Hüter der verlorenen Lieder

© Natalia Burbano / Contravía Films

“Gelobte Seelen des Fegefeuers, zeigt mir den Weg”, betet José de Los Santos inmitten afrokolumbianischer Rituale. In seiner Gemeinde im Regenwald der kolumbianischen Pazifikregion Chocó vereinen und solidarisieren sich die Bewohner durch Gesänge und Gebete, um den Trauerprozess zu bewältigen. Der Protagonist des Films Yo vi tres luces Negras, (“I saw three black lights”), gespielt von Jesús María Mina, lebt unter den Toten, hat die Gabe, sie zu sehen und mit ihnen zu sprechen. Diese Kommunikation mit seinen Vorfahren ermöglicht es ihm, im Hier und Jetzt voranzukommen und seinen eigenen Weg zu gehen.

Yo vi tres luces negras ist die zweite Langfilm-Produktion des kolumbianischen Regisseurs Santiago Lozano und feiert auf der 74. Berlinale in der Panorama-Sektion des Festivals seine Weltpremiere. Wie schon in seinem ersten Film greift Lozano das Thema Tod und Bestattungsrituale des afrokolumbianischen Pazifikraums auf, diesmal anhand der schicksalhaften Reise von José de Los Santos. Der 70-jährigen wird von seinem verstorbenen Sohn Pium besucht, der nun auch ihm seinen Tod ankündigt. Pium teilt seinem Vater mit, dass er seinen letzten Gang in die Tiefen des Dschungels antreten muss. Auf dem Weg dorthin trifft José auf paramilitärische Gruppen, die ihn bei seinem Vorhaben behindern – dieselben, die seinen Sohn Jahre zuvor ermordet haben.

© Christian Velasquez / Contravía Films

Mit großer visueller und symbolischer Reichhaltigkeit zeigt der Film den Synkretismus, der in den Gemeinden des Departamento Chocó, praktiziert wird, wobei der Tod innerhalb dieser Weltanschauung besonders betont wird. Im Verlauf der Geschichte wird klar auf die Bedeutung der mündlichen Überlieferung für das Überleben archaischer spiritueller Praktiken der Pazifikregion hingewiesen. Diese gehen allmählich durch Gewalt verloren, während die dortigen Bewohner zum Schweigen gebracht werden. Und auch die Auswirkungen des Bergbaus auf die Lebensweise der Menschen und die natürlichen Ressourcen werden deutlich. José de Los Santos wird dabei als “Hüter des Landes” dargestellt, der seinen Kampf gegen Zerstörung und Ausbeutung jedoch mit ungleichen Waffen führen muss.

Besonders bemerkenswert an Yo vi tres luces negras ist die Kinematografie, die den Dschungel in seiner ganzen Tiefe eindringlich einfängt, so dass dieser wie ein eigener Charakter wirkt. Der Film beginnt und endet mit der imposanten Präsenz des Rio San Juan, einem der mächtigsten und wichtigsten Flüsse Kolumbiens. Das Wasser als symbolisches Element ist sowohl visuell als auch klanglich in der Geschichte präsent. Darüber hinaus trägt die beeindruckende Filmmusik von Nidia Góngora, einer Komponistin von und Forscherin zu traditioneller kolumbianischer Musik, Yo vi tres luces negras stimmungsvoll durch die Eingeweide des Dschungels.

Lozanos Arbeit als Regisseur ist zweifellos vielversprechend, denn er zeigt Engagement für seine eigene ästhetische Erkundung. Sein Blick ist nach innen gerichtet, aber er spricht universelle Themen an. Yo vi tres luces negras ist ein empfehlenswerter Film, der innerhalb der Panorama-Sektion der Berlinale sicher zu den stärkeren Beiträgen gehören wird.

LN-Bewertung: 4/5 Lamas


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Nicht das Gelbe vom Ei

© Juan Pablo Ramírez / Filmadora

Der mexikanische Regisseur Alonso Ruizpalacios ist mittlerweile erfolgreicher Stammgast auf der Berlinale: 2018 gewann sein Film Museo einen Silbernen Bären für das beste Drehbuch, die Doku-Fiktion A Cop Movie 2021 die gleiche Auszeichnung für den besten Schnitt. Nun verlässt Ruizpalacios mit dem auf einem Theaterstück basierenden La Cocina (dt.: Die Küche) erstmals Mexiko und betritt die Räume eines New Yorker Restaurants am Times Square. „The Grill“, so der Name des Etablissements, bietet nicht die ganz exklusiven Gaumenfreuden, sondern eher Massenkost für die touristische Durchgangskundschaft. Schnell und möglichst kosteneffizient soll serviert werden und eine der Zutaten dafür ist der illegale Aufenthaltsstatus des Großteils des Küchenpersonals. Den nutzt der schmierige Restaurantbesitzer Rashid auf ziemlich unappetitliche Weise zu seinem Vorteil aus. Denn Mitarbeiter*innen wie der Hallodri Pedro (Raúl Briones) stehen so nicht nur ständig mit einem Bein vor dem Rauswurf aus dem Restaurant, sondern gleich aus dem ganzen Land. Das hält die Motivation bei der Arbeit quasi von alleine hoch. Pedro hat zudem ein Verhältnis mit der abgebrühten Kellnerin Julia (Rooney Mara), deren Schwangerschaft schmeckt jedoch nicht beiden in gleicher Weise.

La Cocina (aus nicht näher definierten Gründen fast komplett in Schwarz-Weiß gefilmt) gelingt esgut, die quirlige, rastlose Atmosphäre in der im Akkord arbeitenden Restaurantküche einzufangen. Schon zu Beginn des Films verfestigt sich aber der Eindruck, als würde hier zu viel in einen Topf geworfen. Die so zahlreichen wie unterschiedlichen Charaktere sind zwar vordergründig sehr unterhaltsam, was vor allem an den schauspielerischen Leistungen (eine Entdeckung vor allem Anna Diaz als Küchen-Neuling Estela) liegt. Doch das allein macht den Kohl leider nicht fett. Denn das Drehbuch bekommt es nicht gebacken, auch nur einem von ihnen eine vernünftige Hintergrundgeschichte zuzubereiten. Dem Publikum wird so mit interessanten Subplots der Mund wässrig gemacht, nur um diese dann im Nichts verlaufen zu lassen. Ein hartes Brot sind auch die häufigen, unverhohlen sexistisch-anzüglichen Bemerkungen und Gesten der männlichen Mitarbeiter in Richtung der (ausschließlich weiblichen) Kellnerinnen. Da diese meist unwidersprochen bleiben, kommt La Cocina hier in Teufels Küche. Zudem finden sich auch bei der Montage und Erzählweise des Films einige Haare in der Suppe: Manche Szenen sind geradezu schmerzhaft lang ausgedehnt, andere wirken nicht richtig abgeschmeckt oder zum falschen Zeitpunkt in die Geschichte eingesetzt.

Das durchgeknallte Finale ist zwar noch einmal ein gefundenes Fressen für Freund*innen der gepflegten Eskalation. Aber im Prinzip ist die Suppe hier schon versalzen. Denn letztendlich wird in Bezug auf das entscheidende Thema des Films – Wie umgehen mit illegalisierter Migration und Beschäftigung? – nur um den heißen Brei herumgeredet. Den Appetit verdirbt auch so manches abgedroschene Klischee über Lateinamerikaner*innen. Insgesamt ist La Cocina damit sicher kein Gourmetbissen geworden. Was sich der Film in über 2 Stunden mit zu vielen Unausgegorenheiten einbrockt, können auch großartige Einzelleistungen von Kamera und Schauspieler*innen am Ende nicht mehr auslöffeln.

LN-Bewertung: 2/5 Lamas


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„El Loco“ und die Krokodile

© Diego Romero

Dass in Peru noch vor 30 Jahren ein erbitterter Kampf zwischen der bewaffneten Guerilla Leuchtender Pfad und der Putschregierung Alberto Fujimoris tobte, scheint heute nur noch eine blasse Erinnerung. Bereits in den 1980er Jahren explodierte die Gewalt in Form von blutigen Anschlägen und politischen Morden durch die Guerilla sowie Folter und Repression durch die Regierung. In dieser heute als „verlorene Dekade“ bekannten Zeit suchten viele Peruaner*innen ihr Glück im Ausland. Die Migrationsrate vervierfachte sich im Laufe der 1980er Jahre, neben Spanien und Italien waren vor allem die USA ein bevorzugtes Anlaufziel.

© Diego Romero

In diesem angespannten Klima spielt Claudia Reynickes Film Reinas über eine Mittelschichtfamilie in Lima im Jahr 1992. Mutter Elena (Jimena Lindo) steht mit ihren Töchtern, der halbwüchsigen Aurora und der jüngeren Lucia schon mit einem Bein in den USA. Job und Unterkunft sind dort bereits organisiert, alles was fehlt, ist die Unterschrift ihres Ex-Mannes unter der Reiseerlaubnis der beiden Minderjährigen. Doch das entpuppt sich als Problem, denn Carlos (überzeugend: Gonzalo Molina) denkt gar nicht daran, seine Töchter so einfach gehen zu lassen. Im Gegenteil erwachen plötzlich seine offenkundig zuvor vergessenen Vatergefühle: Plötzlich kann er seine beiden Reinas (Königinnen), die dem Film ihren Namen geben, gar nicht oft genug an den Strand fahren. Dabei bindet er ihnen immer neue Lügengeschichten über angebliche Heldentaten, die er in seiner Abwesenheit vollbracht hat, auf. Dass an den Räuberpistolen ihres Vaters über Krokodile und verdeckte Geheimdienstaktivitäten kaum ein Wort wahr ist, daran zweifeln die beiden Töchter zwar keine Sekunde. Aber unterhaltsam ist es mit Carlos, der nicht umsonst von fast allen „El Loco“ (der Verrückte) genannt wird, ja dann doch meistens. Und so bleibt es bis zum Schluss spannend, ob Elenas Unternehmen Ausreise nun gelingen wird oder doch noch in letzter Sekunde scheitert.Reinas ist ein gut produzierter Film, der mit Retro-Vibes aus den frühen 90er Jahren nicht spart. Vor allem der sehr prominent besetzte Soundtrack dürfte bei einigen Erinnerungen wachrufen. Auch Ausstattung und Kulissen fügen sich stimmig in die pittoreske Atmosphäre ein. Die persönlichen Konflikte und Motivationen seiner Hauptfiguren vermitteltReinas realistisch und gut nachvollziehbar. Eine Einordnung der politischen Zusammenhänge bleibt allerdings ziemlich auf der Strecke: Erklärungen für den bewaffneten Konflikt bleiben in Klischees verhaftet oder finden gar nicht erst statt. Gerade das Ende der Geschichte wirkt daher ziemlich bemüht und unrealistisch. Auch wenn Reinas in der Berlinale-Jugendfilmsektion Generation läuft und keine allzu komplexen politischen Analysen liefern muss, fehlt es dem Film etwas an Tiefgang. So bleibt Reinas ein eher unterhaltsamer als wirklich bewegender Film. Vor allem einem jüngeren Publikum ist er aufgrund der Stimmigkeit von Charakteren und Atmosphäre aber trotzdem zu empfehlen.

