GEWALT UND GESETZ: BOLIVIEN

Selbstbewusst und selbtbestimmt In einer Welt, die uns zur Scham erzieht, ist der Stolz eine politische Antwort (llustration: Pilar Emitxin, @emitxin)

Seit 2013, als Feminizid als juristisches Werkzeug in Bolivien eingeführt wurde, wurden 678 Frauenmorde offiziell registriert – es muss jedoch davon ausgegangen werden, dass die wahre Zahl weitaus höher liegt. Im Jahr 2019 gab es 117 Feminizide, 2018 waren es 128. Das Land steht damit im lateinamerikanischen Vergleich an fünfter Stelle.

Das Gesetz Nr. 348 aus dem Jahr 2013 definiert unter dem Titel Integrales Gesetz, um Frauen ein Leben ohne Gewalt zu garantieren, 16 verschiedene Formen von Gewalt an Frauen, darunter auch erstmals explizit Feminizid mit einer Höchststrafe von 30 Jahren Gefängnis. Das Gesetz wurde als Meilenstein gefeiert. Es ist dem unermüdlichen Bemühen der bolivianischen Feminist*innen zu verdanken, dass das Gesetz nach sechsjähriger Debatte verabschiedet wurde und dass Gewalt an Frauen als solche definiert wird. Sowohl auf landesweiter als auch städtischer Ebene wurden spezifische Instanzen geschaffen, die im Kampf gegen die Gewalt an Frauen sowohl Prävention als auch Betreuung für Gewaltopfer bieten sollen.

Der Zugang zum Justizsystem ist jedoch sowohl im urbanen als auch im ländlichen Raum sehr schwierig. Von den 113.269 Strafanzeigen wegen Gewalt an Frauen, bei denen das Gesetz Nr. 348 zur Anwendung kam, und die in den Jahren 2015 bis 2018 registriert wurden, führten lediglich 1.284, also 1,13 Prozent zu einer Verurteilung des Straftäters. Die Straflosigkeit von mehr als 98 Prozent der Straftaten ist erschreckend.

Die Gesetzeslage ist zwar im internationalen Vergleich vorbildlich, ihre Umsetzung ist jedoch sehr kritikwürdig. Zahlreiche Studien belegen die Mängel sowohl auf individueller als auch systematischer Ebene. Die Interpretation der Fälle hängt von der persönlichen Einschätzung der Richter*innen, politischen und finanziellen Einflüssen, Sensibilisierung hinsichtlich der Problematik und vielen weiteren Faktoren ab.

Angesichts eines weit verbreiteten Misstrauens und der Korruption im Justizsystem ist die Orientierung und Unterstützung von Frau zu Frau ein wirksames Mittel, um aus einem gewalttätigen Umfeld auszubrechen. Eine wirksame Strategie des Widerstands ist der medienwirksame Einfluss feministischer Gruppen und Netzwerke, die vor allem das patriarchale Justizsystem anprangern, welches den Opfern den Zugang zu Gerechtigkeit systematisch verweigert. Frauenmorde sind lediglich die Spitze des Eisberges – die machistische Kultur und das patriarchale System durchdringen die bolivianische Gesellschaft bis in die Wurzeln. Dekolonisierung und Abschaffung des Patriarchats sind große Schlagwörter sowohl unter den feministischen Organisationen als auch in der politischen Debatte. Die Übergangsregierung erklärte 2020 als Jahr des Kampfes gegen die Gewalt an Frauen und Kindern, doch fehlt es von Seiten der Politik – egal welcher Partei, auch der nun wiedergewählten Bewegung zum Sozialismus (MAS) – an Substanz und echtem Kompromiss, um die feministische Agenda in die Tat umzusetzen.

GEWALT UND GESETZ: ARGENTINIEN

Illustration: Paulyna Ardilla, @paulyna_ardila

Im Jahr 2012 wurde der Femizid in Argentinien als erschwerender Straftatbestand zum Mord eingeführt, der die Haftstrafe auf lebenslänglich erhöht. Vor dem Gesetzesprojekt hatten einige gravierende Fälle Schlagzeilen gemacht. So auch der Mord an Wanda Taddei, die 2010 von ihrem Ehemann, dem damaligen Schlagzeuger der bekannten Band Callejeros, verbrannt wurde. In einem ersten Urteil wurde ihm wegen des Umstands der sogenannten emoción violenta („aufbrausendes Gemüt“) Strafmilderung zuteil, die aber in einem zweiten Verfahren aufgehoben wurde.

Unter anderem die Möglichkeit einer solchen Strafmilderung wurde nach der Gesetzesänderung von 2012 in Zusammenhang mit Femiziden gestrichen. Dennoch wurden die Täter in den ersten drei Jahren des Gesetzes nur in 6,3 Prozent der Fälle verurteilt. Schon zuvor hatte es Kritik an der mangelhaften Umsetzung des Gesetzes 26.485 zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen aus dem Jahr 2009 gegeben: So fehlten Gelder und Frauenhäuser, die Abstimmung der verantwortlichen Behörden zur Einhaltung der Schutzmaßnahmen für Betroffene sexualisierter Gewalt funktionierte nur unzureichend.

Da es bis dato keine öffentlichen Statistiken zu Fallzahlen von Femiziden gab, wurden diese ab 2008 von nichtstaatlichen Organisationen wie La Casa del Encuentro erhoben. Angesichts der anhaltenden Gewalt gegen Frauen entstand die feministische Bewegung Ni Una Menos und organisierte am 3. Juni 2015 die ersten Massendemonstrationen in verschiedenen Städten. Seitdem haben sich auf der ganzen Welt Ableger der Bewegung gebildet. In Argentinien erreichten die Proteste unter anderem, dass der Oberste Gerichtshof öffentliche Statistiken zu Fallzahlen von Femiziden anlegt. Für das Jahr 2019 zählte dieser 327 Fälle – fast alle 27 Stunden wurde eine Frau aufgrund ihres Geschlechts ermordet. Es wird angenommen, dass die tatsächliche Zahl noch höher liegt, da nicht alle Femizide rechtlich auch als solche klassifiziert werden.

Nachdem im Jahr 2016 drei Männer die 16-Jährige Lucía Pérez zu Tode vergewaltigten, wurde zum ersten Mal zu einem landesweiten Frauenstreik aufgerufen, der sich nun als Instrument des feministischen Widerstands etabliert hat. Dass die Angeklagten im Fall Lucía in einem Urteil von 2018 voller stereotyper machistischer Vorurteile von der Anklage des Femizids freigesprochen wurden, hat die patriarchalen Strukturen des Justizsystems einmal mehr offenbart. Die mediale Empörung auf das Urteil führte auch zur ausstehenden Verabschiedung des Gesetzes Micaela, das verpflichtende Schulungen für Staatsangestellte auf allen Ebenen vorsieht, um diese in Sachen Gender und geschlechtsspezifischer Gewalt zu sensibilisieren. Der Freispruch im Fall Lucía wurde auf den Druck der Bewegung im August 2020 revidiert, der Fall wird nun neu aufgerollt.

„WIR SIND GEMACHT AUS MUT UND ZÄRTLICHKEIT“

25. Juli Internationaler Tag der Schwarzen Frauen aus Lateinamerika und der Karibik

Illustration: Denise Silva, @ise_camaleoa


EIN BISSCHEN BRASILIEN

Sie war zehn Jahre alt. Sie hatte weder Mutter, noch Vater. Sie wohnte bei ihrer Großmutter und ihrem Onkel. Ihre Mutter war tot und wo ihr Vater war, wusste man nicht. Immer dann, wenn sich ihm die Gelegenheit bot, vergewaltigte ihr Onkel sie. Seit sie sechs Jahre alt war. In ihrem Körper, der sich selbst erst noch entwickelte, wuchs ein Kind aus der Gewalt eines 32-jährigen Mannes. Ein Schmerz im Unterleib ließ sie zum Arzt gehen. Dort gab es den schmerzhaftesten und unwiderlegbarsten Beweis für die dem Mädchen angetane Gewalt: Sie war schwanger.

Das Mädchen weinte und schrie, sie wollte dieses Baby nicht. Die Schwangerschaft musste in der 24. Woche unterbrochen werden. Das Gesetz gibt ihr dieses Recht. Aber Unterstützer des Präsidenten Jair Bolsonaro und katholische und evangelikale Fundamentalist*innen stellten sich vor das Krankenhaus, in dem der Schwangerschaftsabbruch durchgeführt werden sollte. Sie beschimpften sie als Mörderin. Sie nannten sie ein Monster. Sie, ein Mädchen, das die Schlimmste aller Gewalttaten erleiden musste, und das an seinem Körper und seiner Seele Verletzungen hatte, die sehr lange brauchen werden, um zu vernarben.

Ich wartete darauf, im Fernsehen Bilder des Onkels zu sehen, der verhaftet wurde. Ein Schwarzer Mann. Sie war Schwarz. Sie war ein verfügbarer Körper. Sie trug an ihm das Stigma der Unterwürfigkeit: Ihr Schwarzsein. Die Farbe ihrer Haut erklärt auch, warum sich so viele Gläubige im Recht sahen, ihr zu sagen, dass diese Abtreibung ein Verbrechen wäre. In Bezug auf einen entmenschlichten Körper ist alles erlaubt. Sie war Schwarz.

Sechs Jugendliche spielten Computerspiele in einem Haus in der Favela Morro do Salgueiro, in São Gonçalo im Bundesstaat von Rio de Janeiro. Sie waren gemeinsam in Quarantäne. Sie befolgten die Empfehlungen der WHO und die Regeln ihrer Mütter. Ihrer Schwarzen Mütter, die wissen, dass Schwarzsein in einer Favela genug ist, um verdächtigt zu werden. Und – als Konsequenz – um getötet zu werden.

Sie waren zu sechst im Wohnzimmer. Wie in einem Hollywood-Film stürmten bewaffnete Polizisten das Haus. Schüsse fielen. Schreie. Weinen. Alle auf dem Boden. João Pedro versucht, sich vor den Schüssen zu schützen und wird in den Bauch getroffen. João Pedro war vierzehn Jahre alt. Es waren 70 Schüsse. João Pedro wollte Rechtsanwalt werden.

João Pedros Familie sucht ihn, um ihn zu retten. Die Polizei sagt, sie hätten ihn mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus geflogen. Seine Eltern suchen die Krankenhäuser von São Gonçalo und Rio de Janeiro ab, aber sie finden ihn nicht. Am Morgen des Folgetages wird João Pedros Leiche im forensischen Institut identifiziert. João Pedro wurde von der Polizei erschossen, während er sich an die Quarantäneregeln hielt und mit seinen Cousins Videospiele spielte. Die Polizei sagt, es sei ein Haus der Drogenmafia gewesen. Sechs Jugendliche spielten Videospiele. João Pedro war 14 Jahre alt und wollte Rechtsanwalt werden. Er war ein Schwarzer Jugendlicher.

Mirtes ist Hausangestellte und kann sich soziale Distanz zum Schutz vor einer Covid-19-Infektion nicht leisten. Sie und ihre Mutter arbeiten für die Familie des Bürgermeisters. Wegen der Pandemie hat der Hort geschlossen, in dem Mirtes normalerweise den fünfjährigen Miguel abgibt. Ihren Neguinho, wie sie ihn liebevoll nannte. Mirtes nahm ihn mit zur Arbeit, wo sie auch auf die Tochter und den Hund der Frau des Bürgermeisters aufpasste.

Miguel war ein lebhafter Junge, sprach viel, er war aufgeweckt. Er stellte seine Wünsche über alles andere, drängte sich auf mit der ganzen Großartigkeit eines Schwarzen Jungen aus der Favela, fünf Jahre alt, der Polizist werden wollte. An jenem Tag war Miguel mit seiner Mutter in der Wohnanlage in Recife, Hauptstadt des Bundesstaats Pernambuco. Mirtes ging mit dem Hund raus und ließ Miguel in der Obhut der Hausherrin.
Als Mirtes nach 20 Minuten das Gebäude betrat, hörte sie einen Krach und den Schrei eines Mannes. Es war der Portier, er versuchte jemandem zu helfen, der auf dem Boden lag. Es war Miguel. Er war neun Stockwerke in die Tiefe gestürzt. Die weiße Hausherrin hatte auf ihn aufpassen sollen. Sie lackierte gerade ihre Nägel. Miguel wollte zu seiner Mutter, sie verlor die Geduld. Sie brachte ihn zum Fahrstuhl und drückte auf den Knopf. Miguel drückte auf weitere Knöpfe und stieg im neunten Stockwerk aus. Er kletterte an einem Geländer hoch und fiel. Der kleine Miguel starb in den Armen seiner Mutter im Krankenhaus. Die Anwälte der Hausherrin werfen Miguel vor, seinen Tod selbst verschuldet zu haben. Miguel war fünf Jahre alt. Er wollte zu seiner Mutter. Träumte davon, Polizist zu werden. Er war ein Schwarzer Junge.

Lass sie tragen, was sie will!
Illustration: Denise Silva, @ise_camaleoa


RASSISMUS ALS RÜCKGRAT BRASILIENS

Diese Geschichten sind alltägliche Ereignisse im Leben Schwarzer Familien aus den brasilianischen Vorstädten. Die Entmenschlichung Schwarzer Körper in Brasilien ist Ausdruck des Rassismus, der die Gesellschaft strukturiert und die Gewalt auf allen Ebenen schürt und legitimiert.

Brasilien ist ein Land, das in seiner DNA den Kolonialismus trägt. Es hat seinen Reichtum auf der Versklavung Schwarzer Körper aufgebaut. Mit dem Ende der Sklaverei wurde europäische Einwanderung gefördert, um Brasilien zu einem weißen Land zu machen. Es gab viele Bestrebungen, die Schwarze Bevölkerung auszurotten. Auch eine Politik der Massensterilisation Schwarzer Frauen gehörte dazu. Die Vernichtungspolitik von damals wird heute auf konsequente und institutionelle Weise fortgesetzt. Das, was sich als struktureller Rassismus festgesetzt hat, ist das Rückgrat im Aufbau Brasiliens. Rassismus ist Teil der Gesetze und der Polizeipraktiken, die nach der Sklaverei entstanden sind. Er liegt in der Abwertung des Wissens, das mit den versklavten afrikanischen Menschen kam, in der Gewalt gegen afro-religiöse Räume, darin festzulegen, dass bestimmte Körper für Gewalt und Tod zur Verfügung stehen.

Alle 23 Minuten wird in Brasilien ein junger Schwarzer Mann ermordet, stellt der Atlas der Gewalt 2020, ein Bericht des Instituts für angewandte Wirtschaftsforschung (IPEA) und des brasilianischen Forums für öffentliche Sicherheit, fest. Die von 2008 bis 2018 erhobenen Daten der Studie zeigen auch, dass 75,7 Prozent aller Mordopfer Schwarz sind. Polizeigewalt ist die Hauptursache für den Genozid an Schwarzen Jugendlichen, die Militärpolizei funktioniert dabei als bewaffneter Arm des Staates. Es sind die Mütter, die den Kampf für Gerechtigkeit für die ihren aufnehmen.

Die Gewalt gegen Frauen, insbesondere gegen Schwarze Frauen, nimmt im Kontext der Corona-Pandemie rapide zu. Zuhause eingesperrt mit ihren Aggressoren, können sie keine Anzeige erstatten oder dem Ort entkommen, an dem ihnen die schlimmsten Straftaten angetan werden. Laut Atlas der Gewalt 2020 wird in Brasilien alle zwei Stunden eine Schwarze Frau ermordet. Im Jahr 2018 waren 68 Prozent der ermordeten Frauen Schwarz. Wenn wir über Schwarze Frauen sprechen, sprechen wir über Menschen, die doppelt diskriminiert werden: weil sie Frauen sind und weil sie Schwarz sind. In Brasilien steht die Schwarze Frau an unterster Stelle. Sie verdient am wenigsten und ist doch diejenige, die Haushalt und Kinder versorgt. Diese Logik ist ein Erbe aus der Zeit der Versklavung, die die soziale und politische Struktur in Brasilien bis heute aufrechterhält. Schwarzsein bedeutet für die Behörden eine totale Entmenschlichung. Das hält Schwarze Frauen davon ab, Unterstützung bei den Institutionen zu suchen, die sie schützen sollten. Stattdessen werden sie kriminalisiert, wenn sie Gewalterfahrungen machen. Bei der Polizei, zum Beispiel. Es gibt spezielle Dienststellen, die Frauen in Gewaltsituationen aufnehmen. Diese sind Montag bis Freitag von 8.00 bis 18.00 Uhr geöffnet, an Wochenenden geschlossen. An den Wochenenden, wenn die meisten Männer zu Hause sind, wissen diese also, dass sie nicht gestoppt werden. Die Behandlung weißer Frauen auf Polizeistationen unterscheidet sich stark von der Behandlung Schwarzer Frauen. Weiße Frauen werden als verletzlich angesehen, umsorgt, mit Menschlichkeit behandelt und sogar ermutigt, ihre Aggressoren anzuzeigen. Schwarze Frauen, die dieselbe Unterstützung suchen, werden so behandelt, als würden sie die Wut ihres Aggressors provozieren und seien letztlich selbst für die erlittene Gewalt verantwortlich.

