KEINE POSTKARTE FÜR TOURIS


Als Rebeca Lane (siehe Interview) Anfang Mai in Berlin die Bühne der Kantine am Berghain betritt, jubelt die Menge. Fast alle sprechen Spanisch, sind textsicher und feiern die guatemaltekische Rapperin. Diesmal stellt Rebeca ihr neues Album Obsidiana vor, bereits ihr viertes als Solokünstlerin. Ihre Messages kommen auch in Deutschland an.

„Der Rap ist für mich ein Werkzeug, um über Dinge zu sprechen, die ‚man nicht sagt‘. Ich möchte die Dinge ans Licht bringen, über die meiner Meinung nach in der guatemaltekischen Gesellschaft gesprochen werden müsste.“ Rebeca Lane ist bekannt als Rapperin, politische Aktivistin und Feministin. Dies spiegelt sich in den Texten ihres neuen Albums wider, genauso wie in ihrer Auseinandersetzung mit den indigenen Traditionen Guatemalas: Der Obsidian, wie der titelgebende Song auf deutsch übersetzt heißt, ist ein Vulkangestein, das in der Kosmovision der Maya eine vielschichtige Bedeutung hat – als Werkzeug und in spiritueller Hinsicht. Der Obsidian hilft, verborgene Dinge ans Licht zu bringen.

Das Element Wasser taucht innerhalb des neuen Albums wiederholt auf – im Wortsinn, musikalisch und metaphorisch. Wasser ist für Lane die Verbindung zu vielen Kämpfen, „die aktuell in Zentralamerika geführt werden.“ In Llora el cielo („Der Himmel weint“) prangert die Rapperin die alltägliche Gewalt und den Machismo in ihrer Heimat Guatemala-Stadt an. Es fließen Tränen der Trauer und der Wut. Tzk’at thematisiert den Feminismo Comunitario (dt. komunitärer Feminismus, siehe Interview), wie er in den indigenen Gemeinden im guatemaltekischen Hochland entwickelt und praktiziert wird. Entstanden ist er nicht nur aus dem Kampf gegen den Machismo, er steht auch immer in Verbindung mit der Verteidigung des Territoriums und der Flüsse.

In Soy Centroamérica („Ich bin Zentralamerika“) dominieren Klänge der Karibik, es klingt nach dem Plätschern des türkisblauen Meeres, Palmen und Postkartenidyll. Unterstützt vom salvadorianischen Musiker Zaki rappt sie über diese existierenden Klischees, um ihnen gleichzeitig die andere Realität Zentralamerikas gegenüberzustellen. So heißt es im Song: „Unser Territorium ist umstritten // Unsere Gemeinden befinden sich im Kampf // Wir sind nicht passiv, wie in den Tourismusprospekten // Wir sind keine Postkarte, um in euren Zeitschriften zu erscheinen.“

Das neue Album verzichtet auf die für den Hiphop üblichen Samples, Musiker*innen spielten die Musik ein. Damit emanzipiert sich die Künstlerin von dem gängigen US-amerikanischen Sound des Rap und gibt ihren Songs einen eigenen Klang. Viele Lieder sind von traditioneller lateinamerikanischer Musik inspiriert, die Marimba aus Zentralamerika ist ebenso zu hören wie Rhythmen aus dem andinen Raum, die Produzent*innen des Albums kommen aus verschiedenen zentral- und südamerikanischen Ländern: Ihr Rap klingt nach Lateinamerika.
Daraus ist eine eklektische Mischung entstanden, die nicht nur durch ihre gelungene Verbindung von lateinamerikanischen Musikstilen und Hiphop überzeugt. Ihre politischen und feministischen Texte legen dort den Finger in die Wunde, wo die Regierungen Guatemalas und Zentralamerikas die Dinge lieber in den Mantel des Schweigens gehüllt lassen.


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// ALLES ÄNDERN

Der 8. März ist seit rund 100 Jahren weltweit als Internationaler Frauentag bekannt. Dass Frauen* an
diesem Tag keine Blumen, sondern Rechte wollen, ist schon lange klar. Aber durch die immer größer
werdende NiUnaMenos-Bewegung bekommt der Tag eine neue Bedeutung. An diesem 8. März wird
gestreikt – zum zweiten Mal organisieren Frauen* in 54 Ländern einen internationalen Frauenstreik.
Die tragenden Kräfte für die Mobilisierung sind in Lateinamerika, aber auch in den USA, Spanien und
Italien werden hunderttausende Frauen* am 8. März ihre Arbeit niederlegen. Und mit Arbeit ist nicht
nur Lohnarbeit gemeint, sondern auch unbezahlte und unsichtbare Arbeit in Haushalt, Fürsorge und
Pflege. Es reicht nicht mehr, nur zu demonstrieren, es wird gestreikt, sabotiert und blockiert, um auf
die verschiedenen Formen der Ungleichheit aufmerksam zu machen und Forderungen zu stellen.

„Aber was wollt ihr eigentlich genau?“ wurde die argentinische Aktivistin und NiUnaMenos-
Gründerin Marta Dillon gefragt. „Wir wollen alles ändern.“ Ganz einfach: alles. Denn patriarchale
Machtstrukturen durchziehen alle Bereiche unserer Gesellschaft – Politik und Wirtschaft,
Wissenschaft und Kultur, öffentliche Räume und Schlafzimmer, nehmen Einfluss auf unsere Liebesund
Arbeitsbeziehungen, die Autonomie über unsere Körper, die Verteilung von Macht und Reichtum.
Der neue Feminismus ist ein Feminismus, der die verschiedenen Kämpfe gegen Ungleichheit in sich
vereint und seine Kraft aus dieser Diversität schöpft. Er will die alten Grenzen überwinden und sucht
in der Zerstörung des Patriarchats zugleich die Zerstörung des Kapitalismus. Mehr Frauen* in
Chefpositionen reichen nicht aus, um die Welt besser zu machen. „Eine Revolution ist im Anmarsch“,
skandieren die Organisatorinnen des Streiks. Und das Potential, das sich in dieser Bewegung in
Lateinamerika formiert, ist überwältigend. Seit Anfang Februar finden überall in Lateinamerika
öffentliche Versammlungen zur Vorbereitung des 8. März statt, an denen in Buenos Aires über 1000
Frauen* teilnahmen. Die Redner*innenliste zählte über 100 Anmeldungen. Nicht nur Logistik und
Kommunikation des 8. März werden dort organisiert, die Versammlungen werden zu einem aktiv
handelndem Kollektiv, in dem sich die verschiedenen persönliche Erfahrungen einzelner zu einem
massiven gemeinsamen Widerstand verknüpft haben, der all die vielfältigen Kämpfe einschließt:
Kämpfe gegen sexualisierte Gewalt, gegen Feminizide, gegen die Feminisierung der Armut, gegen
rassistische und koloniale Gewalt und gegen Gewalt an von der Norm abweichenden Körpern. Aber
auch gegen die aktuellen neoliberalen Reformen und Sozialkürzungen, gegen staatliche Repression
und Ausbeutung.

In Argentinien ist der neue Feminismus zu einem unerwarteten politischen Akteur geworden, der
nicht mehr überhört und übersehen werden kann. Die rechtskonservative Regierung hat nun die längst
überfällige Debatte über die Legalisierung von Abtreibung zugelassen, wenn auch nur aus
Opportunismus. Eine Reaktion auf die Popularität der Bewegung und ihre massive Präsenz in der
Öffentlichkeit.

Deutschland hinkt hier etwas hinterher. Von dem rebellischen Kampfgeist der lateinamerikanischen
Frauen* können wir viel lernen. Hier gehen am 8. März nicht hunderttausende Frauen* auf die Straße,
um zu streiken. Vermeintlich sind die Notwendigkeiten nicht so drängend. Aber auch in Deutschland
ist sexualisierte Gewalt alltäglich: Im Jahr 2017 gab es mehr als 150 Feminizide und 211 versuchte
Morde an Frauen* – ein Anschlag pro Tag. Nur zehn Prozent aller Vergewaltigungen werden zur
Anzeige gebracht, nur ein Bruchteil führt zur Verurteilung. Die Lohnungleichheit ist eklatant und der
unzeitgemäße Paragraph 219a hat unlängst zur skandalösen Verurteilung einer Ärztin geführt, die
Abtreibungen durchführt. Nicht zuletzt hat #metoo deutlich gemacht, wie alltäglich Sexismus überall
ist, auch in linken Räumen. In den Erfahrungen und in den Körpern aller Frauen* liegen genug
Gründe, etwas zu ändern. Und nicht nur etwas. Einfach alles.


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„WIR MÜSSEN UNORDNUNG SCHAFFEN“

Feminismus setzt sich für die Gleichberechtigung von Frauen ein. Warum braucht es einen dekolonialen Feminismus?
Es gibt einen institutionellen Feminismus, wo es Glauben an den Staat und die Gesetze gibt. Dinge, bei denen sich meiner Meinung nach erwiesen hat, dass sie nicht ans Ziel führen, weder hier noch dort! Hier in Europa vielleicht noch eher, weil die Beziehung zwischen Gesellschaft und Staat eine andere ist. In unseren kreolischen Republiken dagegen ist die Staats-gründung als solche schon kolonial, die Staaten gehen aus der Kolonialisierung hervor und sind ihr Erbe. Die Staaten stehen daher außerhalb dessen, was sie regieren.

Was ist im Gegenzug dekolonialer Feminismus für Sie?
Ein Feminismus, der diese gerade beschriebene Struktur anerkennt und damit beginnt, an ihr zu arbeiten. Unsere Seite in der Geschichte ist die des Pluralismus. Was wir bekämpfen, sind Monopole. Was heißt das? Bei Monopolen gibt es eine einzige Wahrheit, eine einzige Gerechtigkeit, eine Vernunft, eine Logik, eine einzige Form des Guten. Das ist der Westen. Unser Kampf aber orientiert sich sehr an der Idee des Pluralismus. Es gibt verschiedene Wahrheiten, Welten, und verschiedene Formen des Guten. Am 8. März kommen die verschiedenen Formen des Feminismus zusammen, auch der von Catherine Deneuve.

Catherine Deneuve, die in der #Metoo Debatte für die „Freiheit zu belästigen“ geworben hat?
Na klar. Wenn ich sage, der Pluralismus ist unsere Seite der Geschichte, heißt das auch, dass wir neben dem dekolonialen Feminismus mit dem institutionellen Seite an Seite kämpfen können.

Worin besteht dekoloniale Emanzipation?
Ich kann nur von meiner eigenen Welt sprechen und verstehen, dass es andere Welten gibt. Deshalb ist es auch ein großer Fehler, wenn europäische NGOs mit großen Geldmitteln kommen, um lateinamerikanische und indigene Frauen zu lehren, was sie zu wollen haben. Das ist schlecht. Ich kann das an einem Beispiel erklären, das für mich selbst schmerzhaft ist. Selbstverständlich bin ich für das Recht auf Abtreibung und ich glaube, das Abtreibungsverbot ist Gewalt durch den Staat, weil Frauen gezwungen werden, ein Stück Fleisch in sich zu tragen, das sie nicht möchten. Trotzdem: Im Norden Brasiliens gibt es indigene Gemeinden, die gegen Abtreibung sind. Denn eines der wichtigsten Themen dieser Gemeinden ist ihre demografische Wiederherstellung. Sie wurden beinahe ausgerottet. Es gibt zum Beispiel Gemeinden, die zu einem Zeitpunkt nur noch auf 6 Personen kamen. Und heute sind sie 300. In dieser Gemeinde ist Abtreibung sehr eingeschränkt. Aber was passiert: Wenn eine Frau ein Kind bekommt, das sie nicht möchte, zirkulieren die Kinder in diesen Gemeinden. Dass ein Kind in einer Familie geboren wird und von anderen großgezogen wird, ist dort absolut normal.

In Ihren Abhandlungen schreiben Sie, dass Patriarchismus dem Kolonialismus vorausgeht.
Ich begründe das unter anderem damit, dass es auf allen fünf Kontinenten, wenn auch nicht in allen menschlichen Gesellschaften, so etwas wie den Adamsmythos gab: In einem primordialen Moment gibt es demnach eine idyllische und paradiesische Gesellschaft, in der es an nichts fehlt. Und die Frau, das Weibchen, begeht dann einen Fehler, ist ungehorsam, auf diverse Art und Weisen: Sie kümmert sich nicht richtig um die Herde, sie isst den Apfel, sie hinterlässt Menstruationsblut… Dafür wird sie bestraft, und verliert dabei ihren Wert und ihre Macht, aber vor allem ihre Unabhängigkeit.

In sehr vielen Gesellschaften gibt es in diesem sehr frühzeitigen Moment der Artenbildung, bei dem die Spezies Mensch entsteht, solch einen Ursprungsmythos. Artenbildung wäre in Wirklichkeit also Patriarchalisierung. Ein Moment, in dem die Muskelkraft des Männchens und seine höhere Aggressivität sich zu einem Narrativ transformieren, das wir heute als Mythos betrachten. Von diesem Narrativ behaupte ich, dass es politisch und nicht naturgegeben ist, weil es sich auf eine Ursprungserzählung bezieht und Gesetze braucht, also ist es politisch.
In diesem Sinne sage ich in einem meiner ersten Bücher (Las Estructuras elementales de la violencia), dass wir uns heute immer noch in einer patriarchalen Frühzeit der Menschheit befinden. Und da es sich um eine politische Ordnung handelt, kann sie verändert werden.

Das ist aber optimististisch, oder? Denn das heißt ja, dass das Beste uns noch bevorsteht.
Ja, ein bisschen. Entweder, wir schaffen es aus dieser patriarchalen Frühzeit der Menschheit heraus oder unsere Spezies wird verschwinden. Aber mein Denken ist nicht utopisch im Sinne eines utopischen Autoritarismus. Utopien können nämlich sehr autoritär sein. Das dekoloniale Denken geht von dem aus, was existiert, und nicht von einer Idee einer Gesellschaft, die von einem bärtigen Deutschen entworfen wurde (lacht laut). Nicht von einem „so sollte es sein“, das es nicht gibt. Das, wovon wir reden, gibt es wirklich. Natürlich hat es viele Mängel, die korrigiert werden müssen.

Wie wird in indigenen Gemeinschaften zum Beispiel der Gender-Binarismus überwunden?
Binarismus hat nichts mit Zwei zu tun. Es ist ein Irrtum, von Binarismus zu sprechen. Binarismus ist die Welt des Einen. Das Andere ist eine Funktion des Einen, wie ein Hebel. Das wurde im postkolonialen Denken aufgezeigt. In Opern, Romanen gibt es immer den Schwarzen oder den aus der Karibik, der dem Europäer sagt, dass er Europäer ist: Du bist der Eine. Das ist Binarismus. Und die Frau ist das Andere vom Mann, wo der Schwarze das Andere vom Weißen ist.

Heißt das: Es gibt in indigenen Gemeinden keinen Binarismus?
Es gibt Dualismus. Ich unterscheide zwischen Dualismus und Binarismus. Dualität ist eine der Formen von Pluralität. In der Dualität gibt es eine Vertauschbarkeit der Positionen. Der Kreolismus hat aber etwas zerstört, was sehr üblich in den indigenen Gemeinden war, nämlich die Vertauschbarkeit oder das Transitieren zwischen den männlichen und weiblichen Positionen. Es gab Frau-Männer und Mann-Frauen, und es gab Variationen von Männnlichkeit und Weiblichkeit. All diese Transiten werden mit dem Binarismus abgeschafft.

Diesen Binarismus bekämpfen auch westliche LGTBI*. Worin genau besteht der Unterschied im dekolonialen Feminismus der indigenen Gemeinden?
Der Unterschied ist, dass du von einer Suche nach Gleichheit redest. Das ist sicherlich ein respektabler Wert, aber das impliziert Gleichheit zwischen Individuen. So etwas funktioniert in indigenen Gemeinden nicht, denn es gibt Gruppen von Individuen oder Klassen.

In Ihren Abhandlungen sagen Sie: Statt einer Politisierung des Häuslichen braucht es eine Verhäuslichung des Politischen.
Wir könnten Knoten sein in einem Faden der Erinnerung, die durch den Prozess des Kolonialismus sehr angegriffen wurde. Das heißt, zurückfinden zu Formen, in denen Frauen kollektive Probleme lösten. Domestizierung würde dann heißen, dass Das Andere seine Art zu sein durchsetzt.

Und so kann man den Binarismus überwinden?
Ich glaube schon. Am vergangenen 8. März fiel mir der Slogan auf: „Für eine Welt ohne Hegemonien“. Das müssen wir verfolgen. Eine plurale Welt ist eine Welt ohne Hegemonien. Zuerst müssen wir Unordnung schaffen. Wir müssen Unordnung schaffen.