LN-Bewertung: 3/5 Lamas


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Vom Heft auf die Leinwand

Von Archiv bis Interview Die Aufnahmen für den LN-Film sind inzwischen alle im Kasten (Foto: Jan-Holger Hennies)

Ein Film über 50 Jahre Lateinamerika Nachrichten. Wo könnte dieser beginnen? Was würde dieser Film erzählen? An einem kühlen Frühlingsabend 2022 sitzt eine kleine Runde aus ehemaligen und aktiven LN-Redakteur*innen im Clash, der Kneipe unterhalb der Redaktionsräume der LN, und stellt sich diese Fragen.

Dass ich zu diesem Zeitpunkt inzwischen ein paar Jahre als Dokumentarfilmer arbeite, hat viel mit meinen journalistischen Anfängen im Redaktionskollektiv zu tun. Auch deshalb gefällt mir die Idee, einen Film über die LN zu machen, als sie mir ein weiterer Redakteur einige Zeit zuvor das erste Mal erzählt.

Bei Cocktails und Cumbia während der Linken Buchtage 2022 wird das erste Mal gedreht.

Wo also anfangen? Am besten in den Mehringhöfen in Berlin, genauer gesagt auf der vom Redaktionskollektiv geliebten Dachterrasse. Bei Cocktails und Cumbia während der Linken Buchtage 2022 wird dort das erste Mal gedreht. Aus der Kneipenrunde, in der die anfängliche Idee diskutiert wurde, ist eine Gruppe von Redakteur*innen geworden, die sich innerhalb des nächsten Jahres auf die Suche machen wird: Nach der Wiese in Hessen, auf der die LN angeblich gegründet wurden (Spoiler: Es gibt sie und wir haben sie gefunden). Aber vor allem auf die Suche nach dem, was das Kollektiv schon so viele Jahre zusammenhält.

Behind the scenes Die Filmgruppe spricht mit Bernd Pickert und Bert Hoffmann über die LN der 90er Jahre (Foto: Mirjana Mitrovic)

Es entsteht ein Film über Menschen, die weiter über das aktuelle Heft reden anstatt den Mauerfall mitzuerleben. Über feministische Revolutionen in Lateinamerika und innerhalb der Redaktion. Über alternativen Journalismus und kritische Solidarität. Über Schreibmaschinen und Open-Source-Software. Über Chili Con Carne und grüne Wiesen. Ein Film über Heftzyklen und die Liebe zum Print-Journalismus. Über kollektive politische Arbeit und Freund*innenschaft. Über prekäre Produktionsbedingungen und ehrenamtliches Engagement. Über Generationen von Redakteur*innen und die stetige Neuerfindung der LN. Nach über einem Jahr und vielen mehrstündigen Interviews mit ehemaligen und aktuellen Redakteur*innen aus allen Dekaden der Zeitschrift steht fest: Der Redaktionstisch lädt zum Verweilen ein, die Redaktionsräume wecken viele liebevolle Erinnerungen. Wir könnten noch ewig weiterreden.

Deutlich geworden ist aber auch, dass die monatliche Heftproduktion mit mal mehr und mal weniger sanftem Druck verbunden ist. Letztlich ist dieser sicher nicht unerheblich für das 50-jährige Bestehen der Zeitschrift. Auch der Film befindet sich nun im Schnitt, in dieser Ausgabe geben einige Filmstills und Auszüge von Interviews bereits einen Vorgeschmack. Ende September wird die Premiere stattfinden – schließlich bietet der 50. Geburtstag Anlass genug, um ihn mehrmals zu feiern.


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„Wir wollten die Gewalt nicht in den Vordergrund stellen“

Ein Film aus der Perspektive der Mütter Das Kurzmusical Ash Wednesday war auf der Berlinale 2023 zu sehen (Foto: Kleber Nascimento)

Wie kam es dazu, dass Sie diesen Film gemacht haben?

João Pedro Prado: Der Film ist ein bisschen wie ein Kammerspiel. Er basiert auf Geschichten und Situationen aus Vierteln in Rio wie der Maré, wo es für Kinder gefährlich ist, zur Schule zu gehen. Die Idee dazu kam mir während der Pandemie und es war von Anfang an klar, dass wir in Deutschland drehen mussten, weil es im Ausland in dieser Zeit gar nicht möglich war. Das bedeutete, dass wir es mit Brasilianer*innen, die hier leben, machen mussten. 90 Prozent der Beteiligten an diesem Film sind aus der deutsch-brasilianischen Community. Einige sind erst seit einem Jahr hier, andere schon seit Jahrzehnten. Bárbara zum Beispiel schon seit 2001. Ich habe sie kontaktiert, weil ich ein Musical machen wollte, aber selbst keine musikalischen Kenntnisse hatte.

Bárbara Santos: Uriara Maciel, unsere Hauptdarstellerin, war meine Theaterschülerin in mehreren Gruppen, die ich geleitet habe. Sie wusste, dass ich viel mit Klang und Rhythmus arbeite und hat mir dieses Projekt vorgestellt, das ich sofort geliebt habe. Das Konzept zum Drehbuch war schon komplett strukturiert, es fehlte nur die Musik, für die ich verantwortlich sein sollte. Ich fand die Idee sensationell, dass eine Frau in ihrem Haus in der Favela ständig von Eindringlingen heimgesucht wird, die verschiedene Formen von Gewalt ausüben. Ich mochte auch, dass der Fokus trotz allem nicht auf der Gewalt, sondern auf ihrer Perspektive lag.

Das Bild der Favelas in Rio wurde außerhalb Brasiliens auch durch andere Filme geprägt: City of God war 2003 ein Riesenerfolg, Tropa de Elite (Elite Squad) hat 2008 die Berlinale gewonnen. War das ein Einfluss für euch oder wolltet ihr einen Kontrast dazu setzen?

João Pedro Prado: Ein Einfluss nur in der Hinsicht, wie wir es nicht machen wollten (lacht).

Bárbara Santos: Wir wollten einen Film machen, in dem die Gewalt nicht im Vordergrund steht. Wir wollten über die Gewalt sprechen, ihre Auswirkungen im täglichen Leben der Menschen zeigen. Aus der Perspektive eben dieser Menschen, die wir nicht entmenschlichen wollten. Durch die Musik wollten wir auch eine Brecht’sche Distanz, eine Verfremdung der Gewalt schaffen. Damit man als Zuschauer*in auch darüber nachdenken kann, was man da sieht. Nicht nur in Schießereien verwickelt zu sein, die Angst zu spüren. Wir wollten Reflexion wie bei Brecht, der sagte, dass man sein Hirn nicht mit dem Hut am Theatereingang abgeben soll.

João Pedro Prado: Es sollte nicht der Blickwinkel wie in Tropa de Elite sein, wo der Protagonist ein Polizist ist. Bei uns ist die Perspektive die einer Mutter, die dort wohnt. Das sieht man nicht so oft, dass eine Frau im Zentrum dieser Filme über Gewalt in der Favela steht, und auch das macht den Film interessant anzusehen. Wir haben an die Mütter gedacht, die 2020 in Rio de Janeiro nach Polizeieinsätzen gebeugt über den Särgen ihrer getöteten Kinder standen. Uns hat interessiert: Was ist mit diesen Müttern passiert? Was war ihre Geschichte davor und danach? Und warum erzählen wir nicht ihre Geschichte?

Seid ihr in Kontakt mit Leuten, die dort wohnen? Wie ist die Situation jetzt? Hat sich in den letzten Jahren etwas verändert oder ist alles mehr oder weniger gleich geblieben?

Bárbara Santos: Die vier Jahre Bolsonaro waren eine Ausnahmesituation für Brasilien. Da hat sich die Situation wirklich verschlechtert. Ich komme aus Rio de Janeiro. Das war dort die Zeit der schlimmsten Gemetzel aller Zeiten in den Favelas. Als der neue Gouverneur Claudio Castro an die Macht kam, gab es in den ersten sechs Monaten seiner Amtszeit unfassbare Massaker. Und in der Pandemie wurde es noch schlimmer. Die Leute waren zu Hause, schutzlos. Es gab da das Beispiel eines Jungen, auf das wir uns mehr oder weniger mit unserem Film bezogen haben. Der ist auf dem Schulweg gestorben, in seiner Schuluniform. Das sollte eigentlich ein Schutzschild für ihn sein, diese Schuluniform. Von den Polizist*innen hört man oft als Rechtfertigung für Erschießungen: „Der sah aus wie ein Verbrecher!“ Das war der endgültige Beweis, dass es nicht so ist.
Es war eine schreckliche Zeit. Jetzt mit der Regierung Lula herrscht eine enorme Erleichterung, dass nicht alles noch schlimmer wird. Alleine darüber sind die Leute schon glücklich. Es wurde in der Zeit vorher immer, immer schlimmer, es hörte nicht auf, nirgendwo. Unglücklicherweise gibt es in Rio keine große Hoffnung, denn der Gouverneur wurde wiedergewählt. Es gibt da eine politische Logik, dass Sicherheitspolitik sich auf Waffen und Gewalt stützt. Wir wollen dazu beitragen, die Ideen zu entmystifizieren, dass man die Gewalt beendet, indem man die Armen wegschafft. Dass man die Armut beendet, indem man die Armen tötet. Und auch unser Film kann dabei helfen, darüber nachzudenken und diese Diskussion zu transportieren. Deshalb brennen wir auch total darauf, ihn in Brasilien zu zeigen. Damit wir Teil der Diskussion dort werden können.