Gewalt gegen trans Frauen, Lesben und Travestis wird unsichtbar gemacht, was eine weitere Form der Gewalt darstellt. Der Bundesverband der Transgender und Transsexuellen ANTRA hat Zahlen zur Gewalt gegen den „von der Norm abweichenden” Körper untersucht, um entsprechende politische Maßnahmen des Staates zu fordern: 82 Prozent der ermordeten trans Frauen und Travestis waren Schwarz. Der Bericht, der sich auf die Monate Januar bis August 2020 bezieht, zeigt einen Anstieg der Todesfälle um 70 Prozent verglichen mit dem gleichen Zeitraum im Vorjahr. Die Mehrheit der Trans und Travesti, die von Sexarbeit lebt, ist Schwarz (Travesti ist ein Eigenbegriff, der eine lateinamerikanische politische Identität von transfem transgender Personen beschreibt. Zur ausführlicheren Besprechung dieses Begriffs siehe LN Nr. 525, Anm. d. Red.). Trotz Maßnahmen zur sozialen Isolation während der Pandemie mussten sie weiterhin auf der Straße arbeiten. Weniger belebte Straßen jedoch führen dazu, dass sie neben dem Virus auch der Gewalt der Männer ausgesetzt sind, die gewalttätig und grausam handeln und wissen, dass sie dafür nicht bestraft werden.

São Paulo ist der brasilianische Staat, der die meisten trans Frauen, Travestis und Lesben im Land tötet. Die Initiative des Zentrums für soziale Eingliederung (NIS) und die Organisation „Wir: Feministische Dissidenzen“ erhebt auf der Grundlage von Zeitungsberichten Daten zum „Lesbozid“. Die Daten zeigen, dass auch dieses Thema unsichtbar gemacht wird und es schwierig ist, Rechte von lesbischen Frauen zu verteidigen. Oft ist es den Medien nicht wichtig genug zu berichten und wenn, dann berichten sie über weiße Opfer. Die brasilianischen Medien spielen sich nicht nur als Richter auf, sie entscheiden auch, welche Körper Aufmerksamkeit verdienen. LBTT-Körper, insbesondere Schwarze Körper, stehen im Zentrum der Gewalt und am Rand der öffentlichen Politik. Gewalt gegen weiße Frauen führt zu gesellschaftlicher Empörung und wird zu einer Nachricht in den Medien. Gewalt gegen Schwarze Frauen taucht nur in den Mordstatistiken auf. Sie werden unsichtbar gemacht und ihre Schmerzen entmenschlicht.

Die Gegenwart ist feministisch
Illustration: Valeria Araya, @onreivni


FRAUEN IN BEWEGUNG: MARSCH DER SCHWARZEN FRAUEN VON SãO PAULO

Angesichts der Vergewaltigung unserer Mädchen, des Missbrauchs und der Gewalt an unseren Körpern, im Kampf um das Recht auf Leben unserer Schwarzen Jungen und Jugendlichen, für das Recht auf Leben von trans Frauen, Travestis und Lesben demonstrieren wir für uns, für uns alle, für das Gute Leben. 2015 marschierten 50.000 Frauen in die Hauptstadt Brasília, wo sie mit Schüssen und Tränengas empfangen wurden. Frauen aus ganz Brasilien eint der Wunsch zu leben und leben zu lassen.

Am Ende des gemeinsamen bundesweiten Marsches der Schwarzen Frauen 2015 organisierten die Gruppen, die sich für den Marsch gebildet hatten, weiter Aktionen in den Bundesstaaten. In São Paulo erkannte die Kerngruppe, die den Aufbruch der Paulistas nach Brasília organisiert hatte, das dort vorhandene politische Potenzial und die konkreten Möglichkeiten eines sozialen Wandels unter effektiver Beteiligung der Frauen. Seit dem 25. Juli 2016, dem Tag der afro-lateinamerikanischen und karibischen Frauen, marschieren wir jedes Jahr gegen alle Formen von Gewalt, Diskriminierung, gegen Faschismus und Kapitalismus, gegen den Genozid an den Schwarzen Jugendlichen, für das Leben.

Die Pandemie hat das Szenario verändert, aber nicht das Ziel. Mit einem virtuellen Protestmarsch haben wir zehn Stunden lang ununterbrochen Inhalte in unseren sozialen Netzwerken gesendet. Unser Ziel waren zwanzigtausend Zuschauer*innen und wir haben eine Million erreicht. Nicht einmal Covid-19 hält uns davon ab, anzuklagen und zu kämpfen.

Um gegen eine Regierung zu kämpfen, die den grausamen Plan eines Genozids in die Tat umsetzt, hilft nur der Zusammenschluss der Protestbewegungen. Dies gilt auch für den Marsch der Schwarzen Frauen in São Paulo. Vereint in den Forderungen für das Gute Leben, bleiben wir in Bewegung. Unter dem Motto „Keinen Knast, keine Schießerei, kein Covid: Schwarze Körper sollen leben! Schwarze und Indigene Frauen! Für uns, für uns alle, für das Gute Leben!” arbeiten wir in Netzwerken und werden den Kampf fortsetzen, den wir seit Generationen kämpfen, der unser ist, der für uns ist.

Wir sind Schwarze cis Frauen, Indigene, lesbisch, bisexuell, trans, wir sind Travestis, Quilombolas, Aktivistinnen und Netzaktivistinnen, Selbstständige, Sexarbeiterinnen, jung, alt, studentisch, Erzieherinnen, Hausfrauen, Künstlerinnen, Arbeitslose, Angestellte im öffentlichen Dienst, Lehrerinnen, Wertstoffsammlerinnen, Gesundheitspersonal, Menschenrechtsverteidigerinnen, Parlamentarierinnen, Journalistinnen, wir sind katholisch, protestantisch, aus afrobrasilianischen Religionen, ohne Religion, aber mit Glauben an die Kraft jeder einzelnen von uns. Unsere Vielfalt ist unsere Stärke. Wir sind gemacht aus Kampf, Mut, Widerstand, Kühnheit und Zärtlichkeit.

GEWALT UND GESETZ

Feministische Awareness Nicht die Polizei, sondern meine Freund*innen beschützen mich (Illustration: Pilar Emitxin, @emitxin)

Als feministische Bewegung, die global denkt und lokal agiert, lernen wir auch von den feministischen Erfahrungen und Kämpfen jenseits unserer eigenen Kontexte. Um Gerechtigkeit für Verbrechen gegen Frauen und Queers einzufordern, kommen wir nicht umhin, auch die Gesetzeslage in den Blick zu nehmen. So unterschiedlich die Gesetze zu sexualisierter Gewalt, Gewaltschutz und Feminiziden auch sind, findet man in lateinamerikanischen Länder oft progressive Gesetzgebungen. In Deutschland zeichnet sich zunehmend eine Debatte über Feminizide ab, die auch auf juristischer Ebene geführt wird. Mit der folgenden Übersicht wollen wir einen Beitrag dazu leisten, feministische Perspektiven auf Feminizide zu stärken.

Im Folgenden findet ihr eine Einführung zu Gesetzen, Urteilen und Statistiken, die den juristischen Umgang mit sexualisierter Gewalt, insbesondere Feminiziden, in lateinamerikanischen Ländern dokumentiert. Diese Übersicht kann nicht komplett sein, gibt aber die nötigen Anhaltspunkte zu involvierten Institutionen und Organisationen, um weiter zu recherchieren. Die schlechte Informationslage und unvollständigen Daten legen offen, dass oft keine systematischen Erhebungen hinsichtlich sexualisierter Gewalt existieren und bislang kein offizielles Interesse daran besteht, dies zu ändern.

Häufig ist es die mühsame Arbeit feministischer Kollektive, durch die überhaupt Statistiken öffentlich werden, auch wenn die reellen Zahlen vermutlich noch weit höher liegen. Dafür werden häufig Meldungen und Presseberichte systematisch ausgewertet. Welche Opfer es jedoch überhaupt in die Medien „schaffen“, hängt allzu oft von rassistischen und klassistischen Kriterien wie Wohnort, Familienstand, Beruf oder Hautfarbe ab.

Die Dokumentation von Gewaltverbrechen ist zu einer politischen Praxis geworden. Wenn die Gewalt derart in den Alltag eindringt und kaum Hoffnung auf Gerechtigkeit besteht, wie es die Artikel in diesem Dossier eindrücklich darlegen, wird die Dokumentation zu einem politischen Instrument, das das Ausmaß der Gewalt sichtbar macht.

Die Gesetze einiger Länder Lateinamerikas lassen (mittlerweile) die Kategorie „Gender“ oder „Genderzugehörigkeit“ als spezifisches Tatmotiv für Mord zu. Dies lässt ein Bewusstsein für die Systematik des Verbrechens erkennen, die sich nicht nur gegen Frauen, sondern auch gegen Queers richtet. Im Falle Kolumbiens und Chiles wird hierbei von binären und biologistischen Auffassungen Abstand genommen, oft bildet jedoch der Umgang mit sexualisierter Gewalt jenseits binärer Geschlechterkategorien noch eine große Leerstelle.

Fast immer veränderten sich die Gesetzgebungen auf Druck der Bewegung. Auch wenn die Interamerikanische Konvention über Prävention, Bestrafung und Beseitigung von Gewalt gegen Frauen 1994 im brasilianischen Belém do Pará von allen lateinamerikanischen und karibischen Staaten unterzeichnet wurde, sind die zentralen Errungenschaften auf feministische Kämpfe zurückzuführen. Meist muss erst eine besonders brutale Mordserie die nötige mediale Öffentlichkeit erzeugen, um ein Handlungsfenster zu öffnen. Nur so können Forderungen, die seit Jahren gestellt werden, für einen kurzen Moment die notwendigen politischen Mehrheiten erhalten, um zu Gesetzen zu werden. Was aber nützen Gesetze, wenn sie nicht angewendet werden?

In der folgenden Übersicht ist zu erkennen, dass die übergreifende Kritik an der Gesetzeslage die mangelnde Umsetzung ist. Denn Feminizide bleiben in den allermeisten Fällen straffrei. Dies verdeutlicht, dass Gerechtigkeit nicht von oben kommt, sondern auch von unten erkämpft werden muss. Die juristische Verankerung ermöglicht es jedoch, einen Bezugspunkt zu schaffen, um Maßnahmen gegen femizidale Gewalt auf allen Ebenen der Gesellschaft zu fordern. Ein gutes Gesetz gegen Feminizide kann dabei nur wenig ausrichten, wenn die so notwendige Sensibilisierung der Behörden und Entscheidungsträger*innen ausbleibt und patriarchale und misogyne Strukturen weiter die gesamte Gesellschaft und ihre Institutionen durchziehen. Forderungen richten sich daher nicht nur an den Staat, sondern auch an die Gesellschaft.

 

LÄNDERÜBERSICHT

Argentinien

Bolivien

Brasilien

Chile

Costa Rica

Deutschland

Dominikanische Republik

Ecuador

El Salvador

Guatemala

Honduras

Kolumbien

Kuba

Mexiko

Nicaragua

Panama

Peru

Uruguay

Venezuela

// EDITORIAL ZUM DOSSIER

Illustration: Xueh Magrini Troll, @xuehka

Vivas nos queremos ist zum Credo der feministischen Bewegung in Lateinamerika geworden. „Wir wollen uns lebend“ ist die Antwort auf brutale Morde an Frauen und Queers, weil sie Frauen und Queers sind. Seit Anfang der 1990er Jahre Aktivist*innen in verschiedenen Regionen in Lateinamerika begannen, Fälle von Frauenmorden zu dokumentieren, hat die Gewalt kaum abgenommen. In Argentinien zum Beispiel wird alle 27 Stunden eine Frau umgebracht, in Mexiko geht man sogar von zehn getöteten Frauen am Tag aus. Die genauen Zahlen kennt niemand und doch wird das Ausmaß femizidaler Gewalt deutlich, deren Ursachen jedoch zu komplex sind, um sie in Statistiken zu fassen. Es stellt den alltäglichen Wahnsinn dar, gegen den Frauen und Queers seit langem unermüdlich kämpfen.

Die feministischen Bewegungen in Lateinamerika haben nicht nur eine Aufmerksamkeit für geschlechtsspezifische Morde geschaffen, sondern liefern beständig Analysen der Bedingungen, die eine solche Gewalt ermöglichen. Mit der Dokumentation begann auch die Etablierung des Begriffs des Femi(ni)zids, der es möglich machte, Frauenmorde als politisch zu benennen und der heute aus Diskussionen auch weit über feministische Kontexte hinaus nicht mehr wegzudenken ist. Deutschland hinkt dabei etwas hinterher, obwohl im Jahr 2017 auch in Deutschland 147 Frauen von ihrem (Ex-)Partner getötet wurden. Die Zahlen haben sich seither nicht wesentlich verändert, was bedeutet, dass hier durchschnittlich etwa alle drei Tage eine Frau Opfer eines Feminizids wird. Während die deutsche Regierung zahlreiche Programme zur Bekämpfung von sexualisierter Gewalt und Feminiziden in anderen Ländern finanziert, insbesondere im Globalen Süden, kommt sie dem eigenen Problem kaum nach. So vermeidet sie, Feminizide als strukturelles Problem anzuerkennen. Dies zeigt sich unter anderem in der Unterfinanzierung von Schutzräumen wie Frauenhäusern oder im Mangel an offiziellen Statistiken, die Feminizide als solche benennen.

In Lateinamerika wird die Verantwortung des Staates für Feminizide von den feministischen Bewegungen immer adressiert. Estado femicida, der „frauenmordende Staat“, wird dafür angeklagt, dass es kaum Verurteilungen gibt, dass staatliche Unterstützung für Angehörige fehlt, dass Mitglieder von Behörden nicht ausreichend geschult werden, um mit Fällen geschlechtsspezifischer Gewalt umzugehen. An Gesetzgebungen dafür mangelt es selten – die Interamerikanische Konvention über die Prävention, Bestrafung und Beseitigung von Gewalt gegen Frauen wurde 1994 in Belém do Pará in Brasilien von allen lateinamerikanischen und karibischen Staaten unterzeichnet. Damals verpflichteten sie sich angesichts der alarmierenden Ausmaße der Problematik, strafrechtliche Maßnahmen zur Bekämpfung zu ergreifen. Heute ist die lateinamerikanische Rechtsprechung zu Feminizid global gesehen einzigartig. Fast alle Länder haben im Laufe des letzten Jahrzehnts Gesetze zu diesem Tatbestand in ihre Strafgesetzbücher aufgenommen.

Gesetzgebung und Realität klaffen jedoch oft sehr weit auseinander. In den lateinamerikanischen Beispielen wird deutlich, dass verschiedene juristische Mittel im Kampf gegen Gewalt gegen Frauen oft nur durch die Kämpfe feministischer Bewegungen und auf öffentlichen Druck Eingang in die Gesetzgebung gefunden haben. Auch ihre Umsetzung hängt stark von der gesellschaftlichen Debatte und der Stärke der jeweiligen Bewegung ab. Bestehende, zum Teil progressive Gesetze können in tief patriarchalen Justizsystemen unmöglich alleiniger Garant für Gerechtigkeit sein. Frauen und Queers, Opfer von sexualisierter Gewalt, werden weiter kriminalisiert, ihre Aussagen werden angezweifelt, sie werden unterteilt in „gute“ und „schlechte“ Opfer. Klassismus und Rassismus sind dabei entscheidende Faktoren, ob die erfahrene Gewalt anerkannt wird oder nicht. Und, ob sie geahndet wird. Straflosigkeit trotz bestehender Gesetzgebung ist ein allgegenwärtiges Problem. Es ist also unabdinglich, dass die Justiz beginnt, Fälle sexualisierter Gewalt und Feminizide feministisch zu untersuchen, diese Straftaten in ihrem Kontext zu analysieren und den Worten der Opfer und Überlebenden Beachtung zu schenken. Das heißt auch, Angehörigen das Recht auf unterstützende Ressourcen zu garantieren – seien sie finanziell, psychologisch oder juristisch. Denn Staat und Gesellschaft schulden ihnen durch ihr komplettes Versagen, die tödliche Gewalt zu stoppen, das Leben ihrer Mütter, Töchter, Schwestern und Freundinnen.

