“NICHT EINE WENIGER, NICHT EINE TOTE MEHR!”

Foto: Josefina Jauregiberry

Am 19. Oktober kamen tausende Frauen und Mädchen zum Nationalstreik der Frauen zusammen und protestierten unter dem gemeinsamen Motto „Ni una menos, ni una muerta más“ („Nicht eine weniger, nicht eine Tote mehr“) gegen die machistische Kultur, die die Zahl der Feminizide im ganzen Land alarmierend ansteigen lässt. Allein im Oktober sind neunzehn Frauen durch machistische Gewalt gestorben, für das gesamte Jahr 2016 liegt die Zahl der bekannten Frauenmorde bei 226.

Der Plaza de Mayo versank in einem Meer aus Regenschirmen. Tausende Frauen schrien aus Wut und Empörung, bis ihnen die Stimme versagte. Und so wie der Regen am 19. Oktober in Buenos Aires nicht aufhören wollte zu strömen, riss auch der Strom von Frauen und Mädchen nicht ab, die aus den Straßen auf den Platz kamen, um sich vor dem Regierungsgebäude, der Casa Rosada zu versammeln. Mit Plakaten und Rufen prangerten Frauen jeden Alters, darunter auch viele Trans-Frauen und Lesben, die misogyne Kultur an, die schon so vielen das Leben genommen hat und sich unter dem Mantel des Normalen zu verstecken versucht.
Anfang Oktober dieses Jahres fand auf dem Nationalen Frauentreffen in Rosario ein Diskussionsforum unter dem Namen „Ni una menos“ statt, in dem die Themen Feminizid und Bekämpfungsstrategien diskutiert wurden. Das Nationale Frauentreffen versammelt seit 1986 jedes Jahr tausende Frauen aus dem ganzen Land, die gemeinsam in verschieden Workshops und Foren speziell über Themen diskutieren, die sie als Frauen betreffen. Dieses Jahr nahmen 70.000 Frauen teil. Während die Frauen und Mädchen bei der traditionellen Abschlussdemonstration von der Polizei mit Tränengas und Gummigeschossen angegriffen wurden, wurde die 16-jährige Lucía Pérez in Mar del Plata vergewaltigt, gefoltert und ermordet. Die schreckliche Nachricht verbreitete sich über die Medien und sozialen Netzwerke rasend schnell und führte auch weit über Argentiniens Grenzen hinaus zu Wut und Empörung.
Der lateinamerikanische Kontinent ist geprägt von Plünderung, Missbrauch und kolonialer Unterdrückung. Dies zeigt sich auch in der tiefen Verwurzelung von Gewalt und Ungleichheit in seinen Kulturen, der Machismus ist nur ein Beispiel dafür. Doch dieses schwierige Erbe bringt auch das Vermächtnis des ehrfurchtslosen Widerstands und der Selbstorganisation mit sich, wie der Fall Argentinien momentan eindrücklich zeigt. Argentiniens Gesellschaft hat im Widerstand und über die Tragödie gelernt. Seit dem Staatsterrorismus der 70er und 80er Jahre kennt sie die Angst, aber auch den Mut, sie kennt die Zensur und die Erinnerung. Und nachdem sie 2001 in das wohl brutalste Gesicht des Kapitalismus geblickt hat, ist sie außerdem vertraut mit der Macht der Selbstverwaltung und des Kooperativismus.
Der Geist, der heute durch Argentinien und viele andere Länder des Kontinents wandelt heißt Feminismus. Ein Feminismus, der sich nicht zufriedengibt mit der Zerschlagung des Patriarchats, sondern eine Neustrukturierung der gesamten Gesellschaft fordert. Nur Stunden nach dem Bekanntwerden der schrecklichen Tat in Mar del Plata entschlossen sich 50 Organisationen und etwa 300 Frauen in einer kurzfristig organisierten, offenen Versammlung zu einem Nationalstreik der Frauen.
Der Streik und die Demonstration richteten sich nicht nur gegen die Feminizide, sondern auch gegen das hierarchische und patriarchalische System als Ganzes, das das Leben der Frauen in Argentinien bestimmt und dessen maximaler Ausdruck die Morde an Frauen sind. Dieses System bestimmt, ob wir nachts zu Fuß gehen oder welches Verkehrsmittel wir nehmen, es bestimmt unser Gehalt und den Moment, in dem wir der Justiz gegenüberstehen. Es ist kein Zufall, dass Frauen 27 Prozent weniger verdienen als Männer oder wir in prekären Arbeitsverhältnissen sogar bis zu 76 Prozent weniger Lohn bekommen. Es ist auch kein Zufall, dass im Fall einer Klage wegen Belästigung oder Vergewaltigung, zunächst die psychologische Verfassung der Frau in Frage gestellt und gegen sie, anstatt gegen die Täter, ermittelt wird, wie im Fall der 19-jährigen Ayelén Arroyo geschehen. Sie hatte ihren Vater wegen mehrmaliger Vergewaltigung angezeigt, woraufhin der zuständige Richter eine psychologische Untersuchung anordnete. Ayelén wurde kurz darauf von ihrem Vater ermordet.