Haben Sie auch selbst in einer Favela in Rio gewohnt?

Bárbara Santos: Nein, nie. Aber ich habe viel mit dem Theater der Unterdrückten in verschiedenen Favelas von Rio gearbeitet, kenne das Umfeld dort also sehr gut.

Die Regierung Bolsonaro stand auch für kulturellen Kahlschlag, speziell was die Filmförderung betrifft. Was erwarten Sie jetzt von der Regierung Lula auf diesem Gebiet?

João Pedro Prado: Ich erwarte, dass der nationale Fördertopf für audiovisuelle Medien zurückkehrt, dass Institutionen, die Kunst und Kino fördern, zurückkehren und geleitet werden von Menschen, denen Kulturförderung wichtig ist. Der große Knackpunkt ist: Etwas aufzubauen dauert sehr lange, um alles kaputtzumachen, braucht es nur wenige Monate. Brasilien hat zwei Jahrzehnte gebraucht, um zu der Kinogröße zu werden, die es am Ende der Regierungen von Dilma Roussef und Lula war. Und nur wenige Monate Bolsonaro haben gereicht, um das komplett zu zerstören. Er hat aus ideologischen Gründen den größten Teil der Finanzierungsmöglichkeiten abgeschafft. Meine Prognose ist deshalb, dass wir erst in zwei bis drei Jahren wieder brasilianische Filme auf internationalen Filmfestivals sehen werden. Das enthüllt auch die Fragilität unserer Demokratie und unserer Institutionen. Diese Institutionen und deren Finanzierung müssten unabhängig von der Regierung existieren, was unglücklicherweise nicht der Fall ist.

Bárbara Santos: Bolsonaro hat nicht nur das Kulturministerium abgeschafft, er hat die ganzen Strukturen zerschmettert. Jetzt muss man eine Struktur wiederaufbauen, die gut organisiert war und die er zerstört hat. Der Effekt von Bolsonaro ist so groß, dass er sich auf die Erinnerung auswirkt. In seiner Regierungszeit wurde nicht nur so viel Regenwald durch Brände zerstört, wie nie zuvor, sondern es haben auch noch nie so viele Museen gebrannt. Da ging ganz viel Erinnerung verloren. Deshalb ist es eine große Sache, dass wir jetzt das Kulturministerium zurückhaben. Denn dafür braucht man ein Kulturministerium: Zur Pflege der Erinnerung ans Kino, an die Künste. Es gibt große Hoffnung, das kann ich sagen. Alleine die Zerstörung gestoppt oder auch nur gebremst zu haben, ist eine Riesenerleichterung. Das mag absurd erscheinen, aber so ist es.


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REALITÄT SCHLÄGT FIKTION

Klischeehaft Szene aus Heroico (Foto: Teorema)

Im lateinamerikanischen Jahrgang 2023 konnten die nicht-fiktionalen Beiträge besonders überzeugen. Die meisten Preise für einen Film aus Lateinamerika erhielt auf der diesjährigen Berlinale El Eco. Das Werk der salvadorianisch-mexikanischen Filmemacherin Tatiana Huezo ist eine einfühlsame Beobachtung des Lebens einer kleinbäuerlichen Gemeinschaft in der Abgelegenheit der mexikanischen Hochebene. Sie gewann sowohl den Preis für den besten Dokumentarfilm der gesamten Berlinale als auch den Regiepreis der Encounters-Sektion, die neue filmische Visionen auszeichnet. Auch der beste Erstlingsfilm der Berlinale 2023 war eine Doku-Fiktion aus Lateinamerika: Adentro mío estoy bailando (The Klezmer Project; Argentinien/Österreich). Der Film von Leandro Koch und Paloma Schachmann präsentiert eine fiktionale Geschichte in Form einer Dokumentation. Sie handelt von der unterhaltsamen Reise eines jungen Filmemachers und einer Musikerin auf der vergeblichen Suche nach Überresten der Klezmer-Musik in Osteuropa. Sehenswert sind auch die Experimente mit Doku-Fiktionen in anderen Filmen: In O Estranho (Der Fremde; Brasilien) wird die indigene Vorgeschichte des heutigen Flughafens von São Paulo untersucht. In El Castillo (Das Schloss; Argentinien) versuchen eine ehemalige Haushälterin und ihre Tochter ein Landgut inklusive ererbtem schlossähnlichen Gebäude am Laufen zu halten. Bei zwei weiteren dokumentarischen Werken handelt es sich um bemerkenswerte Rückblenden auf die lateinamerikanische Geschichte. The Eternal Memory (Chile) ist eine emotionale Beobachtung der Demenzkrankheit eines chilenischen Politikjournalisten. El Juicio (Der Prozess; Argentinien) schließlich bereitet einen Gerichtsprozess zur Zeit der argentinischen Militärjunta wie einen spannenden Thriller auf.

Die fiktionalen lateinamerikanischen Filme der Berlinale 2023 konnten dieses hohe Niveau leider nicht ganz erreichen: Lila Avilés‘ mexikanischer Wettbewerbsbeitrag Tótem punktete zwar mit authentischer Atmosphäre und schön gefilmten Bildern einer mexikanischen Geburtstagsfeier. Letztlich fehlte aber die inhaltliche Tiefe, um die Berlinale-Jury vollends zu überzeugen. Für einen Bären reichte es nicht. Dafür gewann der Film den Hauptpreis der ökumenischen Jury.

Ausgezeichnet Szene aus Hummingbirds (Foto: I Love You Chingos LLC)

Regelrechte Enttäuschungen waren die mit hohen Erwartungen in der Panorama-Sektion ins Rennen gegangenen Filme Heroico (Mexiko) und Propriedade (Brasilien). Mit zu klischeehaften Darstellungen einer Militärakademie und des Klassenkonflikts zwischen Großgrundbesitzer*innen und Angestellten eines Landguts verpassten sie ihre gut gemeinten Absichten. Stark dagegen war wie in den letzten Jahren die Präsenz Lateinamerikas in der Jugendfilmsektion Generation 14plus. Dort durften sich lateinamerikanische Filme über einen regelrechten Preisregen freuen: So zeichnete die Jugendjury die unkonventionelle Teenie-Komödie Adolfo (Mexiko) mit dem Gläsernen Bären aus: Darin suchen zwei Anti-Held*innen auf ihrem Weg durch die Nacht ein neues Zuhause für einen Kaktus. Die internationale Jury vergab sogar die Preise für den besten Kurz- und Langfilm nach Lateinamerika. Freuen durfte sich die autobiografische Feelgood-Doku Hummingbirds (USA/Mexiko), die das Leben von migrantischen Teenager*innen in der texanischen Grenzstadt Laredo zeigt. Der fiktionale Kurzfilm Infantaria (Brasilien), der Rollenkonflikte von Jungen und Mädchen an der Schwelle vom Kind zum*zur Jugendlichen thematisiert. Bereits letztes Jahr hatte die kolumbianische Doku Alice aus der Sektion Generation innerhalb des Festivals mehrere Preise gewonnen.

Ebenfalls bemerkenswert, wenn auch ohne Auszeichnung, waren die Coming-of-Age-Filme Mutt (Chile/USA/Serbien), Desperté con un sueño (Auch wenn ich nicht viel sage), Almamula (beide Argentinien) und Ramona (Dominikanische Republik). Sie stellen das Erwachsenwerden einfühlsam und aus vielfältigen (Gender-)Perspektiven dar. Sehr positive Überraschungen waren Entdeckungen aus der Sektion Perspektive Deutsches Kino: Hier wurden zwei halbstündige Abschlussarbeiten der Filmakademie Babelsberg mit lateinamerikanischem Blickwinkel präsentiert.

El secuestro de la novia (Die Entführung der Braut) zeigt die Geschichte einer deutsch-argentinischen Trauung in Brandenburg mit reichlich Fremdschäm-Alarms. Das Favela-Musical Ash Wednesday prangert hingegen mit den Methoden des Theaters der Unterdrückten die Polizeigewalt in Rio de Janeiro an. Beide Filme konnten dabei voll überzeugen.

Die nächste Gelegenheit, einen der Filme zu sehen, bietet sich im Sommer bei der Berlinale Open Air in den Freiluftkinos der deutschen Hauptstadt. Und wer die Vorfreude noch steigern möchte: Auf der LN-Homepage gibt es unter www.ln-berlin.de/kultur/film/berlinale Rezensionen aller lateinamerikanischen Filme der Berlinale 2023. Viel Spaß beim Lesen!


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KLEIN, ABER DIVERS

Tótem Der Film der mexikanischen Regisseurin Lila Avilés geht als einziger Kandidat aus Lateinamerika im Berlinale-Wettbewerb an den Start (Foto: Limerencia)

Die Lateinamerika Nachrichten werden wie auch in den Vorjahren zahlreiche lateinamerikanische Filme auf der Berlinale rezensieren. Die Rezensionen erscheinen in den kommenden Wochen auf unserer Homepage!