Und dennoch kommen wir als feministische Bewegung nicht umhin, auch auf institutioneller Ebene zu kämpfen. Die Gesetzeslagen spiegeln die belebte Debatte um sexualisierte Gewalt in lateinamerikanischen Ländern wider, die dazu geführt hat, auf gesellschaftlicher und politischer Ebene ein Bewusstsein zu schaffen. Mit dem vorliegenden Dossier, das zum 25. November, dem Internationalen Tag für die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen erscheint, wollen wir dazu beitragen, die vielfältigen Erfahrungen aus Lateinamerika auch für die beginnende Debatte in Deutschland verfügbar zu machen. Dafür haben wir uns die Gesetzeslagen zu geschlechtsspezifischer Gewalt in 18 lateinamerikanischen Ländern angeschaut, nach ihrer Umsetzung gefragt, emblematische Fälle dokumentiert und nachgesehen, was die feministischen Bewegungen vor Ort der Gewalt entgegensetzen. Das kann nur ein Anfang sein – ein Anfang, um weiter zu recherchieren und uns weiter zu vernetzen. Dieser Anfang soll uns dabei helfen, zu vergleichen, zu analysieren, die Fallstricke zu erkennen, die Best Practices zu übernehmen und Leerstellen sichtbar zu machen, an denen wir noch tiefer graben müssen. Eine dieser Leerstellen ist zum Beispiel die Thematisierung von geschlechtsspezifischer Gewalt gegen nicht-binäre und inter Personen und trans Männer, die wir leider auch in diesem Dossier noch offen lassen müssen.

Neben den kurz gefassten Überblicksartikeln, die Einstiege in die jeweiligen Realitäten der einzelnen Länder geben sollen, haben wir Autor*innen aus Lateinamerika eingeladen, ihre Perspektiven auf und gegen patriarchale Gewalt aufzuschreiben. Dabei bleibt es nicht aus, dass in einigen Beiträgen auch explizit auf brutale und direkte Gewalt eingegangen wird. Die Verfasser*innen verdeutlichen in teils persönlichen Essays oder erzählerischen Artikeln, in Interviews und Illustrationen, was in den aktuellen Diskussionen verhandelt wird und wie die Kämpfe gegen sexualisierte Gewalt und für eine feministische Zukunft miteinander verschränkt sind. Es geht um die Vielschichtigkeit von Gewalt, ihre Ursachen und Gegenstrategien. Es geht darum, wie die Schwarze feministische Bewegung Brasiliens für das Leben kämpft, wie Unternehmen in Chile Feminizide als Mittel der Einschüchterung von Aktivistinnen einsetzen; es geht um Probleme indigener Rechtssprechung im Fall von geschlechtsspezifischer Gewalt in Kolumbien oder darum, wie eine progressive Rechtssprechung bei einem wirkungslosen Staat in Venezuela trotzdem versagt. Reportagen und Interviews aus Mexiko, Brasilien und Honduras setzen sich mit Transfeminiziden und den gemeinsamen Schutzmechanismen der Community auseinander, die im durch die Covid-19-Pandemie nochmal verschärften Alltag immer wichtiger werden. Wir lesen Gedanken aus Ecuador über die verschiedenen Rollen, denen Frauen zwischen Rassismus und Patriarchat, Beruf, Familie und Aktivismus gerecht werden müssen. Ein Essay aus Ciudad Juárez, der Stadt, die durch Feminizide traurige Berühmtheit erlangt hat, geht auf die verschiedenen Formen sexualisierter Gewalt ein. Die Thematisierung unterschiedlicher Aspekte von Gewalt ist auch zentral für die feministische Bewegung Argentiniens, die die Politisierung von Gewalterfahrung als Strategie für den Widerstand nutzt.

So wütend unsere Autor*innen und ihre Texte auch sind, so wütend wie wir alle sind – der Kampf für eine feministische Zukunft gerät nie ganz aus dem Blick. Denn es geht nicht nur darum zu überleben, wie es Vivas nos queremos nahelegt, sondern darum, wie wir zusammenleben wollen. Der gemeinsame Kampf, die kollektiven Strukturen, die Zärtlichkeit und Energie, die in den Protesten lebt und überlebt, gibt uns Kraft. Diese wollen wir auch in den farben- und lebensfrohen, widerständigen Illustrationen lateinamerikanischer Künstler*innen aufgreifen, die uns durch das Dossier begleiten.

FEMINISTISCHE KÄMPFE STEHEN NICHT STILL

Okupa Casa Refugio Ni Una Menos México Früher Menschenrechtskommission, heute Schutzraum (Foto: B.jars, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0)

Hinter dem polierten Holzschreibtisch in einem Büro der Nationalen Menschenrechtskommission (CNDH) steht „Wir werden weder vergeben noch vergessen!“ in schwarzer Schrift auf den kahlen Hintergrund gemalt. Die Farbe ist noch frisch und tropft herunter. Vor dem Schriftzug posiert eine Person mit Sturmhaube, unter der die langen schwarzen Haare hervorschauen. Es ist das Foto, das zum Symbolbild der feministischen Besetzung wird. Anfang September wird diese von Betroffenen exzessiver Gewalt und ihren Angehörigen initiiert, feministische Kollektive schließen sich an.

Am 2. September waren Familien aus dem Bundesstaat San Luis Potosí zur Nationale Menschenrechtskommission in Mexiko-Stadt gekommen, um Aufklärung für zahlreiche Fälle von Gewalt und Verschwindenlassen insbesondere von Frauen und Kindern zu fordern. Darunter ist auch Marcela Alemán, Mutter eines vierjährigen Mädchens, das 2017 in ihrer Vorschule Opfer sexualisierter Gewalt wurde. Der Fall von Alemáns Tochter hatte eine Reihe von Klagen bei verschiedenen Instanzen zur Folge. Obwohl das Mädchen ihre Täter identifizieren konnte, wurden sie nicht verurteilt. Als deutlich wurde, dass sich auch die Nationale Menschenrechtskommission dem Fall nicht annehmen würde, weigerte sich Alemán, den Sitzungssaal zu verlassen. Sie setzte sich auf einen Stuhl, fesselte sich selbst am Stuhlbein fest und verkündete, dass sie nicht aufstehen würde, ehe der Fall ihrer Tochter aufgeklärt sei. Silvia Castillo, die Mutter eines Jungen, der 2019 in San Luis Potosí getötet wurde und dessen Fall ebenfalls nicht aufgeklärt ist, schloss sich ihr an.

„Wir werden weder vergeben noch vergessen!“

In den folgenden Tagen kamen auf die Initiative von Müttern vor Ort feministische Kollektive sowie weitere Angehörige von verschwundenen und ermordeten Personen und jene, die selbst verschiedene Formen von Gewalt erlebt hatten, dazu. Sie schlossen sich zusammen, um ihre Anliegen vorzubringen und sich gegenseitig zu unterstützen. Dabei forderten sie gemeinsam eine juristische Aufarbeitung aller Fälle.

Als sie vier Tage später, am Sonntag den 6. September, weder eine Antwort erhielten noch juristische Verfahren eingeleitet wurden, formte sich aus der anfänglichen Protestaktion eine politische Besetzung der CNDH, der höchsten staatlichen Institution, in deren Verantwortung der Schutz der Menschenrechte liegt. Kurzerhand änderten die Besetzerinnen den Namen des Gebäudes in Okupa Casa Refugio Ni Una Menos México („Hausbesetzung Schutzraum Nicht Eine Weniger”). Während der Besetzung dieser öffentlichen Einrichtung bemalten die Frauen Teile des Gebäudes: Auf Wände wurden feministische Parolen gesprüht, historische Gemälde von Männern, die als Helden der Geschichte gelten, wurden mit ironischen und politischen Symbolen überzeichnet. Der Ort wurde von da an zum Schutzraum für Angehörige und für Opfer von Gewalt erklärt.

Bis zum 15. September kam es zu keiner Einigung mit staatlichen Stellen. Im Gegenteil: Die Positionen einzelner Behörden und insbesondere des Präsidenten Andrés Manuel López Obrador (AMLO) waren geringschätzig und zurückweisend. Der mexikanische Präsident erkannte an, dass die Besetzung der CNDH Ausdruck einer „angemessenen Forderung“ sei. Sie hätte sich jedoch in ein politisches Anliegen verwandelt, das von konservativen Kräften unterstützt werde, die die mexikanische Demokratie in Gefahr bringen würden. AMLO bringt damit die Familien in Zusammenhang mit den Konservativen des Landes wie etwa den politischen und wirtschaftlichen Eliten und der verpönten Mainstreampresse – und diffamiert damit die Besetzung im höchsten Amt der Regierung.

„Die Polizei passt nicht auf uns auf, sie vergewaltigt uns!“

Die Besetzung fand jedoch auch viel Zuspruch. So gab es weitere Besetzungen von bundesstaatlichen Menschenrechtskommissionen durch feministische Kollektive unter anderem in Chiapas, Guerrero, Sinaloa oder Chihuahua. Einer der bekanntesten Fälle war die Besetzung der Menschenrechtskommission im Bundesstaat Mexiko (CODHEM) durch verschiedene feministische Gruppen in Ecatepec, die auf gewaltsame Weise am Morgen des 11. Septembers geräumt wurden. Der Bezirk Ecatepec sorgte in der Vergangenheit aufgrund sehr hoher Feminizidraten immer wieder für Aufmerksamkeit.

Bei der Räumung in Ecatepec kam es zu heftigen Repressionen, die das Ausmaß der täglichen Gewalt und die Gefahren des feministischen Kampfes an diesem Ort widerspiegeln. Teilweise wurden Besetzerinnen festgenommen und ihr Aufenthaltsort nach der Verhaftung blieb lange unklar – eine bekannte Einschüchterungsstrategie seitens der Polizei. Denn solange nichts über den Verbleib einer verhafteten Person bekannt ist, ist die Sorge hoch, dass es sich um einen Fall gewaltsamen Verschwindenlassens handeln könnte.

Eine häufig geäußerte Kritik von Frauen aus feministischen Gruppen in Mexiko lautet: „Die Polizei passt nicht auf uns auf, sie vergewaltigt uns!“. So heißt es auf Demonstrationen, in Aufrufen und im Netz: #NoNosCuidanNosViolan. Die Repressionen gegen die feministischen Proteste, angesichts der Besetzungen der Menschenrechtskommissionen, erinnern daran, dass in einem patriarchalen System – wie es in Mexiko eine Ausprägung findet – Frauen oft nicht als Menschen wahrgenommen werden, deren Rechte es zu schützen gilt.

Der feministische Bloque Negro führt die Besetzung fort

Mitte September kam es zu Differenzen zwischen den verschiedenen Gruppen der Okupa Casa Refugio Ni Una Menos México. Im Fokus stand Yesenia Zamudio, Mutter von Maria Jesús Jaimes Zamudio (besser bekannt als Marichuy), die Opfer eines Feminizids wurde. Ihr Fall wurde nie aufgeklärt, was ihre Mutter zu einer Aktivistin machte. Heute führt sie das Kollektiv Frente Nacional Ni Una Menos an, das an der Besetzung des CNDH Anfang September beteiligt war.

Yesenia Zamudio kritisierte Mitte September öffentlich Konflikte innerhalb der Besetzung, was zu einer Reihe von gegenseitigen Anschuldigungen zwischen Zamudio und anderen Müttern und dem feministisch-militanten Bloque Negro („Schwarzer Block“) führte, der sich an der Besetzung des CNDH beteiligt. Der Bloque Negro symbolisiert eigentlich eine Taktik auf Demonstrationen und Kundgebungen, um die Anonymität der Mitglieder einer Gruppe zu gewährleisten. Er wird häufig als militant beschrieben, da er den gewaltvollen Konflikt gegen den Staat (und häufig auch Privatbesitz) als unumgänglich ansieht. Im Falle der Besetzung der CNDH ist nicht klar, welche feministischen Gruppen sich hinter dem Bloque Negro verbergen. Das Zerwürfnis zwischen den Müttern und dem Bloque Negro hatte schließlich zur Folge, dass die Angehörigen von Verschwundenen und Opfern von Feminiziden die Okupa Casa Refugio Ni Una Menos México verließen.

Trotz der Konflikte muss jedoch hervorgehoben werden, dass die Angehörigen vor dem Verlassen der besetzten CNDH die Möglichkeit hatten, ihre Forderungen vor den Behörden zu äußern. Yesenia Zamudio ist es sogar gelungen, dass der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte ihren Fall überprüfen wird. Gema Antunez Flore vom Kollektiv María Herrera de Chilpancingo sagte: „Ich bin hoffnungsvoll, ich gehe nicht zufrieden, aber mit der Hoffnung, weil die Behörden sich dazu verpflichtet haben, Akte für Akte zu überprüfen.

Wir kamen in diesen Kampf, um die Behörden zu einer Reaktion zu bewegen, denn in der momentanen Situation der Pandemie haben sie uns vollkommen im Stich gelassen und leider gibt es im Bundesstaat Guerrero täglich Fälle von Verschwundenen, Morden, Entführungen. Wir fordern Gerechtigkeit.“ Inwiefern diese Aufklärung wirklich eintreten wird, bleibt abzuwarten. Antunez möchte die Wahrheit über die verschwundenen Personen in Mexiko wissen. In ihrem Fall ist der Aufenthaltsort ihres Sohnes Juan Sebastián García Antunez seit neun Jahren unbekannt. Was sich die Hinterbliebenen wünschen, ist zumindest den Körper zu sehen, um Frieden zu finden.

Der feministische Bloque Negro führt indessen die Besetzung der Nationalen Menschenrechtskommission in Mexiko-Stadt fort. Auf Facebook fordern die Feministinnen Immunität für alle Aktivistinnen des Protestes, damit ihre Aktionen weder verdeckt noch kriminalisiert werden. Hintergrund ist, dass Aktivistinnen immer wieder betonen, dass trotz friedlicher Proteste sexualisierte Gewalt weiterhin eine Bedrohung für alle Frauen und Mädchen im Land darstellt. In Mexiko werden laut Statistiken im Durchschnitt täglich zehn Frauen Opfer eines Feminizids. Nur ein Bruchteil der Fälle landet vor Gericht. Kommt es zu gewaltvollen Ausschreitungen, werden die Proteste von Politiker*innen und Medien diffamiert und kriminalisiert.

Des Weiteren fordern die Aktivistinnen den unmittelbaren Rücktritt der Polizeieinheit, die auf gewaltsame Weise eine Gruppe von Demonstrantinnen in der Menschenrechtskommission in Ecatepec im Bundesstaat Mexiko geräumt hat, und eine gendersensible Schulung der Polizei. Außerdem verlangen sie einen detaillierten, öffentlichen Bericht der Regierung über die Maßnahmen, die bisher ergriffen wurden, um sexualisierte Gewalt zu bekämpfen. Besagter Bericht soll vom mexikanischen Präsidenten und den Gouverneur*innen präsentiert werden. Weiter fordern sie die Regierung dazu auf, einen Leitfaden für gendersensible Berichterstattung zu erstellen, um eine Reviktimisierung von Aktivistinnen und Opfern sexualisierter Gewalt zu verhindern.

Bisher erreichte der feministische Bloque Negro ein Treffen mit María Fabiola Alanís Sámano, nationale Kommissarin für die Prävention und Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Sie reichten ihre Forderungen ein und konnten die Freilassung der Studentin Tania Elis erwirken, die bei Protesten gegen sexualisierte Gewalt an der Nationalen Autonomen Universität Mexiko (UNAM, siehe LN 557) einen Monat zuvor festgenommen wurde.

Trotz der Kritik an den feministischen Aktionen seitens der Regierung haben die Besetzerinnen der Menschenrechtskommission Lebensmittel, Kleidung und Medikamente von solidarischen Anwohner*innen erhalten, um ihren Kampf weiterführen zu können. Seit der Pandemie und dem damit einhergehenden ständigen Gesundheitsrisiko ist das alltägliche Leben auch aufgrund verschiedener Ängste lahmgelegt. Die Besetzung der CNDH ruft in Erinnerung, dass diese Ängste jedoch nicht lähmen lassen darf. Denn sie bringt die Kämpfe, die Besetzungen von öffentlichen Orten und die Kraft und den Mut, den verschiedene feministische Kollektive in den letzten Jahren erlebt haben, zurück.