Der Machismus herrscht, wenn die sexuellen Belästigungen auf der Straße normal sind, wenn der frühe und gewaltvolle Tot von Transvestiten als natürlich betrachtet wird und wenn das Recht auf legale, kostenlose und sichere Abtreibung hartnäckig ignoriert und bestraft wird. Und es ist auch kein Zufall, dass die Aktivistin und politische Anführerin Milagro Sala seit Januar unrechtmäßig inhaftiert ist (siehe LN 503). Der Grund ist „weil sie eine Frau ist, weil sie indigen ist und weil sie sich organisiert hat“, wie es auf den Plakaten bei der Demonstrantion in Buenos Aires heißt.
Es geht also nicht bloß darum, das Strafgesetz zu verschärfen, sondern darum, die strukturelle Ungleichheit sichtbar zu machen und das System zu dekonstruieren, in dem Gewalt gegen Frauen kein Verbrechen wie andere ist, sondern ein geschlechtsbedingtes: ein Feminizid. Diese Art von Gewalt liegt in der Institutionalisierung der ungleichen, hierarchischen und gewaltvollen Beziehungen, die aus Frauen Besitzgegenstände machen.
“Die Mädchen und Frauen, die sich jetzt dem Feminismus nähern und anfangen, über das Patriarchat nachzudenken und zu protestieren, machen Hoffnung. Aber es ist schade, dass wir uns immer wieder das mansplaining (aus „man“ und „explain“ im Englischen, bezieht sich auf herablassendes besserwisserisches Erklärverhalten, meistens von Männern gegenüber Frauen*, Anm. d. Red.) anhören müssen und Energie darauf verwenden, genau die Männer aufzuklären, die nicht die geringste Intention haben, sich zu verändern. Oder dass wir Frauen, die den Machismus hassen, uns mit Frauen streiten, die ihn immer noch verteidigen. Das ist ein großer Sieg des Patriarchats“, meint Rana Vegana, eine der Demonstrantinnen auf dem Plaza de Mayo.
Die Proteste und der Ruf „Ni una menos“ haben sich ausgebreitet und in Uruguay, Brasilien, Chile, Bolivien, Mexiko, Spanien und Frankreich ein Echo hervorgerufen, das deutlich macht, dass dies kein nationales Problem Argentiniens ist. „Auch wenn die Bewegung in Argentinien begann, umfasst sie doch eine Problematik, die in ganz Lateinamerika existiert. Dass ‚Ni una menos‘ auf Spanisch ist, bewirkt, dass sich viele lateinamerikanische Länder damit identifizieren können, was die Bewegung repräsentiert und es als etwas Eigenes übernommen haben. Was diese Bewegung so besonders macht, ist, dass unsere Stimmen immer dann viel lauter sind, wenn sie geeint sind“, sagt Amy Ramírez, eine andere Demonstrantin.
Auch Érika Díaz findet den Zusammenhalt besonders wichtig: “‚Ni una menos‘ drückt aus, worüber ich als Frau schon oft nachgedacht habe. Auf der Demonstration trifft man Leute, die genau so denken, vorher fühlte ich mich damit alleine. Jetzt ist klar, dass es eine große Gruppe in der Gesellschaft gibt, die fordert, dass diese Situation sichtbar gemacht wird. Außerdem fangen Leute an, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, die das vorher nicht getan haben. Das einzige Merkwürdige, sowohl heute auf der Demo, als auch am Tag der Frau und dem Nationalen Frauentreffen, sind die Fahnen. Jede mit ihrer politischen Partei, dabei geht es doch darum, gemeinsam etwas sichtbar zu machen, alle unter dem Motto ‚Ni una menos‘.“
Nach Schätzungen waren es bis zu 400.000 Frauen, die in Buenos Aires auf die Straße gingen und immer wieder „Ni una menos, ni una muerta más“ riefen, wie es die mexikanischen Dichterin und Aktivistin Susana Chávez Castillo sagte, bevor sie umgebracht wurde – weil sie kämpfte, weil sie Feministin war, und weil sie eine Frau war.