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TROTZ ALLEM: EIN FEST

Verónica Gago ist Aktivistin, Journalistin und Mitglied im Kollektivverlag Tinta Limón. Gago lehrt als promovierte Sozialwissenschaftlerin an den öffent­lichen Universitäten UBA und UNSAM in Buenos Aires (Foto: Florencia Tricheri)

Frau Gago, Sie sind seit der Entstehung von Ni Una Menos im Jahr 2015 in der Bewegung aktiv. Wie hat sich diese entwickelt und was ist das Neue an diesem Feminismus, der es schafft, hunderttausende Menschen auf die Straße zu bringen?
Die Bewegung ist größer und massiver geworden, aber auch mehr im Mainstream angekommen. Das bedeutet, die Fähigkeit der Femi­nismen, sich mit einer ‚sozialen Konfliktivität’ zu verbinden, ist gewachsen. Soziale Konfliktivität meint die sozialen Probleme, mit denen die Gesellschaft heute konfrontiert ist. Die Parole Ni Una Menos (Keine einzige weniger) hat eine große Reichweite und schafft es, das Problem der Feminizide in die Öffentlichkeit zu bringen. In diesem Rahmen fanden die massenhaften Proteste von 2015 und 2016 statt. Im Oktober 2016 haben wir zum ersten Mal zu einem Frauenstreik aufgerufen. Das war eine Wende, weil wir aus dem Drehbuch ausgebrochen sind. Da wurden wir gefragt: Aber was hat ein Streik mit einem Feminizid zu tun? Mit dem Instrument des Streiks konnten wir sagen: Es reicht mit der Gewalt.
Aber um Gewalt gegen Frauen zu verstehen, muss ein ganzes Muster an Gewalt verstanden werden, das mit der ökonomischen, politischen und sozialen und der repressiven Gewalt des Staates verbunden ist. Wenn wir nicht verstehen, wie die Formen der Ausbeutung, die Kürzungen der Sozialleistungen oder die aktuelle Sozialreform, die die Regierung von Mauricio Macri systematisch vorantreibt, den Alltag beeinflussen, können wir nicht verstehen, warum Frauenkörper zu einem privilegierten Territorium für verschiedene Formen von Gewalt werden.

Wie hat die Bewegung den Alltag von Frauen in Argentinien verändert? Gibt es ein vor und ein nach bzw. während Ni Una Menos?
Heute können wir dem Grauen der Gewalt die Fähigkeit zur Mobilisierung entgegensetzen. Das erzeugt ein Bild, ein Gefühl und eine Erfahrung von kollektiver Kraft auf zwei Ebenen. Es geht um Trauer und Wut, aber auch um Schmerz und um einen Kampf. Trotz allem ist es ein Fest: Dieses ermächtigende Gefühl, gemeinsam auf der Straße zu sein. Dort verurteilen wir die Feminizide, die die größte Stufe der Gewalt darstellen, aber auch die anderen alltäglichen Formen der Gewalt, die mit Familienbeziehungen und zwischenmenschlichen Beziehungen, aber auch mit staatlicher Gewalt zu tun haben.
Dieses Gefühl hat die alltägliche Erfahrung verändert. Dieser massive öffentliche Moment gemeinsamer Stärke kann damit verbunden werden, wie diese Stärke übersetzt wird. Das heißt, wie sie sich in unseren alltäglichen Beziehungen verbindet, sich konkretisiert und materialisiert, in den Formen, die wir haben, um diese Gewalterfahrungen zu erzählen. Und sie, während wir sie erzählen, auch auf bestimmte Weise zu konzeptualisieren. Das bedeutet zum Beispiel, dass in Argentinien nicht mehr von Verbrechen aus Leidenschaft gesprochen wird. Der Feminizid wird als politisches Verbrechen verstanden.

Die argentinische Frauenbewegung beschäftigt sich heute nicht nur mit explizit feministischen Themen, sondern bezieht Stellung zur aktuellen Regierungspolitik, positioniert sich zum Sozialabbau, staatlicher Repression oder Landkonflikten und ist dadurch heute zur größten oppositionellen Bewegung im Land geworden. Wie habt ihr es geschafft, diese Vielfalt an Themen in die Bewegung aufzunehmen und eine gemeinsame Position dazu zu finden?
Die feministische Bewegung hat es geschafft, eine Vielzahl von Stimmen, Beschwerden und Forderungen in sich zu vereinen und verschiedene Themen auf besondere Art zu artikulieren. Zum Beispiel die Landkonflikte der indigenen Mapuche, die kriminalisiert und verfolgt werden, mit denen feministische Organisationen Bündnisse eingegangen sind. Wir wollen wissen, was diese Aggression und Gewalt gegen Körper und Territorium ausmacht.

Es geht um die Fähigkeit, die aktuelle Sozialreform aus einer feministischen Diagnose heraus zu verstehen, warum sie ganz besonders Frauen betrifft – als vormalige Empfängerinnen von Kindergeld oder von Rentenansprüchen aus unbezahlter oder informeller Arbeit als Hausfrauen oder Hausangestellte. Oder es geht darum, die Gewerkschaften zu hinterfragen und uns dabei mit den Genossinnen zu verbünden, die die vertikalen Strukturen in den Gewerkschaften bekämpfen und sie für interne Demokratisierungsprozesse öffnen wollen. Wir befassen uns mit dem patriarchalen Justizsystem, mit dem Zugang zum Gesundheitssystem und mit den Forderungen der Migrantinnen, die auf die rassistische Politik dieser Regierung hinweisen. Wir haben ein ganzes Geflecht aus Forderungen geknüpft, mehr als nur das, es ist ein Geflecht aus Kämpfen. Was diesen Grad der Politisierung der feministischen Bewegung ermöglicht hat, ist, dass wir aus den Grenzen ausgebrochen sind, aus jener Begrenzung, die uns oft auf eine ‚Gender-Agenda’ limitieren will. Als könnten wir nur über geschlechterspezifische Themen sprechen, die ihre Sprache, ihre Kodes und vor allem ihre Grenzen haben.

Wir haben damit gebrochen und einen sehr langen und arbeitsreichen Prozess öffentlicher Versammlungen angestoßen, in dem der Streik als politischer Prozess entwickelt wurde. Der Streik vom 8. März hat wie ein organisatorischer Horizont für die Vielfalt an Forderungen und Beschwerden und vor allem der verschiedenen Kämpfe funktioniert. Diese verwebte Artikulation untereinander macht aus dieser Bewegung eine absolut politische, radikale, massive und transversale Bewegung.

Angesichts der Größe der Bewegung scheint es fast unmöglich für konservative oder reaktionäre Teile der Gesellschaft, feministische Forderungen zu ignorieren. Wie sind die Reaktio­nen aus diesen Kreisen und wie positio­nieren sich auch gerade konservative Frauen zu den Forderungen der Bewegung?
Es gibt zwei Reaktionen, eine traditionellere aus den konservativen Teilen der Gesellschaft und einen Versuch der neoliberalen Übernahme unserer Forderungen durch die Regierung. Eine starke Diskussion gibt es um die Forderung nach Entkriminalisierung und Legalisierung der Abtreibung, gegen die konservative Teile der Gesellschaft unter starker Beachtung bestimmter Medien demonstrieren. Das ist eine klare Reaktion auf die Ausmaße, die der Ruf nach Recht auf Schwangerschaftsabbruch mittlerweile in unserem Land angenommen hat. Auch weil diese Forderung das Potenzial hat, verschiedene Debatten über Kirche, Selbstbestimmung der Körper und rassistische und klassistische Dimen­sionen der Abtreibung zu verbinden. Denn auch wenn Abtreibung illegal ist, können Frauen aus Mittel- und Oberschicht in privaten Kliniken sicher ihre Schwangerschaft abbrechen.

Die Reaktion der Regierung ist neoliberal. Es wird versucht, Präsident Macri als jemanden zu inszenieren, der offen für eine feministische Agenda sei. Er hat gesagt: ‚Ich bin ein später Feminist’. Die regierungstreuen Medien haben diesen Versuch der Regierung, die feministische Agenda zu kapern, gefeiert. Präsident Macri hat in einigen Parlamentssitzungen den Mutterschutz und die Lohnungleichheit angesprochen und Gesetzesprojekte eingebracht. Wir finden, das ist eine opportunistische Nutzung unserer Forderungen, die in einem Kontext von Massenentlassungen und totaler Prekarisierung von angestellten und informellen Arbeiterinnen und Gewerkschafterinnen, einer massiven Kürzung von staatlichen Sozialleistungen und der aktuellen Sozialreform zu sehen ist.

Die großen Mobilisierungen zum Frauen*streik am 8. März und anderen Demonstrationen sprühen vor Kampfgeist und Freude und beschwören eine Revolution. Wie geht es weiter?
Durch die Veränderung der sozialen Beziehungen und der Machtbeziehungen, die durch diesen Prozess ständig ausgeübt werden, ist er unumkehrbar geworden. Es ist eine Revolution auf den Straßen, in den Betten, auf den öffentlichen Plätzen und in den Häusern. Die feministische Dynamik hat auch die Schülerinnen eingenommen, heute stellen sie sich einer Bildungsreform entgegen oder machen klar, wie wichtig integrale Sexualkunde ist – ein anderes Projekt, das die Regierung abschaffen will. Am Streik haben auch Kleinbäuerinnen teilgenommen, denn eine ganze Dimension des Feminismus beschäftigt sich mit sozialen und territorialen Konflikten und großen neoextraktivistischen Projekten in der Region.

Wenn dieser umfassende und vielfältige Feminismus sich in Verbindung mit einer wach­senden sozialen Konfliktivität weiterentwickelt, hat er die Fähigkeit, weiterhin eine gemeinsame Ebene hervorzubringen, in der Kämpfe zusammenwachsen, in der es ein konkretes materielles Muster verschiedener verknüpfter Institu­tionen und Initiativen gibt, um Erfahrungen zu artikulieren. Der Feminismus als gemeinsamer Code, der heute eine politische Orga­nisations­­kraft ­in den Stadtvierteln, Gewerk­schaften und Uni­versitäten hervorbringt. Wir sehen auch, dass diese so mächtige und kämpfer­ische Stärke eine schwere Gegenoffensive erlebt.

Seit längerem charakterisieren wir das Problem der Feminizide als den Moment, in dem der Körper der Frau als Feld der Auseinandersetzung und als Kriegsbeute offensichtlich wird. Zum Beispiel die kürzliche Ermordung der brasilianischen Politikerin Marielle Franco, aber auch die Ermordung der Menschenrechtsaktivistin Gavis Moreno in Ecuador oder die Inhaftierung verschiedener indigener Genossinnen, die seit Jahren wegen Rückforderungen ihrer Territorien im Konflikt stehen. Wir beobachten durch die Ermordungen von wichtigen Führungsfrauen ein Aufrüsten der politischen, polizeilichen und kirchlichen Kräfte in diesem Krieg. Es war kein Zufall, dass Marielle Franco eine Frau war, die den Nukleus rassistischer Gewalt, die Militärpolizei in den Favelas, diskutiert hat. Hier in Argentinien passiert das Gleiche mit den Müttern, die die Übergriffe der Polizei auf Kinder und Jugendliche in den Armenvierteln öffentlich machen. Frauen, die die kollektive Kraft nutzen und daraus eine mächtige Stimme machen, werden zum Ziel der Kontraoffensive einer misogynen Reaktion auf diese politische Kraft.

Zwar sind die Verhältnisse in Deutschland anders, aber auch hier müssen wir gegen sexualisierte Gewalt kämpfen. Was können wir von eurer Bewegung lernen?
Nach und nach übersetzen sich die Erfahrungen der Organisierung, der Radikalisierung und der Art und Weise, die soziale Konfliktivität zu verstehen, und finden zueinander. Und gleichzeitig taucht in jedem Ort und jedem Konflikt die Frage auf, was es bedeutet, sich diesen Konflikt in der feministischen Bewegung zu eigen zu machen. Die Hauptaufgabe ist es, die sozialen Konflikte aufzuzeichnen, über Strategien für Bündnisse nachzudenken und ausgehend von diesen konkreten und ungewöhnlichen Allianzen einzugreifen. Ungewöhnlich in dem Sinne, dass ganz verschiedene Akteurinnen und Kräfte miteinander kommunizieren können, sich zusammenfinden und vermischen. Und dann für eine Aktion zu mobilisieren, aus gerade dieser Vielfalt heraus, aus der sich heute die Kraft des Feminismus zusammensetzt.


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ES KOMMT IMMER ETWAS NEUES

Nein heißt Nein Marielle Franco (Foto: privat)

Im Jahr 1975 organisierten Frauen in der Brasilianischen Pressevereinigung (ABI) in Rio de Janeiro eine Veranstaltung über die Situation der Frauen in Brasilien. Mehr als 400 Menschen nahmen teil. Daraus entstand die erste feministische Organisation Brasiliens, das Zentrum der Brasilianischen Frau (CMB). Mehr als vier Jahrzehnte danach besetzten wir denselben Ort, jetzt als Frauen, Schwarze, Trans, Favela-Bewohnerinnen, Lehrerinnen, Frauen aus dem Nordosten, Mütter – also als Frauen in ihrer ganzen Diversität.

Während der damaligen Veranstaltung kritisierten Schwarze Frauen die ABI: Obwohl dort wichtige Persönlichkeiten im Kampf gegen die Diktatur vertreten waren, gab es keine Debatte über die verschiedenen Formen des Frauseins. Ende November 2017 verwandelten wir die ABI in einen Raum der politischen Debatte. Eine sehr lebendige Debatte, voller Nuancen, in der 500 von uns bekräftigten, dass wir die Politik erobern werden, die Herrschaftsräume, jedoch nicht bloß über Quoten. Es gibt zweifellos einen neuen Moment, einen Weg als Reifeprozess der Frauen hin zur Aneignung der Getriebe der Macht.

Wir gelangten in das Jahr 2018, indem wir die Früchte des jahrzehntelangen Frauenkampfes für bessere Lebensbedingungen und mehr Gleichberechtigung in Entscheidungsräumen ernteten. In diesem Zeitraum wurde der Feminismus zweifellos diverser, vor allem was Forderungen zu Rassismus, sexueller Orientierung und Geschlechteridentität angeht, aber auch verschiedenen Erfahrungen des Frauseins, wie etwa Mutterschaft. Diese Diversität fand auf der Straße Ausdruck, bei den Kundgebungen und in den sozialen Netzwerken, durch Websites, Apps, Blogs und Videos.

Es wird viel darüber gesprochen, dass wir eine neue Welle des Feminismus erleben, dabei impliziert das Bild einer Welle die Idee von einem Bruch, der in der Geschichte so nicht passiert. Die Medien verbreiten die Idee, dass es einen „neuen Feminismus“ gibt, aber in Wahrheit ist das, was wir erleben, die Übereinstimmung verschiedener Formen von Feminismus. Denn selbst bei sehr unterschiedlichen Handlungsstrategien haben wir die gemeinsame Überzeugung, dass das Internet ein Ort des Dialogs und der politischen Vernetzung ist. Der brasilianische Feminismus von heute ist nicht nur jung und ermächtigt. Die Hashtag-Feministinnen und die historischen Feministinnen treffen sich in der gemeinsamen Aktion. Der Feminismus als Ganzes ist vielfältig, divers und kann Gemeinsamkeiten hervorbringen.

Unsere Präferenz erstaunt den männlichen, weißen und heteronormativen Klüngel

Seit der Wahl 2010 erleben wir eine politische Phase, die durch tiefgreifende Widersprüche gekennzeichnet ist. Man bezeichnet diese Widersprüche als Genderfragen. Demonstrationen und Kampagnen zeigten: Diversität muss politisch repräsentiert werden. Frauen zeigten sich als politische Kraft im gesellschaftlichen Machtgefüge, besonders die Schwarzen und die indigenen Frauen. Wir übernahmen die Rolle, aufzuzeigen, was wirklich „neu“ in der Politik wäre: Das Spiel umzudrehen, aus der Position der Unterordnung in der Gesellschaft herauszukommen, um die Räume des Diskurses, der programmatischen Entwicklung, der Projekte und der Entscheidungsfindung zu besetzen.

Obwohl wir einige wichtigen Orte besetzt haben, sind Frauen in der Politik weiterhin unterrepräsentiert, und Schwarzen Frauen erst recht. Wir Schwarze Frauen bilden zirka 25 Prozent der brasilianischen Bevölkerung, wie eine Volkszählung des Brasilianischen Instituts für Geographie und Statistik (IBGE) von 2010 zeigt. Laut der „Darstellung der Ungleichheiten von Gender und Rasse“ (Ipea, 2015), bilden wir auch den größte Anteil der Arbeitslosen, derjenigen, die ohne Sozialversicherung arbeiten, als Hausangestellte oder mit dem geringsten Haushaltseinkommen pro Kopf. Dies ist keine zufällige Situation, sie ist Frucht einer zivilisatorischen Entwicklung, die es geschafft hat, den Körper der Schwarzen Frauen zu entmenschlichen und zu einem Objekt zu machen.

Inmitten von so viel Ungleichheit, so viel Rassismus und Sexismus, die darauf bestehen, uns zu vergewaltigen, ist es erstaunlich, wie viele schwarze Frauen es in die Institutionen geschafft haben. Unsere Präsenz erstaunt den männlichen, weißen und heteronormativen Klüngel. Gleichzeitig stehen wir vor der Herausforderung, ein politisches Projekt zu konstruieren, das die Frauen, die uns bis hierher geführt haben, nicht ausschließt, sie nicht zweitrangig macht. Ein Projekt, bei dem die Kämpfe der verschiedenen Bewegungen gleichzeitig geführt werden.

Ironischerweise befanden sich die Frauen, die sich 1975 versammelten, im Kampf gegen die Militärdiktatur. Heute stehen wir einer illegitimen Regierung gegenüber, die die täglichen Angriffe auf unsere Rechte und Freiheiten bestärkt. In einer Gesamtsituation voll schwerer Rückschritte und konzertierter Aktionen der religösen Kräfte im Parlament schaffen Frauen es trotzdem, Veränderungen in der Gesetzgebung durch sehr unterschiedliche Feminismen und durch gegenseitige Stärkung zu verhindern. Wir üben Widerstand gegen die täglichen rassistischen Attacken und versuchen Wege zu finden, um die Situation des Elends zu überwinden, in die Menschen aus den Favelas, der Peripherie und auf dem Land durch die Krise gekommen sind. Gleichzeitig stärken wir Initiativen der Solidarökonomie und Bewegungen wie die der Obdachlosen und der Landlosen.