FÜR ÁMBAR, FÜR ANTONIA, FÜR JEDE

Antipatriarchale Erziehung Viele Denkweisen erlernen wir schon im Kindesalter (Foto: Fernanda Requena)

Ámbar Cornejo wurde zuletzt gesehen, als sie zum Haus ihrer Mutter aufbrach, um den ihr zustehenden Unterhalt abzuholen. Sie wurde kurz darauf als vermisst gemeldet, doch weder ihre Mutter noch deren Partner halfen bei der achttägigen Suche nach der 16-Jährigen. Dann wurde Ámbar Anfang August tot auf dem Grundstück ihrer Mutter aufgefunden. Auch die beschuldigt inzwischen ihren Partner, Hugo Bustamante, Ámbar umgebracht zu haben.

Antonia Barra war 20 Jahre alt, als sie sich im vergangenen Oktober das Leben nahm. Wenige Wochen zuvor war sie vergewaltigt worden. Für diese Tat mit der Folge des Suizids sowie für sexualisierte Übergriffe an vier weiteren Frauen wurde im Juli dieses Jahres ein Verfahren gegen Martín Pradenas eröffnet. Die Fälle Ámbar Cornejo und Antonia Barra stehen aktuell stellvertretend für viele weitere Namen und Geschichten, die vom Scheitern der für den Schutz von Frauen und Kindern verantwortlichen staatlichen Institutionen zeugen.

In Chile kämpft eine Vielzahl feministischer Gruppen seit Jahren für das gesellschaftliche Bewusstsein über sexualisierte Gewalt und ihre Folgen. Ein erster Erfolg konnte 2010 errungen werden, als der Begriff Feminizid als juristischer Tatbestand für den Mord an Frauen aufgenommen wurde – allerdings nur, wenn diese mit dem Täter verheiratet sind oder zusammenleben. Nachdem 2018 ein bekannter Fall nicht als Feminizid behandelt wurde, bei dem das Opfer Gabriela und ihre Mutter vom Ex-Partner letzterer ermordet wurden, kam es zu Massenmobilisierungen – mit Folgen. Die unzureichenden Gesetzesformulierungen wurden überarbeitet, im März dieses Jahres trat das Ley Gabriela in Kraft. Zwar war Chiles Präsident Sebastián Piñera voll des Lobes über das Gesetz, jedoch bereits sein begleitender Kommentar bei der Unterzeichnung ließ das Ausbleiben wahren Wandels erwarten: „Manchmal ist es nicht allein der freie Wille der Männer zu missbrauchen, sondern auch die Position der Frauen, missbraucht zu werden.” In den folgenden Monaten zeigte sich die schleppende Umsetzung des Gesetzes. Nun verfolgt das ganze Land die Anwendung der Gesetze in den Fällen von Antonia und Ámbar – zwei Fälle, die aus unterschiedlichen Gründen besondere Aufmerksamkeit bekommen und durch ihre Komplexität viele Fragen unbeantwortet lassen.

Auch Ámbars Tod war ein Feminizid, zudem an einer Minderjährigen

Ámbar Cornejo lebte in Angst vor ihrem Aggressor. Der Partner ihrer Mutter war erst 2016 unter Auflagen frühzeitig aus dem Gefängnis entlassen worden, wo er wegen Mordes an seiner Ex-Frau und seinem Stiefsohn für elf Jahre inhaftiert gewesen war. Den Behörden war die Lage bekannt, Ámbar war zeitweise auch in Kinderheimen des staatlichen Minderjährigenservices SENAME und anderen staatlichen Programmen untergebracht. Doch es wurde nicht genug unternommen, um das Mädchen zu schützen. Die traurige Liste von registrierten Feminiziden in Chile allein in diesem Jahr zählt laut Angaben des chilenischen Netzwerks gegen Gewalt an Frauen (Interview siehe LN 549) neben Ámbar bereits 30 weitere Fälle. Dass die Statistiken des Ministeriums für Frauen und Gleichstellung der Geschlechter für den gleichen Zeitraum nur 24 Feminizide registrieren, zeugt von der Ablehnung des Tatbestands in einigen Fällen.

Fest steht: Auch Ámbars Tod war ein Feminizid, zudem an einer Minderjährigen. Die Anteilnahme ist aufgrund dieser Umstände besonders groß. Im Kontext des jüngsten Falls wird in Chile nicht nur Gewalt an Frauen, sondern auch Gewalt und Missbrauch an Kindern einmal mehr auffällig. Gewaltige Missstände beim SENAME sind bekannt, kürzlich hat auch UNICEF die unzureichende Wirkungsweise des chilenischen Minderjährigendienstes kritisiert. Ende August hat die chilenische Abgeordnetenkammer die Gründung einer Sonderermittlungskommission eingeleitet, die die Verantwortung innerhalb der kritisierten Institutionen klären soll. Dazu gehören neben dem SENAME die öffentliche Kinderschutzinstitutiton Defensoría de la Niñez, aber auch die Polizei und Teile des juristischen Systems, das dafür verantwortlich ist, dass Ámbars mutmaßlicher Mörder vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen wurde.

Der Fall Antonia Barra erregte die öffentliche Aufmerksamkeit besonders durch die Debatte darüber, wie mit Suiziden infolge von sexualisierter Gewalt umzugehen ist. Antonia Barra nahm sich das Leben, nachdem sie wenige Wochen zuvor sexualisierte Gewalt erlebt hatte. Sie blieb davon traumatisiert, ihr Aggressor bedrohte sie auch weiterhin. Viele feministische Gruppen und Organisationen wie auch das chilenische Netzwerk gegen Gewalt an Frauen fordern, den Begriff Suicidio Femicida für den Suizid von Frauen infolge sexualisierter Gewalt gesellschaftlich und juristisch zu etablieren. Nur so kann die Verantwortung am Suizid dem Aggressor zugeschrieben werden.

In den letzten Monaten entstanden so gewaltige Protestaktionen über soziale Netzwerke

Die Gerichtsverhandlungen im Fall Antonia wurden online live übertragen, Tausende verfolgten sie von zuhause. Dazu hatten feministische Gruppen über soziale Netzwerke aufgerufen, unter anderem die Vereinigung Redpsicofem, in der Psychologinnen Informationsarbeit mit feministischer Perspektive anbieten. Auch sie betonen, dass der Fall Antonia lediglich ein prominentes Beispiel für sexualisierte Gewalt ist, ebenso wie der Fall Ámbar. Wie so oft stieg auch nach dem Bekanntwerden dieser Fälle die Nachfrage an psychologischer Betreuung. Redpsicofem erläutert, dass viele Patient*innen „von persönlich erlebten Erfahrungen berichten und sich an weitere erinnern, die den öffentlich bekannten Fällen sehr nahekommen”. Dies mache nur noch deutlicher, „dass jene Erlebnisse uns allen passieren können”. Sie stehen stellvertretend für all die bekannten und unbekannten Fälle von Frauen und Mädchen, deren Anzeigen gegen Aggressoren ohne Folgen blieben, die weiterhin in Angst leben, da die Täter in Freiheit, wenn nicht gar in ihrer direkten Nähe verweilen. Das Netzwerk gegen Gewalt an Frauen dokumentierte in diesem Jahr bereits drei Fälle von Suicidio Femicida. In Statistiken des Frauenministeriums werden diese Fälle nicht geführt.

Anstatt wie sonst nach solch erschütternden Geschehnissen auf die Straße zu gehen, müssen feministische Bewegungen in der Phase des Lockdowns andere Mittel des Protests und des Gedenkens finden. In den letzten Monaten entstanden so gewaltige Protestaktionen über soziale Netzwerke: Tausendfach wurden Fotos, Illustrationen und Slogans für Gerechtigkeit und mehr Schutz für Frauen und Kinder geteilt. Mit dem Protest auf der Straße geht oft ein Trost, ein Verständnis unter Frauen, ein Gefühl der Verbundenheit und Stärke einher. Ohne Versammlungen und ohne Demonstrationen ist die Situation für viele noch schwieriger.

Ohnehin war die psychische Belastung für Frauen durch die anhaltenden Kontaktbeschränkungen und die vielen Monate der Zurück-*gezogenheit zuhause angestiegen. Wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtet, liegt das an der Zunahme ökonomischer, sozialer und gesundheitlicher Probleme. Wie wichtig eine gute Versorgung der mentalen Gesundheit in Zeiten der Pandemie besonders in Lateinamerika ist, hat erst kürzlich Carissa Etienne, Präsidentin der Panamerikanischen Gesundheits-*organisation (PAHO), erläutert. Sie erwähnt außerdem, dass bisherige Schätzungen über das Ausmaß häuslicher Gewalt während der andauernden Ausgangsbeschränkungen eher zu gering ausfallen.

Entsprechend der weltweit beobachtbaren Tendenz hat auch in Chile die häusliche Gewalt mit dem Lockdown zugenommen. Nach Angaben des Ministeriums für Frauen und die Gleichstellung der Geschlechter gingen in den Monaten April, Mai und Juni dieses Jahres doppelt so viele Anrufe bei der staatlichen Hilfe-Hotline ein wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Auch bei anderen Anlaufstellen stieg die Zahl der Hilfesuchenden, so auch bei den Freiwilligen der Vereinigung Redpsicofem: „Es traten mehr Probleme verbunden mit der Einsamkeit der Patientinnen auf, außerdem Probleme zwischenmenschlicher Beziehungen wegen der Ausgangsbeschränkungen. In einigen Fällen gab es Probleme im Zusammenleben, familiäre Probleme sind stark angestiegen.” Die Unterstützung für Betroffene sei außerdem erschwert, da sich jene während der Beratung oder der Therapiesitzung nicht immer an einem sicheren Ort befinden.

Die Coronavirus-Pandemie verstärkt somit die bestehende Problematik sexualisierter Gewalt. Doch wurde diese bereits vor dem Lockdown exotisiert und wird es wohl auch danach bleiben. Aus der Notwendigkeit heraus haben sich auch die Psychologinnen von Redpsicofem das Ziel gesetzt, Unterstützung und kostenlose Therapiesitzungen für Betroffene sexualisierter Gewalt anzubieten. Die Freiwilligen betonen, dass damit natürlich nicht das eigentliche Problem, nämlich die machistische Gewalt und die patriarchalen Strukturen in Chile, direkt angegangen wird. Doch könnten durch die psychologische Unterstützung zumindest die Betroffenen an Stärke gewinnen und aus Gewaltsituationen entkommen und weitere Betroffene ermutigen. Da die Hilfesuchenden oft nicht über die nötigen finanziellen Mittel für eine Therapie verfügen, wird das kostenfreie Angebot von Redpsicofem auch ebenjene erreichen können. Der Vereinigung ist wichtig, dass sich „die psychologische Versorgung nicht in einen Raum für die Elite verwandelt”.

Mit der schrittweisen Lockerung des Lockdowns in Chile begeben sich wieder mehr Menschen auf die Straßen, treffen sich, kehren zum zentralen Platz der Proteste der letzten Monate, dem „Platz der Würde“, zurück und atmen kurz auf. Nach dem Aufatmen wird wohl nicht lange auf den Schrei zu warten sein, der Gerechtigkeit fordert: für Antonia und Ámbar und alle, die unter der machistischen Gewalt leiden. Die Prozesse dauern an: in der Justiz, in der Gesellschaft und in jedem einzelnen Menschen. Redpsicofem stößt dabei wichtige Denkprozesse an: „Aktuell lösen einige Fragen Unwohlsein aus: Wie finden wir nach dem Lockdown zur Alltäglichkeit zurück? Wie treten wir wieder in Beziehung zu anderen?“

EINE ANDERE WELT IST MÖGLICH

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Wir säen Organisation, um ohne Angst zu leben Aktion am 8. März in Solidarität mit den Zapatistas (Foto: Santiago Arau)

Was bedeutet der 8. März 2020 für die Kollektive Mujeres y la Sexta und Mujeres que Luchan “Porque Acordamos Vivir”, denen du angehörst?
Der 8. März ist für uns ein sehr, sehr wichtiges Datum, weil es die Relevanz des Kampfes der Frauen gegen das Patriarchat (Anm. d. Interviewerin: männliche Vorherrschaft) zum Vorschein bringt. Für uns ist es der Tag der Frauen, aber nicht nur der Frauen, die kämpfen. Es ist weder eine Feier für uns, noch eine Mahnung an all das, was uns im Kampf gegen das Patriarchat noch fehlt. Vielmehr ist der Weltfrauen*kampftag ein wichtiger Gedenktag, der uns an all unsere Genossinnen erinnert, die im Kampf gefallen sind. Das waren zuletzt sehr viele. Die Gewalt gegen Frauen betrifft nicht nur die in einem offenen Kampf und politischem Aktivismus, sondern alle Frauen. Der Machismus gibt vor, dass Frauen Besitz seien. Sei es in partnerschaftlichen Beziehungen, Freundschaften oder bei unbekannten Zusammentreffen auf der Straße. Vor allem vor dem Hintergrund der jüngsten Situation von Gewalt an Frauen in Mexiko und dem Anstieg an Feminiziden erscheint uns der 8. März sehr wichtig.

2019 war das Jahr mit den meisten Feminiziden in der jüngsten Geschichte Mexikos …
Mit der neuen Regierung hat sich die Situation zu einer regelrechten Epidemie entwickelt. Im Durchschnitt werden 10 Frauen pro Tag ermordet. Das ist offen gesagt etwas sehr Schwerwiegendes. Es handelt sich um Frauen unterschiedlichen Alters, vor allem im Alter von 20 bis 40 Jahren. Doch gibt es auch viele Fälle von verschwundenen Mädchen, wahrscheinlich im Rahmen von Organhandel.

Für uns ist dieses gemeinsame Erwachen sehr wichtig, um zu erkennen, dass das Patriarchat ein systemisches Problem ist, das uns vernichtet. Es sind keine einzelnen Aktionen von Verrückten. Die Angst hält uns Zuhause gefangen, ohne Teilhabe am öffentlichen Leben einzufordern. Es verwehrt uns das Recht auf Leben. Die Zapatista-Genossinnen haben uns gezeigt, dass es gilt, die Angst zu verlieren, um unseren rechtmäßigen Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Eine neue Gesellschaft ohne Patriarchat.

Wie kam es zu dem Anstieg an Feminiziden in den letzten Jahren?
Es fängt mit dem Frauenbild an, das in den Medien vermittelt wird und das Frauen als Sexobjekte und Männern untergeordnet darstellt. Dies führt zu der Sichtweise, dass Frauen gehorchen müssen und Männer mit ihnen machen können, was sie wollen. Das geschieht auch im Bereich der Politik und sogar in Gewerkschaften oder Kreisen von Aktivisten, die sich als links begreifen.

Die Abwertung der Frau, die Verschärfung des Machismus und die Straflosigkeit bei Verbrechen an Frauen sind Samen und Frucht des Kapitalismus und bringen die Frau in diese prekäre Lage. Die Ausbeutung im Kapitalismus und Neoliberalismus sind gewissermaßen Basis für die Ausbeutung der Frau, deren Arbeit in vielen Fällen unbezahlt ist, weswegen dies noch nicht einmal als Ausbeutung begriffen wird.

Die wohl vulnerabelste Gruppe sind in Mexiko indigene Frauen. Wie wird im Kampf gegen sexualisierte Gewalt mit den unterschiedlichen gesellschaftlichen Hintergründen der Frauen umgegangen? Wie werden alle sichtbar gemacht?
Der Kampf gegen die Gewalt an Frauen und das Patriarchat in Mexiko ist nicht homogen. Die Genossinnen aus den indigenen Gemeinden, wie zum Beispiel die Zapatista-Frauen, führen den Kampf als Kollektiv und nicht als Individuen. Nicht eine wird zurückgelassen. Die Zapatista-Frauen waren immer sehr stark in ihrem Kampf und haben uns einiges gelehrt. Es haben sich viele Gemeinden vereint, Indigene der Tzotzil, Tzeltal, Ch‘ol, Mam und viele andere. Die Zapatistas haben es geschafft, Differenzen zu überwinden, und für höhere Ziele, wie Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit, zu kämpfen. Die indigenen Gemeinden haben sehr viel von verschiedenen mexikanischen Regierungen und Kolonialmächten erlitten, die ihnen ein Leben in Ausbeutung, Missbrauch, Missachtung, Plünderung, Unterdrückung und Rivalität zueinander aufgezwungen haben. Wie sie diese harten Umstände überwunden haben, ist wirklich sehr beeindruckend. Die Zapatistas sinnen nicht auf Vergeltung gegen das Patriarchat, sondern sie verändern es jeden Tag. Es ist sehr wertvoll zu sehen, dass eine andere Form des Lebens, abseits des Kapitalismus und Individualismus, existiert und uns eine andere Vision bietet, die Zukunft zu gestalten. Ich glaube an diese Vision der Zukunft, dass eine andere Welt möglich ist (Anm. d. Interviewerin: Eine der grundlegenden Ideen der Zapatistas und Parole ihres Kampfes ist: „Eine andere Welt ist möglich, eine Welt, in die viele Welten passen“).