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AUF EINEM AUGE BLIND

Rocío Yolanda Angélica Silva Santisteban Manrique:  Die Journalistin und Schriftstellerin ist Vorsitzende der peruanischen Menschenrechtskoordination und schreibt eine Kolumne für die Tageszeitung La República. (Foto: Knut Henkel)
Rocío Yolanda Angélica Silva Santisteban Manrique:
Die Journalistin und Schriftstellerin ist Vorsitzende der peruanischen Menschenrechtskoordination und schreibt eine Kolumne für die Tageszeitung La República. (Foto: Knut Henkel)

Die peruanische Justiz sorgt derzeit wieder  für Empörung. Anfang letzter Woche haben die Richter*innen des Obersten Gerichtshofs die Verurteilung des inhaftierten früheren Präsidenten Alberto Fujimori wegen Veruntreuung von Staatsgeldern zur Bestechung von Boulevardmedien gekippt. Ende Juli wurde auch die Klage von Opfern von Zwangssterilisationen gegen Fujimori abgewiesen. Ist Perus Justiz auf einem Auge blind?
Unsere Justiz ist sehr langsam, viele Richter*innen sind korrupt und oft unsensibel gegenüber Opfern. Das hat in vielen Fällen für Empörung gesorgt, denn in den beiden genannten Verfahren gibt es zahlreiche Beweise. So hat eine Kommission des Kongresses bereits 2002 in einer Studie festgehalten, dass 314.605 Frauen im Rahmen des Programms zur Familienplanung in der Regierungszeit von Alberto Fujimori sterilisiert wurden. Der nationale Ombudsrat hat hingegen in einem Bericht die Zahlen konkretisiert: Demnach wurden zwischen 1996 und 2001 in Peru 272.028 Frauen und 22.004 Männer sterilisiert. Allerdings weiß niemand genau, wie viele gegen ihren Willen, zum Teil mit Gewalt, sterilisiert wurden. Im Vorfeld des Prozesses wurden aber mehr als 2.000 Fälle von gewaltsamer Sterilisation dokumentiert.

Also fehlte es nicht an Beweisen?
Nein, Beweise für das Leid der Frauen und für die staatliche Politik, die darauf abzielte, vor allem indigene Frauen unfruchtbar zu machen, gibt es ausreichend. Doch die Ermittlungen gegen Expräsident Fujimori und seinen Gesundheitsminister dauern schon mehr als 14 Jahre an. Sechsmal wurde der Fall schon archiviert. Das ist ein Skandal.

Wie kommt es zu so einem Urteil, denn schließlich haben auch internationale Menschenrechtsorganisationen den Fall beobachtet?
Gute Frage – und deshalb auch schwer zu beantworten. Zum einen haben wir es mit den schon angesprochenen Strukturen in der Justiz zu tun. Zum anderen ist Peru eine Gesellschaft, die von der Diskriminierung der Frau, und noch stärker von der Diskriminierung der indigenen Frau, geprägt ist. Das Gros der Frauen, oder besser, fast alle, die zwangssterilisiert wurden, sind indigene Frauen, die eben nicht gefragt wurden, ob sie sterilisiert werden wollen – sie wurden einfach sterilisiert, als sie im Krankenhaus entbunden wurden. Dafür haben viele Ärzte eine Prämie erhalten.

Haben Sie die Hoffnung, dass die neue Regierung in diesem Fall aktiv werden wird?
Hoffnung ja, aber bisher hat es nicht mehr als die Ankündigung gegeben, dass es eine Kommission geben soll – doch das war vor dem Urteil.