Dank Gruppen wie PretaLab (Initiative Schwarzer und indigener Frauen in neuen Technologien, Anm. d. Redaktion), dank der Ausbildung über digitale Sicherheit der Freien Feministischen Universität, des MariaLab (Kollektiv feministischer Hackerinnen, Anm.d. Red.) und der Schwarzen Bloggerinnen, üben wir Widerstand gegen die Verbreitung des Hassdiskurses und gegenüber neuen Formen von Gewalt, die im Virtuellen stattfinden. Wenn wir den Slam das Minas („Wettstreit der Mädchen“, Anm. d. Red.) hören, die die Poesie der Frauen aus verschiedenen Regionen aufgreifen und die Idee der „Battles“ neu erfinden – anstatt im Poetry Slam zu konkurrieren, stehen sie Seite an Seite, und ergänzen sich in der Performance – dann wissen wir, wer wir sind: Stimmen, die sich zuhören, sich annehmen, die die ganze Zeit Politik machen. Dieser Widerstand ist auch in seiner Ästhetik neu!

Die Bewegung A PartidA Feminista mobilisiert, um Kandidatinnen aufzustellen und eine Debatte darüber zu führen, wie wichtig es ist, engagierte Feministinnen für die Projekte des Wandels zu wählen. Die Bewegung, die 2015 entstand als Aktivistinnen sich versammelten, um den Sinn und die Möglichkeit einer feministischen brasilianischen Partei zu diskutieren, vereinigt Kollektive von Frauen verschiedener Parteizugehörigkeit und verschiedener Bewegungen aus ganz Brasilien. Anders formuliert: Die Wahlen von 2018 werden durch organisierte Gespräche geschwängert. Initiativen für eine vielfältigere Repräsentierung sollen erneuert werden, ebenso wie Instrumente für die kollektive Finanzierung von Kampagnen.

Bei unserem kürzlichen Treffen in der ABI gingen wir von der Idee aus, dass „eine Frau die nächste mit sich zieht“ – einer der Slogans des Protestmarsches der Schwarzen Frauen von 2017. Wir versammelten Frauen, die sich auf dem politischen Schauplatz von Rio de Janeiro hervorhoben und die potenzielle Kandidatinnen in Machträumen sind: In Länder- und Bundesparlamenten, Gewerkschaften, Parteien und verschiedenen Vereinen. Dabei ging es vor allem um Schwarze Frauen. 2016 haben wir diese Botschaft verbreitet, und hier in Rio de Janeiro bleiben wir an der Spitze der Kommission der Frau, um die Debatte über Gender im Parlament aus unserer Perspektive anzuführen.

Talíria Petroni steht vor der Herausforderung, als einzige Frau im Stadtparlament von Niterói ein Schwarzes Regierungsmandat zu konstruieren, feministisch und an der Basis orientiert. Áurea Carolina in Belo Horizonte schafft die Neuheit eines „weiblichen Parlamentsbüros“, offen für die verschiedensten Kämpfe und gleichzeitig offen für Zärtlichkeit, Poesie und Selbstfürsorge. Wir lernen zusammen, wir suchen Formen, Politik zu machen, die keine reine Reproduktion des Immergleichen ist, weil uns dies stärker macht, um die Räume in den Institutionen zu besetzen, trotz aller Rückschritte. Aber wir möchten nicht alleine in diesem Raum bleiben, wir wollen mehr Menschen, die die Politik verändern.

Die kürzliche Veranstaltung in der ABI wurde durch ein parlamentarisches Mandat initiiert, aber nicht nur. Ein Netzwerk von unabhängigen Frauen mit Parteizugehörigkeit, schloss sich zusammen, um dieses Treffen zu fordern und zu organisieren. Nur für sich betrachtet enthüllt diese Initiative schon einen neuen Moment. Das politische System, so wie es heute (nicht) funktioniert, muss dringend verändert werden. Wir setzen darauf, dass andere Frauen gestärkt werden, um Herrschaftsräume zu besetzen. Und deshalb kann kein politisches Projekt der Linken die Fragen ignorieren, die wir aufwerfen. 2018 – wir kommen!


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ATTACKEN IM INTERNET

Mit Luchadoras, Kämpferinnen, sind nicht nur Sie und die anderen Mitwirkenden der Plattform gemeint, sondern auch all diejenigen, deren Geschichte Sie erzählen. Wie kam es dazu?
Luchadoras sind für uns all die Frauen, die Tag für Tag für ihre Rechte kämpfen und Widerstand leisten. Damit sind nicht nur Aktivistinnen oder Menschenrechtsverteidigerinnen gemeint, sondern all die, die den Binarismus der Geschlechter sprengen und Frauen ein würdevolles Leben ermöglichen wollen. Die Idee entstand aus dem Wunsch unserer Mitstreiterin Lulú Barrera, von denjenigen Frauen zu erzählen, die in ihren jeweiligen Gemeinden unglaubliche Änderungen hervorgerufen haben, die aber in den mexikanischen Massenmedien nicht repräsentiert wurden. Die Webseite entstand mit dem Ziel, ein Archiv dieser Geschichten aufzubauen.

Wie gehen Sie dabei konkret vor?
Die Sektionen der Webseite orientieren sich an den Ideen der feministischen Bewegungen in Lateinamerika. Im Bereich „Vivas nos queremos“ („Wir wollen uns lebendig“) finden sich Beiträge zu Feminiziden. Wir möchten dabei jedoch nicht die Opferperspektive oder die des Schmerzes einnehmen, sondern die Geschichten aus dem Leben heraus erzählen und sie in Ehren halten. Mich interessiert zudem besonders das Thema Sport. Wir haben beispielsweise die Geschichte von Daniela Velasco aufgegriffen, einer Athletin und paralympischen Medaillenträgerin, um diese aus einer nicht paternalistischen Perspektive zu erzählen, die ihre Stärken und Fähigkeiten hervorhebt. Die Firma Nike hat uns schließlich zu einem Forum eingeladen, auf dem unser Video gezeigt wurde. Sie kannten die Geschichte Danielas zuvor nicht und haben daraufhin entschieden, sie bei den paralympischen Spielen in Japan 2020 zu unterstützen. Für uns ist es toll, dass unsere Arbeit einen solchen Einfluss haben kann.

In Mexiko haben große Teile der Bevölkerung noch immer keinen Zugang zu Internettechnologien. Inwiefern haben diese die feministischen Bewegungen dennoch beeinflusst?
Globale Bewegungen wie „Me too“ haben uns an den Hashtag „Mi primer acoso“ („meine erste Belästigung“. s. LN 513) in Mexiko und die darauffolgenden landesweiten Demonstrationen erinnert. Die Auswirkungen dieses Hashtags waren unglaublich, Frauen begannen auf Twitter ihre Geschichten zu teilen und ohne diesen wären viele von ihnen vielleicht nicht sicher gewesen, dass das, was der Onkel, der Cousin oder der beste Freund getan hatte Gewalt war – und nicht in Ordnung. Die Geschichten der anderen haben uns die Kraft gegeben, um über die eigenen Missbrauchserfahrungen zu sprechen. Die Analyse des Hashtags sagt Schlimmes über unsere Gesellschaft aus. Die meisten Vergehen wurden im Familien- und Bekanntenkreis begangen, und in den meisten Fällen waren die Betroffenen im Kindesalter oder Jugendliche. Dementsprechend war die Demonstration zwei Tage später die größte an der ich jemals teilgenommen habe. Hunderte von Missbrauchsfällen wurden so öffentlich gemacht. Natürlich längst nicht alle, unter anderem weil nicht alle Menschen in Mexiko Zugang zu Twitter haben. Es gibt jedoch Initiativen. Zum Beispiel hat eine Gemeinde in Oaxaca, die bisher vom Telefonnetz ausgeschlossen war, ihr eigenes Netz aufgebaut.

Der Hashtag „Mi primer acoso“ hat jedoch nicht nur gezeigt, dass das Internet sich für die Vernetzung von Frauen eignet, sondern wieder einmal auch, dass es keineswegs ein gewaltfreier Ort ist. Wie unterscheidet sich Gewalt im Netz von anderer Gewalt?
Richtig, bei „Mi primer acoso“ gab es unter jedem Tweet Beleidigungen und Drohungen. Das war für uns jedoch nichts Neues, denn Gewalt im Netz folgt den selben Mechanismen wie jede andere Gewalt. Online und offline sind als Kontinua und keineswegs als getrennte Sphären zu betrachten. Strukturelle Gewalt gegen Frauen und Körper, die nicht in die Norm passen, findet sich im Internet genau so wie in der „realen“ Welt. Im Netz wie im Alltagsleben werden wir sexualisiert, unsere Körper attackiert. Das Netz ist also nur ein Spiegel der Gesellschaft. Der größte Unterschied ist, dass sich die Aggressoren unter dem Schirm der Anonymität schützen. Für uns hat das oft zur Folge, dass wir diese Technologien meiden, die Plattformen verlassen und User blockieren. Das löst allerdings das Problem nicht. Blockierst du einen Aggressor, sprießen hundert neue aus dem Boden. Dies führt manchmal dazu, dass wir die Kontrolle über die Technologien verlieren, da es so viele Kanäle gibt, auf denen du angegriffen werden kannst. Die „Machitrolls“, wie wir sie nennen, sind gut organisiert. Und die Auswirkungen solcher Online-Attacken sind sowohl psychisch als auch physisch spürbar.

Wie können wir uns gegen solche virtuellen Angriffe schützen?
Füttere den Troll nicht. Davon lebt er. Er ernährt sich von deiner Wut, die ihn wachsen lässt. Anstatt zu antworten, sollten wir damit beginnen, die Aggression per Screenshot zu dokumentieren und uns für die Dokumentation ein System zu überlegen. Den Vorfall immer bei der Plattform melden und eine Reaktion ihrerseits fordern. Wir füttern die sozialen Netzwerke mit Informationen und sie machen Millionen mit uns, dafür müssen sie Verantwortung übernehmen. Schließlich ist es wichtig, dass wir miteinander über die Vorfälle sprechen. Sehr offensichtlich aber ebenso grundlegend ist es, sich lange und alphanumerische Passwörter zu überlegen und diese ständig zu wechseln. Kurzum: Prävention, nicht reagieren, dokumentieren, melden und teilen. So wie wir lernen, uns im Alltag zu verteidigen, lernen wir das auch im Netz. Wir werden uns immer klarer darüber, was Gewalt ist und wie wir damit umgehen können. Die selben Strategien wenden viele Organisationen, Aktivist*innen und Journalist*innen übrigens gegen Spionageangriffe seitens des Staates an!

Wie reagieren die staatlichen Autoritäten in Mexiko auf Gewalt im Netz?
Unsere staatlichen Organismen sind absolut ineffizient. Der Staat hat beispielsweise begonnen, Sexting (das Senden von Nachrichten mit erotischen Inhalten, Anm. d. Red.) unter Strafe zu stellen. Er erkennt dabei aber nicht, dass das Sexting an sich nicht das Problem ist, sondern die Gewalt, die beispielsweise durch die ohne Einwilligung erfolgte Verbreitung des Materials ausgeübt wird. Deswegen liegt es an den zivilen Organisationen dafür zu sorgen, dass jedes Mädchen und jede junge Frau – die größte Zielgruppe für Gewalt im Netz – über das nötige Wissen verfügt, sich im virtuellen Raum verteidigen zu können. Das Problem wird nicht verschwinden, aber wenn wir weiterhin über die Gewalt sprechen, uns austauschen und organisieren, Strategien teilen, werden wir immer besser wissen, wie wir auf Angriffe im Netz reagieren können.

Wie funktioniert die Kooperation zwischen feministischen Organisationen und solchen, die für digitale Rechte eintreten?
Die feministische Szene und die digitale Szene sind in Mexiko sehr gut vernetzt. Diesen Januar haben wir gemeinsam mit anderen Organisationen, die seit vielen Jahren Gewalt dokumentieren, einen Bericht über Gewalt gegen Frauen im Netz präsentiert. Vor allem in Mexiko-Stadt gibt es ein großes und dichtes Netz aus Organisationen die für digitale Rechte eintreten. Und sie kooperieren an vielen Orten eng mit der feministischen Szene, zum Beispiel in der Koalition „Internet es nuestra“ („Internet gehört uns“).

Und alle diese Organisationen lassen sich trotz der verschiedenen Schwerpunkte und Perspektiven aufeinander ein?
Den Luchadoras wird oft gesagt: „Ihr streitet euch ja nie mit irgendwem.“ Uns ist klar, dass es nicht einen einzigen Feminismus gibt. Es gibt nicht nur den, der normalerweise in den Medien repräsentiert wird. Es gibt viele Formen von Feminismus und alle sind wertvoll. Uns geht es eben darum, möglichst alle Kämpfe sichtbar zu machen. Unser aller Ziel ist es doch, diese Welt für Mädchen, Frauen und alle anderen Geschlechter lebenswerter zu machen. Zusammen sind wir stärker und unser Wirken hat größeren Einfluss. Auch bei den Luchadoras gibt es verschiedene Sichtweisen, aber unser gemeinsames Ziel ist es, sexistische Beiträge in den digitalen Medien zu reduzieren und zu sehen, wie Frauen sich letztere zu eigen machen, um ihre Geschichten zu erzählen. Wir müssen Dialoge fördern, denn Fakt ist, dass wir tagtäglich umgebracht werden. Jede von uns kann eine Feministin sein.

Und die Männer?
Können natürlich auch Feministen sein. Jedes Lebewesen, das an die Gleichheit der Rechte glaubt, kann Feminist sein. Es ist wichtig, dass die Männer uns in unserem Kampf begleiten. Eine Form, dies zu tun, ist zu schweigen, uns zuzuhören und Solidarität zu zeigen, ohne sich in den Vordergrund zu drängeln. Dies passiert in Mexiko auch in linken Kreisen ziemlich häufig. Die gesamte Geschichte wurde von Männern erzählt, nun sind sie mit Zuhören dran. Sie sollten unsere Geschichten nicht in Frage stellen, kein Mansplaining betreiben, nicht die Protagonisten unseres Kampfes sein wollen und sich auch verletzlich zeigen können. Das impliziert auch, dass sie die von ihnen selbst ausgeübte Gewalt hinterfragen. Sie müssen herausfinden, wie es in einer Gesellschaft, die sie tagtäglich zum Macho-Dasein auffordert, möglich sein kann, diese Realität zu dekonstruieren. Unsere Aufgabe ist es wiederum, sie auf diesem Weg zu begleiten. Und das kann durchaus ein liebevoller, gewaltfreier Prozess sein. Denn uns ist klar, dass dieser Weg auch für sie schwierig sein kann.

Im März kommen Sie zur Ausstellung „Wir sind vernetzt“ nach Berlin. Was erwarten Sie sich vom Austausch mit deutschen Aktivistinnen?
Wir haben viel von den feministischen Bewegungen in anderen Teilen der Welt gelernt und mich interessiert besonders, inwiefern sich die Gewalt im Netz in Deutschland von der in Mexiko unterscheidet und welche Strategien und Organisationsformen existieren. Welche Selbstverteidigungsmethoden kennen sie? Wie können wir uns die Technologien noch besser zu eigen machen? Zudem werde ich einen Workshop mit Jugendlichen durchführen. Ich möchte ihre Kontexte und ihre Perspektiven auf Widerstand kennenlernen. Denn auch wenn uns das nicht immer so bewusst ist, besonders nicht im Jugendalter: auf irgendeine Art und Weise leisten wir immer Widerstand.

 


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„AN DIE MACHT KOMMEN, UM MACHT ABZUGEBEN“

Glückwunsch zum fantastischen Wahlergebnis!

Vielen Dank! Das war wirklich ein sehr gutes Ergebnis. Auch angesichts der Wahlumfragen. Es ist sehr interessant, dass die Gesellschaft sich so weit abseits der Diskussion in den Medien befindet. Es scheint, dass auf der Straße die Dinge anders gesehen werden als von der Elite der Journalisten oder Kolumnisten.

Wie denken Sie, haben Sie und die FA dieses Wahlergebnis erreicht?

Ich denke, das ist eine gute Frage, aber ich weiß nicht, ob man sie anhand der Wahlen erklären kann. Es gibt in Chile einen relevanten Teil der Bevölkerung, der Alternativen zu den beiden großen Koalitionen sucht. Die denken, dass Chile grundlegende strukturelle Veränderungen braucht. Vor allem seit der Studierendenbewegung 2011 wird der offizielle Diskurs hinterfragt. Nicht nur die Frage, warum Bildung so teuer ist, sondern auch: Warum muss ich mich verschulden? Warum ist die Rente meiner Eltern so niedrig? Dass Wirtschaftswachstum das wichtigste sei. Dass wir die Jaguare Lateinamerikas seien. Die FA taucht als Antwort dieser Entwicklungen in Chile auf. Wir haben es geschafft, aufzunehmen, was in Chile passiert und diesen Gedanken Ausdruck zu geben.

Die FA strebt an, Politik anders zu machen, weder links noch rechts. Dieser Diskurs klingt fast schon nach europäischem Rechtspopulismus.