Normalität ist vermutlich eines der Dinge, nach dem sich die Veranstalter*innen der Berlinale und mit ihnen viele Filmemacher*innen rund um den Globus in den vergangenen drei Jahren am meisten gesehnt haben. Die Pandemie hat ihren größten Schrecken mittlerweile verloren, Spuren hinterlassen haben die vergangenen Jahre aber dennoch. Die Auswirkungen (vor allem finanzieller Art) behinderten spürbar den Output der cineastischen Produktion. Vielleicht mag das ein Grund sein, warum es dieses Jahr aus Lateinamerika einige Filme weniger in das Programm der Berlinale geschafft haben. Etwas schade ist, dass im Wettbewerb nur der mexikanische Beitrag Tótem laufen wird. Regisseurin Lila Avilés erzählt darin aus der Perspektive eines Mädchens, wie eine Überraschungsfeier für ihren Vater aus dem Ruder läuft und die Brüche innerhalb der Familie offenlegt.

In der avantgardistischen Sektion Encounters finden sich mit Adentro mio está bailando (Argentinien) und Eco (Mexiko) zwei Dokumentationen über Klezmer-Musik bzw. das Leben im peripheren ländlichen Raum. Gut besetzt ist die beim Publikum beliebte Sektion Panorama mit vier Filmen: In El Castillo (Argentinien) bekommt eine ehemalige Hausangestellte ein verfallenes Landhaus in der Einöde vererbt. Propriedade (Brasilien) folgt der Großgrundbesitzerin Teresa, deren Landgut von revoltierenden Arbeiter*innen besetzt wird. Ein junger Soldat kommt in Heroico (Mexiko) in einer brutalen Militärakademie an seine Grenzen. In der Doku Transfariana (Kolumbien) nähern sich eine ehemalige trans*-Sexarbeiterin und ein FARC-Rebell im Gefängnis einander an. Und in The Eternal Memory (Chile) dokumentiert Regisseurin Maite Alberdi die Alzheimer-Erkrankung ihres Mannes.

Aus Chile kommt auch der Schriftsteller und Regisseur Antonio Skármeta, der in Aufenthaltserlaubnis aus dem Berliner Exil heraus mit anderen Dissidenten das Ende mehrerer Autokratien feiert. Der Film läuft in der Sektion Forum Special, zusammen mit A Rainha Diaba (Brasilien), einem Film über die Königin der Gangster von Rio de Janeiro zur Zeit der Militärdiktatur. Zur gleichen Zeit spielt auch El Juicio (Argentinien), eine dreistündige packende Dokumentation über den Gerichtsprozess 1985, der die größten Verbrecher der argentinischen Militärjunta (1976-83) ins Gefängnis brachte. Ein weiterer Dokumentarfilm (wie El Juicio aus der Sektion Forum) ist Llamadas desde Moscú (Kuba), der kubanische Migrant*innen in Moskau zur Zeit des Beginns des russischen Angriffskriegs ab 24. Februar 2022 gegen die Ukraine begleitet. Der einzige Film in der regulären Sektion Forum ist El rostro de la Medusa (Argentinien). Dort wacht eine Frau eines Tages mit verändertem Gesicht auf.

Kakteen, magischer Realismus und queere Geschichten

Die Jugendfilm-Sektion Generation (2022 gewann dort die Doku Alice aus Kolumbien den Hauptpreis) hat mit acht die meisten Filme aus Lateinamerika zu bieten. Adolfo (Mexiko) ist der Name eines Kaktus, der auf magische Weise das Leben zweier Jungen verändert. In Desperté con un sueño (Argentinien) muss ein junger Schauspieler den Traum von der Theaterkarriere vor seiner Mutter verheimlichen. Magischen Realismus gibt es in Infantaria (Brasilien), einer Geschichte über drei Teenager auf einer Geburtstagsparty in der Natur, zu sehen. Hummingbird (USA) durchtanzt mit den Migrantinnen Beba und Silvia lange Sommernächte in Texas an der Grenze zu Mexiko. In Ramona (Dominikanische Republik) kontaktiert die 15-jährige Camila aus wohlhabender Familie schwangere Teenagerinnen, um sich auf eine Schauspielrolle vorzubereiten.

Queere Geschichten erzählen Mutt (USA), eine Coming-of-Age-Story aus New York über die Latin-trans*- Person Feña und Almamula (Argentinien), wo der Teenager Nino vor homophoben Angriffen in ein Haus in einem Wald flüchtet, in dem ein Monster wohnt. Schließlich behandelt der Generation-Kurzfilm Antes de Madrid (Uruguay) die Abschiedsnacht von Micaela mit ihrem Freund Santiago, bevor sie nach Spanien zieht. Gespannt darf man auch auf den Kurzfilm As miçangas (Brasilien; Berlinale Shorts) mit Schauspielstar Karine Teles sein, in dem zwei Frauen sich in ein Ferienhaus zurückziehen, um eine medikamentöse Abtreibung durchzuführen.

Überraschenderweise sind diesmal auch in der Sektion Perspektive Deutsches Kino zwei je 30-minütige Filme aus Deutschland, aber mit starkem Lateinamerika-Bezug zu finden: In El secuestro de la novia sorgt der Hochzeitsbrauch der Brautentführung bei einem deutsch-argentinischen Paar für Schwierigkeiten. Und das Kurzmusical Ash Wednesday behandelt Polizeiwillkür und Rassismus in einer Favela am letzten Karnevalstag.

Alles in allem ist die Auswahl an lateinamerikanischen Filmen diesmal mit 24 Beiträgen etwas kleiner als zuletzt. Das sehr diverse Themenspektrum sollte aber trotzdem wieder für ein tolles und interessantes Berlinale-Kinoerlebnis made in Latinoamérica sorgen.

Die Lateinamerika Nachrichten werden wie auch in den Vorjahren zahlreiche lateinamerikanische Filme auf der Berlinale rezensieren. Die Rezensionen erscheinen in den kommenden Wochen auf unserer Homepage!


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SELFIE AUS DER HÖLLE

Religiöse Rächerinnen Jagd auf „Unmoralische“ und Herbeiträllern der Apokalypse (Foto: Anita Rocha da Silva,kinema21/Drop out Cinema)

„Hallo meine Schätze! Heute zeige ich euch, wie man ein perfektes christliches Selfie macht! Ganz wichtig: Das Handy dabei immer gerade halten. Denn von unten, das ist der Blick aus der Hölle – das wollen wir nicht! Und von oben erst recht nicht: Wer sind wir denn, dass wir Gottes Blick nachahmen?!?“ Influencerin Michele (Lara Tremouroux) ist in ihrem Element. „10 Arten, ein Selfie zu Gottes Ehren zu machen“ heißt die aktuelle Videoreihe, die die Teenagerin für ihre zahlreichen gläubigen Follower*innen begeistert filmt und online stellt. Doch Michele (die wohl nicht ganz zufällig so heißt, wie die Frau des kürzlich abgewählten brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro) belässt es nicht dabei, ihre bigotten Ansichten in Online-Tutorials zu verbreiten. Nachts zieht sie sich eine Maske auf und wird zur Anführerin einer brutalen Mädchengang, die durch die Straßen patrouilliert. Dort verprügeln die Rächerinnen im Namen Gottes vermeintlich „unzüchtige“ oder „unmoralische“ Teenagerinnen und stellen sie mit Videos öffentlich bloß – ähnlich der Priesterin Medusa im griechischen Mythos. Die brach das Zölibat und wurde deswegen von der Göttin Athene entstellt und aus ihrem Tempel verbannt.

Es ist ein unwirkliches, dystopisches Brasilien, das Regisseurin Anita Rocha da Silveira in Medusa zeigen will und das sich dennoch erschreckend nahe an der Wirklichkeit bewegt. Der Staat befindet sich dort in einer Dauerkrise. Stromausfälle und Überschwemmungen sind an der Tagesordnung. Der Einfluss der religiösen Rechten auf das Privatleben der Menschen ist immens und hat sich mit einem extremen Schönheitskult verquickt, der körperliche Makel als Strafe Gottes brandmarkt. Das wird Micheles Freundin Mariana (Mari Oliveira) zum Verhängnis. Die macht zwar zu Beginn des Films so brav wie begeistert in ihrer Kirchengemeinde und natürlich auch in der prügelnden Straßenclique mit. Ein Schnitt im Gesicht sorgt aber bald dafür, dass sie auf dem Beziehungs- und Heiratsmarkt der streng von den Mädchen getrennten aber nach gleichem Muster aufgebauten Jungengang aller Chancen beraubt wird. Und nicht nur das: Sie verliert deswegen auch ihren prestigeträchtigen Job in einer Schönheitsklinik. In einem Krankenhaus für Komapatient*innen nimmt sie als Pflegerin eine neue, allerdings weniger glamouröse Anstellung an, mit der Absicht, nach der geheimnisvollen Ex-Schauspielerin Melissa zu suchen, die wegen ihres „unzüchtigen“ Lebenswandels öffentlich entstellt wurde und seitdem verschwunden ist.

Die Geschichte von Medusa basiert auf realen Vorkommnissen, die sich in den letzten Jahren in Brasilien ereignet haben. 2015 machte der Fall einer 16-Jährigen Schlagzeilen, die mehrere Gleichaltrige für promiskuitiv hielten. In der Folge schnitten sie ihr die Haare ab und entstellten ihr das Gesicht. Wie Regisseurin Rocha da Silveira bei Recherchen herausfand, blieb dies kein Einzelfall. Vor allem im Umfeld von ultrarechten YouTuberinnen und ihren Followerinnen kam es immer wieder dazu, dass junge Frauen sich zusammenschlossen und Jagd auf „unmoralische“ Geschlechtsgenossinnen machten. In Medusa hat Rocha da Silveira die zwar absurd erscheinende, für ihre Gegner*innen aber brandgefährliche Hyperreligiosität durch knallige Farbgebung verfremdet. Der unterlegte 80er-Jahre-Synthie-Sound, in Mode gekommen durch die Serie Stranger Things, tut ein Übriges dazu. Vieles mag deshalb zu absurd und überzeichnet wirken, um wahr zu sein. So zum Beispiel eine Tanzperformance der Mädchen zu einem schnulzigen Song, in dem die Apokalypse herbeigeträllert wird. Doch wer sich tatsächlich mit Denk- und Verhaltensweisen der ultrareligiösen Rechten in Brasilien und anderswo auseinandersetzt, wird feststellen: Die Gruppe der Mädchen in Medusa ist keinesfalls weit entfernt von den realen Diskursen.