Am 14. August hat der Ende Juli vereidigte Präsident Pedro Pablo Kuczynski an der Demonstration gegen Gewalt gegen Frauen teilgenommen. Die fand unter dem Slogan „Wer eine anfasst, fasst alle an“, statt. Bis zu 150.000 Menschen nahmen teil. Ein Signal?
Das ist positiv, aber ich denke, dass wir Frauen selber nicht locker lassen dürfen. Wichtiger als die Teilnahme des Präsidenten, einiger Minister und Abgeordneter ist die Teilnahme unglaublich vieler Menschen, vieler Frauen, vieler, vieler Kinder, Menschen mit Behinderung und auch vieler Männer. Das ist positiv und es waren auch viele indigene Frauen vertreten – wir kommen voran.

Wie ist die Situation von Frauen in Peru – kann frau sich sicher fühlen?
Die Statistiken belegen, dass Gewalt gegen Frauen ein gravierendes Problem der peruanischen Gesellschaft ist – wir führen die Statistiken der Gewalt gegen Frauen in Südamerika an. Wir haben ein massives Problem mit familiärer Gewalt und die Dunkelziffer ist hoch. Den offiziellen Zahlen aus dem Ministerium für Frauen zufolge, wurden dieses Jahr bereits 54 Frauen von Männern ermordet, hinzu kommen 118 registrierte Mordversuche. Die Ministerin Ana Romero Lozada hat darauf hingewiesen, dass Peru weltweit die Nummer Drei bei gewaltsamen Übergriffen auf Frauen ist. Laut der Ombudsstelle werden landesweit jeden Monat zehn Frauen von ihrem Partner getötet – seit 2011 wurden 498 Opfer registriert. Doch Frauenorganisationen gehen von deutlich höheren Zahlen aus, denn nicht jede Gewalttat wird angezeigt.

Es hat den Anschein, dass Gewalt gegen Frauen nicht nur Teil der peruanischen Realität ist, sondern auch dass die Justiz Teil des Problems ist.
Ganz bestimmt und das ist auch ein Grund, weshalb der Demonstrationszug auch am Justizpalast vorbeizog und die Richter kritisierte. Ob die letztlich begriffen haben, dass sie Teil des Problems sind, weil sie sich immer wieder unsensibel gegenüber den Opfer von Gewalt und vor allem sexueller Gewalt verhalten, weiß ich nicht. Es kommt immer wieder zur Stigmatisierung der Frauen. Noch einmal: Die Justiz in Peru ist langsam und korrupt. Das sorgt gerade in Fällen sexueller Gewalt immer wieder für Empörung bei den Opfern und bei Frauen- und Menschenrechtsorganisationen. Es gibt Dutzende von Beispielen.

Einige Richter begrüßten die Demonstranten nicht wahr?
Ja, und genau deshalb denke ich, dass längst nicht alle begriffen haben, welche Rolle sie spielen.

Was ist nötig, damit Frauen in Peru sicher leben können?
Ein Mentalitätswandel, denn der machismo ist in Peru extrem stark tradiert und in der Werbung genau wie in den Medien präsent. Das ist ein gravierendes Problem. Das andere Problem ist die Tatsache, dass gern nach schärferen Gesetzen geschrien wird. Aber die Gesetze sind nicht so schlecht, sie müssen nur angewendet werden. Das ist ein Dilemma, denn die Strafen, die nach Gewaltverbrechen gegen Frauen und Kinder verhängt werden, sind oftmals niedriger als die gesetzlichen Vorgaben und oft auch auf Bewährung ausgesetzt. Für die Opfer ist das eine bittere und erniedrigende Realität.

Wie haben Sie die Berichterstattung in Peru über die Demo wahrgenommen?
Vieles war positiv, aber es gab auch Videos und Berichte von Journalisten aus abgelegenen Regionen, die gegen den Marsch waren und negativ berichteten. Auch das ist Teil der peruanischen Realität. Deshalb ist es so wichtig, gegen diesen machismo anzuarbeiten: Wir brauchen mehr Auseinandersetzung, mehr Information an den Schulen, mehr Diskussion. Ein weiteres Beispiel: Als Reaktion auf den Slogan „Nicht eine Mehr“, mit dem auf die Gewalt gegen Frauen in Peru aufmerksam gemacht wird, hat eine Gruppe von Männern für den 3. September unter dem Slogan „Nicht einer mehr“ einen Marsch gegen die Ausbeutung von Männern durch die Frauen angemeldet. Die Realitäten in Peru spotten manchmal jeder Beschreibung.