Wir beschreiben uns selber nicht als weder links noch rechts. Weil ich denke, es ist überall so, dass Leute, die behaupten sie seien weder links noch rechts, eher rechts sind (lacht). Wir sagen, dass die Logik von rechts und links ein bisschen überwunden ist, wobei ich mich als Kandidatin immer als linke Demokratin positioniert habe. Wir von der FA wollten uns für Organisationen öffnen, deren politische Repräsentation diverser ist. Wir haben uns auf Punkte geeinigt, die unabdingbar sind: Die Trennung zwischen Geschäft und Politik, eine Verfassunggebende Versammlung, die Menschenrechte. Wir wollen die Logik von links und rechts nicht überwinden, sondern mit den Leuten darüber reden, wie ihre Rechte respektiert werden und uns öffnen. Jede Gruppe definiert klar, wofür sie steht.

Bei der Wahl waren die Nichtwähler*innen die größte Fraktion, sowohl aus Desinteresse, als auch wegen des Gedankens, dass innerhalb dieses Systems wenig zu erreichen ist. Gleichzeitig gibt es die Erfahrung, dass Parteien, trotz bester Absichten, einmal an der Macht ihre Ideale über Bord werfen. Hat die FA Strategien, um solchen Prozessen entgegenzuwirken?

Wir wollen, dass Chile partizipativer wird. Das ist ein Teufelskreis. Je kleiner die Räume für Partizipation, desto weniger nehmen Leute Teil. Wenn man Räume dafür öffnet, muss man Partizipation aufbauen. Ich habe gelernt, dass die Leute ihre Entscheidungen selber treffen wollen. Man könnte sagen, wir wollen an die Macht kommen, um Macht abzugeben. Chile muss sich dezentralisieren. Wir wollen bindende Plebiszite und eine neue Verfassung, die Räume für diese Partizipation öffnet. Das ist ein Weg, nicht den Kontakt dazu zu verlieren, was außerhalb der Parlamente passiert.

Glauben Sie, dass dieser Wandel innerhalb der Institutionen, die ja von der Militärdiktatur geerbt wurden, erreicht werden kann?

Institutionen sind auch die Personen, die in ihnen vertreten sind. Eine grundlegende Institution, die geändert werden muss, ist die Verfassung. Wir werden in Chile hoffentlich eher früher als später eine Verfassunggebende Versammlung haben, sonst werden wir es bereuen. Um ein Beispiel zu geben: Das aktuelle Rentensystem ist kritisch. Denn in 20 Jahren wird es der Staat sein, der die Verantwortung für hunderttausende Senioren übernehmen muss, denen die Rente nicht zum Überleben reicht. Eine neue Verfassung, ein Wandel, ist also kein Fetisch, sondern etwas, das wir machen müssen!

Die FA hat für den zweiten Wahlgang am 17. Dezember keine Wahlempfehlung für Guillier, den Bewerber der Nueva Mayoría, abgegeben. Warum? Der rechte Piñera ist doch ein viel größeres Übel.

Ich glaube, dass die Leute wissen, was sie wollen. Das muss man kanalisieren und ihnen nicht aufzwingen, was man glaubt, was sie denken. Wir als FA werden niemals den Leuten sagen, was sie wählen sollen oder ihnen unsere Positionen aufdrängen. Die Wählerstimmen haben keinen Eigentümer. Die Wahl ist uns aber nicht egal. Mir ist es nicht egal ob Sebastián Piñera oder Alejandro Guillier gewinnt. Piñera wäre ein Unheil für das Land. Guillier hingegen war zweideutig. Er hat zwar gesagt, dass ihm bestimmte Ideen der FA gefallen würden, muss aber ein Signal senden. Nicht an mich, nicht an die FA, sondern an die Leute, die für uns gestimmt haben. Ich selber werde für Guillier stimmen, das heißt aber nicht, dass wir dazu aufrufen.

Wie wird die politische Arbeit der FA in den nächsten vier Jahren aussehen?

Wir werden so oder so Oppositionsarbeit machen. Wir sind ja auch nicht Teil der Nueva Mayoría. Unser Programm grenzt ein, was die Parlamentarier machen werden. Wenn Guillier gewählt werden und in eine bestimmte Richtung gehen sollte, hat er 21 Abgeordnete die ihn unterstützen werden. Das bringt die Nueva Mayoría in eine andere Position. Wenn sie wirklich was ändern will, hat sie hier ihre Stimmen. Wir werden unserem Programm treu bleiben.

Sebastián Piñera hat ja behauptet, es habe im ersten Wahlgang Wahlfälschung gegeben

Das ist indiskutabel. Die Rechte ist verzweifelt wie noch nie. Indem er die Legalität des Wahlprozesses in Frage gestellt hat, hat er eine Grenze überschritten, die er nicht hätte überschreiten dürfen. Und das, nur um gewählt zu werden! Ein Präsident wie er wäre ein Risiko für Chile!

Sie haben angekündigt, eine feministische Regierung machen zu würden. Was bedeutet das?

Die Hierarchien, die es in Chile, wie in anderen Ländern auch gibt, abzuschaffen. Wir Chileninnen sind Bürgerinnen zweiter Klasse. Als Frau in Chile zu leben ist sehr schwierig, weil wir in eine Rolle gezwängt werden. Ich habe das auch als Kandidatin gemerkt. Was wir sagen können, wie wir es sagen, wie wir aussehen müssen, wie lang unsere Haare sein sollen, was wir studieren, das alles ist fast vorgeschrieben. Und Männern passiert fast das Gleiche. Das ist eine Rebellion gegen diese klar definierten Rollen. Wenn man sich als Feministin erklärt, ist das auch im Interesse der Männer. Ich glaube nicht an diese Rollen.
Wenn ich von einer feministischen Regierung spreche, dann heißt das, mit diesen Hierarchien Schluss zu machen. Und auch Gesetze anzuwenden, die es schon gibt; Frauen vor Gewalt, vor sexueller Belästigung auf dem Arbeitsplatz zu beschützen, weil die bereits vorhandenen Gesetze in dieser Form nichts bringen. Das abgrundtiefe Lohngefälle zu bekämpfen. All das ist eine Form von permanenter Gewalt gegen uns. Eine feministische Regierung macht Politik, die die Verantwortung übernimmt, diese Formen von Hierarchien zu verhindern. Heute wird fast jede Woche eine Frau durch machistische Gewalt umgebracht. Das ist nur wegen dieser alltäglichen Gewalt möglich, die wir mit all ihren Facetten überwinden müssen – auch um ein demokratischeres Land zu werden. Das wäre eine feministische Regierung.

 


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„DIE WELT WIRD VON WIDERSPRÜCHEN BEWEGT“

Verônica Ferreira, vor genau 18 Monaten – also direkt nach der Amtsenthebung der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff durch den Senat – habe ich Sie das erste Mal interviewt (siehe LN 505/506) und nach der feministischen Analyse des Parlamentsputsches gefragt. Wie schätzen Sie die politische Situation in Brasilien heute ein?

Verônica Ferreira: Unsere Analyse des patriarchalen Charakters dieses Putsches hat sich bestätigt. Die öffentliche Politik für Frauen wurde völlig aufgelöst, ebenso wie die öffentliche Politik für LGTB und für die Gleichstellung der Schwarzen Bevölkerung. Es gibt eine sehr starke Präsenz der fundamentalistischen Sektoren in dieser Regierung sowie eine Offensive der fundamentalistischen religiösen Kräfte, in der Regierung wie im Parlament, um die Rechte der Frauen zu zerstören. Dies schließt die Leitung der äußerst reduzierten Frauenpolitik innerhalb des Ministeriums für Menschenrechte mit ein: Fátima Pelaes ist eine konservative Fundamentalistin, die sogar schon Gottesdienste innerhalb des Ministeriums abgehalten hat.

Was ist das Ziel dieser Politik?

VF: Die fundamentalistischen Kräfte in Brasilien sind mit ultra-neoliberalen Sektoren verbunden. Wir erleben eine absolute Verwüstung, nicht nur der Sozialpolitik, sondern auch des Ausverkaufs der natürlichen Reichtümer Brasiliens. Im November wurden mehrere halbstaatliche Unternehmen, darunter Petrobras, in großen Teilen zum Verkauf angeboten. Hinzu kommen die „Arbeitsreformen“, die schwarze Frauen besonders treffen, weil sie deren unsichere Arbeitsbedingungen praktisch institutionalisieren. Und die Rentenreform, die die Beitragsdauer drastisch erhöht.
Die Gesamtheit dieser Maßnahmen bestärkt unsere Analyse: Die Machtübernahme hat das Ziel, die öffentlichen Gelder, die Ressourcen des Staates, komplett zu übernehmen. Sich die natürlichen Reichtümer des Landes anzueignen und sie an das Finanzkapital und das ausländische Kapital zu übertragen.
Diese konservative Allianz hat ihre Macht konsolidiert und ihr Programm der Verwüstung des Landes etabliert. Dieses Programm hat die Wahlen 2014 verloren und wurde 2016 durch den Putsch dem Land trotzdem aufgezwungen. Die Geschwindigkeit der Verwüstung ist sehr groß. Diese Geschwindigkeit macht den Widerstand viel schwieriger.
Im Augenblick schöpfen wir Atem, um die Kraft der Mobilisierung wiederzugewinnen. Denn es ist nicht einfach, den Widerstand gegen diese Folge von Niederlagen aufrecht zu erhalten. Aber wir leisten Widerstand!
Analba Teixeira: Was in Brasilien passiert, hat die konservative Bewegung sehr gestärkt. Wir sehen den Rassismus wachsen, er existierte selbstverständlich bereits zuvor, aber die Akzeptanz wächst, die die Leute heute dem Rassismus entgegenbringen. Oder der Gewalt gegen Frauen. Der Homophobie. Seit 2016 wurde dies sehr viel stärker.

Kürzlich wurde aus konservativen Kreisen eine Unterschriftenaktion initiiert, mit der ein öffentlicher Auftritt der US-amerikanischen Feministin Judith Butler verhindert werden sollte. Wie hat die Frauenbewegung reagiert?

AT: Wenn so etwas passiert, dann reagieren die feministischen Kollektive und Bewegungen sofort, schreiben Protestbriefe, veröffentlichen Stellungnahmen und so weiter. Die sozialen Netzwerke sind dabei eine große Hilfe. Aber es sind so viele Sachen in letzter Zeit geschehen, eine nach der anderen, dass es schwierig ist, nicht den Überblick zu verlieren. Unsere aktuelle Strategie ist eine Massenmobilisierung zum 25. November, denn das Abtreibungsrecht soll verschärft und auch Abtreibungen nach einer Vergewaltigung kriminalisiert werden. Das steht im Moment im Mittelpunkt unserer Proteste auf der Straße, damit wir nicht nur Feuerwehr spielen.

Wogegen richtete sich der jüngste Protest der Frauenbewegung?

AT: Bei unserer vergangenen Aktion stand ebenfalls das Thema „Abtreibung“ im Mittelpunkt. Der 28. September ist der internationale Tag für die Legalisierung der Abtreibung und unsere dreitägige Aktion richtete sich an die brasilianische Gesellschaft, nicht an den Kongress. Wir waren von Mitternacht des 26. September bis Mitternacht des 27. September, also 24 Stunden, online: Alle 30 Minuten sprach eine andere Frau live über Abtreibung. Insgesamt hat die Aktion mehr als eine Million Klicks erhalten.
VF: An der Aktion „Sprechen wir über Abtreibung“ haben sich mehr als 100 Kollektive beteiligt, aus verschiedenen Bewegungen, aus Brasilien, aus Lateinamerika, aber auch aus Frankreich. Wir haben verschiedene Aspekte thematisiert, wie zum Beispiel das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung oder die Situation in Uruguay, wo nach der Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs Ärzte einen Gewis­sens­­konflikt geltend machen. Oder die Situation von Minderjährigen in Frankreich und wie sie Zugang zu dieser medizinischen Leistung erhalten können. Je mehr Kollektive sich beteiligen, desto einfacher ist es, den Algorithmus von Facebook zu knacken und so mehr Leute zu erreichen. Das ist umso wichtiger, weil für dieses Thema die öffentlichen Diskussionsräume stark eingeschränkt sind. Das Internet hat eine enorm wichtige Rolle, um öffentlich feministische Debatten über Themen zu führen, die durch die Präsenz des Konservativismus und der fundamentalistischen Offensive beiseite geschoben werden.
Heute sind Abtreibungen viel klandestiner als sie es früher waren. Im Alltag wird nicht mehr darüber gesprochen, eine Frau, die darüber spricht, wird sehr schnell kriminalisiert. Es ist schwieriger, solidarisch zu sein. Der Konservativismus ist im Parlament präsent, in den Gesetzesvorlagen, aber er wirkt auch sehr stark in den Alltag hinein.

“Vergewaltigung ist ein Verbrechen, Abtreibung ein Recht” Protest gegen die neuen Abtreibungsgesetze (Foto: Midia NINJA CC BY-NC-SA 2.0)

Es gab ja in jüngster Zeit sehr konkrete Versuche auch den Alltag zu bestimmen, sei es die Petition gegen eine Ausstellung im renommierten Museum für Moderne Kunst (MAM) in São Paulo oder die schon erwähnte Unterschriftenliste gegen den Vortrag von Judith Butler, welche Strategien stecken dahinter?

VF: Was in Bezug auf den Vortrag von Judith Butler und der Ausstellung im MAM passiert ist, zeigt die Strategien dieser rechten Gruppen, speziell der so genannten Bewegung des Freien Brasiliens, der MBL, ganz deutlich. Diese Bewegung hat sich 2013 gegründet, in einem andauernden Dialog mit der konservativen Jugend. Sie haben eine Strategie, ständig unbewiesene Informationen als Tatsachen zu präsentieren, die dann allgemein geglaubt werden: Es gibt diese Ausstellung im MAM, sie initiieren eine Unterschriftenliste, um die Ausstellung zu beenden, was ein großes Echo in der Öffentlichkeit und in den konservativen Sektoren der brasilianischen Gesellschaft hervorruft. Dies sind Gruppen, die an einen Konservativismus appellieren, der bereits existiert. Und den sie so mit großer Geschwindigkeit weiter befördern. Mit dem Vortrag von Judith Butler war es genau dasselbe.
AT: Was auch interessant ist: Judith Butler war vor zwei bis drei Jahren schon einmal in Brasilien und es gab keine vergleichbare Reaktion. Sie hat in Salvador einen Vortrag gehalten. Und dieses Mal gab es diese Welle, mit 200.000 Unterschriften.
VF: Es ist ja nicht so, dass die brasilianische Gesellschaft in den letzten zwei Jahren viel konservativer geworden wäre, sie ist sehr konservativ. Was es gibt, sind Sektoren, die sehr gut organisiert sind, die an diesen Konservatismus anknüpfen und dadurch selbst stärker werden. Und dies in einem gesellschaftlichen Umfeld, das für sie günstig ist. Darauf müssen wir reagieren und eine Antwort finden, die diese Strategien der Rechten mit einbezieht.

Es ist sicher schwierig, in dieser Situation nicht die Hoffnung zu verlieren, was tun Sie gegen die Entmutigung?

AT: Für mich persönlich ist es wichtig, dort zu sein, wo Frauen sich widersetzen. Ich bin in die Quilombos (vor rund 150 Jahren von geflohenen Sklav*innen gegründete Siedlungen, Anm. der Red.) gereist und wenn ich den Widerstand der Frauen in den Quilombos sehe, dann gibt mir das Hoffnung. Das sind lokale Kämpfe, aber mit sehr viel Kraft. Diese Widerstandsräume stärken uns. Als nächstes reisen wir zur feministischen Konferenz der Frauen in Lateinamerika und der Karibik, dem EFLAC. Wir werden dort sehr viele Frauen sein, sehr viele feministische Aktivistinnen. Das ist auch so ein stärkender Moment, denn diese konservative Welle gibt es in ganz Lateinamerika, eigentlich sogar in der ganzen Welt.
Für uns als Bewegung ist es außerdem wichtig, die Erfolge unserer Aktionen deutlich zu machen, auch wenn sie noch so klein sind. Denn wenn es gar keine Erfolge gibt, dann führt das zu Verzweiflung. Es gibt Frauen in der Bewegung, die sagen, dass die Proteste auf der Straße nichts nutzen, vor allem wenn gleichzeitig Temer das nächste Dekret unterzeichnet, das direkt gegen uns gerichtet ist. Aber ich denke, dass der Protest auf der Straße unverzichtbar ist. Wir haben in den letzten zwei, drei Jahren erfolgreich die Proteste auf der Straße genutzt, um zumindest der Gesellschaft zu sagen, was gerade passiert. Weil viele Leute das gar nicht wissen, gar keine Idee davon haben. Nicht einmal, wenn es sie direkt betrifft, wie die Arbeitsreformen.