Rocha da Silveira sorgt mit Traumsequenzen, Schockeffekten und Fremdscham-Komik zwar dafür, dass Parallelen zu filmischen Vorbildern wie David Lynch oder dem Horroraltmeister Dario Argento offensichtlich werden. Das wirkt aber oft etwas gewollt und kann außerdem nicht über Schwächen beim Drehbuch hinwegtrösten. Nach starkem Start trägt die recht vorhersehbare und ohne große Konflikte verlaufende Geschichte den Film leider nicht über die vollen zwei Stunden. Das lässt ihn zwischendurch langatmig werden, was nicht hätte sein müssen. Denn einige vielversprechende Handlungsstränge werden nicht konsequent zu Ende geführt oder irgendwann einfach fallen gelassen. Auch hätte den meisten Figuren etwas mehr Kontur und weniger Klischeehaftigkeit gut zu Gesicht gestanden. Zudem mischt Medusa etwas zu viele Genres ineinander. Da sich der Film nicht zwischen Gesellschaftssatire, Horrorfilm und Coming-of-Age-Drama entscheidet und irgendwie ein bisschen von allem sein will, geht irgendwann die Richtung verloren. Punkten kann Medusa dafür beim gelungenen audiovisuellen Konzept: Farbgebung und Atmosphäre sind unkonventionell und sehr stimmig.

Das Hauptproblem von Medusa ist aber tatsächlich, dass die vorgebliche Dystopie in bestimmten sozialen Milieus Brasiliens bereits zur Realität geworden ist. Die Überzeichnung, die an vielen Stellen von der Wirklichkeit eingeholt oder manchmal gar überholt wird, verliert so ihren Biss, läuft sogar Gefahr, in Richtung Trash zu rutschen. Das will der Film bei aller Persiflage aber nicht sein – die zugrunde liegende, sehr reale Problemlage ist dafür zu ernst. Hinter einem berühmten Vorbild wie Margaret Atwoods bereits 1985 veröffentlichten Roman A Handmaid’s Tale (Der Report der Magd, bekannt auch durch die gleichnamige Fernsehserie), der die Vision einer religiös dominierten, frauenverachtenden Gesellschaft bis zum erschreckenden Ende denkt, bleibt Medusa deshalb weit zurück.

All das soll aber nicht bedeuten, dass die unter der Oberfläche gar nicht so christlich-fromme Gemeinschaft im Film geschont wird: Wer auf kräftige Breitseiten gegen religiös-rechte Fanatiker*innen steht, wird in Medusa sicherlich voll auf seine*ihre Kosten kommen. Mit etwas weniger Plakativität hätte der Film aber wohl noch mehr erreichen können. Vielleicht hätte es Medusa deshalb tatsächlich gutgetan, in der Gegenwart zu bleiben. Denn die war in Brasilien in den letzten Jahren schon mehr als ausreichend schockierend und absurd.


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Wahnsinn mit Methode

La Edad Media, Berlinale 2022

La Edad Media, Berlinale 2022 (Foto: © El Pampero Cine)

Bewertung: 4 / 5

Argentinien hat sich während der Corona-Pandemie die zweifelhafte Auszeichnung erworben, einen der unerbittlichsten Lockdowns weltweit durchgeführt zu haben. Je nach Region musste bis zu einem Jahr komplett auf den Gang zu Schule, Universität, Restaurants oder Kulturveranstaltungen verzichtet werden, rigide überwacht von der Polizei. Im Land, dessen Hauptstadt Buenos Aires gerüchteweise ohnehin schon die höchste Dichte an Psychotherapeut*innen weltweit hat, lagen die Nerven zeitweise ganz schön blank. Allerdings gab es auch einen positiven Nebeneffekt:  Die mit Galgenhumor schon in normalen Zeiten reichlich gesegneten Argentinier*innen liefen bei der Produktion sarkastischer Memes und Videos zum Thema COVID zu Hochform auf. Die lange Version dieses ungewollten kreativen Outputs ist mit der absurden Komödie La Edad Media nun im Kino zu bewundern. Der Film ist ein Versuch, den Wahnsinn des endlos erscheinenden Zusammenlebens auf engstem Raum gleichzeitig festzuhalten und ins Groteske zu steigern.

Die Filmemacher Alejo Moguillansky und Luciana Acuña sowie ihre Tochter Cleo sind die Hauptfiguren in diesem speziellen Experiment. Denn sie spielen sich in La Edad Media selbst – und doch auch wieder nicht. Der Film wurde komplett innerhalb der vier Wände ihres eigenen Hauses gedreht, die Szenen von ihrem Alltag im Lockdown inspiriert und dennoch inszeniert, übersteigert, verzerrt. Als theoretisches Gerüst dienen die Theaterstücke Samuel Becketts (Warten auf Godot), aus denen im Laufe des Films immer wieder zitiert wird.

Alejo und Luciana (oder Lu) sind in La Edad Media als Kulturschaffende (er Filmregisseur, sie Tänzerin) hart von der Pandemie getroffen. Daher versuchen sie, durch hyperaktives Aufgehen in recht seltsamen Online-Projekten ihren Mangel an Selbstverwirklichung auszugleichen. Auf der Strecke bleibt die 8-jährige Cleo, die dem merkwürdigen Treiben der Eltern verwundert bis genervt zusieht. Als Ausweg aus der Lockdown-Langeweile fasst sie den Plan, sich ein Teleskop zuzulegen, um die Sterne zu beobachten. Doch diese im Grunde vernünftige Idee wird von den Eltern ignoriert, das mit Mühe von ihnen erbettelte Geld reicht hinten und vorne nicht für einen Kauf. Und so sieht Cleo keine andere Möglichkeit, als unternehmerisch tätig zu werden: Gemeinsam mit „Moto“, dem Motorradkurier vom Lieferdienst, beginnt sie hinter dem Rücken ihrer Eltern Teile des Hausstandes zu verkaufen (und lernt dabei ganz nebenbei Prozentrechnen). Doch die Inflation in der Pandemie lässt das Teleskop auf dem Online-Marktplatz immer teurer werden, und Cleo muss das Risiko erhöhen, um sich ihren Traum zu erfüllen.

La Edad Media ist eine gelungene Lockdown-Komödie, die auf mehreren Ebenen funktioniert und mit absurdem Witz und genauer Beobachtung ihrer Figuren punktet. Realität und Fiktion verschwimmen dabei nicht nur für die sich selbst filmende Familie (man könnte den Film also fast als Mockumentary bezeichnen), sondern auch für die Zuschauer*innen. Diese dürften sicher so manche Situation aus ihrem eigenen ganz normalen Lockdown-Wahnsinn wiedererkennen, wobei das Lachen auch mal im Hals steckenbleiben kann. Großartig ist die Szene, in der Cleo beim Versuch, die roboterhaften Fragen eines Englisch-Lernprogrammes zu beantworten, immer mehr abschweift, während daneben ihre Mutter wie verrückt auf einen Boxsack einprügelt. Oft wirft der Film aber auch relevante Fragen auf, wie zum Beispiel die, warum die Kunst auf die veränderten Lebensbedingungen seit Corona kaum reagiert hat, sondern sie einfach nur ignoriert – in wie vielen Kinofilmen tragen Menschen Masken? Ein weiterer Aspekt, der La Edad Media zu einem absolut lohnenswerten Kinoerlebnis macht, jetzt und vielleicht auch über die Pandemie hinaus.


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Harmonie statt Ecken und Kanten

Sublime, Berlinale 2022Sublime (Foto: © Tarea Fina)

Bewertung: 3 / 5

„Ein ganzes Bier trinken ohne zu atmen? Oder mit drei Kakerlaken im Bett aufwachen?“ Manu muss nicht lange überlegen: „Das mit dem Bier natürlich! Obwohl das eigentlich gar nicht geht.“ Es ist ein Spiel, das der introvertierte 16-Jährige und sein bester Freund Felipe bei fast allen ihren Treffen im Film Sublime spielen: Für welche von zwei Scheußlichkeiten würde man sich wohl eher entscheiden? Zum Glück müssen sich die beiden damit nur in ihrer Fantasie beschäftigen. Denn so schlecht ist das Leben der Teenager in ihrem kleinen argentinischen Küstenort nicht: Die Schule läuft so vor sich hin, in ihrer Freizeit spielen sie Fußball am Strand oder jammen in einer Rockband, die ihren Lebensmittelpunkt bildet. Und auch beziehungstechnisch ist eigentlich alles im grünen Bereich, beide haben eine Freundin. Als Felipe aber von seinem Vater einen alten Van geschenkt bekommt und ihn zum Rückzugsort für ihre Dates umbaut, beginnen die Probleme: Denn Manu bemerkt immer mehr, dass er dort statt mit seiner Freundin Azul viel lieber mit Felipe alleine wäre  …

Regisseur Mariano Biasin hat sich mit einem Film über Jugendliche an der Schwelle zwischen erster Liebe und Erwachsenwerden schon einmal einen Namen gemacht: Bereits 2016 gewann er mit El inicio de Fabrizio (Fabrizios erstes Mal)  bei der Berlinale den Preis für den besten Kurzfilm in der Kinder- und Jugendsektion Generation. Mit Sublime hat es nun sein erster Langfilm ebenfalls ins Programm des Festivals geschafft. Auch hier legt Biasin wieder eine vor allem atmosphärisch gelungene Coming-of-Age-Geschichte vor, die sich um eine Gruppe heranwachsender Jungen und deren Gefühlswelt dreht. Homosexualität spielt in ihren Gesprächen höchstens in Witzen und Randbemerkungen eine Rolle. Manu fühlt sich aufgrund seiner Gefühle für Felipe deshalb zwar nicht ernsthaft bedroht, aber eben auch nicht ermutigt, sich dazu zu bekennen. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als seine ganze Emotionalität in die Songtexte für die gemeinsame Rockband zu legen.