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WEISS UND MÄNNLICH

VERÔNICA FERREIRA
ist Mitglied der Koordination der feministischen Nichtregierungsorganisation SOS Corpo Instituto Feminista para a Democracia. Die promovierte Sozialarbeiterin forscht und lehrt zu Erwerbsarbeit von Frauen, feministischer Theorie, patriachaler Gewalt sowie Politik der öffentlichen Hand. Als feministische Aktivistin engagiert sie sich unter anderem im nationalen Frauenverband Articulação de Mulheres Brasileiras.(Foto: Agencia Brasil)

War die von Temer gebildete Regierung – 23 Minister, keine Ministerin, alles weiße Männer einer bestimmten Altersgruppe – eine Überraschung für die feministische Bewegung?
Nein, das hat uns überhaupt nicht überrascht. Hinter der Regierung Temer steht ein elitärer, oligarchischer und patriarchaler Pakt. Das Patriarchale wurde schon überaus deutlich in der Form, in der die demokratisch gewählte Präsidentin Dilma Rousseff attackiert wurde. Und zwar bereits seit ihrer Wiederwahl 2014. Die Attacken waren absolut misogyn und haben den Hass dieser Eliten, welche seither den demokratischen Regeln in diesem Land Gewalt antun, sehr deutlich ausgedrückt. Sie sind wirklich Patriarchen, dieselben wie immer, und heute zeigen sie ihre perversen Anteile erneut. Deshalb war es keine Überraschung, sondern sehr kohärent mit dem, wofür diese politischen Kräfte stehen.

Gleichzeitig sieht es so aus, als gäbe es den Versuch eines konservativen „Rollback“ in sehr vielen gesellschaftlichen Bereichen: ökonomisch, sozial und auch kulturell. Woher kommt diese gesellschaftliche Bewegung, warum hat sie aktuell so viel Stärke gewonnen?
Wir haben nur eine vorläufige Analyse. Ich denke, wir werden noch mehr Zeit und analytische Kraft brauchen, um genau zu verstehen, wie dieser Fundamentalismus im letzten Jahrzehnt so stark werden konnte, nicht nur in Brasilien und in Lateinamerika, sondern weltweit. Denn das ist ein Prozess, der nicht nur in Brasilien stattfindet. Ökonomisch betrachtet, handelt es sich um eine Offensive ultraliberaler Kräfte, die versuchen, eine bestimmte Politik zu restaurieren. In Lateinamerika wurden in den letzten Jahren fortschrittliche Arbeitsrechte und soziale Reformen etabliert und sie wollen diesen Prozess blockieren. In der aktuellen ökonomischen Krise ist dies eine Offensive, um die neoliberale Politik der 90er Jahre wiederherzustellen.

Wer steht konkret hinter dieser „ultraliberalen Offensive“?
In Brasilien sind es Repräsentanten des Finanzkapitals, der Banken. Seit der letzten Wahl unterstützen die Banken die konservativsten Kandidaten. Das ist ein Versuch, sich auch öffentliche Gelder anzueignen. Die Banken erwirtschaften in Brasilien ziemlich viel Profit, aber sie möchten diesen noch steigern. Auch der industrielle Sektor ist beteiligt, die Unternehmerverbände. In São Paulo hat zum Beispiel der Industrieverband FIESP die Bewegung für das Impeachment sehr stark gesponsert. Es gibt dieses Bild einer riesigen gelben Ente auf der Avenida Paulista, die Teil der Kampagne der FIESP war [als Symbol für die Weigerung höhere Steuern zu zahlen, Anm. der Red.]. Die FIESP und dieser ganze Sektor organisieren sich, damit der Staat Rechte beschneiden kann. Es ist ein Versuch, die Rechte der Arbeiterklasse, der Frauen und der Schwarzen zurückzunehmen, damit der Finanz- und Industriesektor ohne finanzielle Verluste aus der Krise herausgeht. Schon in der letzten Legislaturperiode haben sie versucht, die Renten und die Arbeitgeberanteile an den Steuern zu kürzen. Diese politischen Kräfte, die rechten Parteien, die bei den letzten Wahlen eine Niederlage erlitten haben, sowie die wirtschaftlichen Interessen des Finanzkapitals und der Industrie sehr stark repräsentieren, haben die ökonomische Krise in eine politische Krise verwandelt.