VF: Ich glaube, es gibt drei Dinge, die unsere Hoffnung nähren. Fest im Widerstand zu stehen, diesen mit anderen Subjekten, anderen Kollektiven, mit anderen Frauen aufzubauen, das motiviert uns. Es ist ein schwieriger Moment, ein Moment des Verlustes der Rechte, die wir erobert hatten. Und die Kräfteverhältnisse zwischen der Rechten und der Frauenbewegung als Teil der Linken sind im Moment sehr ungleich. Aber es ist wichtig, den Widerstand am Leben zu erhalten und unsere Politik gemeinsam mit neuen Subjekten zu konstruieren, die vorher weniger sichtbar waren.
Zweitens gibt es im Widerstand viele neue Gesichter. Wenn wir an den Widerstand gegen die Diktatur zurückdenken, dann entstand dieser vor allem aus der städtischen Mittelklasse und aus der Landbewegung, die von den progressiven Teilen der Kirche organisiert wurde. Dieser Widerstand war viel homogener. Heute gibt es eine Pluralität von Subjekten und gleichzeitig gibt es neue Widersprüche in der brasilianischen Gesellschaft. Denn wer hat bisher vor allem protestiert? Es waren die Frauen, die Bewegung für das Recht auf Wohnen, die Jugend in der Peripherie, die LGBT-Jugend und die ganzen Studierenden, die Hochschulen und Schulen besetzt haben. Es ist wichtig, permanent zu handeln, sich zusammenzuschließen, zu vernetzen. Auch das nährt unsere Hoffnung.
Das dritte ist die historische Perspektive. Wir müssen strategisch denken: Dies ist ein historischer Moment, ein Moment der Niederlage. Die Frauenbewegung hatte immer eine autonome, kritische Analyse des Entwicklungsmodells der sogenannten progressiven Regierungen und hat die Widersprüche dieses Modells deutlich aufgezeigt. Wir haben bereits gesehen, dass sich diese Politik erschöpfen würde und dies ist der Moment, in dem das eingetreten ist. Aber wir haben unseren Eliten nie vertraut. Wir wussten, dass sie früher oder später das Boot verlassen würden und die ganzen autoritären und gegen Menschenrechte gerichteten Tendenzen aufbrechen würden, ebenso gegen den Staat wie gegen die sozialen Beziehungen. Wir haben eine absolut individualistische Mittelschicht, die nur an sich selbst denkt.
Das ist ein sehr herausfordernder Moment, in dem wir unsere Strategien und unsere Organisierung überdenken müssen. Denn es gibt auch eine Erschöpfung unserer Praktiken als organisierter Bewegung. Es gab ein gewisses Günstlingswesen während der progressiven Regierungen. Kritischere und eher autonome Sektoren waren isolierter, weniger gut vernetzt. Heute wollen sich alle gegen die rechten Kräfte vernetzen. Das ist eine große Herausforderung. Denn es gibt die Sektoren der Linken, die sich mehr auf den Staat bezogen haben, es gab die eher autonomen Sektoren und es gibt die neuen Sektoren, voller Widerstandskraft, aber gleichzeitig voller Misstrauen gegenüber den organisierten Formen von Widerstand. Es ist ein Moment, der gleichzeitig voller Potential und voller Herausforderungen steckt. Denn die Frage ist: Woraus konstruieren wir die heutige Linke in Brasilien? Diese Frage steht im Raum – aber immerhin steht sie im Raum. Ich glaube ja, dass die Welt von Widersprüchen bewegt wird. Wenn ich das nicht glauben würde, dann wäre ich heute nicht da, wo ich bin, voller Kampfeslust.

 


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LAUT GEGEN DAS SCHWEIGEN

Im Weltraum schwebende Babykatzenköpfe, ein regenbogenfarbenes Bällebad und die Virgen de Guadalupe auf einem Baseballcap – schon die äußere Gestaltung von Rebeca Lanes drittem Soloalbum Alma Mestiza spiegelt die Heterogenität der CD wider. Mit einer Mischung aus Old-School-Hip-Hop, Reggae-Rhythmen, jazzigen Klaviersamples und Cumbia nähert sich die Rapperin mit viel Lust und Mut politischen Themen einer großen Spannweite an. Auch wenn die Texte selten so bonbonbunt und grell wie das Cover sind, steht doch auch immer wieder der Spaß im Fokus, auch an der Rebellion. Selbst schon lange Aktivistin, weiß sie dabei auch sehr genau, wovon sie spricht.

Bis vor fünf Jahren organisierte Rebeca Lane noch selbst Musikveranstaltungen und begann dann eher zufällig ihre Karriere als aktive Rapperin, nachdem sie gebeten wurde, etwas Bühnenzeit zu füllen. Mittlerweile ist sie längst über die Grenzen Guatemalas bekannt und tourt dieses Jahr auch durch Spanien und Deutschland (siehe unten). Als Mitbegründerin der Initiative „Somos Guerreras“ („Wir sind Kriegerinnen“) reiste sie 2016 durch Mittelamerika und versuchte, Frauen* mit Hip-Hop und Breakdance zu empowern.

Praktischer Feminismus ist auch auf Alma Mestiza ein großes Thema. Ob im Song „Este cuerpo es mío“ oder in „Ni encerradas, ni con miedos“ pendeln die Texte dabei zwischen einer Einfühlung in von Geschlechtergewalt Betroffenen und einer Anklage und Kampfansage an die machistischen und patriarchalen Gesellschafts­strukturen. Rebeca Lane benennt die strukturelle Geschlechtergewalt in Guatemala, einem der Länder mit der höchsten Anzahl von Feminiziden und Gewalt an Frauen*, und ermutigt gleichzeitig Frauen* aus der Isolation und gewaltvollen Beziehungen auszubrechen. Aber auch die Lust am Leben und sich selbst feiern kommen nicht zu kurz, wie „Libre, atrevida y loca“, einer der tanzbarsten Songs des Albums, zeigt.

Ein weiteres großes Thema von Alma Mestiza ist die fehlende Geschichtsaufarbeitung Guatemalas. Zwanzig Jahre nach dem Ende des 36 Jahre währenden Bürgerkriegs läuft die Aufklärung der vor allem an Teilen der indigenen Bevölkerung verübten Massaker nur langsam an. Statt einer Erinnerungskultur gibt es eine des Totschweigens. Dieser setzt Rebeca Lane eine laute Stimme entgegen, ruft die Namen von Verschwundenen in Erinnerung und prangert den gesellschaftlichen Rassismus an.

In diesem Zusammenhang stellt sie auch ihre eigene Identität und das Konzept von Identität im Allgemeinen zur Disposition. Als mestiza, wie sie sich selbst nennt, reflektiert sie zum Beispiel im titelgebenden Track *Alma Mestiza* einerseits das Erbe der Kolonisatoren, das sie notgedrungen in sich trägt und feiert andererseits die Mythologie und Kultur der Maya als etwas sehr Gegenwärtiges. Damit setzt Rebeca Lane auch einen klaren Kontrapunkt zum rassistischen Diskurs, in dem die „mestizische Mehrheitsgesellschaft“ indigene Kultur vielleicht folkloristisch feiert und historisiert, die Indigenen selbst aber an den Rand gedrängt werden.

Zwar könnte es manchmal ein bisschen weniger Reggaerythmen und Loungegedudel sein, doch machen die starken Texte und die klare Botschaft auch diesen Wermutstropfen wieder wett. Und mit ihrer musikalischen Offenheit ist Rebeca Lane, die im Übrigen fabelhaft rappen kann, vielleicht auch leichter für Menschen zugänglich, die Hip-Hop nicht zu ihrer Lieblings­musik zählen.

 


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ABTREIBUNG ALS PRIVILEG FÜR REICHE

Guadalupe Pérez (Mitte) setzt sich mit der Kampagne 28 September für die Entkriminalisierung der Abtreibung ein. Foto: Colectivo Rebeldía

Ende September hat das Abgeordnetenhaus Boliviens einer Gesetzesänderung zugestimmt, die Abtreibungen in acht Fällen legalisieren soll. Doch selbst wenn der Entwurf auch vom Senat angenommen wird, gelten selbstgewählte Schwangerschaftsabbrüche weiterhin als Straftatbestand. Die LN sprachen mit der Aktivistin Guadalupe Pérez über die Risiken von illegalen Schwangerschaftsabbrüchen und die Grenzen des neuen Gesetzesentwurfs. Die aus Kuba stammende Psychologin lebt seit über 30 Jahren in Bolivien und arbeitet für die NGO Colectivo Rebeldía. Seit Jahrzehnten setzt sie sich für Frauenrechte und die Entkriminalisierung von Abtreibungen ein.

Wie sieht die derzeitige Rechtslage zu Abtreibungen in Bolivien aus?
Abtreibungen sind in Bolivien – genauso wie in den meisten lateinamerikanischen Ländern – bis heute eine Straftat. Wenn die Schwangerschaft ein Risiko für die Gesundheit oder das Leben der Mutter darstellt oder sie aufgrund von Inzest oder einer Vergewaltigung schwanger wird, hat sie das Recht abzutreiben. Der letzte Fall gilt allerdings nur, wenn sie eine Anzeige gegen den Vergewaltiger vorweisen kann. Das Problem ist, dass Vergewaltigungen oft innerhalb der Familie oder des Bekanntenkreises stattfinden. Die Opfer werden unter Druck gesetzt, keine Anzeige zu erstatten.
Bis 2014 musste für eine legale Abtreibung nach einer Vergewaltigung sogar ein richterliches Urteil vorliegen. Doch nur in sehr seltenen Fällen gab ein Richter seine Einwilligung – ganze fünf Mal in 40 Jahren. Mit der Begründung, dass Abtreibungen ihrem Glauben widersprechen, konnten Richter ihre Einwilligung verweigern. Seit 2014 wurden landesweit 154 legale Abtreibungen durchgeführt, die Zahl der illegalen Abtreibungen liegt hingegen bei 185 – pro Tag!

Unter welchen Bedingungen finden die illegalen Abtreibungen statt?
Diesbezüglich herrscht in Bolivien eine Doppelmoral. Wer es sich leisten kann, kann gefahrlos abtreiben. Es ist kein Problem, einen guten Arzt oder eine Klinik zu finden, der die Abtreibung zwar heimlich, doch unter Einhaltung aller medizinischen Standards durchführt. Aber die meisten Frauen verfügen nicht über diese finanziellen Mittel und sind sogenannten „unsicheren Abtreibungen“ ausgeliefert. Diese werden unter riskanten Bedingungen durchgeführt: heimlich, ohne die Einhaltung von medizinischen und hygienischen Standards sowie oft durch inkompetente Personen. Aufgrund der Gesetzeslage, die Abtreibungen als Straftat einstuft, haben die Frauen keinerlei Handhabe, wenn zum Beispiel Komplikationen nach einer unsicheren Abtreibung auftreten. Aus Angst vor rechtlichen Konsequenzen trauen sich die meisten nicht oder erst viel zu spät, zum Arzt zu gehen. Damit setzen die Frauen ihre Gesundheit und ihr Leben aufs Spiel.

Kommt es häufig zu Komplikationen?
Bolivien hat die höchste Müttersterblichkeitsrate der Region, sie liegt bei 235 Todesfällen pro 100.000 Lebendgeburten. Durchschnittlich 9,1 Prozent dieser Todesfälle sind auf unsichere Abtreibungen zurückzuführen. In manchen Regionen ist dieser Prozentsatz jedoch viel höher. Im Departemento Beni zum Beispiel liegt er bei 38 Prozent.

Sie sind seit der Gründung im Jahr 1996 in der Kampagne 28. September aktiv, die sich für die Liberalisierung von Abtreibungen einsetzt. Was fordern Sie?
Die Kriminalisierung von Abtreibungen mit all ihren Konsequenzen ist ein Angriff auf die Freiheit und die Autonomie der Frau. Deshalb fordern wir, dass Abtreibungen nicht länger als Straftat gelten und die entsprechenden gesetzlichen Regelungen nicht im Strafgesetzbuch, sondern zum Beispiel im Gesundheitsgesetz verankert werden. Wir haben einen Gesetzesentwurf ausgearbeitet und ihn 2013 und 2015 im Parlament vorgestellt – jedoch ohne Erfolg. Darin forderten wir unter anderem, dass alle Frauen in Bolivien ohne Einschränkung und kostenlos abtreiben können. Eine weitere Forderung war, dass Abtreibungen immer von medizinischem Fachpersonal in einer Klinik unter hygienischen Bedingungen durchgeführt werden müssen.

Damit ging dieser Gesetzesentwurf viel weiter als derjenige, der zurzeit im Parlament verhandelt wird.
Ja, der Gesetzesentwurf, der aktuell debattiert wird, soll zwar den Kriterienkatalog für legale Abtreibung erweitern – aber Abtreibungen insgesamt werden nicht entkriminalisiert. Der zurzeit diskutierte Entwurf stellt einen Fortschritt dar, der uns aber nicht weit genug geht. Positiv ist zum Beispiel, dass Abtreibungen legalisiert werden sollen, wenn die Mutter minderjährig ist oder noch studiert. Allerdings gilt in allen Fällen die Frist der ersten acht Schwangerschaftswochen, die wir für viel zu kurz halten. Frauen mit unregelmäßiger Menstruation, wie sie ja gerade bei Jugendlichen nicht unüblich ist, wissen vielleicht in der achten Woche noch nicht einmal, dass sie schwanger sind. Außerdem ist die Entscheidung abzutreiben, ja meist ein schwieriger und schmerzhafter Prozess und wird nicht von heute auf morgen getroffen.

Wie gut sind die Aussichten, dass die Gesetzesänderung angenommen wird?
Das Abgeordnetenhaus hat bereits zugestimmt, nun steht noch die Entscheidung des Senats aus. Diese dürfte im November dieses Jahres zu erwarten sein. Doch selbst bei einer Annahme bleibt die Frage offen, inwiefern sich die Situation für die Frauen tatsächlich ändert. Wir haben viele interessante Gesetze in Bolivien – ob sie jedoch umgesetzt werden, ist eine andere Frage. Viele Menschen kennen ihre Rechte nicht oder können sie unter anderem aus finanziellen Gründen nicht einfordern. Wie soll es sich zum Beispiel eine Frau aus einer abgelegenen ländlichen Gemeinde leisten können, in eine Klinik in der Stadt zu fahren?

Während dieser Debatte haben sich nicht nur die Befürworter*innen, sondern auch Gegner*innen viel öffentliche Aufmerksamkeit verschafft. Wer steckt dahinter und was sind ihre Argumente?
Es sind vor allem konservative Kreise sowie die Kirchen, die gegen die Entkriminalisierung von Abtreibungen sind. Sie stellen den Sachverhalt gerne so dar, als würde man Frauen damit zwingen, abzutreiben. Doch diese Diskussion ist absurd. Denn was wir wollen, ist ja genau das Gegenteil: Dass jede Frau das Recht hat, selbst über ihren Körper und ihr Leben zu entscheiden.

Wie begegnen Sie dieser Kritik?
Wir wollen niemanden überzeugen. Wenn jemand glaubt, dass eine Abtreibung Sünde ist, respektieren wir das. Was wir dagegen nicht respektieren ist, dass Abtreibung eine Straftat sein soll. In einem säkularen Staat wie Bolivien dürfen sich religiöse Moralvorstellungen nicht in Gesetzen niederschlagen.

Die Kampagne 28. September setzt sich nicht nur für die Änderung der gesetzlichen Bestimmungen ein, sondern leistet auch Sensibilisierungsarbeit in der Bevölkerung.
Dies ist zentral, da die Diskussion rund um das Thema Abtreibung nach wie vor sehr heikel und in vielen Kontexten ein Tabuthema ist. Wir versuchen, das Bewusstsein zu stärken und die Debatte anzuregen – es ist nämlich eine Diskussion, die nicht nur im Parlament geführt werden sollte. So veranstalten wir regelmäßig Seminare, Workshops und Diskussionsrunden, versuchen das Thema in die Medien zu bringen und gehen natürlich auch auf die Straße, um Aufmerksamkeit zu erregen. Zentral ist außerdem die politische Lobbyarbeit. Wir haben es geschafft, einige Politikerinnen und Politiker zu gewinnen, die sich mit unserem Anliegen solidarisiert haben und sich im Parlament dafür einsetzen.

Stichwort Politikerinnen und Politiker – wie wichtig ist es, auch Männer in die Kampagne einzubinden?
Essenziell! Schließlich wird keine Frau von alleine schwanger. Männer sind weitestgehend abwesend in dieser Debatte. Leider kommt es häufig vor, dass Männer Frauen mit der Entscheidung und den Konsequenzen vollkommen allein lassen. Es gibt Frauen, die abtreiben, weil sie nicht wissen, wie sie es schaffen sollen, ihr Kind alleine aufzuziehen. Sie dachten eigentlich, dass sie einen Partner haben. In dem Moment, in dem sie schwanger wurden, stellten sich ihre Partner aber als Mistkerle heraus, die abhauen, statt Verantwortung zu übernehmen.

Hat oder hatte Ihr Engagement für dieses heikle Thema Auswirkungen persönlicher Art?
Natürlich! Mir wurde meine Dozentenstelle an der katholischen Universität gekündigt, weil ich mich öffentlich zu Abtreibungen äußerte. Und zwar nicht in der Universität selbst, sondern in einer Pressekonferenz, an der ich als Vertreterin der Kampagne teilnahm. Und ich bin nicht die Einzige, die ihre Arbeitsstelle verloren hat oder der dies angedroht wurde. Da die meisten auf ihren Job angewiesen sind, ist dies natürlich eine sehr effektive Art, Menschen zum Schweigen zu bringen. Doch auch das soziale Umfeld spielt eine große Rolle: Viele unserer Mistreiterinnen werden in sozialen Netzwerken sowie in der Nachbarschaft oder in Vereinen geschnitten. Man verbietet ihnen das Wort und spricht nicht mehr mit ihnen. Es besteht ein großer sozialer Druck auf Frauen, die sich zu diesem Thema äußern.