 

Mehr Demonstrierende als je zuvor Proteste gegen sexualisierte Gewalt am 8.März in Mexiko-Stadt (Foto: Finja Henke)

War der Weltfrauen*kampftag dieses Jahr anders als in den Jahren zuvor?
Dieses Jahr war die Demonstration am 8. März sehr viel größer als in den letzten Jahren. Wir waren schätzungsweise 250.000 Frauen in Mexiko-Stadt. In zahlreichen anderen Städten des Landes gab es auch Demonstrationen. Es war wie ein Erwachen. Das heiβt aber nicht, dass alle, die da waren, gegen das Patriarchat kämpfen. Vielmehr kämpfen alle für mehr Sicherheit und dafür, nicht ermordet zu werden. Es geht darum, ohne Angst auf die Straße gehen zu können. Viele Frauen waren zum ersten Mal dabei. Nicht nur die offizielle Route der Demonstration, sondern auch jegliche anliegenden Straßen waren bevölkert von Frauen in Mexiko-Stadt. Abseits der Demonstration fanden auch viele Aktivitäten statt, wie Tanz und Musik.

Am 9. März streikten landesweit viele Frauen in Mexiko. Was war der Grund dafür?
Die Idee für den Streik am 9. März wurde aus anderen Ländern übernommen. Der Streik wurde hauptsächlich in urbanen Gebieten umgesetzt. Ich denke, dass die Ankündigung der Zapatistas am Streik teilzunehmen, den Impuls für viele gegeben hat, dies auch zu tun. Bis hin zu der mexikanischen Regierung und großen Unternehmen, die vorgaben am Streik teilzunehmen und Teil der Bewegung zu sein. Doch dies bewegte sich mehr innerhalb des Diskurses des Machismus mit Äußerungen wie, dass auf die Frau, die schöne Königin, unsere geliebte Prinzessin, die Hübsche, aufgepasst werden müsse. Insofern sind das Vorstellungen, die unseren Kampf gegen das Patriarchat und für eine neue Gesellschaft verfälschen. Hingegen die Zapatista-Genossinnen gingen auf die Autobahnen mit ihren Lichtern und der Forderung, die Gewalt gegen Frauen und die indigenen Gemeinden zu stoppen. Das war etwas sehr Schönes.

Was bleibt zu tun, um im Kampf gegen die Gewalt an Frauen Fortschritte zu erzielen?
Wenn wir Autonomie erzielen würden, wären wir näher dran, etwas als Kollektiv zu erreichen. Mit Autonomie beziehe ich mich auf den sozialen Pakt, in dem die Zapatista-Gemeinden leben. Sie leben in großer Akzeptanz und Toleranz für jede Person, die Teil der Gemeinschaft sein möchte, egal welchen Geschlechts oder welches Wissen die Person mitbringt. Das bringt eine wahrhaftige Gleichberechtigung hervor. In unserer derzeitigen Gesellschaft haben wir nicht diese Form von Autoregulierung, da das Patriarchat so tief verwurzelt ist, dass Männer die Gewalttaten und Morde, die sie begangen haben, sogar feiern können. Insofern ist Bildung ein fundamentales Element.

Wir müssen auch schauen, was wir von anderen Gesellschaften lernen können, in denen es nicht so viele Feminizide gibt. Außerdem ist es wichtig, uns von diesem Rechtssystem der Straflosigkeit zu befreien und andere Normen und Sanktionen zu entwickeln, die Gewalt und Wiederholungstaten verhindern.

Die Autonomie lässt sich nicht von dem kapitalistischen System trennen, in dem wir heute leben. Das wäre utopisch und nicht einfach. Wir müssen wie Moos anfangen, in der Erde zu wachsen und sich dann auszubreiten. Das hängt von der Vernetzung verschiedener Formen des Widerstands ab. Es geht um kollektives Handeln und Solidarität, Muster von Diskriminierung abzulehnen und nicht zu reproduzieren. Der Kampf der Frauen ist Leitbild, denn wenn wir nicht das Patriarchat abschaffen, werden wir keine andere Form von Gesellschaft aufbauen können. Die Voraussetzung dafür ist Gleichberechtigung und davon ausgehend ist eine andere Welt möglich, nach der auch unsere Zapatista-Genossen streben.

„DIE PATRIARCHALEN FORMEN DER POLITIK MIT DRUCK VERÄNDERN“

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Victoria Alen und Karina Chacón sind Teil von Tinta Violeta. Das Kollektiv wurde 2012 gegründet und setzt sich vor allem für die Verteidigung von Frauen ein. Die Mitglieder begleiten Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind – juristisch und emotional. Insbesondere will die Gruppe die Aufmerksamkeit auf die juristische Aufarbeitung von Verbrechen gegen Mitglieder der LGBTQ+-Community lenken. Die Aktivist*innen versuchen den Machismo aber auch mit künstlerischem Ausdruck zu überwinden: Ihr Projekt Amada nutzt kreative Workshops zu Poesie, Tanz und Theater, um der feministischen Bewegung innerhalb der venezolanischen Kultur neue Impulse zu geben. Tinta Violeta gehört zu La Araña Feminista, einem Netzwerk sozialistischer feministischer Kollektive in Venezuela.
(Foto: Maye Josefina)


Wieso habt ihr den feministischen Notstand für Venezuela ausgerufen?
Victoria Alen: In der zweiten Hälfte des letzten Jahres hat unsere Mitstreiterin, die Anthropologin und Feministin Aimee Zambrano, über den sogenannten Feminizid-Monitor die Zahlen der Feminizide in Venezuela für 2019 vorgelegt. Es waren 167 Fälle – eine Zahl, die uns schockiert hat. Wir haben außerdem gemerkt, wie sehr sich Frauen von Gesetzen und staatlichen Institutionen im Stich gelassen fühlen. Seit 2015 hatte es keine offiziellen Angaben zu Feminiziden mehr gegeben, damals waren es 121 Fälle. Das heißt, in den vier Jahren bis 2019 hat sich die Zahl der Feminizide um 38 Prozent erhöht. Nach dieser Erkenntnis haben wir uns mit anderen Kollektiven zusammengetan und beschlossen, eine Art Bündnis zu schaffen. Dieses vereint Gruppen etwa aus dem sozialistischen Netzwerk La Araña Feminista und andere Organisationen, die ebenso wichtige Arbeit machen.

Wir bemühen uns, über ideologische Haltungen hinauszugehen. Nicht alle Kollektive  vertreten eine klar sozialistische Ideologie, arbeiten aber nach ähnlichen feministischen Grundsätzen wie wir. Unser öffentliches Statement unter dem Namen „Feministische Erklärung” war eine sehr spontane Sache, um den Staat und die landesweiten Institutionen unter Druck zu setzen. Danach haben wir uns für eine Pressekonferenz entschieden, um den feministischen Notstand auszurufen. Für uns war dieser Schritt nötig, weil es eine ernstzunehmende Problematik ist, die bisher missachtet worden ist.

 Welche Aktionen sieht eure „Feministische Erklärung” vor, um den Staat unter Druck zu setzen?
Karina Chacón: Die erste Aktion fand bereits am 25. November statt, dem Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Zu diesem Anlass erstellten wir unsere erste Pressemitteilung und brachten diese zum Obersten Gerichtshof, also dem leitenden juristischen Organ in Venezuela. Der rechtliche Rahmen hier gilt  in Genderfragen zwar als einer der fortschrittlichsten in der Region, wenn es um die Formulierungen und das, was berücksichtigt wird, geht. Aber für viele wichtige Gesetze gibt es nicht einmal genaue rechtliche Bestimmungen. Das heißt, wenn man die Anwendung der Gesetze untersucht, stößt man auf sehr schlechte Ergebnisse.

Habt ihr mit der Demonstration vor dem Obersten Gerichtshof etwas erreicht?
VA: Nun gut, wir haben Maikel Moreno, den Präsidenten des Obersten Gerichtshofes, dazu gebracht, unmittelbar während unseres Protests nach draußen zu kommen und mit uns zu sprechen. Wir wollten ein Gespräch mit den Institutionen und den verschiedenen Kollektiven vor Ort einleiten. Im Nachhinein hat es Arbeitsgruppen mit verschiedenen Vorsätzen gegeben, es gab drei Treffen, aber es wurde nie etwas erreicht. Es blieb in einem unverbindlichen Rahmen und die Treffen brachten aus verschiedenen Gründen nie Ergebnisse.

Ich weiß nicht, ob es an der Ineffizienz, der Apathie oder den fehlenden Mitteln bzw. der Infrastruktur der Institutionen liegt, jedenfalls kamen wir zu nichts. Tatsächlich hatte Moreno sich am 25. November zu dem Vorhaben verpflichtet, dass es am 8. März bereits etwas Konkretes geben sollte. Der 8. März kam und ging und es ist absolut nichts passiert.

Am Internationalen Frauentag, dem 8. März, habt ihr eine unabhängige Protestaktion veranstaltet…
KC: Wir haben eine Aktion geschaffen, mit der wir uns alle identifizieren konnten, obwohl es innerhalb des Bündnisses sehr unterschiedliche Gedanken und ideologische Strömungen gab. Wir sind uns aber einig über den feministischen Notstand und unsere Forderung nach Gerechtigkeit für alle Frauen. Wir haben mehr als 100 Personen versammelt. Das ist für eine spontane Aktion im kleinen Raum, die unabhängig von Parteistrukturen und offiziellen oder traditionell oppositionellen Institutionen organisiert wurde, gar nicht so wenig und ein erster Erfolg.

Unser wichtigstes Vorhaben ist es, wieder Räume zu schaffen, in denen es eine offene Debatte geben kann, in denen wir uns zuhören und durch die wir Frauenrechte durchsetzen können. So können wir auch Vertrauen schaffen. Eines der Dinge, die wir in der politischen Aktion und ihren Räumen in Venezuela verloren haben, ist die notwendige Diskussion oder Gegenüberstellung auch von politisch abweichenden oder gegensätzlichen Meinungen.

Wie steht es aktuell um Feminizide in Venezuela?
KC: Wir zählen heute 67 Tage in diesem Jahr und – laut dem Feminizid-Monitor von Aimee Zambrano – 51 Feminizide. Das ist eine Zahl, die uns alarmiert. Nehmen wir zum Vergleich unsere spanischen Mitstreiterinnen, die auch den feministischen Notstand erklärt haben: In Spanien waren es in diesem Jahr laut offiziellen Angaben 14 bis 16 Feminizide – und dort leben deutlich mehr Menschen als in Venezuela.

Gibt es irgendeinen Weg, Gerechtigkeit für diese Verbrechen zu schaffen?
KC: Im Allgemeinen gehört es nicht zur venezolanischen Kultur, Verbrechen zur Anzeige zu bringen. Wenn eine Frau, die Gewalt erfährt oder erfahren hat, zu Tinta Violeta kommt, ist unser erster Schritt, ihr zur vermitteln, dass sie nicht allein ist und sie von einer Anzeige zu überzeugen. Wenn Frauen aber allein zur Polizei gehen und eine Gewalttat anzeigen wollen, werden sie von den Beamtinnen und Beamten dort wiederum zum Opfer gemacht. Das bringt viele dazu, eher von einer Anzeige abzusehen. Der Fall wird auf Eis gelegt, die Anzeige zurückgezogen und nicht weiterverfolgt, weil die Frau nicht darauf besteht. Zum Glück sind wir als Organisation eine juristische Person. Das heißt, wir dürfen rechtlich gesehen, Teil einer Anzeige sein. Nur so, mit diesem Druck, gelingt es uns, dass die Beamtinnen und Beamten den Fall bearbeiten und irgendwann Ergebnisse erzielen, auch wenn sie uns erst einmal vier Stunden warten lassen.

Wie war die Situation, bevor die offiziellen Statistiken eingestellt wurden?
VA: In den 2000er Jahren traten mehrere neue Gesetze in Kraft, es gab politische Bewegungen und die staatlichen Institutionen hatten einen Weg gefunden, auf die Problematik zu antworten. Das Problem war nicht so schlimm, wie es heute ist. Die Besorgnis über die Gewalt an Frauen hat die öffentliche Politik beeinflusst. Außerdem haben die Frauen während der gesamten Bolivarischen Revolution mit Hugo Chávez sehr stark an den politischen Prozessen teilgenommen, vor allem in den Basisorganisationen. Natürlich war die Gewalt an Frauen ein Thema, aber die Frauen fühlten sich nicht so im Stich gelassen und hatten Möglichkeiten, politische Lösungen dafür zu finden, weil sie politische Protagonistinnen waren.

Seit 2014 ist die Verzweiflung aber groß. Die Jahre 2015 und 2016 waren eine Zeit der starken Brüche. Nicht nur unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten, sondern alle möglichen Aspekte waren betroffen: in der Politik, der Gesellschaft, der Kultur. Das hatte starke Rückwirkungen auf die Frauen, die am Ende die schwerste Last zu tragen hatten. Es kam zur Feminisierung der Armut. Frauen sind diejenigen, die in ihrem Zuhause direkt betroffen sind, am meisten natürlich von der Gewalt. Diese Umstände haben zu einem bedeutenden Anstieg jeglicher Formen der Gewalt geführt, sei sie symbolisch, politisch oder institutionell.

Welche Forderungen ergeben sich aus eurer „Feministischen Erklärung” in Bezug auf die aktuelle Situation?
KC: Unsere erste Forderung ist die nach offiziellen Statistiken. Die zweite Forderung bezieht sich auf rechtliche Aspekte: Wie schaffen wir es, dass die Beamtinnen und Beamten das geltende Recht umsetzen? Dafür braucht es eine Leitlinie, an die sich gehalten werden muss. Das fängt schon damit an, dass wir nicht durchgelassen werden, um Anzeige zu erstatten, wenn wir ein Kleid tragen. Wenn der Beamte an der Tür nicht mit der Kleidung der jeweiligen Frau einverstanden ist, kommt sie nicht rein und muss stattdessen zurück nach Hause, zurück zu dem Gewalttäter, der sie vielleicht umbringen wird.

Eine andere Forderung richtet sich auf die Entkriminalisierung von Schwangerschafts-abbrüchen – das ginge zum Beispiel durch die Zulassung einer Nichtigkeitsklage. Wir fordern außerdem, dass die Gewaltverbrechen an Bäuerinnen, indigenen Frauen und Mieterinnen nicht als Verbrechen am Eigentum oder Land, sondern als Fälle sexualisierter Gewalt behandelt werden. Diesen Frauen widerfährt keine Gerechtigkeit angesichts solcher Taten. All diese Forderungen gehören zu einem Plan, der jetzt gestaltet werden muss. Dieser Plan muss von den Beamtinnen und Beamten dauerhaft und grundlegend angewandt werden.

Wie steht es um die Aufklärung von Verbrechen gegen Mitglieder der LGBTQ+-Community?
VA: Wir begleiten diese Fälle freihand, weil es keine besonderen Richtlinien gibt. Die Verfassung verbietet jedoch im Artikel 20 und 21 jegliche Form der Diskriminierung, egal in welcher Situation. Darauf basiert unsere Arbeit, denn die Verfassung steht über allem. Fälle, in denen dagegen verstoßen wird, müssen bearbeitet oder zumindest entgegen genommen werden.

KC: Weil Venezuela noch keine Gesetze über die Geschlechtsidentität erlassen hat, sieht das Gesetz beispielsweise transmaskuline Personen als Rechtssubjekte nach ihrem biologischen Geschlecht. Wir haben mehrere solcher Fälle von Menschen betreut, die sich als Männer definieren, vom Gesetz aber als Frauen geschützt werden. Es ist ein sehr komplexes Thema. Wir müssen den Beamtinnen und Beamten erklären, dass die Person eine Frau mit männlicher Identität ist, damit diese Person nicht verletzt oder wiederum zum Opfer wird. Es ist sehr schwierig, weil es immer darum geht, wie die Person zu nennen ist und, weil es viele Vorurteile gibt. Die Betreuung von trans Menschen ist um einiges schwieriger, weil es keinen rechtlichen Rahmen für die geschlechtliche Identität gibt. Verschiedene Organisationen fordern bereits eine Gesetzesreform, tatsächlich existiert sogar schon ein Vorschlag dafür, Gewalt gegen trans Frauen in das Gesetz aufzunehmen. Bisher wird sie das nicht. Mit der Reform würden auch Morde an trans Frauen als Feminizide gezählt werden.