Banken und Industrie werden eigentlich nicht mit den konservativen Sektoren der modernen Gesellschaft in Verbindung gebracht. Wenn „Ultraliberale“ hinter der politischen Krise stehen, warum verbinden sie sich ausgerechnet mit den konservativsten Parlamentarier*innen?
Unserer Meinung nach sind die Vertreter der Banken und des Unternehmertums keine fortschrittlichen Kräfte. Die ökonomische Elite verhielt sich immer sehr ablehnend gegenüber allen sozialen Rechten, sie war absolut gegen alle Projekte staatlicher Politik, die Reichtum verteilen und Ungleichheit abbauen. Sie ist sehr konservativ, und auch die religiösen fundamentalistischen Kräfte gehören zur ökonomischen Elite. Viele der religiösen Fundamentalisten im Parlament sind Besitzer einflussreicher, großer Medien und repräsentieren damit die neuen ökonomischen Sektoren Brasiliens. Und sie benutzen die konservativen Werte, diese ganze konservative Agenda, um ihre politische Macht zu erhalten. Die Frauenrechte dienen als Wahlgeschenke. Und auch die brasilianische Gesellschaft ist sehr konservativ, vor allem die Mittelklasse. Ein gutes Beispiel: Als die Arbeitnehmerrechte für Hausangestellte eingeführt wurden, hat die Mittelklasse heftig protestiert. Bis vor zwei Jahren hatten Hausangestellte keine geregelten Arbeitszeiten, 25 Jahre nach der Re-Demokratisierung. Die große Herausforderung vor der wir stehen ist eine gesellschaftliche Analyse, um den Grad an Konservativismus und Autoritarismus in der brasilianischen Gesellschaft zu erkennen. Denn die fundamentalistischen Kräfte setzen die konservativen Grundhaltungen um, die aus der brasilianischen Gesellschaft kommen.

Aus feministischer Perspektive: Welche Maßnahmen und Gesetzesvorhaben der Regierung Temer sind am gefährlichsten für die sozialen Errungenschaften der letzten 14 Jahre?
Es ist mehr die Gesamtheit der Maßnahmen, die äußerst besorgniserregend ist. Als provisorische Regierung hätte diese gar nicht die Macht haben dürfen, Ministerien abzuschaffen oder umzustrukturieren. Das Ministerium für Gleichstellung, das Frauenministerium und das Ministerium für Menschenrechte wurden abgeschafft, das Ministerium für Altersversorgung wurde an das Planungsministerium angegliedert. Das alles bedeutet eine Reduzierung staatlicher Politik in sehr wichtigen gesellschaftlichen Bereichen. Die Etablierung dieser Ministerien war ein historischer Erfolg und  schaffte äußerst wichtige Strukturen, um der Ungleichheit zu begegnen. Gleichzeitig war sie aber auch eine Anerkennung, dass diese Ungleichheit überhaupt  existiert. Insofern hat uns dieser Putsch sehr hart getroffen. Die Reduzierung der sozialen Rechte ist ein Ziel dieser illegitimen Regierung. In diesem konservativen Umfeld haben Frauen, die Gewalt wie zum Beispiel eine Vergewaltigung erfahren, jetzt keine Möglichkeit mehr, dieses Problem anzugehen –. weil es keinen staatlichen Mechanismus mehr gibt, keine staatliche Politik in diesem Bereich. Es ist ein sehr großer Rückschritt in Bezug auf die Demokratisierung, den wir erleben. Ein Rückschritt um mindestens 50 Jahre, meiner Meinung nach.