Musik ist ein tragendes Element von Sublime. Die qualitativ durchaus hochwertigen Rocksongs der Jungs-Band (einer klingt vermutlich nicht von ungefähr verdächtig nach „Boys Don‘t Cry“ von The Cure) geben dem Leben der Jugendlichen, und damit auch dem Film insgesamt, ein Gefühl von Größe, das über den Alltag in dem recht verschlafenen Örtchen am Meer hinausgeht. Mariano Biasin lässt die Kamera dabei meist ganz nah an seine Protagonist*innen und die Intimität ihrer Gefühle heran. Allerdings mag der Regisseur und Drehbuchautor seine Figuren offenbar so sehr, dass er sich scheut, ihnen wirklich wehzutun. Durch diesen Verzicht auf Ecken und Kanten kommt der Film etwas arg harmonisch und nicht mehr so ganz realistisch daher. Eine*n richtige*n Bad Guy gibt es in Sublime genauso wenig wie offene Homophobie. Und auch die Eltern sind (im Gegensatz zu Biasins preisgekröntem Kurzfilm) alle liebe-und verständnisvoll, ihre angedeuteten Probleme untereinander fallen nicht ins Gewicht und Konflikte lösen sich (oft abseits der Kamera) wie von selbst. Das alles ändert nichts daran, dass Sublime ein sehr warmer, einfühlsamer und gut beobachteter Feelgood-Film über das Erwachsenwerden ist, der sich prima ansehen lässt. Für das nächste Mal würde man Mariano Biasin aber trotzdem wieder ein bisschen mehr Mut zum Dissens wünschen.


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Hölzerner Spionagethriller

Iosi, el espía arrepentido, Berlinale 2022

Iosi, el espía arrepentido (Foto: © Amazon)

Bewertung: 2 / 5

Buenos Aires, 1992. Originale Filmaufnahmen zeigen die nach einem Bombenanschlag zerstörte israelische Botschaft, Zeug*innen und Polizist*innen versuchen, den Verletzten zu helfen, Rettungswagen rasen herbei. Fast unmerklich gehen die Originalaufnahmen in den Film über. Ein elegant gekleideter Mann stolpert durch die Trümmer, sein Blick bleibt an zerstörten Gegenständen hängen, an leblosen Körpern. Mit dieser drastischen Szene beginnt die für Amazon Prime Videos produzierte achtteilige Serie „Iosi, el espía arrepentido“ (Iosi, der reumütige Spion) des argentinischen Regisseurs Daniel Burman. Er basiert auf dem gleichnamigen Buch von Miriam Lewin und Horacio Lutzky.

Schon mit „El abrazo partido“ (2004) und „El rey de Once” (2016) drehte Burman Filme in und über den von der jüdischen Diaspora geprägten Stadtteil Once in Buenos Aires, in dem er selbst aufgewachsen ist. Nun also zeigt er jüdisches Leben in Argentinien durch die Augen eines jungen Geheimpolizisten in einer actiongeladenen Aufarbeitung zweier traumatischer Ereignisse der jüngeren Geschichte Argentiniens: dem Anschlag auf die israelische Botschaft in Buenos Aires 1992 und auf die jüdische Organisation Asociación Mutual Israelita Argentina (AMIA) 1994. Beide Anschläge wurden nie wirklich aufgeklärt.

Ob Iosi die Aufklärung gelingen wird, der in Folge der Ereignisse untertaucht und seine Jahre auf der Flucht – auch vor seinen ehemaligen Auftragsgebern – verbringt, bleibt in den ersten Folgen der Serie unklar. Seine Geschichte beginnt 1985, zwei Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur. Iosi heißt da noch José Perez und ist Auszubildender einer Spezialeinheit der argentinischen Bundespolizei. Während um ihn herum sehnsuchtsvoll über den nächsten Staatsstreich spekuliert wird, fällt Perez durch eine kritische Bemerkung zu antisemitischen Kommentaren auf. Daraufhin wird er zum Schein aus der Einheit geworfen und auf geheime Mission nach Buenos Aires geschickt. Das Ziel: Die Unterwanderung der jüdischen Community, um Informationen über den „Plan Andinia“ zu sammeln, eine angebliche Konspiration zur Aneignung weiter Teile Patagoniens, um dort einen eigenen jüdischen Staat zu errichten. Beweise dafür findet Iosi keine, doch er infiltriert erfolgreich eine linke jüdische Gruppe.

Dort wird Iosi, obwohl er stets sehr wortkarg, verschlossen und gleichzeitig neugierig auftritt, schnell aufgenommen und wird ein immer beliebteres Mitglied der jüdischen Community. Deren Traditionen, Vielschichtigkeit und auch inneren Konflikte, beispielsweise zur Siedlungspolitik Israels, werden in der Serie leider nur angedeutet. Die Aufmachung als Spionagethriller lässt kaum Zeit zum Innehalten; auch wenn manche Szenen liebevoll detailliert ausgestaltet sind, bügelt der mit Klischees überfrachtete Spionageplot darüber hinweg. Das ist schade, denn die Auseinandersetzung mit dem völlig undurchsichtigen postdiktatorischen argentinischen Polizeiapparat, dem allgegenwärtigen Antisemitismus und weiteren historischen Ereignissen, wie den Protesten gegen die Amnestiegesetze für Verbrecher*innen der Militärdiktatur, gerät dabei zu kurz.

Neben der rasanten Erzählung ist es durch hektische Zeitsprünge in das Jahr 2007 stellenweise schwer, der Geschichte zu folgen. 15 Jahre nach dem Anschlag auf die Botschaft schlägt sich Iosi, nun selbst verfolgt, auf eigene Faust durch. Immer bleibt er dabei erstaunlich charakterlos, und begegnet sogar Ausbrüchen extremer Gewalt mit stoischem Gleichmut. Das tut der Spannung der Serie keinen Abbruch, macht sie aber weniger mitreißend. Zumal die Szenen expliziter, auch sexualisierter Gewalt, der Handlung wenig geben, aber schwer anzuschauen sind. Dabei bieten die unklaren Hintergründe der Anschläge, internationale Verstrickungen, politische Intrigen und die Beteiligung verschiedener Geheimdienste wirklich Stoff für einen Thriller – aber Iosi, el espía arrepentido bleibt hölzern an der Oberfläche und wirkt deshalb fast unangenehm spekulativ.


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SCHOCKIEREND BELIEBIG

Große Bilder, wenig dahinter Michel Francos Film fehlt inhaltlicher Tiefgang (Foto: Ascot Elite Home Entertainment AG)

Die gute Nachricht zuerst: Endlich gibt es einen Film von Michel Franco in deutschen Kinos zu sehen. Dass der Name des mexikanischen Regisseurs hierzulande so wenig bekannt ist, verwundert angesichts der stattlichen Trophäensammlung des 1979 in Mexiko-Stadt geborenen Filmemachers (alleine drei wichtige Preise beim Filmfestival in Cannes, dazu der Silberne Löwe für Nuevo Orden beim Festival von Venedig 2020). Ein Grund für die zögerliche Rezeption könnte sein, dass Michel Francos Filme sich einer einfachen Deutung verweigern. Zwischen Verstörung und Verärgerung liegt dabei oft nur ein schmaler Grat. Das musste der Regisseur auch bei seinem neuesten Film Nuevo Orden (deutscher Titel: New Order – Die neue Weltordnung) erfahren: International wurde der Film von der Kritik gefeiert, zu Hause in Mexiko jedoch extrem kontrovers aufgenommen. Franco musste sich sogar aufgrund eines fälschlicherweise von ihm als „rassistisch“ bezeichneten Begriffs („Whitexican“ – abfällig für privilegierte weiße Mexikaner*innen) per Social Media entschuldigen.

Der Plot von Nuevo Orden folgt der Familie Novelo, einer reichen Dynastie aus Mexiko-Stadt, und dabei speziell ihrer Tochter Marianne (Naian González Norvind). Diese soll eigentlich auf einer opulenten Feier im abgeschotteten Familienanwesen ihrem Verlobten Alan (Darío Yazbek) das Ja-Wort geben, doch die Standesbeamtin lässt auf sich warten. Währenddessen kommt Rolando (Eligio Meléndez), ein ehemaliger Hausangestellter, mit einer dringenden Bitte an die Wohnungstür: Seine Frau braucht dringend eine Herzoperation, doch das Geld dafür (umgerechnet 8.500 Euro) kann er nicht bezahlen. Die Summe kommt trotz der vielen reichen und superreichen Gäste auf der Hochzeitsfeier nur teilweise zusammen, so dass Rolando unverrichteter Dinge wieder nach Hause geht. Die Einzige, die ihm wirklich helfen will, ist Marianne. Diese erfährt aber zu spät davon und verlässt deshalb angewidert vom Geiz und der Verachtung ihrer Familie ihre eigene Hochzeitsfeier, um Rolando nachzufahren. Zunächst erscheint das wie eine glückliche Fügung. Denn schon kurz nach ihrer Abfahrt dringen Aufständische in das Anwesen ein und morden, plündern und zerstören mit schockierender Brutalität. Doch das Chaos erstreckt sich irgendwann auf die gesamte Stadt und so gerät auch Marianne in den Sog der sich überall Bahn brechenden Gewalt.