Gibt es Fortschritte der feministischen Bewegung in eurer Region?
KC: Wir vertrauen als feministische Bewegung darauf, dass wir die patriarchalen Formen der Politik, die bis jetzt keine Ergebnisse erzielt haben, verändern können. So lautet die Forderung der feministischen Bewegung in der ganzen Region: eine Alternative zu schaffen, die alle berücksichtigt und einer ganzen Hälfte der Bevölkerung das Recht auf Leben garantiert, was bis heute nicht beachtet wird.

„NIEMAND WIRD FÜR DICH KÄMPFEN, AUSSER UNS”

Gerechtigkeit Demonstrierende fordern, dass der Mord an Isabel Cabanillas de la Torre aufgearbeitet wird (Foto: Favia Lucero / YoCiudadano)

Im Januar habt ihr zu Aktionen auf der mexikanisch-US-amerikanischen Grenzbrücke aufgerufen. Ihr habt einen der am stärksten bewachten Grenzübergänge weltweit für mehrere Stunden besetzt, um auf den Feminizid an eurer Freundin Isabel Cabanillas und allen ermordeten Frauen aufmerksam zu machen. Wie fühlt sich das an?
Wir waren so wütend, dass wir angekündigt haben, alles niederzubrennen. Das haben viele wörtlich verstanden. Als wir auf die Brücke gelaufen sind, sahen wir schon die Barrikaden auf der US-amerikanischen Seite mit elektrischen Drahtkonstruktionen. Das hatte etwas Apokalyptisches. Begleitet von unserer Wut und ein paar unabhängigen Journalistinnen, hatte man das Gefühl, dass die ganze Welt auf uns schaut. Die Stimme, die wir gemeinsam erhoben haben und die Beiträge, die zweisprachig vorgelesen wurden, waren Teil der Aktion an diesem starken Ort. Juárez als Grenzstadt mit Texas auf der anderen Seite hat eine lange Geschichte, die geprägt ist von schrecklicher Gewalt gegen Frauen. Ich hatte das Gefühl, dass das gerade einschlägt. Diese Nachricht bleibt nicht unbeachtet. Es war auf eine Art kathartisch. Während der Demo haben wir viel Kraft und Wut gespürt. Wir wollen eine schnelle Aufklärung und transparente Ermittlungen. Dabei sind wir uns aber auch bewusst, dass die Gerechtigkeit auf unserer Seite ist und mit uns auf der Straße steht. Wir werden keinen Schritt zurück gehen: Solange es keine Aufklärung gibt, gehen wir weiter auf die Straße.

Wie schützt ihr euch gegen die Gewalt in Juárez?
Die Situation in Mexiko ist sehr schlimm. Es ist sehr schmerzhaft zu ertragen, was mit Isabel passiert ist, weil sie uns sehr nahe stand. Aber genau wie uns Isabel schmerzt, schmerzt uns auch das Mädchen, dem die Organe geraubt wurden. Uns schmerzt auch das zwölfjährige Mädchen, das vergewaltigt wurde. Jedes Mal, wenn so etwas passiert, erinnern wir uns daran, wie wichtig Sicherheitsprotokolle für uns sind, präventives Handeln, Netzwerke und so weiter. Manchmal passiert es dann doch, dass wir fahrlässig sind. Dabei müssen wir ständig aufpassen. Kürzlich haben wir uns wieder mit ein paar Frauen getroffen und über vorbeugende Mechanismen gesprochen, über Gruppen, um uns gegenseitig zu schützen.

Wir sind in einer sehr verwundbaren Position. Daher ist es ganz konkret wichtig zu wissen, wer sich gerade wo aufhält, dass man weiß, die Freundin nimmt diesen oder jenen Bus. Man holt sich gegenseitig ab oder trifft sich an bestimmten Orten. Das bedeutet allerdings auch, dass man Ressourcen braucht. Es braucht bestimmte Ressourcen, um sich gegenseitig begleiten zu können. Wenn das nicht geht, gibt es nicht viel. Das bringt vor allem Arbeiterinnen und Studentinnen in sehr vulnerable Situationen, weil sie häufig vereinzelter leben.

Es wird kurz unruhig, das Skype-Gespräch wird von einer der „Hijas“ unterbrochen: „Unsere Nachbarin hat gerade erzählt, dass vor zehn Minuten nur zwei Straßen von hier eine Frau erschossen wurde. Ihr wurde in den Kopf geschossen und der Täter wird gerade gesucht. Deswegen hörst du vielleicht die Sirenen der Polizei im Hintergrund. Das nur am Rande. Du kannst das ja in deinem Interview erwähnen, dass während wir hier über Feminizide sprechen zwei Straßen weiter eine Frau ermordet wird.“ Später stellt sich heraus, dass die Radiojournalistin Teresa Aracely Alcocer getötet wurde. Das Kollektiv entscheidet, das Gespräch weiterzuführen. Es nütze nichts, sich davon einschüchtern zu lassen. Es sei ein Krieg niederer Intensität. „Es fallen keine Bomben, die Gebäude stehen noch, die Leute gehen zur Arbeit und in die Schule. Aber jeden Tag gibt es so viel Gewalt, gibt es Morde, gibt es Feminizide.“

Euer Kollektiv heißt „Töchter von Fabrikarbeiterinnen“. Wie habt ihr euch gegründet und wie kam es zu diesem Namen?
Wir haben uns zunächst „Feministische Initiative“ genannt. Damals haben Mütter von gewaltsam verschwundenen und ermordeten Frauen eine Karawane in die Landeshauptstadt Chihuahua organisiert, die wir unterstützt haben, um den Müttern zur Seite zu stehen, die ihre Töchter verloren hatten. Bei dieser Aktion haben wir festgestellt, dass die Mütter einiger aus der Gruppe selbst in den Weltmarktfabriken (den sogenannten Maquilas, Anm. d. Red.) wie sie hier typisch für die Grenzregion sind, arbeiten oder gearbeitet haben.

In den Grenzgebieten funktionieren Wirtschaft und Handel immer in Bezug auf die Grenzpolitik. Man rechnet mit billiger Arbeitskraft von Migrantinnen und anderen Personen, die aus allen Teilen unseres Landes dorthin gekommen sind und unter äußerst prekären Bedingungen arbeiten und leben. Die große Mehrheit der Angestellten sind Frauen. Die Unternehmen setzen die Arbeiter*innen einer zunehmenden Prekarität aus, um zu sehen, wie weit sie noch gehen können. Diese Situation trifft auf Gewalt, Drogenhandel, Machismo und Militarisierung und schwächt das soziale Gefüge.

Das heißt ihr seht eine Verbindung zwischen der Ausbeutung in den Weltmarktfabriken und sexualisierter Gewalt?
Genau, weil die Maquilas vor allem Frauen einstellen. Wir leben in einem relativ großen Bundesstaat. Die Bevölkerung fluktuiert stark, deswegen gibt es keine Stabilität und keine Organisation. Die Menschen kommen bereits prekarisiert hier an, wollen arbeiten und etwas zum Leben haben, ihr eigenes Haus und so weiter. Aber viele gehen wieder zurück. Wenn du alle Ressourcen eines Ortes ausschöpfen willst, kommt es dir recht, dass die Leute sich nicht organisieren können, zum Beispiel, weil sie von den langen Arbeitstagen erschöpft sind, weil sie keine finanziellen Mittel und keinen guten Zugang zu Bildung haben. Das kommt den Unternehmen, zum Beispiel den ausbeuterischen Leinenfabriken oder den Frackingfirmen, zu Gute.

Wie arbeitet ihr als Kollektiv und was unternehmt ihr dagegen?
Wir organisieren uns in asambleas (Versammlungen) und arbeiten horizontal. Grundlegend gehen wir davon aus, dass jede von uns jeweils unterschiedliche Feminismen für sich beansprucht. Was uns darin eint, sind Kämpfe für die Rechte von Frauen, für die Rechte von lesbischen, bisexuellen Menschen. Wir arbeiten mit dem Projekt migrantischer trans Frauen Respetttrans zusammen. Wir haben immer wieder unterschiedliche Projekte, das können auch Kleinigkeiten sein, bei denen wir uns gegenseitig helfen.

In den letzten Jahren gab es immer wieder Proteste und Aktionen, die eine enorme Wut sichtbar gemacht haben. Wie schafft ihr es, diese Wut und den Schmerz in produktive Kraft umzuwandeln?
Wir glauben, die Wut lässt sich nur umwandeln, wenn es mit anderen Frauen zusammen passiert. Das ist die Kraft der Frauen: Keine kämpft allein. Die Gemeinschaft öffnet sich für dich, bekräftigt dich. Und dann fühlst du dich sicher und sagst: „Na los, ich bin nicht allein!“ In Mexiko ist ein Leben nichts wert. Egal von wem, weil sie Männer töten, weil sie Frauen töten, weil sie Kinder töten. Das sind Leben, die nichts wert sind. Das Leben von Menschen kümmert niemanden. Vielmehr zählt alles, was die Infrastruktur und ähnliches betrifft. In Mexiko kümmert es niemanden, wenn sie eine Frau umbringen. Niemand wird für dich kämpfen, außer uns. Und es gibt keine Gerechtigkeit. Wir suchen sie, aber es gibt sie einfach nicht. Natürlich fordern wir sie ein, aber es sind so wenige Fälle, die überhaupt vor Gericht kommen. Es gibt keine Aufarbeitung der Verbrechen, die Institutionen funktionieren nicht und tun nichts. Deswegen müssen wir vieles selbst machen. Wie unseren Aufruf, alles niederzubrennen.

Seid ihr in Kontakt mit anderen Kollektiven aus Mexiko oder in anderen Ländern?
Ja, wir haben Verbindungen zu Gruppen in Deutschland, mit einigen Frauen aus den USA, mit Kollektiven in Mexiko-Stadt und aus ganz Mexiko oder zum Beispiel mit einem lesbischen Kollektiv namens Radio HumedaLes aus Chile. Es ist vielleicht keine regelmäßige oder beständige Zusammenarbeit, aber wir wissen, dass wir ihnen vertrauen können und, dass sie da sind und uns helfen, wenn wir darum bitten. Und so sind wir alle als Kollektive verbunden.

Was erwartet ihr von der internationalen Berichterstattung und den feministischen Bewegungen in anderen Ländern?
Zuerst einmal, dass sie ein Medium für uns sind. Dass sie uns unterstützen und unsere Informationen verbreiten. Viele wissen zum Beispiel nicht einmal, wo Ciudad Juárez ist. Dass es ähnliche Probleme in Tijuana gibt, dass es ähnliche Situationen sind wegen der Grenze.

Wir wollen, dass alle Welt davon hört. In einem bestimmten Maß hilft uns die Berichterstattung, Druck aufzubauen und unsere Anliegen zu verbreiten. Dass internationale Institutionen verfolgen, was passiert und darüber berichten, ist wichtig. Denn es passiert schon so lange, ohne dass sich etwas ändert. Es war nicht nur Isabel, sondern es sind immer mehr Frauen, die in Mexiko getötet werden. Wichtig ist, diese Dinge sichtbar zu machen: Dass wir immer noch keine Gerechtigkeit haben und dass es weiter Feminizide gibt.

„SIE ERMORDEN UNS WEITERHIN“

Sicherer Raum Zapatistische Frauen verteidigen ihr Treffen demonstrativ mit Bögen und Stöcken (Foto: Aline Juárez Contreras)

„Sie sagen, dass es Geschlechtergleichheit gibt, denn in den schlechten Regierungen gibt es gleichermaßen Männer wie Frauen, die herrschen, aber sie ermorden uns weiterhin. Mit mehr Brutalität, mit mehr Bösartigkeit, Wut, Neid und Hass. Und das immer ungestörter.“ Mit diesen Worten begannen die zapatistischen Frauen das Zweite Internationale Treffen der Frauen, die kämpfen, wie es übersetzt heißt. Teilnehmerinnen aus 50 Ländern kamen vom 26. bis 29. Dezember vergangenen Jahres ins Caracol Morelia, ein politisches Verwaltungszentrum der Zapatistas in den Bergen des südöstlichen mexikanischen Bundesstaates Chiapas.

Die einleitenden Worte zeigten den Widerspruch auf, der in Mexiko und allen Teilen der Welt zwischen Anspruch und Wirklichkeit hinsichtlich der Gleichberechtigung von Frau und Mann besteht. Denn natürlich gibt es vielerorts Fortschritte in den Gesetzgebungen und verschiedenste Initiativen für die Gleichstellung der Geschlechter. Gleichzeitig steigt aber die Zahl der gegen Frauen begangenen Gewalttaten unaufhörlich an. Besonders verheerend ist ihre Situation in Mexiko. Von Januar bis Dezember 2019 wurden in dem mittelamerikanischen Land 3.426 vorsätzliche Tötungsdelikte an Frauen registriert. Nur 890 (25 Prozent) werden als Femizide untersucht, obwohl verschiedene Frauen- und Menschenrechtsorganisationen darauf hinweisen, dass viele dieser Taten mit großer Brutalität und unter Anwendung von sexueller und körperlicher Folter begangen worden sind.

Besonders klar wurde auf dem Kongress, dass auch die Haltung der mexikanischen Mehrheitsgesellschaft mit ihrer Gleichgültigkeit und der Normalisierung des Problems zu der jetzigen Situation von Straflosigkeit und Ungerechtigkeit beigetragen hat.Trotz alledem hat die mexikanische Regierung bisher keinen konkreten Aktionsplan zum Thema vorgelegt. Zwar gibt es unzählige Beschwörungen von offizieller Seite, das Problem anzugehen und Mechanismen wie den Alarm zur Anzeige von Gewalt gegen Frauen (AVGM). Dieser Mechanismus existiert seit 2007 und kommt in den Regionen zum Einsatz, die zu Brennpunkten der Gewalt gegen Frauen geworden sind. Doch bisher hat der AVGM keinerlei Wirksamkeit gezeigt. Vor allem, da es nach der Auslösung des Alarms zu häufig bei der Erstellung von Berichten und Stellungnahmen von Expert*innen bleibt, während die dann vorgeschlagenen Maßnahmen kaum umgesetzt werden. Hinzu kommt, dass die zuständigen Sicherheitskräfte zumeist Teil des Problems sind und es an öffentlichen Stellen mangelt, die mit entsprechenden Kompetenzen für eine effektive Bekämpfung des Problems ausgestattet sind.

Drei Tage feministische Utopie

Und so ist auch die statistische Erfassung von Femiziden und anderen Gewalttaten gegen Frauen von Unklarheiten geprägt. Bundesstaaten wie Guanajuato, Baja California und Veracruz melden Morde an Frauen nicht als Femizide, sondern lediglich als vorsätzliche Tötungsdelikte. Ein weiterer Mechanismus, den die Behörden zur Verschleierung der Zahlen nutzen, ist die Tarnung des Mordes an Frauen als Selbstmord. Mütter von ermordeten Frauen erzählten, wie die Leichen ihrer Töchter auf der Straße oder in Häusern mit Anzeichen von Gewalt gefunden wurden, und doch heißt es im forensischen Bericht: Selbstmord.

Besonders betroffen von der täglichen Gewalt sind indigene Frauen. Bislang gibt es keine Angaben darüber, wie viele indigene Frauen verschwinden, getötet oder vergewaltigt werden. In den meisten Fällen wird der Mord, die Vergewaltigung oder das Verschwinden staatlichen Stellen gegenüber nicht gemeldet, da die Staatsanwaltschaften meilenweit von den Gemeinden entfernt sind und es keinen Übersetzungsdienst gibt, der den indigenen Frauen eine effektive Geltendmachung ihrer Rechte ermöglicht. Der Zugang zur Justiz ist im mexikanischen Staat eng mit dem sozialen Status und der ethnischen Zugehörigkeit verbunden.

