IM PATRIARCHALEN HINTERLAND

Bárbara Colen in Fogaréu, Berlinale 2022 (Foto: © Bananeira Filmes)

Bewertung 5 / 5

Es fällt schwer, diesen Film nicht in Superlativen zu loben: Fantastische Hauptdarstellerin, exzellente Besetzung bis in die Nebenrollen, außergewöhnlich gelungenes Drehbuch, immer neue, ungewöhnlichen Wendungen und eindrucksvolle Landschaftsbilder aus dem Agrarstaat Goiás mit seinen gigantischen Feldern und Weiden. Nicht zu vergessen die gelungene Einbeziehung des politischen Grauens Brasiliens in eine Familiengeschichte, die Regisseurin Flávia Neves in großen Teilen selbst erlebt hat.

Fernanda (gespielt von der überragenden Bárbara Colen) kehrt nach vielen Jahren zum ersten Mal in das koloniale Städtchen Goiás Velho zurück, das sie als Kind mit ihrer Mutter verlassen hat. Bei ihrer Ankunft platzt sie unangekündigt in einen kleinen Empfang im Haus ihres Onkels Antônio (Eucir de Souza), dessen erneute Kandidatur zum Bürgermeister gefeiert wird. Und obwohl Fernanda von ihrer Tante Arlette (Fernanda Vianna) bemüht freundlich empfangen wird, ist die Atmosphäre sofort geprägt von unterschwelligen Aggressionen, die sich im Laufe des Films langsam entfalten und verdichten, um dann zu eskalieren.

Bereits die Dialoge der ersten Filmszenen sind brillant geschrieben und inszeniert – deutlich ist zu spüren, dass hier Welten aufeinandertreffen: das moderne, aufgeklärte Brasilien, verkörpert durch Fernanda, und das konservative, rückwärtsgewandte, unterschwellig bis offen brutale Brasilien des weiten Hinterlandes. Immer wieder stößt sich Fernanda an der Sprache ihrer Familie. Mittels dieser werden tiefgreifende Unterschiede zwischen ihren Werten und Sichtweisen auf die Welt markiert und die zahlreichen Lügen maskiert, die sich ebenso auf die Vergangenheit wie auf die Gegenwart beziehen.

Doch Fernanda ist nicht zurückgekommen, um sich mit der offiziellen Geschichte abspeisen zu lassen. Sie will die Wahrheit hinter den zahlreichen Familiengeheimnissen entdecken und ist dabei unerschrocken und rücksichtslos, auch sich selbst gegenüber – bis hin zur Gefahr für Leib und Leben. Eine so mutige, offensive Frau kann im patriarchalen Raum des Hinterlandes nicht geduldet werden. Dabei verschränkt sich die persönliche Geschichte mit der politischen Dimension der Handlung. „Für mein Vaterland! Für meine Familie!“, grölten die Hinterbänkler, die im April 2016 die brasilianische Präsidentin Dima Rousseff absetzten, bei der Stimmabgabe in die Mikrophone. FOGARÉU entlarvt diesen Konservatismus: Die vorgeblichen Ideale des Patriotismus und der Familie schützen nur den rücksichtslosen Machterhalt einer weißen Elite von Landbesitzern, denen die Rechte von Frauen, Hausangestellten und Indigenen herzlich egal sind.

Regisseurin Flávia Neves, die auch gemeinsam mit Melanie Dimantas das Drehbuch geschrieben hat, inszeniert die Erschütterung der lokalen Macht durch eine Gruppe sehr unterschiedlicher Frauen, die sich gegenseitig unterstützen. Dabei kommt keine ohne Schmerzen und Verluste davon. Dass es am Ende ein bisschen Magie braucht, um das Böse zu zerstören, ist angesichts der Situation im brasilianischen Hinterland vielleicht die realistischste Option.

FOGARÉU ist der erste abendfüllende Spielfilm der Brasilianerin Flávia Neves, die mit 16 Jahren ihren ersten Kurzfilm drehte und seither im Bereich Film arbeitet. An der Produktion von FOGARÉU waren vor allem Frauen beteiligt, einschließlich der beiden Produzentinnen Vania Catani (Bananeira Filmes) und Mayra Faour Auad (Mymama Entertainment). Im Interview mit der Berlinale sagte Neves dazu: „Filme von Frauen sind vielleicht die besten, die unser Land heute zu bieten hat. Als Frauen müssen wir uns viel besser vorbereiten, um einen Platz in einem feindlichen, sehr komplexen Markt zu erkämpfen, der nicht für uns geschaffen wurde. Aber wenn wir die Bedingungen selbst bestimmen können, werden wir ebenfalls brillieren.“ Das ist Neves mit FOGARÉU definitiv gelungen.


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