Die Regierung Temer ist jetzt etwas über einen Monat an der Macht und drei Minister mussten bereits wegen Korruptions- oder Konspirationsvorwürfen zurücktreten. Ist es realistisch, dass Temer sich bis Oktober an der Macht hält, um Neuwahlen zu verhindern?
Heute ist ganz klar, dass der Vorwurf der Korruption gegenüber der gewählten Präsidentin nur ein Vorwand war, um die Macht zu übernehmen. Bei den Ministern zeigt sich die ganze Ignoranz dieser Regierung, denn entweder sind sie korrupt oder völlig inkompetent. Aber es gibt eine starke Mehrheit für den Putsch im Senat, und unglücklicherweise war auch das höchste Gericht, das STF, Komplize in diesem Putsch, in dieser Konspiration für ein Impeachment. Das STF hat auch die Umstrukturierung der Ministerien durch die provisorische Regierung genehmigt, obwohl dies aus juristischer Sicht nicht hätte passieren dürfen. Es gibt also sehr starke Kräfte im Parlament, in der Judikative und in den Medien, die die Stabilität dieser Regierung garantieren, trotz der bereits demonstrierten Unfähigkeit.

Das klingt so, als würde Temer an der Macht bleiben?
Nein, wir organisieren uns, um diese Regierung zu stürzen, um zu legalen demokratischen Verhältnissen in unserem Land zurückzukehren. Praktisch jeden Tag gehen Menschen in ganz Brasilien auf die Straße. Die Demonstrationen sind groß und systematisch organisiert, auch wenn sie zahlenmäßig vielleicht hinter denen von 2013 zurückbleiben. Aber es sind sehr viele Leute aus verschiedensten Sektoren der brasilianischen Gesellschaft. Viele bekannte Künstler und Musiker haben sich öffentlich gegen den Putsch ausgesprochen. Und die Proteste sind überall: Es gibt Besetzungen in den Schulen, das Kulturministerium ist besetzt, es gibt öffentliche Kundgebungen. Und sie werden über diesen langen Zeitraum hinweg organisiert, ohne dass die Bewegung „Es wird keinen Putsch geben“ ihre Kraft verliert. Heute sehe ich eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse zu unseren Gunsten: Für die brasilianische Gesellschaft ist jetzt sehr viel klarer, dass es sich bei diesem Impeachment um einen Putsch und eine Konspiration gehandelt hat. Ich denke, dass diese Regierung nicht durch  staatliche Institutionen gestürzt werden kann, sondern nur durcheine Mobilisierung von unten.

Was müsste sich ändern, damit sich eine politische Situation wie heute nicht wiederholt? Was können politische Reformen bewirken, für die sich SOS Corpo 2014 eingesetzt hat?
Wir haben uns stark engagiert, weil wir politische Reformen als strategisch absolut notwendig eingeschätzt haben, um die Politik zu demokratisieren und die Partizipation aller Sektoren der Gesellschaft zu garantieren. Das heutige politische System in Brasilien, die repräsentative Demokratie, bevorzugt in allen politischen Räumen und Verfahren die männliche und weiße ökonomische Elite. Und einer der Mechanismen, die diese Privilegierung erhalten, ist die private Finanzierung politischer Kampagnen. Die Kampagnen in Brasilien sind sehr teuer, auch auf bundesstaatlicher oder kommunaler Ebene, es geht um Millionenbeträge. In der privaten Finanzierung politischer Kampagnen liegt auch die originäre Quelle der Korruption. Denn Unternehmen finanzieren keine Kampagnen, sie investieren und präsentieren anschließend die Rechnung. Dieses politische System verschafft Frauen keine Vorteile. Es gibt zwar eine Frauenquote von 30 Prozent bei den Parteien, aber sie wird kaum respektiert. Und noch viel weniger in Bezug auf schwarze Kandidatinnen oder LGBT. Eine unserer fundamentalen Forderungen ist deshalb eine 50 Prozent-Quote bei allen Wahllisten der Parteien. Eine andere zentrale Forderung ist die Demokratisierung der Massenmedien. Das Impeachment hat gezeigt, wie notwendig dies ist. Außerdem fordern wir die Stärkung von Elementen der direkten Demokratie, wie Volksentscheide, die heute in Brasilien sehr schwach sind. Warum kann jemand wie Eduardo Cunha, der die gesamte Demokratie gefährdet, nicht direkt vom Volk abgewählt werden?