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THEATER DER UNTERDRÜCKTEN FRAUEN

 

„A través de los años me transformé:
fui santa, fui bruja, fui puta más no me callé, no me callé!
Soy fuerte y guerrera, yo soy, más no me callé, no me callé!”

(Lied des Ma(g)dalena Netzwerk)

 

Während der Kolonisation aus Europa strömend, wurden Frauenbilder und deren Unsichtbarmachung im öffentlichen Raum weitergegeben. Dieser Einfluss wurde durch Religion wie das Christentum verbreitet. Heute finden wir diese stark mit dem modernen Gesellschaftsnormen verwachsen. Das ist mit ein Grund für die Namensgebung des Ma(g)dalena Netzwerks. Die Existenz von Magdalena wird bis heute als Prostituierte interpretiert oder gar komplett geleugnet. Im Geschlechter Binarismus ist die über ihre Sexualität wissende Magdalena als Sünderin verurteilt und Maria als die heilige Jungfrau gefeiert. Erst 2016 wurde Maria Magdalena von Papst Franziskus den Aposteln gleichgestellt und damit erstmals ihre Rolle als Schriftstellerin anerkannt. Das Anliegen Schweigen zu brechen wird in Liedern, Theaterstücken und dem Ma(g)dalena Manifest deutlich. Zum Beispiel erinnert das Ma(g)dalena Anastasia Kollektiv mit der Metapher „Schrei der Anastasia” an die Mundmaske der versklavten Prinzessin Anastasia. Sie sollte mit dieser zum Schweigen gebracht werden, damit sie mit ihrer Intelligenz ihre Mitstreiter*innen nicht zum Widerstand bringen konnte. Der Schrei der Anastasia und der Ma(g)dalenas möchte 2017 in Berlin gehört werden.

Das internationale Ma(g)dalena Netzwerk wurde 2010 mit dem „Theater der unterdrückten Frauen Laboratorium“ in Rio de Janeiro und Berlin gegründet. Weitere Treffen fanden in Brasilien, Guinea-Bissau, Mosambik und Indien im selben Jahr statt. 2011 und 2013 wurde das Ma(g)dalena-Lab in Argentinien und Europa multipliziert. In La Paz, 2014 und in Matagalpa, Nicaragua, 2016 wurden Ma(g)dalena Netzwerk Treffen während dem Encuentro Latinoamericano del Teatro del Europeo umgesetzt. In Puerto Madryn, im argentinischen Patagonien wurde das 1. internationale Ma(g)dalena Festival realisiert. 2017 treffen sich über 100 Frauen aus Brasilien, Guatemala, Argentinein, Mexiko, Guine Bissau und Europa zum II internationalen Ma(g)dalena Theater der unterdrückten Frauen Festival in Berlin. Das Programm beinhaltet Forumtheater, legislatives Theater, Performance Diskussionsrunden und Interventionen im öffentlichen Raum. Der Fokus des Festivals richtet sich auf „Nein heißt Nein“ und steht im Kontext des neuen Gesetz, dass in Deutschland im November 2016 verabschiedet wurde. 2011 unterschrieben rund 40 Länder auf der Europäischen Kommission ein Nein heißt Nein Gesetz zu verabschieden. Madalena Berlin debattiert in dem legislativen Theaterprojekt „Nein heißt Nein“ die Bedeutung des Neins einer Frau und hinterfragt warum so oft dieses Nein als ein verführerisches Spiel, Entscheidungsunfähigkeit oder gar als ein Ja interpretiert wird.

Das Theater der Unterdrückten (TdU) ist eine ästhetische Methode, die den Anspruch hat, die Gesellschaft zu transformieren. Das TdU entspringt der Pädagogik der Unterdrückten entwickelt von dem Brasilianer Paulo Freire und wurde 1970 von dem Brasilianer Augusto Boal als politisches Mittel mit revolutionärem Anspruch gegründet. In den 90er Jahren wurde von der UNESCO das TdU als Method of Social Change anerkannt, heute gibt es in über 80 Ländern Praktizierende der Methode.Die Verschmelzung von Politik und Kunst wird von der Brasilianerin Bárbara Santos, die in Berlin lebt und die künstlerische Direktorin des Theater der unterdrückten Frauen (TdUF) ist mit dem Begriff des Artivismus definiert. Es gibt verschiedene Möglichkeiten zur Artikulation des Widerstands gegen diverse Unterdrückungsmuster. Personen, die als Frauen sozialisiert sind praktizieren auf vier Kontinenten in Magdalena Kollektiven Artivismus. Bereits sieben Jahre besteht das Anliegen der Mitglieder einer globalen Gesellschaft, in dem transnationalen Theater der unterdrückten Frauen-Netzwerk durch Feminismus und Theater, Strukturen aufzubrechen. Im Rahmen des Artivismus der Ma(g)dalenas werden anhand von Forumtheater, Performance und Aktionen, Geschichten von Frauen auf die politischen Machtmechanismen übertragen und im öffentlichen Raum zur Debatte gestellt.

Die Methoden des TdUF stellen einen Raum dar, in dem gewohnte Lebensformen und Geschlechterungleicheitsverhältnisse, die den Alltag bestimmen, transformiert werden können. Diese Theaterpraxis der Ma(g)dalenas beinhaltet ein Transformationspotential, welchem wir während dem Festival gemeinsam, die Zuschauer*innen und Schauspielerinnen Teil werden. Im Forumtheater wird die Barriere zwischen Schauspieler*innen und Zuschauer*innen aufgelöst indem wir alle zu Zuschauspieler*innen der erprobten Revolution auf der Bühne werden.

Aus unserer Perspektive als Ma(g)dalenas müssen Maßnahmen ergriffen werden und Feminismus aktiv im Alltag praktiziert werden. Wir sind der Meinung, dass eine universelle Form des Feminismus, eine Feminismus Definition oder eine Feministin zu sein nicht universell definierbar ist. Die Anwendung von Feminismen im Plural erfasst diese Diversität des Feminismus und erwägt eine Überlagerung, die sich in unserem Netzwerk wieder spiegelt. Wir sind Frauen verschiedener Herkunft, Alter und mit unterschiedlichen Geschichten von denen wir gegenseitig anlehnend an die Idee von Intersektionalität voneinander lernen. Unsere feministische Vision von sozialer Veränderung und Gerechtigkeit hat eine kollektive Kraft. Unterdrückung ist ein gesellschaftliches Phänomen, dass in sozial bedingten Unterdrückungsstrukturen wie Rassismus und Sexismus verankert ist. Unterdrückung entsteht durch politische Verhältnisse und Machtbeziehungen für die wir mit allen Teilnehmer*innen nach Alternativen suchen.

Magdalena als ein transnationales Frauennetzwerk bildet sich aus dem Echo der Frauenbewegungen heraus und findet sich in der Methode des Theater der Unterdrückten wieder. Unsere Verflechtungsbeziehungen prägen unsere antirassistischen und intersektionalen Perspektive eines Feminismus woraus wir die Notwendigkeit erkennen, politische Räume zu schaffen, in denen gemeinsame Kämpfe existieren können. Gemeinsam versuchen wir Interventionen über die eigene Sozialisation hinaus im Rahmen des patriarchalen System zu analysieren, sowie Handlungsmacht und Rechte durch politische Aktivität zu erlangen.

In diesem Sinne sagen wir Nein heißt Nein ! Für eine Ende der Gewalt an Frauen!

Wir sehen uns bei dem II. Internationale Ma(g)dalena Festival in Berlin von 13. – 17. September gemeinsam. Wir freuen uns auf euer kommen!

Madalena Berlin

 


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ARGENTINIEN IN AUFRUHR

„¡Basta!“ – Schluss! „¡Macri renunciá!“ – Macri tritt zurück! Das fordern inzwischen immer mehr Argentinier*innen, denn das erste Jahr der neoliberalen Regierung von Mauricio Macri hat in großen Teilen der Bevölkerung vor allem eines hervorgerufen: Enttäuschung und Wut über die leeren Versprechungen vom Kampf gegen die Armut und für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen. Massenentlassungen im privaten und öffentlichen Sektor, fast tägliche Nachrichten über die Schließung kleiner und mittelständischer Unternehmen, wirtschaftliche Rezession, massive Preisanstiege, immer mehr Menschen rutschen in Armut und keine Aussicht auf Besserung. Das ist die sozio-ökonomische Bilanz der Allianz Cambiemos unter Führung des Präsidenten Macri nach 15 Monaten Regierung.

Die Lehrkräfte stehen mit ihrem Unmut beileibe nicht allein.

Ungeachtet des eklatanten Verfehlens aller Wahlversprechungen bittet der Präsident die Mitbürger*innen weiterhin um eine positive Einstellung und Geduld, denn er gibt sich überzeugt, der Aufschwung stehe kurz bevor. Allerdings sind es nicht nur die negativen Wirtschafts- und Sozialdaten, sondern auch die ständig neuen Skandale um Korruption und Vetternwirtschaft, die die Glaubwürdigkeit der Regierung stark beeinträchtigen. Dabei wird es immer grotesker. Erst im Februar versuchte Macri sich anlässlich seines Geburtstages am 8. Februar selbst zu beschenken: 70 Milliarden argentinische Pesos (umgerechnet etwa vier Milliarden Euro) Schulden sollten erlassen werden, Schulden, die die Unternehmerfamilie Macri in ihrer Zeit als Eigentümer der argentinischen Post (seit 2003 wieder in staatlicher Hand) angehäuft hatte. Dieser Vorstoß ist nur einer von fünf Fällen mutmaßlicher Korruption Macris, wegen derer inzwischen auf nationaler Ebene Gerichtsverfahren gegen den Präsidenten eingeleitet wurden.

Seit Macri am 1. März die politische Sommerpause offiziell für beendet erklärt hatte, strömen die Argentinier*innen in Scharen auf die Straßen, um ihren Unmut kundzutun. Doch obwohl die Regierung mit Protesten gerechnet hatte, stand sie ungläubig vor der Vielzahl der Märsche und Menschen und bezichtigte jene, die zu den Demonstrationen aufgerufen hatten, der gezielten Destabilisierung.

Den Protestreigen eröffneten die Lehrer*innen, Erzieher*innen und Dozent*innen am 6. März mit landesweiten Demonstrationen und Streiks. Eigentlich sollte an diesem Tag die Schule nach den Sommerferien wieder losgehen, aber da die Provinzregierung in Buenos Aires, und ihr folgend die Mehrzahl der anderen Provinzen, maximal 18 Prozent Gehaltserhöhung über das Jahr verteilt geben wollten, beschlossen die Lehrkräfte in den Arbeitskampf zu treten. Die Gewerkschaften der Lehrer*innen fordern 35 Prozent Gehaltsanstieg: zehn Prozent um den Verlust an Kaufkraft des Vorjahres wettzumachen, da die Inflation 2016 mit über 40 Prozent klar über dem Gehaltsanstieg von im Durchschnitt etwa 30 Prozent lag, und 25 Prozent, um die prognostizierte Inflation in diesem Jahr auszugleichen. Sowohl die nationale als auch die Regierung der Provinz Buenos Aires rechnen aber mit nicht mehr als 18 Prozent Preisanstieg und liegen damit unter einer Vielzahl von Schätzungen. Außerdem wird aus Regierungssicht ein nachträglicher Inflations-ausgleich nicht für notwendig gehalten.

Die ohnehin angespannte Situation spitzte sich noch zu, als Macri, feuriger Befürworter der Privatisierung des Bildungssektors, in einer öffentlichen Stellungnahme zu den Ergebnissen eines PISA-ähnlichen Test verkündete, dass es ihm für all jene Kinder leid täte, die „in die öffentlichen Schulen abgerutscht seien“. Die Welle der Entrüstung, die daraufhin das Land erschütterte, spiegelte sich auch im 400.000 Menschen starken „Föderalen Marsch der Lehrer*innen“ wider, der am 21. März in allen Landesteilen begann und am 22. März auf der Plaza de Mayo, vor dem Regierungsgebäude, der Casa Rosada, kulminierte. Fazit des Konfliktes bislang: elf Streiktage, drei große Demonstrationen allein in Buenos Aires und La Plata (Hauptstadt der Provinz Buenos Aires), eine noch verschärfte Konfliktlage in einigen Provinzen.

Maria Eugenia Vidal, Provinzgouverneurin von Buenos Aires, die ihr Angebot inzwischen von 18 auf 19 Prozent „verbesserte“, versucht streikbrechende Maßnahmen durchzusetzen, die dann vor Gericht gestoppt werden. Vidal treibt unterdessen auch die Dämonisierung der Proteste und von Gewerkschaftsführer*innen voran. Sie hofft zudem darauf, dass die mobilisierten Lehrer*innen des Kampfes irgendwann müde werden. Bisher trügt diese Hoffnung.

Die Lehrkräfte stehen mit ihrem Unmut beileibe nicht allein. Am 7. März riefen die Gewerkschaften zum Protest, was im gesamten Land etwa eine Million Arbeiter*innen auf die Straße trieb. Hintergrund dieser massiven Mobilisierung sind die sehr unpopulären Anpassungsmaßnahmen, Subventionskürzungen, die zu drastischen Anstiegen der Gas-, Wasser- und Stromkosten und beim öffentlichem Transport führten und von denen weitere in den kommenden Monaten angekündigt sind. Hinzu kommen die anhaltenden Entlassungen und viel zu niedrige Gehälter. Die Gemengelage ist explosiv. Neben Plakaten, die sich eben über all jenes beschwerten, war der am meisten gehörte Slogan an diesem sonnigen Protesttag die Forderung nach einem Generalstreik, der auf Grund der Verhandlungen zwischen dem größten Gewerkschaftsverband CGT (seit vergangenem Jahr unter einem Triumvirat wieder vereint) und der Regierung hinausgezögert wurde. Auch an diesem 7. März wollte sich die Führungstroika der CGT auf kein Datum festlegen, doch die aufgeheizte Menge wollte dies nicht mehr durchgehen lassen. Bevor sie die Bühne stürmen konnte, hatten die Gewerkschaftsführer bereits panisch die Flucht ergriffen. Die CGT konnte dem Druck der Basis nicht standhalten. Mehr als eine Woche später – und nachdem die zwei kleineren, Mitte-links-Verbände Gewerkschaftsverbund Argentiniens (CTA) und autonomer Gewerkschaftsbund (CTA) auf einem gemeinsamen Plenum mit 1700 Teilnehmer*innen, einen Generalstreik und eine weitere Demonstration für den 30. März ausgerufen hatten – gab die Führung der CGT klein bei und beschloss einen Generalstreik für den 6. April. Daraufhin änderten die beiden CTAs ihren Plan und schlossen sich dem Streik am 6. April an, der allerdings ohne Demonstration stattfinden soll. Weil dies auch als „Sonntagsstreik“ verhöhnt wird, behielten die CTAs den Aufruf zu den Protesten am 30. März bei.

Auch Argentiniens Frauenbewegung war im März alles andere als untätig. Der Marsch und Streik der Frauen am 8. März, der im ganzen Land mehrere Hunderttausend, vor allem Frauen, auf die Straße trieb, war eindrucksvoll. Traurigen Anlass gibt es genug: Laut Statistik wird in Argentinien alle 18 Stunden eine Frau ermordet, hinzu kommen jene aus dem Kreis der LGBTIQ. Auch schwule, lesbische, trans*, inter-, bisexuelle und queere Communities schlossen sich den Protesten am 8. März an. Doch es ist nicht nur diese erschreckende Zahl, die die Frauen auf die Barrikaden gehen lässt und Argentinien zu einem der Länder macht, das weltweit die größte Frauenbewegung hat. In Argentinien verdienen Frauen im Schnitt 27 Prozent weniger als Männer, sind in hohen und sogar mittleren Positionen stark unterrepräsentiert und leisten den Großteil an Haushalts- und Caretätigkeiten. Abtreibung ist verboten. Hinzu kommt die nach wie vor sehr starke machistische Tendenz, die täglich auf offener Straße erlebbar ist, wenn mal wieder ein sich für unwiderstehlich haltender Mann einen unflätigen Spruch in Richtung einer Frau ablässt.

Neben dem Marsch der Frauen war der Marsch zur Erinnerung und Wahrheit am 24. März einer der vielfältigsten und buntesten. In Gedenken an den 41. Jahrestag des Beginns der Militärdiktatur 1976 wurde viel geboten. Theatralische Interventionen, musikalische Darbietungen und Gesänge, Tausende selbst geschriebener Schilder, vor allem gegen die aktuelle Regierung. Mit gutem Grund: Die Regierung Macri zog es vor, an diesem Tag keinen offiziellen Akt durchzuführen, und zeigt sich auch ansonsten eher verständnisvoll hinsichtlich der Verbrecher und Verbrechen der Diktatur. Abwechselnd stellen sogar Regierungsmitglieder die im kollektiven Gedächtnis tief verankerte Zahl von 30.000 festgenommenen Verhaftet-Verschwundenen in Frage. Dementsprechend war es nur eine logische Konsequenz, dass das Motto des diesjährigen Marsches lautete: „Es waren 30.000 und es war Völkermord“.