Stilistisch und atmosphärisch ist Nuevo Orden ein gelungener Film. Die visuellen Elemente, wie die überall präsenten Farben Grün und Rot (eine kaum verhohlene Anspielung auf die mexikanische Flagge), die oft fragmentierten Kameraeinstellungen und die exzessiven Gewaltdarstellungen schaffen eine bedrückende Stimmung stumpfer und anonymer Brutalität. Genau hier wird es aber auch problematisch, denn Gewalt ist in der Realität meist kein Selbstzweck, sondern entsteht durch soziale Umstände. Diese würden zwingend eine politische Einordnung erfordern. Aber darum drückt sich Franco, filmisch und auch in Interviews. Wenn er sich auf Aussagen zurückzieht wie Politik „interessiere ihn nicht“ und er ordne sich „keiner politischen Richtung zu“, macht er sich und seinen Film angreifbar. Denn bei der vor allem in Dialogen exzellent gezeigten Verachtung der Oberschichtsfamilie für die niedrigeren sozialen Klassen ist eine politische Deutung ebenso fast unvermeidlich wie bei der Darstellung des mordenden Mobs aus Menschen mit dunklerer Hautfarbe. Diese bleiben bis auf grobe Anweisungen und Beschimpfungen sprach- und charakterlos, was sie als ungebildet und barbarisch erscheinen und irgendwann dann sogar wieder Sympathie für die Reichen aufkommen lässt. So wirkt der Film mit zunehmendem Verlauf immer beliebiger und zynischer, am Ende scheint es fast schon egal, welche Abscheulichkeiten noch geschehen und wer hier überlebt oder stirbt (was auch an einer recht schablonenhaften Figurenzeichnung liegt). Außerdem setzt sich Franco dem Vorwurf des Voyeurismus aus, denn die explizit gezeigte Nacktheit vorwiegend weiblicher Darstellerinnen wirkt doch ziemlich effekthascherisch, wenn sie keine Empathie zu erzeugen vermag. Die Frage nach dem „Warum“ der Ereignisse unbeantwortet zu lassen (am Ende gibt es vage Hinweise darauf) erweist sich als Kardinalfehler von Nuevo Orden. So zeigt der Film zwar drastisch und eindringlich einen brutalen menschlichen Naturzustand nach Auflösung der gesellschaftlichen Strukturen im Stil des Romans Die Stadt der Blinden des portugiesischen Schriftstellers José Saramago. Durch die klare Verortung in die mexikanische Realität bleiben aber zu viele Fragen nach Verantwortung und Urheber*innen der Ereignisse offen, um darüber nonchalant hinwegsehen zu können.

Triggerwarnung: Explizite Darstellung von Gewalt, die verstörend wirken kann


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“WIR NUTZEN DIE REALITÄT ZU UNSEREN GUNSTEN!”

Kommunikation ohne Worte Clementina Folmer als Ema (© Betania Cappato & Iván Fund)

Una escuela en Cerro Hueso basiert auf der Geschichte Ihres Bruders Lucio. Was bedeutet es für Sie, so eine persönliche Geschichte auf die Leinwand zu bringen?
Betania Cappato: Da es nicht nur eine wahre, sondern auch eine persönliche Geschichte ist, hat sie die Besonderheit, dass ich sie sehr gut kannte. Ich wollte mich in diese Welt hineinbegeben, in die Schule von Lucio, auf die ich selbst nie gegangen war. Und dadurch, dass ich dort viel Zeit mit seiner Lehrerin und seinen Klassenkameraden verbracht habe, wollte ich etwas über sein Universum, seine persönlichen Erfahrungen herausfinden. Ich wollte mich so an ihn annähern und versuchen, ihn ein bisschen mehr zu verstehen. Für mich war es auch wichtig, diese Geschichte bekannt zu machen, damit sie andere Familien inspirieren kann, die ähnliche Situationen erleben.

Betania, Sie haben bislang viel mit Dokumentarfilm gearbeitet. Was hat Sie zur Entscheidung geführt, einen Spielfilm zu machen?
BC: Das Fiktionale hat mir mehr Freiheiten gegeben: Es hat mir erlaubt, nicht nur eine Geschichte zu erzählen, sondern auch über andere Themen zu sprechen, die mich interessieren, die mit dem Ort, den Figuren, dem Muttersein zu tun haben. Aber es ist eine Fiktion, die sehr nah am Dokumentarfilm verortet ist und aus diesem Hybrid entstehen Momente von starkem Realismus. Denn die Hauptfiguren werden zwar von den Schauspielern Mara Bestel, Pablo Seijo und Clementina Folme gespielt, aber bei allem, was im Kontext der Schule passiert, ist das anders. Hier haben wir versucht, uns so unsichtbar wie möglich zu machen und unsere Geschichte mit dem, was dort passierte, zusammenzuführen: Mit den Kindern, ihrer Welt, den Spielen und der Arbeit der Lehrerinnen, die unglaublich ist. Weil es nicht nur darum geht, Lesen und Schreiben beizubringen, sondern ein Umfeld der Menschlichkeit herzustellen, das alle Grenzen überschreitet.

Im Film wird Lucios Geschichte erzählt, aber die Hauptfigur ist Ema. Warum haben sie sich für eine weibliche Protagonistin entschieden?
BC: Iván und ich haben ein Prinzip: Die Realität zu unseren Gunsten zu nutzen. Zuerst dachte ich auch daran, einen Jungen zu nehmen. Aber dann haben wir Clementina kennengelernt und es war sofort alles klar. Es gab nicht einmal ein Casting für den Film. Wir haben Clementina getroffen, eine Kameraprobe bei ihr zu Hause gemacht und wussten, dass sie es sein musste.

Haben Sie mit einem fertigen Drehbuch gearbeitet oder es während des Drehs noch verändert?
BC: Wir hatten eine fertige Geschichte, wir wussten, was passieren sollte, aber wir waren nicht total darauf festgelegt. Wir sind wieder auf dieses „die Realität für uns nutzen“ zurückgekommen. Darauf, uns nicht zu sehr emotional an unser Material zu binden, sondern im Prozess herauszufinden, was das Beste ist. Das ist eine ziemlich experimentelle Herangehensweise. Wir arbeiten nicht so sehr mit einem Drehbuch, sondern mehr so, als ob es eine Geschichte wäre, die wir in einzelne Szenen untergliedern. Also wir wissen in etwa, was an einem Drehtag passiert und dann improvisieren wir einige Sachen. Denn während des Filmens passieren Dinge, die unsere Neugier wecken. Die Kinder haben zum Beispiel ihre eigenen Persönlichkeiten und unvermittelt haben sich einige zu wichtigen Figuren entwickelt. Da kamen Dinge zusammen, die viel Lebendigkeit und Eigenständigkeit eingebracht haben. Für mich ist es wichtig, jeden Tag zu beginnen, als wäre er der erste.

Sie haben über Motivation und Zufriedenheit gesprochen. Was war die größte Herausforderung dabei, diesen Film zu machen?
BC: Das ist mein erster Film dieser Art, so dass für mich die größte Schwierigkeit darin bestand, mir erst einmal zuzutrauen, Regie in einem Spielfilm zu führen, Schauspielern Anweisungen zu geben. Das auf persönlicher Ebene. Und danach war jeder Schritt für sich schwierig!

Iván Fund: Vielleicht war die Schwierigkeit hier, das Leben des Films und das eigene Leben zusammenzubringen. Außerdem ist das Durchhalten schwierig, weil es wirklich eine jahrelange Beziehung mit dem Film ist. Man kommt ihm näher, entfernt sich, freundet sich mit ihm an, ärgert sich über ihn. Die ganze Zeit ist das eine lebendige Beziehung!

BC: Absolut! Gleichzeitig ist das Verrückte, dass das Kino unser Leben ist. Für mich sind das Kino und mein Leben ziemlich untrennbar verbunden. Vom erzählerischen Gesichtspunkt war es die größte Herausforderung, Ema darzustellen. Eine Figur, die nicht spricht, aber dann plötzlich viel ausdrücken kann.

Stille durchzieht den ganzen Film. Es werden andere Formen der Kommunikation eingesetzt…
IF: Die Figur selbst hat dieses Vorgehen ermöglicht. Es ging um ein Mädchen, das nicht spricht, und das war der Ausgangspunkt, von dem man die Dynamiken verstehen musste. Der Film ist von diesem Standpunkt aus entwickelt und die Idee war nicht, dass Ema stumm ist und alle um sie herum mit ihr sprechen …
BC: Oder für sie sprechen!

IF: Genau! Die Idee war, an die ganze Situation von einer anderen Seite heranzugehen. Und das ist etwas, über das wir viel nachgedacht haben: Wie nähern wir uns an? Wie stellen wir eine Figur dar, mit der man sich nicht verständigen kann?

BC: Es war von wesentlicher Bedeutung, zu verstehen, was die Perspektive des Films sein sollte: Können wir uns in Ema hineinversetzen und für sie sprechen, oder eine Interpretation ihrer Gefühle versuchen, der Art, wie sie die Welt sieht? Auf der anderen Seite war aber auch der Blickwinkel der Eltern wichtig.

Der Film hatte keine aufwändige Produktion. Was sind die Vor- und Nachteile bei der Arbeit mit einem so kleinen Team?
BC: Ich glaube, jedes Projekt ist wie ein eigenes Universum und jeder muss die Herangehensweise finden, die am besten zu dem passt, was man machen will. Ich finde es angenehm, mit wenigen Leuten zu filmen, weil die Kommunikation und die Organisation viel einfacher sind. Bei diesem Film waren wir fünf oder höchstens mal sieben Personen an einem Tag. Wir haben uns morgens zusammengesetzt und konnten darüber sprechen, was wir filmen werden. Die Freiheit, die das Filmen auf diese Weise bedeutet, ist unbezahlbar. Natürlich hat uns die Postproduktion auch viel Zeit gekostet. Wir haben gefilmt wie eine Art Kino-Guerrilla, aber danach muss dieses Material durch viele Nachbearbeitungsprozesse und es steckt viel Arbeit dahinter, bis alles so aussieht und sich anhört wie ein richtiger Film. Und es ist auch teuer. Da sind dann die Koproduzenten gefragt.

IF: Dann sind da natürlich auch noch die Risiken, die Anspannung und der Stress, eine Finanzierung zu bekommen, nur damit man überhaupt anfangen kann. Denn den ganzen Rest musst du dann selbst finanzieren. Und alle, die einsteigen, schreiben sich den Film auf ihre Fahne, denn viel mehr können wir ihnen nicht bieten. Warum macht man so was? Also fürs Geld bestimmt nicht.