Doch der Raum, den die zapatistischen Frauen auf dem Treffen eröffneten, machte keinen Unterschied zwischen Herkunft und sozialer Klasse. Und so nahmen auch indigene Frauen, persönlich oder im Kollektiv, das für alle offene Mikrofon in die Hand, um von der Gewalt zu berichten, die sie erleiden. Sie sagten, dass sie für ein Leben kämpfen, in dem keine Mädchen mehr verkauft oder zur Heirat und zum Kinderkriegen gezwungen werden. Ein Leben, in dem sie nicht geschlagen oder von ihren Ehemännern straffrei missbraucht werden können. Dabei erzählten sie auch von den Organisierungsprozessen, die sie in ihren Dörfern begonnen haben, um ihre Situation zu ändern.

Viele betonten, dass der zapatistische Aufstand vom 1. Januar 1994 eine tiefgreifende Veränderung für sie bedeutete, da sie sahen, wie auch Frauen zu den Waffen griffen und Seite an Seite mit den Männern für ein Ende von Ausbeutung und Unterdrückung kämpften. Gleichzeitig wurde deutlich, dass die Bedürfnisse und Notwendigkeiten der verschiedenen feministischen Kämpfe sehr unterschiedlich sind. Trotzdem war die Vernetzung und der Austausch zwischen den Teilnehmerinnen ein weiterer Schritt in Richtung eines gemeinsamen Prozesses, der bereits im März 2018 mit dem ersten zapatistischen Frauentreffen begonnen hatte.

Zum Abschluss erzählten die Zapatistinnen, dass es in ihren Territorien im Laufe des letzten Jahres keinen Femizid gegeben hatte. Und tatsächlich war es den zapatistischen Frauen gelungen, einen sicheren Ort inmitten der Gewalt zu schaffen. Immer wieder waren im Laufe des Frauentreffens Stimmen zu hören, die sagten, dass sie sich noch nie so sicher gefühlt haben wie in dem Caracol „Huellas del caminar de la Comandanta Ramona“, das für drei Tage zu einer konkreten feministischen Utopie wurde.

Es waren die zapatistischen Kämpferinnen, die mit ihren Bögen und Stöcken einen sicheren Raum für Denunziation, Kunst und Organisation boten, an dem sich mehr als viertausend Frauen beteiligten. Etwas, das die mexikanischen Regierungen seit 17 Jahren mit Militär, Polizei und ihren großkalibrigen Waffen in den meisten Teilen des Landes nicht schaffen.

„DER VERGEWALTIGER BIST DU!“


Foto: Germán Andrés Rojo Arce

Worum geht es bei eurer aktuellen Performance?
Paula Cometa:
„Un violador en tu camino“ ist unsere zweite Performance, basierend auf Thesen der argentinischen Feministin Rita Segato, die auf die Verantwortung staatlicher Institutionen an der systematischen Verletzung der Rechte von Frauen und Minderheiten aufmerksam machen. Eigentlich ist das ganze Teil einer längeren Intervention, deren Erstaufführung aber der aktuellen Proteste wegen verschoben werden musste. Vor gut drei Wochen baten uns die Organisatoren von fuego barricadas, acciones en cemento (kreative Protestaktionen im Format einer Straßensperre in Valparaiso, Anm. der Redaktion) um einen kurzen Beitrag.

Daffne Valdés: Daraufhin haben wir unsere aktuelle Arbeit auf den Punkt gebracht, Frauen und Minderheiten eingeladen, mitzuwirken und den Text an die derzeitigen Verhältnisse angepasst. Deshalb enthält der aktuelle Text ein Zitat der Hymne der Polizei, in dem sie schwören, den seligen Schlaf des unschuldigen Mädchens zu beschützen, und das im Angesicht der sexualisierten Polizeigewalt und Menschenrechtsverletzungen der letzten Wochen zynisch anmutet.

Eure Performance wurde inzwischen von Feministinnen auf allen fünf Kontinenten interpretiert, täglich machen neue Videos die Runde. Was gibt euch das für ein Gefühl?
Daffne:
Wir sind vollkommen überrascht und überwältigt. Aber klar, es macht auch Sinn, denn auf der ganzen Welt gibt es Frauen, die sich mit der Botschaft identifizieren. Es betrifft uns alle auf irgendeine Art und Weise und zeigt, dass unabhängig von den nationalen Grenzen in vielen Ländern die Rechte der Frauen nicht institutionell garantiert werden.

Paula: Es ist die Angst vor der Gewalt gegen Frauen und Minderheiten, die überall existiert. In all den Ländern, in denen die Performance interpretiert wurde, haben die Nationalstaaten bestimmte Herrschaftsformen, staatliche Akteure und Institutionen, die die Unterdrückung festigen. Gleichzeitig war auch der Sinn, dass die Performance nicht nur nachgeahmt, sondern interpretiert und an den jeweiligen Kontext angepasst werden sollte. Das ist absolut gelungen und stellt eine große Bereicherung unserer Arbeit dar.

Valparaiso hat zwar viele Ausbildungsangebote für Künstler*innen, aber wenig Aufführungsorte. Wie geht ihr damit um?
Daffne:
Um mit unserer Botschaft ein möglichst breites Publikum zu erreichen, konzipieren wir unsere Stücke interdisziplinär, damit wir sie an verschiedene Orte und Gegebenheiten anpassen können. Dann führen wir sie dort auf, wo wir eingeladen werden, und manchmal laden wir uns auch selbst ein. Das kann auf Partys sein, auf der Strasse, auf Märkten, auf Konferenzen, die sich thematisch anschließen. Unser erstes Stück, das auf Thesen Silvia Federicis (marxistisch-feministische Theoretikerin, Anm. d. Red.) beruht, hatte letztes Jahr seine Uraufführung beim Theaterfestival der Frauen hier in Valparaiso.

„Un violador en tu camino” Performance von LasTesis in Antofagasta (Foto: Germán Andrés Rojo Arce)

Die aktuellen Proteste sind vom Protagonismus der Jugend und v.a. der jungen Frauen geprägt. Welche Rolle spielt die feministische Bewegung in den Protesten?
Daffne: Die Forderungen, die momentan auftauchen, haben viel mit den Forderungen der feministischen Bewegung zu tun. Bei der Protestwelle letztes Jahr im Mai wurden sie bereits auf den Tisch gebracht und auch in den Vorjahren.

Paula: Die aktuelle Krise basiert auf dem patriarchalen und kapitalistischen System, hier in Chile auf den Auswirkungen des Neoliberalismus. Genau diese Strukturen kritisiert der Feminismus. Bis zu unserer Performance schien die feministische Bewegung zu schlafen, aber das ist ein Trugschluss. Der Feminismus schließt lückenlos an die Forderungen der aktuellen Proteste an. Deshalb ist es auch ein Irrtum, die Forderungen nach höheren Renten und die nach einem öffentlichen Bildungs- und Gesundheitssystem davon zu trennen. Der Feminismus zielt auf einen Wandel eben dieser Bereiche der Reproduktion des täglichen Lebens ab. Auf einen Wandel der gesellschaftlichen Beziehungen, darauf, wie wir uns als soziale Wesen zueinander in Beziehung setzen, und auch auf die Herrschaft des Staates über unsere Körper:

Wie schätzt ihr die Bedeutung der Kunst für die aktuellen Proteste ein?
Paula:
Die Künste erlauben es dir, auf kreative Art und Weise eine Botschaft kundzutun. Diese Botschaft kann erhört werden oder nicht, kann vom Publikum angeeignet werden, so wie es in diesem Fall geschehen ist. In Krisenzeiten gibt es viel mehr Raum und Aufmerksamkeit für solche kreativen Botschaften. Deshalb ist die Rolle der verschiedenen Künste in solchen Momenten grundlegend.

Daffne: Derzeit denke ich, dass die Kunst, die kreativen Protestformen, uns dabei helfen, uns nicht so allein zu fühlen. Viele Frauen haben sich durch die Performance ermutigt gefühlt, Missbrauch und Gewalt gegen sie anzuzeigen. Denn auf eine bestimmte Art und Weise haben sie erkannt, dass die Gewalt viele betrifft, vielleicht sogar uns alle. Sie haben das Gefühl bekommen, sich auf dieses Kollektiv stützen zu können, dass es uns Schutz gibt und dass wir zusammenhalten.

Paula: Alle, die sich keiner Partei zugehörig fühlen, aber trotzdem organisiert sind und protestieren, Künstler, Musiker und natürlich viele andere Menschen, sind Teil dieses Kollektivs. Zusammen stellen wir vieles auf die Beine.

Was kann die feministische Theorie und Praxis zu den Lösungen der aktuellen sozialpolitischen Krise beitragen?
Paula:
Der Feminismus kann einen konkreten Beitrag zur Überwindung der alltäglichen Gewalt leisten, zur Entmystifizierung des Vergewaltigers. Feminismus hilft, die alltägliche Gewalt gegen die Körper, die Subjekte, die Kinder zu erkennen. Der Staat verbietet es uns, abzutreiben, über unsere eigenen Körper zu entscheiden. Durch die feministische Analyse können wir die Unterdrückung durch bestimmte Strukturen und Institutionen erkennen und bestenfalls überwinden, denn diese Institutionen lassen uns nicht leben. Der Feminismus öffnet den Menschen die Augen, um diese Realitäten zu sehen, wahrzunehmen. Realitäten, die durch patriarchale Strukturen geschützt und versteckt sind.

Und was bringt sie im Hinblick auf eine mögliche neue Verfassung?
Paula:
Der Kapitalismus basiert auf der Ausbeutung der Frauen, der Arbeitskraft, der Sexualität und der Reproduktion. Dieses System ist nicht mehr tragbar, definiert aber die staatliche Politik. In der Bildung brauchen wir beispielsweise sexuelle Früherziehung, die nicht sexistisch geprägt ist und für LGBTI sensibilisiert. Auf dem Arbeitsmarkt brauchen wir Parität, gerechte Gehälter und Renten. Im Gesundheitsbereich müsste über Gewalt während der Schwangerschaft und der Geburt aufgeklärt und selbige verhindert werden. Insgesamt ist es eine Bandbreite an Bereichen, in denen das feministische Gedankengut Wurzeln schlagen sollte. Das macht den Männern, den Regierungen, Angst. Bei der Diskussion um eine neue Verfassung haben wir große Schritte vor uns.

DER FEMINISTISCHE KAMPF FORDERT EINEN ECHTEN WANDEL

Am Montag den 25. November, dem Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, sind wir von Victoria Alada aus zum Zócalo im Zentrum von Mexiko-Stadt marschiert. Als wir ankamen, hörten wir die Kundgebung der gemeinsamen Erklärung der Autonomen Feministischen Versammlung und der Hauptstädtischen Feministischen Versammlung: „Wir leben in Zeiten des Krieges, Schwestern, compañeras. Zeiten der Krisen und Notfälle. Sie töten uns, sie vergewaltigen uns, sie zwingen uns, zu gebären, sie verurteilen uns zum Tode, weil wir nicht gehorchen. Sie wollen uns hungrig, sie wollen uns ängstlich, traurig, müde, fügsam. Sie wollen uns spalten, Schwestern, compañeras.“

„Das ist die feministische Welle“

Das ist unsere Antriebskraft und ein Zurück gibt es nicht mehr. Das ist die feministische Welle. Sie speist sich aus kleinteiliger Arbeit: aus Sitzungen, organisatorischer Praxis, Wissensaustausch und verschiedenen Blickpunkten. Sich in den Versammlungen sehen, sich mit anderen treffen, die Entrüstung miteinander teilen, aber auch Unterschiede ertasten.

Sie kam plötzlich. Wie vulkanisches Magma, das die Straßen im Protest einnimmt, das uns mit einem Regen aus Gesängen, Parolen und Performances durchnässt. Aus Schreien, Trommeln und Forderungen. Sie verpasst den Straßen einen neuen Anstrich, sie will die nicht erzählten Geschichten und nicht erhörten Schreie furchtlos auf den Denkmalen verewigen. Jetzt, da wir vereint sind, jetzt, wo sie uns endlich sehen.
Dieses Jahr war ein bewegtes. Sein Zeitstrahl zeigt eindeutig auf, dass sich die Geschlechtergewalt in Mexiko-Stadt verschärft hat.

Im Januar waren es die Entführungsversuche in U-Bahn Stationen, bekannt unter dem Namen „Cálmate mi amor“ („Beruhige dich, meine Liebe“). Diese hatten zum Ziel, unter den Umstehenden Misstrauen gegenüber den Hilferufen der Frauen auszulösen. Diese beteuerten, dass ein Unbekannter, der behauptete, ihr Partner zu sein, versuchen würde, sie zu entführen. Feministische Aktivistinnen konnten durch partizipatives Mapping 31 Stationen identifizieren, an denen dies in den letzten zwei Jahren passiert war.

Kurze Zeit später schlug Ana Miriam Ferráez, lokale Abgeordnete aus Veracruz, im Angesicht des Anstiegs von Femiziden in ihrem Bundesstaat vor, ab 22 Uhr eine Ausgangssperre für Frauen einzuführen. Unter dem Hashtag #LaNocheEsNuestra („Die Nacht gehört uns“) versammelten sich daraufhin Frauen im ganzen Land zu Fahrraddemonstrationen.

Glitzer als Symbol einer neuen feministischen Bewegung

Im März erreichte die #MeToo-Welle Mexiko, ausgehend von Anklagen im Literaturbereich, die unter dem Hashtag #MeTooEscritores („MeToo Schriftsteller“) gesammelt wurden. Kurz darauf sind weitere gleichnamige Kanäle für die Bereiche Journalismus, Musikindustrie, Kino, Wissenschaft und soziale Organisationen aufgetaucht. Mehr als 130 Schriftsteller und etwa 300 im journalistischen Bereich Tätige wurden angezeigt. Das Anzweifeln der Legitimität der Anschuldigungen in sozialen Netzwerken war nicht nur im öffentlichen, machistischen Diskurs präsent, sondern auch innerhalb von Sektoren des Feminismus der „alten Schule“.

Am 3. August löste die Anzeige der Vergewaltigung einer Sechzehnjährigen durch Polizisten im Bezirk Azcapotzalco Empörung in den Medien und sozialen Netzwerken aus. Die Besetzung des öffentlichen Raumes, die Monate zuvor mit #MeToo im Internet stattfand, verlagerte sich nun auf die Straßen.

Die „Brillantinada“, („Glitzerschlacht“), eine Reihe von Protesten im August (siehe LN 543/544), wurde auf Twitter unter dem Slogan #NoMeCuidanMeViolan („Sie schützen mich nicht, sie vergewaltigen mich“) bekannt, allerdings erst, als Demonstrantinnen die Glastür des hauptstädtischen Verwaltungsgebäudes zerschlugen und den Staatssekretär für Sicherheit von Mexiko-Stadt, Jesús Orta, mit pinkem Glitzer bewarfen. Dieser Glitzer wurde zum Symbol einer neuen feministischen Welle im Land.

„Sie hassen uns, weil wir Frauen sind“

Das Ausmaß der Empörung über Konfetti in der Luft ist lächerlich, aber repräsentativ für eine Debatte, die die schwere Krise der Gewalt gegen Frauen immer wieder aus dem Mittelpunkt des Gesprächs verdrängt. Genauso repräsentativ für diese Debatte ist, dass der eigentlich so festliche Glitzer, der im Kampf gegen männliche Gewalt ein Symbol der Einforderung eines genussvollen und freudigen Lebens ist, zu einem destabilisierenden Element gemacht wurde.

Die Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt, Claudia Sheinbaum, bezeichnete die Zerstörungen als „Provokation“, wodurch die feindliche und aggressive Haltung den feministischen Bewegungen gegenüber verschärft wurde und letztendlich in den sozialen Medien dominierte. Einmal mehr wurden Feministinnen im Netz attackiert. „Wir alle waren es“, war die Antwort auf Kriminalisierung und Drohungen.

Eine überwältigende Mehrheit der Frauen in Mexiko hat im Laufe ihres Lebens irgendeine Form von Gewalt erlebt: 66 Prozent laut dem Nationalen Institut für Statistik und Geographie. Die Angriffe auf Frauen haben eine tödliche Absicht. Ein Hassverbrechen, für das wir einen Namen schaffen mussten, um das Unverständliche zu verstehen: Femizid.

Sie hassen uns, weil wir Frauen sind. Sie hassen uns, weil wir nicht bereit sind, zu gehorchen.

Die Malereien und Graffitis bilden das ab, was zum Schweigen gebracht wurde, die Anklagen, die keinen Weg durch die Rohre einer ineffizienten Justiz fanden. Laut der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik der Vereinten Nationen war Mexiko 2018 das Land der Region mit der zweithöchsten Anzahl von Femiziden. 898. Laut UNO neun pro Tag. Die Wände werden gereinigt. Die Getöteten kommen nicht zurück.
Nun hat Sheinbaum wegen der Gewalt gegen Frauen für Mexiko-Stadt den Notstand ausgerufen. Die Wendung in ihrem zuvor bestrafenden Duktus wurde vielfach kritisiert. Es ist allerdings unwiderlegbar, dass diese die Folge eines unaufhaltsamen und entschlossenen feministischen Kampfes ist, der dieses Jahr geprägt hat. Sie töten uns und wir verteidigen uns. Es wird fallen. Und wir werden es zum Fallen bringen.

