Der Wald, den Gott nicht betritt

Grüne Mauer Der Darién zwischen Kolumbien und Panama (Foto: Cruz Roja Panamá)

Es ist kurz nach fünf und die aufgehende Sonne färbt die Wolken über den Baumkronen des Dschungels leuchtend orange. José Membache ist ein kleiner schmächtiger Mann mit runden Gesichtszügen. Er gehört der indigenen Emberá-Wounaan-Gemeinschaft an, die in der Darién-Region lebt. José trägt ein rotes T-Shirt mit dem Aufdruck des Cruz Roja Panamá, des Roten Kreuzes Panama. Mit ein paar anderen Männern der Community steigt er in einen klapprigen Jeep. Gemeinsam fahren sie die letzten Kilometer auf der Panamericana-Fernstraße in Richtung Dschungel bis zu der kleinen Ortschaft Lajas Blancas.

Seit fünf Jahren arbeitet José hier als Freiwilliger in einem Auffangcamp. Die Panamericana verbindet Alaska mit Feuerland. Nur hier im sogenannten Darién Gap ist sie unterbrochen. Einige Kilometer weiter endet die Straße im tiefen Dschungel. Infrastruktur gibt es hier kaum. Wie eine grüne Mauer trennt der Darién Kolumbien von Panama. Gleichzeitig stellt er die einzige Landverbindung zwischen Süd- und Zentralamerika dar. Rund 100 Kilometer geht es durch tiefsten Urwald mit steilen Hängen und reißenden Flüssen. Wer zu Fuß aus Südamerika in die USA möchte, muss eine der gefährlichsten Flüchtlingsrouten der Welt auf sich nehmen. Trotzdem haben sich 2023 so viele Menschen wie noch nie für die Flucht durch den Darién entschieden, laut dem US-Thinktank Council on Foreign Relations mehr als 520.000 und damit mehr als 1.400 Menschen am Tag. Ursprünglich hauptsächlich aus Südamerika, kommen inzwischen auch immer mehr Menschen aus asiatischen und afrikanischen Ländern. Ihre Fluchtgründe sind vielseitig.

Für José war es anfangs schwer, den Menschen hier zu begegnen: Kinder, die unterwegs von ihren Familien getrennt wurden oder Flüchtende, die noch im Camp an Flüssigkeitsmangel starben; Frauen und Kinder, die Opfer sexualisierter Gewalt geworden waren und an den Folgen litten; Menschen, denen im Darién alles geraubt wurde, was sie noch besaßen. „Die Verzweiflung der Menschen und ihre Not haben mich sehr traurig gemacht“, erzählt José. Er habe viel geweint und Albträume gehabt. Inzwischen aber, sagt er, habe er sich an die Bilder gewöhnt. „Die schlechten gesundheitlichen und psychischen Zustände der Menschen sind normal geworden und den beißenden Geruch von Menschenschweiß, Fäkalien und eitrigen Wunden, der über dem Camp liegt, nehme ich kaum noch wahr.“

In der Regenzeit sind die ausgetretenen Wege im Darién besonders matschig und glatt und die Flüsse treten über ihre Ufer. Gefährlich sind vor allem die steilen Hängen des Loma de la Muerte, des Todeshügels, von dem die Flüchtenden weit hinab in den Tod rutschen können, sowie die Durchquerung des reißenden Flusses Turquesa, des Todesflusses. Die hohe Luftfeuchtigkeit und das schwierige Terrain zehren an den Kräften der Menschen. Je länger die Reise dauert, desto gefährlicher wird sie. Eine 26-jährige chilenische Frau, die mit wiegenden Bewegungen versucht, ihre Tochter zu beruhigen, erzählt, dass sie seit sechs Wochen mit ihrem Bruder und ihren zwei Kindern zwischen einem und drei Jahren auf der Flucht sei. „Meine Tochter weint viel, weil sie Hunger hat.“ Sie hätten nicht genug Essen und das Geld gehe ihnen aus. „Fünf unserer sechs Rucksäcke haben wir im Darién zurückgelassen“, sagt sie. „Uns fehlte einfach die Kraft zum Tragen“.

„Im Nachhinein bereuen die meisten ihre Entscheidung“

Wassermangel, offene und entzündete Wunden, Fieber, Knochenbrüche und andere Verletzungen, gefährliche Tiere wie Schlangen, Pumas und Alligatoren – die Liste der Gefahren im Darién ist lang. Den Menschen bleibt oft keine andere Möglichkeit, als ungefiltertes Flusswasser zu trinken und das zu essen, was sie unterwegs finden. Nahrungsmittelvergiftungen, die mit Dehydration und Mangelernährung einhergehen, sind an der Tagesordnung. Die matschigen Pfade im Urwald sind gepflastert von zurückgelassenen Habseligkeiten, toten Menschen und deren Überresten. In Videos auf TikTok, Twitter und anderen sozialen Plattformen beschreiben Überlebende den Darién als „riesigen Friedhof“ und als „den Ort, den Gott nicht betritt“. Samuel* (Namen von Flüchtenden geändert) , ein 25-jähriger Kolumbianer, berichtet von mehreren Leichen entlang des Weges, von Angehörigen, die Löcher grüben, um tote Familienmitglieder zu beerdigen, und von Kindern, die vom Fluss mitgerissen wurden und in den Fluten verschwinden. Er erzählt von Verstorbenen in Plastiksäcken am Wegesrand und Personen, die geradewegs in die Arme von Menschenhändlern liefen. Die Durchquerung des Darién ist gefährlich und endet manchmal sogar tödlich – und trotzdem gleichen die matschigen Pfade im Dschungel einer Menschenautobahn. „Die Menschen vertrauen auf Gottes Hilfe“, sagt José. „Aber im Nachhinein bereuen die meisten ihre Entscheidung.“