In den letzten Tagen gab es vehementen Protest gegen die „Vergewaltigungskultur“. Der Auslöser war eine Gruppenvergewaltigung in Rio de Janeiro, bei der anschließend dem Opfer die Schuld zugewiesen wurde. Hat dieser Protest auch mit der aktuellen politischen Situation zu tun?
Wir haben in einer sehr gründlichen Untersuchung festgestellt, dass Straftaten, Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt gegen Frauen in dem aktuellen konservativen Klima, das sich gegen unsere Rechte richtet, deutlich zugenommen haben. Es ist kein Zufall, dass sich die Zahl der Anzeigen wegen Vergewaltigungen, auch Gruppenvergewaltigungen, stark erhöht hat. Insbesondere die Anzahl der Gruppenvergewaltigungen von lesbischen Frauen, um ihre „sexuelle Orientierung zu korrigieren“. Wir wissen von mehreren Fällen im ganzen Land. Man muss das im Zusammenhang sehen mit dem Abgeordneten Bolsonaro, der im Parlament öffentlich zu der Abgeordneten Maria do Rosario gesagt hat, er würde sie nicht vergewaltigen, weil sie dies nicht verdiene. Unserer Meinung nach fördert diese Art von politischer Haltung den Konservatismus, den Machismo, der in den sozialen Beziehungen bereits existiert. Was uns Hoffnung gibt, ist der große Widerstand der Frauen im ganzen Land, sei es auf den Straßen oder in den sozialen Medien. Es gibt eine große feministische Kraft, den Putsch zu denunzieren und den gesellschaftlichen Rückschritt zu blockieren. Wir erleben einen wirklich traurigen Moment unserer Geschichte, aber diese Kraft gibt mir Hoffnung.


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Wenn die Rede von Machos ist…

Wenn die Rede von Machos ist, sind sich die meisten darüber bewußt, daß sie ein Fremdwort aus dem Spanischen benutzen. Der “Machismo” ist eins der verbreitetsten Klischees über Lateinamerika. Darauf spielen Kampmann und Koller-Tejeiro vermutlich an, wenn sie als Untertitel zu ihrem Buch “Madre Mía” die Frage stellen, ob Lateinamerika der Kontinent der Machos sei.(Wer so etwas thematisiert, sollte mir einen Kontinent ohne Machos nennen, da würde ich nämlich sehr gerne hingehen!). Leider war eine Antwort darauf anscheinend nicht so einfach zu formulieren wie die Frage selbst, denn auf sie geht keine der Autorinnen ein, die zu dem Buch beigetragen haben.
Im Buch sind Aufsätze von verschiedenen Autorinnen über den Frauenalltag und die Frauenbewegung in Lateinamerika gesammelt. Themen wie Verhütung, sexuelle Aufklärung, Geschlechterrollen, Identität, Arbeitswelt und der Kampf ums Überleben und um Anerkennung werden oft aus der Perspektive der betroffenen Frau gezeigt, entweder in Interviews oder durch ihre Biographien, was die Lektüre lebendig und leicht macht. Dabei werden Frauen aus unterschiedlichen Schichten dargestellt: Von der Karrierefrau in Mexiko über das Dienstmädchen in Kolumbien bis zur “Indiofrau” in Ecuador. Allerdings wird dem/r LeserIn nicht klar, welche Repräsentativität die Fallbeispiele haben und nach welchen Kriterien die Auswahl verlief.
Es wird gezeigt, wie die Frauen ein neues Bewußtsein entwickeln, indem sie sich selbst organisieren und verwalten, sei es in Volksküchen, in Betrieben oder in BäuerInnenprojekten, und wie sie nach neuen Wegen suchen, um voranzukommen, da sich die Männer von jeder Verantwortung fernhalten.
Das Buch gibt einen Einblick in die Lebensverhältnisse der Frauen in Lateinamerika, da die Berichtenden die Rolle passiver Beobachterinnen einnehmen und im Reportagestil (begleitet von großen und künstlerisch schönen Bildern) schreiben. Wer also befürchtet, durch diese Lektüre seine eigene Lebensweise in Frage stellen zu müssen, kann unbesorgt sein, erzählt wird nur über “das Fremde”.

Martina Kampmann, Yolanda M. Koller-Tejeiro (Hrg.) – Madre Mía! Kontinent der Machos? Frauen in Lateinamerika. Elefanten Press, Berlin 1991.
ISBN 3-88520-387-1.


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