Der„heiße März“ liefert einen potenziellen Vorgeschmack auf den kommenden April. Bereits jetzt geht die Angst vor einem erneuten 2001 um, als am 19. und 20. Dezember bei Massenprotesten über 30 Menschen durch Polizist*innen erschossen und mehr als 200 verletzt wurden und sich der Präsident Fernando de la Rúa im Helikopter aus der Casa Rosada absetzte. Die Regierung von Präsident Macri lässt sich jedenfalls bislang kaum von ihrem neoliberalen Anpassungs- und Sparkurs abbringen, kriminalisiert die Proteste und verschärft Konflikte sogar noch. So erst kürzlich im Fall des international bekannten Hotel Bauen, das vor 13 Jahren von seinen Arbeiter*innen übernommen und in eine Genossenschaft umgewandelt wurde. Gegen die Ende 2015 beschlossene endgültige Enteignung des vorherigen Eigentümers und die Übertragung des Hotels auf die Arbeiter*innen, legte Macri zu Beginn dieses Jahres ein Veto ein. Sollten die Arbeiter*innen das Bauen nicht bis zum 19. April geräumt haben, so die Anordnung des Präsidenten, werde es zwangsgeräumt. Massive Proteste sind programmiert.

Allein auf internationaler Ebene findet die Regierung bei Gleichgesinnten noch breite Unterstützung, was das rapide Voranschreiten der Verhandlungen zum lange geplanten Freihandelsabkommen zwischen dem Gemeinsamen Markt des Südens (MERCOSUR) und der EU unterstreicht. Auch das vom 5. bis 7. April in Buenos Aires stattfindende Wirtschaftsforum für Lateinamerika (das regionale Davos) sowie die 11. Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation Mitte Dezember in Buenos Aires zeigen: Argentinien ist mit Macri in den Schoß des Neoliberalismus zurückgekehrt. Ob sich Macri bis Dezember an der Regierung hält, wird von einer wachsenden Zahl an Argentinier*innen beweifelt.

 


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VON DER STRASSE INS NETZ UND ZURÜCK

“Frauenrechte sind Menschenrechte” (Foto: Mirjana Mitrovic)

„Catalina, Sambuca… Sagt mal: Können Feministinnen eigentlich Sex haben?“ „Nein… also Sex… also was meinst du eigentlich mit Sex? Denn Sex ist doch nur, wenn eine Penetration durch einen Penis stattfindet, oder?“ „Klar, kein Penis, keine Penetration, kein Sex. Logisch.“ Unter dem Titel #PreguntasParaFeministas (#FragenAnFeministinnen) machen sich die (e)stereotipas, ein Kollektiv aus Mexiko-Stadt, auf Youtube über die stereotypen Ansichten über Feministinnen lustig. In der Serie finden sich weitere Fragen wie „Ihr als Feministinnen, seid ihr eigentlich alle lesbisch?“ oder „Und warum sind alle Feministinnen immer so verbittert?“. Doch nicht alles ist lustig bei den (e)stereotipas: Hinter der Kamera unterstützt von Marcela Zendejas nehmen Catalina Ruiz-Navarro und Estefanía Vela Barba (alias Sambuca) in einem anderen Video machistische Argumente gegen die „Demonstration gegen Gewalt gegen Frauen“ in Mexiko auseinander. Die Demonstration im November 2016 war unter dem Hashtag #25N in ganz Lateinamerika organisiert worden und hatte Tausende auf die Straße gebracht. Reaktionäre bis stupide Gegenargumente wie „Aber Männer leiden auch!“ durften dort natürlich nicht fehlen. Mit Zahlen, Fakten und einer Portion Satire begegnen die Journalistin und Poetin Ruiz-Navarro und ihre Kollegin Vela Barba – die unter anderem gerade in Yale ihre Doktorarbeit in Jura zur Weiterentwicklung des Strafrechts zur Durchsetzung von Frauenrechten entwickelt – den „Argumenten“.

Youtube als Plattform nutzen, um feministische Inhalte zu verbreiten und auf die Situation von Frauen in Mexiko aufmerksam zu machen – allein sind die (e)stereotipas damit nicht. Zahlreiche Kollektive in Mexiko nutzen das Web 2.0 und digitale Medien auf vielfältige und kreative Weisen, um die Zustände in dem stark machistisch geprägten Land anzuprangern. Dabei wird die Straße literarisch in Netz getragen: In schwarze Röcke und Tops gekleidet gehen Las Morras (Die Mädels) durch die Straßen Mexiko-Stadts und nehmen versteckt auf, wie sie von allen Seiten angepfiffen und belästigt werden. Gleichzeitig stellen sie ihre Aggressoren zur Rede – die wenigsten haben tatsächlich etwas zu sagen. Bei Youtube hatte das Video Las morras enfrentan a sus acosadores (Die Mädels konfrontieren ihre Belästiger) seit seiner Veröffentlichung im Mai 2016 über 1,3 Millionen Aufrufe. Wie die mexikanische Zeitung El Excelsior berichtet, erreichten die vier Frauen aufgrund des Videos Hasskommentare bis hin zu Todesdrohungen. An diesem Punkt zerbricht die Illusion vom Internet als offenem Diskussionsraum für alle. „Alles was außerhalb des Internets passiert, findet sich auch online wieder: Dazu gehören auch Stigmatisierung, Stereotypisierung, Gewalt. Oft wird diese Konvergenz nicht wahrgenommen“, erklärt die Hackerin Estrella Soria. Zusammen mit anderen Hacker*innen ist sie bei Tierra Común (Gemeinsames Land) und AutoDefensaDigitalFeminista (Digitale Selbstverteidigung von Feministinnen, ADDFEM) aktiv. Sie unterstützen Menschenrechts-Verteidigerinnen, Journalistinnen, Aktivistinnen und interessierte Frauen dabei, ihre Daten sicher zu verschlüsseln. Auch um möglichen Erpressungen vorzubeugen. „Als Frau in einer Stadt wie Mexiko-Stadt zu leben ist nicht das allereinfachste. Du musst dich behaupten, dich auf eine Weise in den Straßen bewegen, die es dir erlaubt zu überleben. Und wir müssen dieselben Aktionen und Strategien, die wir tagtäglich offline benutzen auch in die sozialen digitalen Netzwerke bringen: Solidarität, Widerstand, Organisation – um eine größere Schlagkraft zu entwickeln“, fährt sie fort. Zusammen mit ADDFEM will sie Frauen zu einem kritischeren und aufgeklärteren Umgang mit digitaler Technologie anregen.

Doch was tun, wenn die Hasskommentare und Anfeindungen losgehen? Ein Phänomen, das feministischen Aktivistinnen – und generell Frauen – weltweit begegnet. Dabei können die virtuellen Anfeindungen genauso „reale“ Folgen wie Kommentare auf der Straße haben. „Füttert den Troll nicht“, empfiehlt Anaiz von den Luchadoras (Kämpferinnen), die beim Internetfernsehsender rompeviento.tv Sendungen zu frauenspezifischen Themen produzieren. „Sie leben davon, dass du ihnen antwortest und genießen es. Außerdem begibst du dich in einen Kampf, der nie aufhört.“ „Genau, fallt nicht auf das Spiel herein. Aber: dokumentiert alles. Macht zum Beispiel einen Screenshot und meldet den Vorfall“, kommentiert ihre Kollegin Eve. Die von Estrella Soria angesprochene „Konvergenz“ zwischen offline und online sowie die Vorfälle der Hasskommentare und Gewalt auch im Internet machen eines deutlich: Eine Grenze zwischen beiden Welten – virtuell und „real“ – ist nur schwer zu denken. Für Soria gibt es die Trennung überhaupt nicht mehr. Aber was bedeutet das für Kollektive und Aktivistinnen? In einem gemeinsamen Projekt versuchen verschiedene Gruppierungen in Mexiko-Stadt eine Antwort zu finden – konkret geht es um die Verbindung von digitaler und körperlicher Selbstverteidigung. Neben den Luchadoras und anderen vornehmlich digital arbeitenden Kollektiven ist deshalb auch das Comando Colibrí dabei. Eine Gruppe von Frauen, die für Frauen und Trans* auf Verteidigung ausgelegte Kampfkurse gibt.

Was also kann das Internet für die organisierten Frauen in Mexiko leisten? „Wir können uns über die Netzwerke weiter verbinden. Und das tun wir. Doch innerhalb der Logiken, nach denen die sozialen Netzwerke und Web 2.0 derzeit funktionieren, ist das schwierig“, erzählt Estrella Soria. Sie wirbt gleichzeitig für eine pro-aktivere Positionierung: „Die Aneignung ist die Attacke. Wie können wir die Technologie zu unserer machen, um damit zu kreieren, was wir wollen? Es ist bestimmt nicht gut, immer in einem Zustand der Verteidigung zu sein.“ Ziel sei die Schaffung einer neuen Infrastruktur, in der die einzelne Person respektiert würde und es Frauen möglich wäre, wirklich frei zu kommunizieren.

Gleichzeitig zeigen Projekte wie die (e)stereotipas, Las Morras oder die Luchadoras, dass das Internet in Verbindung mit digitalen Medien durchaus als aktivistischer Raum genutzt werden kann. Auch Twitter bietet immer wieder Möglichkeiten: #25N vernetzte die Demonstrationen von Frauen gegen Gewalt auf dem Kontinent, der Hashtag #miprimeracoso (#MeineErsteBelästigung) schwappte von Brasilien nach Mexiko und gab tausenden Frauen eine Möglichkeit, ihre Stimme im virtuellen Raum zu erheben und sich zu solidarisieren. Zuletzt zeigte der #Womens- March im Januar eindrücklich, wie groß die Bewegung gegen Donald Trumps misogyne Politik weltweit ist. Auch in Mexiko-Stadt waren zahlreiche Menschen auf die Straße gegangen. Es bleibt jedoch noch einiges zu tun, um das etwaige politische Potential des Internets in Mexiko voll auszunutzen. Laut dem mexikanischen Nationalen Institut für Statistik und Geografie (INEGI) hatten 2016 nur rund 40 Prozent der Haushalte eine Internetverbindung. Bei über der Hälfte der Menschen ohne Zugang liegt dies laut Daten aus dem Jahr 2015 in ihrer individuellen ökonomischen Situation begründet. Auch Estrella Soria äußert Kritik an diesem Zustand und verweist auf die Untätigkeit des Staates, den Zugang auszubauen. Gleichzeitig ermahnt sie: „Ich glaube, das Internet ermöglicht einiges, aber es ist nicht das einzige Werkzeug. Würden wir aufhören uns zu organisieren, wenn das Internet weg wäre? Ich denke nicht. Wir würden neue Wege finden.“

 


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“DER STAAT MÜSSTE DEN NOTSTAND AUSRUFEN”

Protest vor dem Frauenministerium. Alle vier Tage wird in Paraguay eine Frau ermordet. (Foto: privat)

Die jüngsten Proteste gegen die Femizide in Asunción haben es geschafft, die ansteigende Mordrate an Frauen sichtbar zu machen. Wie interpretieren Sie diese Entwicklung und was sind Ihrer Meinung nach die Gründe dafür?

Belén Cantero: In einem großen Teil der Welt wird ein Anstieg von Gewalt gegen Frauen wahrgenommen. Obwohl auf der einen Seite die registrierten Gewaltakte gegen Frauen abnehmen, da solche Taten heutzutage sensibler und häufiger wahrgenommen werden, gehen wir trotzdem davon aus, dass die Gewalt gegen Frauen generell zugenommen hat. Immer mehr Frauen fordern ihre Rechte ein und kämpfen für ihre Freiheit, viele Männer begehren dagegen auf. Ich glaube, wir durchleben eine Krise des klassischen männlichen Selbstverständnisses beziehungsweise Rollenbildes, Frauen gegenüber eine mächtigere Position einzunehmen. Viele Männer reagieren mit Gewalt, um ihre Stellung zu verteidigen.

Welche Maßnahmen fordern Sie von der Regierung, damit sich die vielen Morde nicht wiederholen?

Soziale und politische Organisationen haben sich zusammengeschlossen, um gemeinsam die Untätigkeit der Regierung aufzudecken und anzuklagen. Es gibt eine breite Palette von Forderungen an den Staat. Zunächst einmal dürfen Opfer nicht erneut dem bestehenden System zum Opfer fallen. Anzeigen müssen ernst genommen und aufgenommen werden, und es muss in solchen Fällen von Gewalt unmittelbar gehandelt werden. In vielen Fällen, in denen Frauen Unterstützung vom Staat einfordern, beschützt dieser den Gewalttäter und bezichtigt das Opfer, selbst die Schuld an der Situation zu tragen. Der Staat müsste eigentlich den nationalen Notstand ausrufen, um so unmittelbar die benötigten Kräfte zu bündeln, die zur Schaffung von Notfallzentren für Frauen und weiterer psychologischer sowie juristischer Beratungs- beziehungsweise Betreuungseinrichtungen benötigt werden. Nicht nur das Frauenministerium, sondern auch das Gesundheits- und das Bildungsministerium sollten sich an die spezifischen Bedürfnisse dieser Situation anpassen, beispielsweise wenn es um sexuelle Gesundheit und Reproduktionsfähigkeit geht oder auch, was Kampagnen zur Sensibilisierung und Vorbeugung von Gewalt gegen Frauen betrifft.

Welche Strategien haben Sie, um die Kampagne zu verbreiten und den Staat unter Druck zu setzen, damit er handelt?

Im Laufe des Jahres haben wir zwei Aktionen durchgeführt, eine direkt vor dem Bildungsministerium und eine weitere auf einem öffentlichen Platz. Die hatte einen künstlerischen Charakter und sollte auf die Problematik aufmerksam machen. Am 24. Februar, dem Tag der Frau in Paraguay, werden wir weitere Aktionen dieses Charakters an mehreren Orten durchführen, nicht nur in der Hauptstadt Asunción. Gerade sind wir dabei, uns gemeinsam mit anderen Organisationen an etwas Größerem zu beteiligen, nämlich an dem internationalen Generalstreik der Frauen in Paraguay. Wir sind überzeugt, dass dieser Tag ein Meilenstein für die Frauenbewegung in Paraguay sein wird und wir uns durch unsere Aktionen besser positionieren werden, um für politische Veränderungen entsprechend unseren Bedürfnissen zu sorgen.

Das Frauenministerium in Paraguay arbeitet unter einer ultrakonservativen Regierung, deren Senatoren Frauen offen vergleichen können mit „einer treuen Hündin, die kochen und nur ihren Mann bedienen soll“ (Äußerung von José Manuel Bóbeda in einer Versammlung der Organisation Amerikanischer Staaten 2014). Trotzdem wurde Ende 2016 das Gesetz „Für sie“ erlassen, das versucht, die Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen. Gibt es irgendwelche Erfolge seit der Erlassung dieses Gesetzes und wie effektiv kann das Ministerium unter der Regierung von Horacio Cartes sein?

Das Gesetz „Für sie“ wurde Ende 2016 erlassen. Dieses Gesetz war ein Gewinn durch die Bewegung. Der Kongress nahm dann noch einige Änderungen vor, wodurch die Begriffe „Gender“ und „Feminizid“ herausgenommen wurden und eine Schlichtungsinstanz zwischen Opfer und Täter verpflichtend etabliert wurde, dies bedeutete einen Rückschritt. Nach Protesten wurde ein Gesetz eingeführt, das einen Fortschritt darstellt. Aufgrund dessen wird heute der Straftatbestand „Feminizid“ anerkannt, er wurde schon von einigen Richtern angewandt. Bis heute (Stand 19. Februar 2017, Anm. d. Red.) wurden die Tötungsfälle von elf Frauen offiziell als „Feminizide“ deklariert. Dadurch wird die Problematik sichtbar gemacht und die Debatte verlagert. Der noch fehlende Teil des Gesetzes wird Ende 2017 eingebracht werden. Die aktuelle Regierung und auch der Staat sind weiterhin machistisch geprägt, ebenso wie die Gesellschaft Paraguays. Mit diesem Wissen im Hinterkopf muss uns klar sein, dass dieser Gewinn in der Jurisdiktion auch seine Grenzen hat. Viele Gesetze sind tote Buchstaben. Es kommt auf tiefgreifendere Veränderungen im gesellschaftlichen Bewusstsein an, ebenso wie auf die materielle Situation von Frauen und unserer Organisation, aber auch auf die Kämpfe, die dafür Sorge tragen, dass notwendige Veränderungen weiterhin stattfinden. Dieser Wandel ist kein Wandel von oben, dessen sind wir uns bewusst.

Die gendermotivierte Gewalt drückt sich auch in der starken Diskriminierung der LGBTI-Gemeinschaft in Paraguay aus. Eine Trans- Frau wurde in Ciudad del Este am selben Tag umgebracht, an dem das Gesetz „Für sie“ erlassen wurde. Dieses beschränkt sich aber nur auf den Schutz von Menschen, die vom Staat als biologische Frauen interpretiert werden. Gibt es auch einen Schutzmechanismus gegen strukturelle, psychologische und physische Gewalt gegen LGBTI-Personen?

Die LGTBI-Gemeinschaft bleibt juristisch weiterhin absolut ungeschützt, das beginnt schon in der Aushandlung der Gender-Identität, die mit dem binären Frau-Mann-Schema zu brechen sucht. Es gibt eine Kampagne und ein Gesetzesvorhaben namens „Gegen jede Form von Diskriminierung“, dagegen gibt es nach wie vor viel Gegenwehr. Es ist noch ein weiter Weg zu gehen, aber er ist notwendig. Von 1989, dem Ende der Stroessner-Diktatur, bis 2016 wurden 57 „Trans-Morde“ aus Hass registriert. Während der Diktatur Stroessners waren es 108 Mordfälle, die das Leiden Homosexueller durch deren Verfolgung in dieser Ära aufzeigen.