UNERTRÄGLICH, UNVERZICHTBAR

Die Autorin Fernanda Melchors große Stärke ist es, ihre Fiktion als Testimonialliteratur aufzuziehen. / Foto: privat

Eine immer in schwarz gekleidete Person, die unter den Dorfbewohner*innen nur als La Bruja, die Hexe, bekannt ist, wird ermordet aufgefunden. Schon brodelt in La Matosa, einer Ansammlung von Häusern an einer Landstraße inmitten von Zuckerrohrplantagen, die Gerüchteküche. Saison der Wirbelstürme, Melchors zweiter Roman, erlaubt sich keine Pause, und, nebenbei bemerkt, auch keine Absätze. Die Stimmen der Frauen im Dorf vermischen sich in einem stets nach vorne drängenden, aber nie unverständlichen Crescendo mit denen der Täter, Mittäter und Mit-Mittäter. Diese sind schnell ausgemacht. Unklar ist das Mordmotiv. War es Habgier, hatten die Mörder es auf den vermeintlichen Schatz der Hexe abgesehen? War es Rache dafür, dass eine Beschwörung oder ein Zaubertrank nicht die gewünschte Wirkung erzielt hatten? Oder gar Eifersucht, ein „Verbrechen aus Leidenschaft“, wie die Zeitungen schreiben?

Fernanda Melchor, geboren 1982 in Veracruz, studierte Journalismus an der Universität Veracruz und Kunst und Ästhetik an der Autonomen Universität Puebla. Als Kind las sie gerne Horrorgeschichten und stöberte in Enzyklopädien. „Wenn ich an meine Jugend denke, erinnere ich mich an das Gefühl der Verzweiflung. Über Gewalt zu schreiben, bedeutet für mich, sie von allen Seiten zu betrachten, ihre Muster zu erkennen, es bedeutet auch, mich an meine Kindheit zu erinnern oder zu schauen, was um mich herum passiert. Wenn ich Fotos von Narcos, Mördern, Vergewaltigern in der Zeitung sehe, frage ich mich: Trennt uns wirklich so viel?“, so Melchor im Gespräch mit den LN. Ihren Stil beschreibt sie in Anspielung auf William Faulkner als tropische Gotik. Die Autorin spielt sowohl in ihren Reportagen als auch in ihren Romanen bewusst mit all jenen Klischees, die sowohl die mexikanische Boulevardpresse als auch Politik und Justiz immer wieder als Mordmotive heranziehen, um einem ganz anderen, tief im System verankerten Problem aus dem Weg zu gehen: der Gewalt an Frauen und Personen, die nicht nach heteronormativen Maßstäben leben. Der 2017 im Original als Temporada de huracanes und 2019 bei Wagenbach in Berlin erschienene Roman stellt dabei den bisherigen Höhepunkt ihres Schaffens dar.

Der Hintergrund: Melchor stößt zufällig auf einen Zeitungsartikel in der Boulevardpresse, in dem es heißt, dass „der Hexer“ eines Dorfes in Veracruz ermordet aufgefunden wurde, und dass einer der Jugendlichen im Dorf, angeblich sein Liebhaber, ihn umgebracht habe. Die Autorin, die sich der Sicherheitslage in Veracruz schmerzhaft bewusst ist, weiß, dass sie nicht einfach in besagtes Dorf fahren kann, um dort für eine Reportage zu recherchieren. 2015, das Jahr in dem Melchor an ihrem zweiten Roman schreibt, steht wie für viele andere Jahre, für Drogenkrieg, Lynchjustiz, anonyme Massengräber und nicht zuletzt Journalist*innenmorde. Melchor beschließt, die Mittel der Fiktion zu nutzen, um die Geschichte zu beschreiben. Aus dem Hexer wird eine Hexe, Melchor will die Problematik des Femizids thematisieren. Sie betont jedoch, dass Hexen in vielen indigenen Religionen unter anderem dafür bekannt sind, dass sie ihr Geschlecht nach Belieben ändern können. Die Gestalt der Hexe steht also auch für den Anspruch, binäre Vorstellungen von Geschlecht aufzubrechen. „Die Auswahl dieser Figur hat es mir erlaubt, sowohl von Frauenmorden als auch von Homo- und Transphobie zu sprechen. Die Hexe funktioniert als Symbol für eine starke, unabhängige Person, auf die die Männer eines Dorfes, stellvertretend für die gesamte Gesellschaft, ihre Ängste projizieren.“

Melchor hat mit Saison der Wirbelstürme einen Roman geschrieben, der vom Setting her „sehr, sehr mexikanisch“ und gleichzeitig universal ist. Dass er neben dem Anna Seghers-Preis nun auch den Internationalen Literaturpreis verliehen bekommen hat – wobei Melchor und ihre Übersetzerin Angelica Ammar sich gegen hochkarätige Konkurrenz wie Hélène Cixous oder Gerald Murnane durchsetzten –, hätte sich die Autorin nie erträumen lassen. „Man könnte denken, dass ein Roman, der so großes Elend beschreibt, nichts für den deutschen Buchmarkt ist. Aber Deutschland ist ein Land mit einer sehr gewalttätigen Geschichte. Auch wenn das Szenario fremd erscheinen mag, so sind Hass, Eifersucht und Intoleranz doch Themen, die uns alle berühren“, so Melchor, deren Urgroßvater selbst aufgrund seiner jüdischen Zugehörigkeit vor dem Zweiten Weltkrieg aus Deutschland nach Mexiko geflohen ist. La Matosa, Dreh- und Angelpunkt von Saison der Wirbelstürme, ist eine Hölle, aus der es kein Entkommen gibt: „Die Fiktion gibt dem Schrecken eine Form, die es uns ermöglicht, ihn besser verstehen zu können.“

Während der Roman Falsa liebre (Falscher Hase) oder die Erzählung Dale un besito (Gib ihm ein Küsschen) sich vor allem auf die Perspektive der Opfer sexualisierter Gewalt konzentrieren, ist die Hexe in Saison der Wirbelstürme nahezu stumm. Wir bekommen keine Chance, sie aus erster Hand kennenzulernen. Die Stille, die La Bruja umgibt, steht im starken Kontrast zu dem rauschenden, sich überschlagenden testimonio der Dorfbewohnerinnen, das fast ohne Punkt und Komma auskommt. Die Leerstellen, die inmitten der hyperrealistischen und brutalen Beschreibung der alltäglichen Gewalt in La Matosa auftreten, sind bewusst so eingesetzt. „In der Literatur ist alles möglich, nichts ist nicht erzählbar. Aber genau wie in der Musik, ist auch die Stille wesentlich“, so Melchor.

Die Unerträglichkeit der Lektüre, die Unmittelbarkeit, mit der Melchors Sprache uns attackiert, ist, was ihr Werk so wichtig und einzigartig macht. „Oft werde ich gefragt: Und was ist mit dem Rechtsstaat, warum taucht der nicht auf? Ganz einfach, der Rechtsstaat existiert nicht, deswegen habe ich das Buch geschrieben.“ Vor diesem Hintergrund sind auch die Darstellungen von Massenvergewaltigungen und Kindesmissbrauch schwerlich, wie es einige Rezensent*innen in deutschsprachigen Medien getan haben, als „pornographische Passagen“ zu bezeichnen. Problematisch, zumal sie ein völlig anderes Ziel verfolgen. Sie sind was sie sind – extrem realistische sexualisierte Gewalt, so detailreich dargestellt wie eine Zeug*innenaussage vor Gericht. Melchors große Stärke ist es, ihre Fiktion als Testimonialliteratur aufzuziehen. Eine, die so überbordend und realistisch ist, dass sie kaum verdaulich ist. Eine, die uns zwingt, hinzusehen, wenn wir die Augen schließen und das Buch an die Wand schleudern möchten. Melchor provoziert Unbehagen, um die brutale Realität spürbar zu machen: „Oft sagt man ja, dass ein Buch dich behutsam an die Hand nimmt und sagt: Komm, wir machen eine Reise. Dieses packt dich am Hals und schmeißt dich ins Wasser.”

WIDERSPRÜCHLICHE SIGNALE

Jeden Morgen machen sich Journalist*innen auf den Weg zum größten Platz Mexiko-Stadts. Sie kommen zur täglichen Pressekonferenz des Präsidenten Andrés Manuel López Obrador (AMLO), der sogenannten „mañanera“. Ab sieben Uhr informiert der 65-Jährige im Palacio Nacional die Medien über aktuelle Entwicklungen und stellt sich den Fragen und der Kritik. Die Konferenzen dauern meist mehr als eine Stunde und werden live auf YouTube übertragen. Dort werden sie in Gebärdensprache übersetzt und im Sekundentakt von Kommentaren und Smileys begleitet. Keiner der vorherigen Präsidenten hat Vergleichbares getan. Dieser unkonventionelle Umgang mit den Medien ist Teil der versprochenen Transparenz der neuen Regierung.

Laut Umfragen erreicht AMLO in den ersten 100 Tagen eine Zustimmung von mehr als 80 Prozent

Ein weiterer Vorsatz AMLOs ist, die Bürger*innen mehr in die Entscheidungen der Politik einzubeziehen. So stieß er bereits vor seinem Amtsantritt eine nationale Bürgerbefragung über den umstrittenen Bau des neuen Hauptstadt-Flughafens an. Die Mehrheit der Befragten (69,9 Prozent) lehnte den weiteren Ausbau in Texcoco ab. Tatsächlich wird dieser nun nicht weitergebaut. Auch für ein weiteres aktuelles Großprojekt ließ der Präsident eine Befragung durchführen: Den Tren Maya. Geplant ist, einen Zug für Personenverkehr auf der Halbinsel Yucatán zu bauen. Ein Projekt, dass mit 89,9 Prozent angenommen wurde. Kritiker*innen bemängeln jedoch die Durchführung der Umfrage und es regt sich insbesondere bei den indigenen Gemeinschaften Widerstand, die in der Region leben. Diese sind teilweise im Nationalen Indigenen Kongress (CNI) organisiert, der 2018 die erste indigene Präsidentschaftskandidatin stellte. AMLO hingegen verteidigt die Umsetzung des Projektes Tren Maya.
Neben den morgendlichen Pressemitteilungen und Bürgerbefragungen stärken aber auch die Entscheidung AMLOs, auf Leibwächter*innen zu verzichten (was in einem Land wie Mexiko als geradezu lebensmüde erscheint), oder seine Ankündigung, das Präsidenten-Flugzeug zu verkaufen, seine Popularität. Bei der Bevölkerung kommt dies gut an. Laut Umfragen verschiedener Medien erreichte AMLO nach 100 Tagen Amtszeit eine Zustimmung von mehr als 80 Prozent. Zugleich kritisieren verschiedenen Seiten dies als Symbolpolitik. Denn zu vielen Themen, insbesondere zur dramatischen Lage der Menschenrechte, fehlt es an konkreten Plänen, ganz zu schweigen von deren Umsetzung. Manchmal ist es aber scheinbar auch einfach fehlendes Interesse, wie im Fall der Rechte von Frauen.

In Mexiko werden im Durchschnitt neun Frauen pro Tag ermordet

Zu Beginn begeisterte AMLO mit der Aufstellung eines Kabinetts, welches knapp zur Hälfte aus Frauen besteht. Doch aktuell bewerten feministische Organisationen, wie die seit über 30 Jahren bestehende feministische Presseagentur Kommunikation und Information der Frau (CIMAC), die Lage kritisch. AMLOs Pläne, Frauenhäuser zu schließen, sorgten für Protest und seine Aussage – just am Internationalen Frauenkampftag – zum Thema Abtreibung – für Entsetzen: „Ich glaube wir sollten solche Debatten nicht eröffnen. Wir wollen das Land beruhigen.“ Daher gab es auch 2019 am 8. März wütende Proteste. Eine grün-violette Masse an Menschen, vornehmlich weiblich und jung, zog lautstark für das Recht auf eine sichere und legale Abtreibung und gegen die andauernde Gewalt gegen Frauen durch Mexiko-Stadt bis zum Palacio Nacional. Denn die konkrete Lebensgefahr für Frauen bleibt bestehen. Das ist auch der Regierung bewusst, schließlich erwähnte Olga Sánchez Cordero, aktuelle Staatssekretärin und ehemalige Verfassungsrichterin, in ihrer Rede vom 8. März selbst, wie erschreckend die Statistiken sind. In Mexiko werden im Durchschnitt neun Frauen pro Tag ermordet.
Die Statistiken zeigen ebenfalls, dass die neue Regierung unter AMLO der uferlosen Gewalt in Mexiko bisher nichts entgegensetzen kann. In den ersten drei Monaten dieses Jahres wurden bereits mehr als 8.000 Tötungsdelikte registriert, wie die Tageszeitung La Jornada berichtet. Davon wurden 244 Fälle als Feminizide eingestuft. Die Zahlen sind damit im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres angestiegen. Auch das Morden an Journalist*innen geht unaufhaltsam weiter. Laut der unabhängigen Organisation artículo 19, welche sich für Pressefreiheit einsetzt, wurden unter AMLOs Regierung bereits vier Journalisten Opfer tödlicher Gewalt. Dagegen sollte die Neugründung einer Nationalgarde Abhilfe schaffen. Nun wurde im April bekannt, dass diese doch keinen zivilen Charakter haben wird, um die bestehende Korruption in Polizei und Militär zu umgehen. Stattdessen soll die neue Nationalgarde dem Brigadegeneral Luis Rodríguez Bucio unterstellt werden, der zuvor eine leitende Stelle beim mexikanischen Geheimdienst CISEN hatte. Menschenrechtsorganisationen kritisieren diese Entscheidung stark. Denn eigentlich hatte sich der Präsident für eine Befriedung und Entmilitarisierung des Landes einsetzen wollen.
Die neue Regierung muss jedoch nicht nur auf die ansteigenden Mordraten, sondern auch auf das anhaltende Verschwindenlassen von hunderttausenden Mexikaner*innen reagieren. Ein erster Schritt war, nach der Wahl AMLOs zu Versöhnungsforen einzuladen. Doch der jetzige Sicherheitsminister Alfonso Durazo sorgte bereits vor seinem Amtsantritt für einen Eklat, als er die Angehörigen aufforderte zu vergeben. Später ruderte er zurück: „Wir sagten: ,Vergeben ja, vergessen nein.’ Aber in den Foren haben wir deutlich herausgefunden, dass wir erst Gerechtigkeit garantieren müssen, dass wir die Nichtwiederholung garantieren müssen, dass wir eine Reparation des Schadens garantieren müssen und die Wahrheit für die Opfer. Und dann den Weg für ein Vergeben öffnen können.“ Für den weltweit bekannt gewordenen Fall der 43 Verschwundenen aus Ayotzinapa wird nun eine Menschenrechtskommission eingerichtet. Die Frage, ob dies auch eine juristische Verfolgung der Täter*innen und Vollstreckung eines Urteils beinhaltet, bleibt jedoch auch hier offen (siehe auch LN 538). Das Verhalten der aktuellen Regierung bleibt ambivalent.
Nach langer Passivität hat die Bevölkerung wieder Interesse und Erwartungen an die Regierung
Ein Wandel lässt sich daher momentan weniger im konkreten politischen Handeln und viel mehr in der kritischen Begleitung der Regierung beobachten. Denn nicht nur die Medien, die innerhalb wie außerhalb der morgendlichen Pressekonferenzen beobachten und berichten, und die NGOs, die sich weiter für die allgemeinen Menschenrechte, die Pressefreiheit und die Rechte der Frauen einsetzen, begleiten wachsam die aktuelle Politik. Die sechstelligen Klickzahlen der inzwischen mehr als 100 YouTube-Videos der morgendlichen präsidialen Pressekonferenzen zeigen, dass nach langer Passivität auch die Bevölkerung selbst wieder Interesse und Erwartungen an die Regierung hat. AMLO und sein Kabinett scheinen noch nicht, wie die vorherigen Regierungen, als korrupt und unverbesserlich abgehakt worden zu sein und es erscheint weiter sinnvoll, Forderungen zu stellen. Mit der Hoffnung, dass diese auch erfüllt werden.

 

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