Una escuela en Cerro Hueso war der einzige lateinamerikanische Film in dieser Sektion der Berlinale. Was bedeutet das für Sie?
BC: Natürlich macht es mich glücklich, bei den ganzen Schwierigkeiten, in Argentinien Filme zu machen, einen Film hierher zu bringen.

IF: Und uns hierherzubringen, was genauso schwierig ist! Wir sind superglücklich! Obwohl ich nicht weiß, ob es die Exklusivität ist, die uns glücklich macht. Es wäre gut, wenn die Sektion voller lateinamerikanischer Filme wäre! Hoffentlich setzt der Fakt, dass wir hier sind, dass der Film hier ist und Auszeichnungen bekommen kann, einige Hebel in Bewegung, damit die Produktion und Postproduktion lateinamerikanischer Filme einfacher wird. Ich kann mir vorstellen, dass es überall sehr schwierig ist, Kino zu machen. Aber ich glaube, wir drehen wirklich mit dem Budget, mit dem man bei anderen Filmen den Kaffee bezahlt.

 


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Schatten der Vergangenheit

Fotoquelle: © Stefanie Reinhard

Der nur zehnminütige, minimalistische Kurzfilm Al motociclista no le cabe su felicidad en el traje des mexikanischen Regisseurs Gabriel Herrera Torres ist größtenteils vor einem neutralen Hintergrund gedreht, im Innern eines großen Zeltes. Er würde die Zuschauer*innen wohl etwas ratlos und gelangweilt zurücklassen, wäre da nicht die Stimme aus dem Off, die die Handlung begleitet. Sie erzählt, wie der eitle Eroberer Hernán Callejos – nicht zufällig an den in Mexiko vielgehassten Konquistador Hernán Cortés erinnernd – mit seinen Soldaten im Dschungel sein Unwesen treibt: er verscheucht „Indios“ und begreift die vielen für ihn unerwarteten, unbekannten Pflanzen, Tiere und andere Dinge nur, indem er ihnen seine eigene Weltsicht überstülpt. Bei all dem ergötzt er sich an sich selbst und will allen Ruhm für sich allein.

Als symbolische Wiederaufführung der historischen Geschehnisse gewinnt die Handlung des Kurzfilms, 500 Jahre nach der Eroberung von Tenochtitlán durch Cortés, plötzlich Sinn durch eine politische Dimension: Er setzt sich kritisch mit der Hybris auseinander, die die damaligen Konquistadoren kennzeichnete, von der aber auch heutige spanische Politiker*innen beim Blick auf die Kolonialgeschichte nicht frei sind.

Zumindest im Film hat die Selbstüberschätzung eindeutige Folgen: Das Motorrad geht im wörtlichen Sinn vor die Hunde, Hernán Callejos verschwindet im Dschungel. Wer sich über zehn Minuten konzentriert, wird hier belohnt.

Fotoquelle: © Mateo Guzmán

Der zweite lateinamerikanische Kurzfilm, A love song in Spanish, ist in dokumentarischer Form, etwas länger und kommt aus dem als Filmland noch relativ unbekannten Panama. Die Regisseurin Ana Elena Tejera nimmt darin die Erinnerungen ihrer Großmutter zum Ausgangspunkt, sich mit der Militärdiktatur in Panama von 1968 bis 1989 zu beschäftigen. Es wird nicht chronologisch erzählt, sondern assoziativ, Vergangenheit und Gegenwart in stetem Wechsel. Auf Bilder aus dem Alltag der alten Frau und von panamaischen Militärpolizisten der Gegenwart folgen historische Aufnahmen, die die Realität während der Diktatur zeigen. Die Protagonistin bekräftigt: „Schrecklich, ein Leben mit der Militärdiktatur, ich habe das am eigenen Leib erlebt.“ Soweit, so tragisch vertraut im Kontext von Dokumentarfilmen zu Militärdiktaturen – die Familiengeschichte erweist sich jedoch als komplexer, als die Zuschauer*innen vielleicht zunächst erwarten würden, denn Tejeras Großmutter arbeitete selbst beim Militär, wie auch ihr verstorbener Mann. Die ambivalente Beziehung der beiden Großeltern zieht sich wie ein roter Faden durch den Film. Hier alte Bilder der beiden und neue, in denen sie ihre Liebe zu ihm bekräftigt, sich schön macht und allein zur Musik tanzt, als wäre er noch dabei – andererseits dunklere Erinnerungen, die sie genauso wenig loslassen wie die dunkle Vergangenheit das Land. Am Ende bleibt vieles unbeantwortet, als Zuschauer*in möchte man der alten Frau Fragen stellen und bleibt doch, wie sie selbst, im doppelten Sinn verstört zurück: durch die Schilderung von militärischer Gewalt und der emotionalen Bindungen zu jemandem, der Schuld auf sich geladen hat.


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HOFFNUNG AUF DEN SOMMER

A Love Song in Spanish Festivalbeitrag aus Panama in der Sektion Kurzfilme (Foto: Mateo Guzmán)

Pandemie oder Populismus? Was die brasilianische Filmszene im vergangenen Jahr härter getroffen hat, ist schwer zu sagen. Die Vermutung liegt nahe, dass die vollständige Streichung der staatlichen Filmförderung durch die Regierung Bolsonaro der noch weitaus schwerere Schlag war. Und so muss sich das Leuchtturmland des lateinamerikanischen Kinos auf der Berlinale 2021 mit verhältnismäßig mickrigen zwei Festival­beiträgen begnügen (einer davon eine Fernseh­serie). Welch ein Unterschied zu den Vorjahren, in denen Brasilien des Öfteren mit einer zweistelligen Zahl von Filmen auf der Berlinale vertreten war. Damals traten deren Filmschaffende den Rückweg über den Atlantik auch regelmäßig mit dem ein oder anderen Preis im Gepäck an.

Die Lücke im lateinamerikanischen Programm wird dieses Jahr hauptsächlich vom zweiten cineastischen Schwergewicht aus dem Süden geschlossen: Aus Argentinien kommen mit fünf von insgesamt nur zwölf Produktionen fast die Hälfte der diesjährigen Beiträge des Subkontinents. Deren weitgehend gute Qualität kann für die geringere Auswahl erfreulicherweise etwas entschädigen.

Fast die Hälfte aller Latino-Beiträge kommt aus Argentinien


Weniger ist mehr, leider nicht einmal das galt 2021 für die Festivalatmosphäre. Pandemiebedingt fanden bisher alle Vorführungen digital statt und standen – etwas unverständlich – zudem nur Presse und Fachpublikum fünf Tage lang online zur Verfügung. Schade, denn mit einer frühzeitigen Planung, geschicktem Marketing und einem (verbilligten) öffentlichen Online-Ticketverkauf hätte dem Festival eine zusätzliche Einnahmequelle durch ein weltweites Publikum winken können. Doch weil die Berlinale-Leitung zu lange darauf hoffte, wie gewohnt im Februar ein Präsenzfestival in Kinos vor Ort abhalten zu können, kam nur die kurzfristige Notlösung zustande. Es bleibt zu hoffen, dass wenigstens das geplante Berlinale Summer Special im Juni wie angekündigt in den Berliner Kinos stattfinden kann. Und dass dort auch ein Großteil der lateinamerikanischen Beiträge den Weg auf die Leinwände finden wird, unter denen einige Highlights auszumachen sind.

Das beginnt beim einzigen lateinamerikanischen Beitrag des Wettbewerbs, Una película de policías (Mexiko), einer clever aufgezogenen Doku-Fiktion über die Polizei in Mexiko-Stadt. Nach Museo (2018, Regie) konnte auch dieser Film von Regisseur Alonso Ruizpalacios einen Silbernen Bären gewinnen, diesmal für die herausragende künstlerische Leistung im Bereich Montage. In der Sektion Encounters gibt es mit der schweizerisch-argentinischen Koproduktion Azor ebenfalls einen sehr sehenswerten Film, der die Beteiligung von Banken an den Verbrechen der Militärdiktatur am Rio de La Plata thematisiert. Aus Argentinien kommen außerdem die trashige Sex-and-Crime-Serie Entre Hombres, die experimentellen Beiträge Esqui und Qué será del verano (beide aus der Sektion Forum) sowie die Festival-Entdeckung Una escuela en Cerro Hueso von Regisseurin Betania Cappato. Das einfühlsame Porträt der Integration eines autistischen Mädchens in einer Dorfschule erhielt von der Festivaljury in der Jugendfilmsektion Generation eine lobende Erwähnung.

In der beim Publikum beliebten Sektion Panorama gibt es zwei Dokumentationen aus Lateinamerika zu sehen: Der mexikanische Regisseur Carlos Alfonso Corral gibt in Dirty Feathers Obdachlosen in der Grenzstadt El Paso eine Stimme, während A Última Floresta (Brasilien) aus der Perspektive der Gemeinschaft der Yanomami aus dem Amazonasgebiet erzählt ist. Aus Brasilien kommt auch die Serie Os Últimas Dias de Gilda, in der eine Favela-Bewohnerin (großartig gespielt von Karine Teles) sich mit einer bigotten christlichen Miliz anlegt. Bicentenario (Kolumbien) zeigt in der Sektion Forum Expanded die entfremdete Absurdität des Kultes um Simon Bolívar. Die Kurzfilme A love song in Spanish (Panama) über die Nachwirkung der Militärdiktatur in einer Familie und Al motociclista no le cabe la felicidad en el traje (Mexiko), der einen Motorradfahrer die Kolonialgeschichte neu interpretieren lässt, bereichern die Sektion Berlinale Shorts.

Rezensionen zu drei starken lateinamerikanischen Beiträgen gibt es auf den nächsten Seiten dieses Heftes zu lesen. Kritiken zu allen anderen Filmen werden wir im Laufe der nächsten Wochen auf der Homepage von LN veröffentlichen. Viel Spaß beim Online- und Offline-Lesen und hoffentlich auch bald beim Sehen der Filme!


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