine Vergewaltigung nachgewiesen werden kann, die zur Befruchtung führte.

Konkret brachte AMLO am 31. Dezember auf Nachfrage bei einer seiner morgendlichen Presse­konfe­renzen eine Volksabstimmung über die Legalisierung von Abtreibungen ins Gespräch. Die mexikanische Historikerin Karla Motte erklärte in einem Interview, dass in der feministischen Bewegung mit all ihren internen Strömungen über eine Sache Konsens herrsche: „Das Recht auf körperliche Selbst­bestimmung.“ Der Kampf um die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ist ein zentrales Element dieses Rechts. Während einige, darunter auch Motte, in einer Volksabstimmung die Chance einer breiten öffentlichen Debatte sehen, kritisieren andere wie die Aktivistin Yunitzilim Pedrazo vom Kollektiv Marea Verde Quintana Roo eine Volksabstimmung, da dies suggerieren würde, dass es etwas zu verhandeln gäbe. Rechte müssten aber geschützt und garantiert und nicht verhandelt werden.

So schlägt der Ansatz auch in eine bekannte Kerbe: Andere, nicht Frauen selbst, entscheiden über ihre Körper. Dennoch ist es als Verdienst der feministischen Bewegungen zu sehen, die in Mexiko und Lateinamerika beständig Druck auf Institutionen und Gesellschaft ausüben, dass nun eine landesweite Legalisierung diskutiert wird, auch wenn diese aus feministischer Perspektive längst überfällig ist.

Auch in Honduras hat die argentinische Entscheidung Wellen geschlagen

Ähnlich wie in weiten Teilen Mexikos ist in Chile ein Abbruch nur in drei Fällen legal möglich: Wenn die Schwangerschaft Produkt einer Vergewaltigung, das Leben der Mutter in Gefahr ist oder das Kind bei einer Geburt nicht lebensfähig wäre. Nach dem Erfolg in Argentinien kämpfen feministische Organisationen sowie oppositionelle Abgeordnete in Chile nun für ein ähnliches Gesetzesvorhaben, das bereits 2018 auf den Weg gebracht wurde. Seit dem 13. Januar bearbeitet die Frauenkommission des Abgeordnetenhauses das Gesetzesprojekt, das wie in Argentinien Schwangerschaftsabbrüche bis zur 14. Woche legalisieren soll. Karol Cariola, Abgeordnete der kommunistischen Partei bekräftigt gegenüber dem Online-Portal Medio a Medio: „Es geht nicht, dass eine Frau das Risiko einer Haftstrafe eingehen muss, wenn sie sich aus guten Gründen innerhalb der ersten 14 Wochen für den Abbruch einer Schwangerschaft entscheidet. Diese Angelegenheit muss der chilenische Staat in die Hand nehmen. (…) Argentinien hat Lateinamerika eine gehörige Lektion erteilt und gezeigt, wie wichtig es ist, auf die Nöte und Forderungen organisierter Frauen einzugehen“. Dass das Gesetz angenommen wird, gilt allerdings als unwahrscheinlich – auch weil die chilenische Frauenministerin Mónica Zalaquett als Abtreibungsgegnerin gilt.

Auch in Honduras hat die argentinische Entscheidung Wellen geschlagen. Allerdings mit einem fatalen Ausgang für ungewollt schwangere Menschen. In dem zentralamerikanischen Land sind Schwangerschaftsabbrüche in allen Fällen verboten – auch wenn das Leben der schwangeren Person in Gefahr ist. Feministische Kollektive mobilisieren seit Jahren gegen die strenge Gesetzeslage und kämpfen dabei jedoch gegen eine zutiefst konservative und nationalistische Politik, sowie eine gut vernetzte evangelikale Bewegung. Am 21. Januar wurde eine Gesetzesreform verabschiedet, die eine Zustimmung auf eine drei Viertel Mehrheit im Kongress anhebt, um das Gesetz, das Schwangerschaftsabbrüche verbietet, überhaupt ändern zu können. Der Zusatzartikel, den Politiker*innen als „Schutzschild gegen Abtreibung“ bezeichnen, soll zukünftige Gesetzesinitiativen zur Entkriminalisierung von Schwanger­­schafts­­abbrüchen erschweren, und damit konkreten Initiativen hin zu einer Liberalisierung des Gesetzes einen Riegel vorschieben.

Der Abgeordnete der konservativen regierenden Nationalen Partei, Mario Pérez, bezeichnet das Gesetz als eine „Sperre“, die zur Abwehr von gesetzgeberischen Maßnahmen aus Südamerika, insbesondere in Argentinien dienen soll. Der Bezug auf die argentinische Kampagne zeigt, dass sie konservative Politiker*innen in anderen Ländern nervös macht. Die Situation für ungewollt schwangere Menschen in Honduras bleibt damit lebensgefährlich. Und dennoch sind antifeministische Positionen auch als eine Reaktion auf das Streben nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung von Frauen und Queers zu bewerten. Bei aller Fassungslosigkeit über solch eine Gesetzes­reform, darf der Widerstand von Frauen, die sich gegen eine zutiefst patriarchale Gesellschaft stellen, nicht aus dem Blick geraten.

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