In Paraguay gibt es eine große Zahl an Bäuerinnen und indigenen Frauen, die noch weiteren Formen von Diskriminierung wie Rassismus und Klassismus ausgesetzt sind. Was bedeutet das für die feministischen Bewegungen in Paraguay?

In Paraguay – und ich denke, auch im Rest der Welt – leiden die Frauen unter diversen Formen von Unterdrückung, die sich lediglich auf das Geschlecht beziehen, insbesondere innerhalb der ärmeren Bevölkerungsschichten. Ein starker Feminismus ohne Frauen aus diesen gesellschaftlichen Bereichen ist undenkbar. In den marginalisierten Stadtvierteln, den bañados, sind die Frauen in der Mehrheit Anführerinnen. Die Frauen aus ländlichen Gebieten sind in der CONAMORI organisiert, ebenso wie die indigenen Frauen. Sicherlich handelt es sich eher um einen Feminismus von Nichtregierungsorganisationen, aber der stößt an seine Grenzen, wenn er nicht weitere Frauen erreicht. Ich denke, heute hat der paraguayische Feminismus in diesem Sinne einen breiteren Horizont. An der Vorbereitung des Generalstreiks beteiligen sich unterschiedlichste Organisationen wie solche aus ländlichen Gebieten, indigene Organisationen, lesbische und Transbewegungen. Wenn das nicht so ist, hat der Feminismus eine sehr kleine Basis und somit nur sehr geringe Möglichkeiten, uns bessere Tage zu bescheren.


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„WILLKOMMEN ZU HAUSE, BRÜDER UND SCHWESTERN!“

Elva Cutz erinnert sich noch gut an die kühle, vorletzte Nacht des Jahres 1996. „Meine Mutter und ich gingen zur Plaza de la Constitución im Zentrum von Guatemala-Stadt und sahen da Teile der Friedensverkündung. Aber ich habe das damals gar nicht verstanden. Ich sah nur Menschen, die weinten, Menschen, die sich vor Glück umarmten, und die vielen Parolen des Friedens dort auf dem riesigen Platz.“ Zwanzig Jahre sind vergangen seit jener Nacht. Auf der Plaza de la Constitución, dem Platz der Verfassung, dem wichtigsten Platz Guatemalas, hatten sich tausende Menschen versammelt. Sie jubeln, als der damalige Präsident Álvaro Arzú verkündet, dass über 35 Jahre Krieg zu Ende seien. Elva war damals noch zu klein, um zu begreifen, was dort passierte und welche Bedeutung dieser Tag für Ihr weiteres Leben haben sollte. Die Erwachsenen hatten es geschafft, für sie, wie für viele Kinder Guatemalas, eine Welt fern der schlimmen Erlebnisse zu schaffen, die sie selbst geprägt hatten. „Ich habe als Kind viele Geschichten gelesen“, erzählt die indigene Aktivistin Andrea Ixchiú. „Eine dieser Geschichten hieß Blutbad im Wald, von Ricardo Falla, einem jesuitischen Priester. Ich wollte wissen, warum die Geschichten der Erwachsenen so traurig und schrecklich sind. Ich erinnere mich, dass mein Vater sich zu mir gesetzt hat und sagte: Das sind keine Märchen, das ist wirklich passiert in Guatemala. Dass es einen Krieg gab, in dem schlimme Sachen passiert seien, aber dass das Land dann begonnen habe, Frieden zu schließen.“

Die, die damals schon älter waren, erinnern sich sehr wohl. Rafael Herrarte, Jahrgang 1959, stammt aus einfachen Verhältnissen. Sein Vater war Straßenarbeiter, seine Mutter besaß ein kleines Geschäft. Als Jugendlicher war Rafael Mitglied einer Kirchengruppe, später dann Gewerkschafter. „Meine Generation ist gezeichnet durch die Morde an Intellektuellen in den 1970er Jahren. 1980 dann stürmte die Polizei eine nationale Arbeiterversammlung und verschleppte 39 Gewerkschafter – Menschen, für die ich größten Respekt empfinde und die ich nie wieder gesehen habe. Das hat in mir den endgültigen Bruch mit dem ausgelöst.“

Community-Radios im Hochland: Radioaktivist Tino in Aktion (Fotos: Voces Nuestras)

1944 hatten die Guatemalteken den letzten einer langen Reihe von Diktatoren gestürzt. Bis dahin war Guatemala ein Feudalstaat gewesen, in dem Bäuerinnen und Bauern zur Arbeit auf den Kaffee- und Bananenplantagen gezwungen wurden und Arbeiter*innen kaum Rechte hatten. Die folgenden zehn Jahre der beginnenden Demokratie gelten bis heute als der „guatemaltekische Frühling“, eine Zeit des Aufbruchs, der Modernisierung. Nicht nur die Frauen erhielten das Wahlrecht, auch Analphabet*innen und damit ein Großteil des ländlichen und indigenen Guatemalas. Die demokratischen Regierungen machten sich an die Arbeit: Über den Ausbau der Universitäten, den Aufbau eines Gesundheitssystems, durch Bildungsreformen und Infrastrukturprojekte sollte Guatemala in das 20. Jahrhundert katapultiert werden.

Die Pläne für eine Landreform berührten jedoch direkt die Interessen der Großgrundbesitzer und des US-amerikanischen Bananenkonzerns United Fruit, bekannt vor allem durch seine Marke Chiquita. United Fruit kontrollierte damals riesige Ländereien in Guatemala und hatte beste Verbindungen zur US-Regierung des damaligen Präsidenten Dwight D. Eisenhower und zur CIA. Der Putsch gegen den gewählten Präsidenten Jacobo Árbenz kam schließlich im Juni 1954.

Die Militärs ergriffen mit US-Unterstützung für Jahrzehnte die Macht und gingen gegen Widerstand zunehmend brutal vor. In den 1970er Jahren vernichteten politische Morde einen Großteil der intellektuellen Klasse von Guatemalas, in den 1980er Jahren wurde das Land Schauplatz des schlimmsten Völkermordes der westlichen Hemisphäre seit dem Zweiten Weltkrieg – mit über Hunderttausend Toten, Verschwundenen, Vertriebenen.

Gerade auf die indigene Beteiligung am Aufstand reagierte die Militärdiktatur mit brutalster Gewalt. Ilom, Chel, Chisis, Acul, Río Negro, Sacuchum Dolores, San José und San Antonio Sinaché: es sind heute nicht nur Namen von indigenen Dörfern, sie stehen auch für die Massaker, die Guatemalas Armee und Todesschwadronen an der indigenen Bevölkerung begangen haben. Vor allem ein Name steht für die Gräueltaten der jahrzehntelangen Militärdiktatur: Efraín Ríos Montt. Als Junta-Chef von 1982 bis 1983 soll er mindestens elf Massaker an indigenen Dorfgemeinschaften befohlen haben.

Die guatemaltekische Politik hat jedoch bis heute kaum ein Interesse, die Konfliktursachen anzugehen, geschweige denn Verantwortung für die vom Staat begangenen Verbrechen zu übernehmen. Doch ein Staat, der seine Kriegsverantwortung nicht anerkennt, kann kaum den Frieden gestalten. Rafael Herrarte, dessen Jugend durch die Morde der Militärs geprägt war, ist heute Chef des Forensischen Institutes CAFCA. CAFCA hat nach dem Friedensschluss vor 20 Jahren, auch mit europäischer Unterstützung, Dutzende Massengräber aufgespürt und untersucht. Die meisten Massaker hatte die Armee angerichtet, in den Gräbern liegen die Skelette vieler Kinder. Viele Frauen waren vor ihrer Ermordung vergewaltigt worden. Wunden, die nur schwer verheilen.

In den 1990er Jahren änderte sich die Lage. Guatemala war aufgrund der Schreckensmeldungen international zunehmend isoliert. Dies ging der dominierenden Unternehmer- und Großgrundbesitzerkaste, den ehemals großen Unterstützern der Militärdiktatur, zunehmend ans Geld. Um wieder Geschäfte machen zu dürfen, musste der Staat auf internationalem Parkett wieder eine gewisse Legitimität zurückgegeben werden. Dazu musste man den Frieden schließen.

Während die einen zurück zu internationalen Märkten wollten, wollten Hunderttausende andere zurück auf ihr Land, zurück nach Hause, zurück zu ihren Familien. Frieden war in den 1990er Jahren die Antwort für alle. 1991 endlich begann Guatemalas Regierung unter Aufsicht der Vereinten Nationen in Mexiko und Skandinavien mit der URNG-Guerrilla zu verhandeln. Im Dezember 1996 wurden schließlich zwölf Friedensabkommen unterzeichnet. Auch César Saloj kann sich noch gut an jenen Tag erinnern. „Wir wohnten damals an der Interamericana, auf der tausende Flüchtlinge in unzähligen Bussen aus dem mexikanischen Exil zurückkehrten. Wir haben Transparente gemalt, wo drauf stand: ‚Willkommen zu Hause, Brüder und Schwestern!’. Wir haben Mandelmilch und Sandwichs verteilt. Mein Vater war sehr bewegt, er ging stundenlang von Bus zu Bus und hieß alle Willkommen. Aber wir Kleinen wussten nicht mal, warum all diese Menschen weggegangen waren.“

„Das sind keine Märchen, das ist wirklich passiert in Guatemala.“


Die zwölf Friedensabkommen handeln von Menschenrechten, von demokratischen Verfassungsreformen, von der Rückführung der Flüchtlinge und der Wiedereingliederung der Guerillakämpfer in die Gesellschaft. Sie versprechen Landreformen, ländliche Entwicklung und indigene Rechte, um die Ursachen des Konfliktes anzugehen. Eine Wahrheitskommission sollte die im Bürgerkrieg von allen Seiten begangenen Verbrechen aufklären. Unter dem Vorsitz des deutschen Völkerrechtlers Christian Tomuschat kam die Kommission 1999 zu dem Ergebnis, dass 93 Prozent der Gräueltaten von der Armee begangen worden und 83 Prozent der Opfer Indigene waren.

Alberto Ramirez, genannt Tino, stammt aus einer Maya-Familie. Als Tinos Vater Anfang der 1980er Jahre von der Armee verschleppt und ermordet wurde, flohen Mutter und Tino zu der Guerilla in die Berge. Aus dem heranwachsenden Tino wurde ein Guerillero – und kämpfte gegen Rassismus und ungleiche Besitzverhältnisse. Aber Tinos Waffen waren weder Gewehr noch Dynamit, sondern ein Mikrofon und ein Fahrrad. Anfang der 1980er war der Guerilla klar geworden, dass sie ein eigenes Medium brauchte – um aufzuklären, anzuklagen, zu mobilisieren. „Mich hat man über die Grenze nach Mexiko geschickt“, erzählt Tino. „Von dort aus habe ich produziert und die Tonkassetten mit dem Fahrrad nach Guatemala geschmuggelt, die wir dann vom Vulkan gesendet haben“. Neun Jahre lang sendete La Voz Popular von den Hängen des Vulkans Tajumulco. Für Tino war das Guerilla-Radio ein Sprachrohr der Stimmlosen, das von den Mächtigen als Bedrohung empfunden wurde. Mehrere Militäroffensiven am Vulkan waren die Folge. Doch der Friedensschluss 1996 bedeutete das Ende von La Voz Popular. Heute lebt der mittlerweile 50-jährige Tino in der Nähe von Quetzaltenango, der zweitgrößten Stadt Guatemalas. Radio macht er weiterhin. Nach dem Friedensschluss gründete Tino zusammen mit anderen ehemaligen Guerillafunker*innen die NGO Mujb’ab’l Yol. Hier produzieren Jugendliche kulturelle, bildungsorientierte und politische Programme. Dem Senderverbund Mujb’ab’l Yol gehören mittlerweile 26 Community-Radios im Hochland an.

„Es kann keine Demokratie ohne freie Meinungsäußerung geben und ohne freie Medien keine freie Meinungsäußerung“, sagt Tino und fügt hinzu: „Aber Sprachrohre der Stimmlosen, die sind auch in sogenannten Demokratien für die Mächtigen eine Bedrohung.“ In Guatemala gebe es eine herrschende Klasse, die nicht wolle, dass Indígenas ihre eigene Entwicklung gestalten. Community-Radios würden aber einen Beitrag zur lokalen Entwicklung, zur Kultur, zur Bildung, auch zur Mobilisierung der Menschen leisten. Vielleicht auch deshalb haben Guatemalas Regierungen nach Friedensschluss die Legalisierung von indigenen Radios verhindert und sie stattdessen kriminalisiert.

„Gestern, heute und immer“: Wandbild im Senderverbund Mujb abl yol

Die Provinz Zacapa liegt zwar im trockenen, heißen Osten des Landes, aber durch zwei große Flüsse ist Zacapa gleichzeitig wasserreich. In Flussnähe werden Bananen, Ananas, sogar Weintrauben angebaut, dazu Tomaten, Paprika und Maniok, die Viehwirtschaft hat große Bedeutung. Die Flüsse speisen sich aus den Bergen in der Umgebung von Zacapa. In  diesen Bergen arbeitet Pfarrer José Pilar Álvarez Cabrera. Die Gemeinde des 54-jährigen zählt 350 Einwohner*innen, fast alle sind Maya Chort’i, Indígenas aus den Bergdörfern.

Die Bergwälder sind bedroht, durch den Bevölkerungszuwachs, vor allem aber durch die Großgrundbesitzer, die hier seit Jahrzehnten abholzen. Heute sind nur noch 20 Prozent intakt. Das Wasser ist spürbar weniger geworden. Es waren die Chort’i-Gemeinden, die sich als erste gegen die Abholzung organisiert und dann mit der katholischen und der lutherischen Kirche eine „Ökumenische und soziale Koordination zur Verteidigung des Lebens” gegründet haben.

Die Bergwälder sollen endlich unter wirksamen Schutz gestellt werden – zum Nutzen aller. Doch was so einleuchtend erscheint, hat eine Welle von Gewalt ausgelöst, gegen die indigenen Gemeinden, in Form von Morddrohungen auch gegen Pfarrer José Pilar selbst. Profite aus illegalem Holzeinschlag scheinen wichtiger als Wasser für alle. Frieden in Guatemala sehe anders aus, meint José Pilar: „Die Friedensabkommen sollten ja die Ursachen des Konfliktes beseitigen – Diskriminierung, den Rassismus, die äußerst ungleiche Besitzverteilung. Aber das hat man schnell beiseite gelegt und die Regierung hat stattdessen einen neoliberalen Kurs eingeschlagen.“ Heute gebe es mehr gewaltsame Todesfälle als während des Krieges, fügt er hinzu.

„Alle haben ganz bewusst Gewalt gegen Frauen als Machtmittel eingesetzt.“


Die Berglandschaft im Osten Guatemalas ist auch die Region, aus der Lorena Cabnal stammt. Sie ist Xinca-Indígena und Feministin. Schon in vorkolumbianischer Zeit habe sich der Machismo der Vorfahren gegen die Frau gerichtet, urteilt sie. Dann kamen Kolonialisierung und Kirche, später Diktaturen und die Aufstandsbekämpfungspolitik während des Bürgerkriegs. Aus Lorenas Sicht „haben sie alle ganz bewusst Gewalt gegen Frauen als Machtmittel eingesetzt. Der Neoliberalismus nach Kriegsende hat diese Situation sogar noch verschärft.“

Heute zählt Guatemala zu den Ländern mit den meisten Fallen von Femiziden auf der Welt: Fast 1.000 Frauen sind allein im letzten Jahr ermordet worden. Auch Lorena hat mehrfach Todesdrohungen erhalten. Die Friedensverträge haben den Frauen in Guatemala also nicht unbedingt etwas gebracht. Oder, vielleicht doch. Lorena verweist auf die heranwachsende, junge Generation, eine Generation, die wortwörtlich die Schnauze voll habe: „Es gibt neue Formen des Protests und neue künstlerischen Ausdrucksformen, Gesichter eines vielfältigen Widerstandes – und zwar sowohl in den Städten wie auf dem Land, in mestizischen wie indigenen Gemeinschaften. Diese neue Generation hat das Potenzial, in Guatemala tatsächlich etwas zu bewegen.“ Und auch Rafael Herrarte, der Chef des Forensischen Institutes CAFCA, sieht deutlich positive Entwicklungen: Die Wiederherstellung der Meinungsfreiheit, dass es heute viel mehr Raum gebe, sich zu organisieren, und etwas zu bewegen. Er verweist auf die Justiz, die in den letzten Jahren einige Militärangehörige zur Verantwortung gezogen hat.

Aber es ist größtenteils der Zivilgesellschaft zu verdanken, wenn sich in den 20 Jahren nach Friedensschluss etwas bewegt hat. Dazu gehören auch die massiven Proteste gegen die Korruption, die im letzten Jahr den Präsidenten Otto Pérez Molina und seine Vizepräsidentin zuerst aus ihrem Amtssitz und schließlich ins Gefängnis beförderten. Aber wesentlich sozialer und gerechter, weniger rassistisch und sexistisch ist Guatemala bis heute nicht. Sechs von zehn Menschen leben in Armut, vier von zehn Kindern sind unterernährt. Menschen wandern in Scharen in die USA aus, zunächst wegen Armut und Perspektivlosigkeit, mittlerweile aufgrund der Gewalt. Heute sterben in Guatemala mehr Menschen eines gewaltsamen Todes als zu Zeiten des Bürgerkrieges. Vielleicht wäre alles anders gekommen, so denken viele Guatemaltek*innen, hätten die USA nicht den guatemaltekischen Frühling weggeputscht, damals, vor über 70 Jahren.


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