Die matschigen Pfade im Dschungel gleichen einer Menschenautobahn

Das Camp in Lajas Blancas wird hauptsächlich mit UN-Geldern finanziert. José ist eine der ersten Anlaufstellen für die Flüchtenden, verteilt Simkarten oder verleiht ein Telefon für Anrufe. Hier gibt es auch eine Ladestation für Handys. Javier nummeriert jedes ladende Gerät einzeln. „Im Camp wird viel geklaut“, erklärt er. Die Menschen, die hier ankommen, befinden sich alle in einer Notsituation. In Lajas Blancas treffen Menschen aus über 40 Nationen mit den verschiedensten kulturellen und religiösen Hintergründen aufeinander. Viele sprechen kein Spanisch, die Kommunikation untereinander ist herausfordernd. „Die Not und die verzweifelte Situation führen zu vielen Auseinandersetzungen unter den Flüchtenden, und die Stimmung im Camp ist oft angespannt.“ Vor allem Kinder kämpfen mit posttraumatischen Belastungsstörungen, ausgelöst durch die schrecklichen Bilder aus dem Dschungel. Abril Staples ist Feldkoordinatorin des Roten Kreuzes in Lajas Blancas. Sie erklärt, dass die Menschen im Camp medizinische Versorgung und psychologische Unterstützung bekommen. „Die Flüchtenden werden registriert und verlorene und vermisste Personen an das Grenzmilitär von Panama übergegeben.“

In seltenen Fällen würden vermisste Personen gesucht, gelegentlich auch Leichen geborgen. Allerdings könne keiner genau sagen, wie viele Menschen im Darién sterben. Die wenigen Leichen, die gefunden werden, sind aufgrund der beschleunigten Verwesung im Dschungel kaum identifizierbar. Die Mitarbeitenden des Roten Kreuzes testen die Menschen auf Mangelernährungserscheinungen und händigen bei Bedarf Nahrungsergänzungsmittel, Erstehilfe- und Hygienekits sowie sogenannte Dignity Kits – also Dinge wie Deo, Wasserflaschen, Zahnbürsten und Zahnpasta – an die Flüchtenden aus. Im Camp gibt es kostenloses Essen und Trinken. Abril erklärt, es sei extrem schwer vorherzusagen, ob am Tag 500 oder doch 1.500 Menschen ankommen. Denn bevor die Menschen in Lajas Blancas eintreffen, gibt es keine offiziellen Zählungen. „Wir arbeiten auf Hochtouren mit den anderen Hilfsorganisationen zusammen, aber es gibt viel zu wenige Mittel.“

Erste Hilfe nach dem Dschungel Im Camp Lajas Blancas wartet das Rote Kreuz auf die Flüchtenden (Foto: Cruz Roja Panamá)

Ein paar Tage bis mehrere Monate bleiben die Menschen in Lajas Blancas, ruhen sich aus und warten, bis ihre Wunden verheilt sind. Viele hoffen darauf, dass Angehörige ihnen Geld schicken, denn die Flucht durch den Darién ist teuer. Die 28-jährige Farah* aus Haiti ist mit ihrem Mann und ihren zwei und sechs Jahre alten Kindern seit zehn Wochen unterwegs. Bisher habe sie rund 3.000 US-Dollar ausgegeben – für Essen, Transport und Unterkünfte. „Am meisten aber“, sagt sie, „kostet der Wegzoll“. An allen Zwischenstationen im Darién hätten sie eine Gebühr zahlen müssen. Wer kein Geld mehr hat, müsse so lange verweilen, bis die Familien Geld schicken. Laut Human Rights Watch kostet die Reise durch den Darién rund 500 US-Dollar pro Person – für viele Menschen auf der Flucht eine finanzielle Herausforderung. Geld können sich die Flüchtenden über eine Western Union-Station in Lajas Blancas schicken lassen – dafür zahlen sie eine Gebühr von 50 Prozent der geschickten Summe.

Die Kontrolle über die kolumbianische Seite des Darién liegt beim sogenannten Golf-Clan. Der Staat übt in dem Gebiet wenig bis keine Kontolle aus. Der Golf-Clan gilt als größte und einflussreichste paramilitärische Gruppe im Norden Kolumbiens. Er kontrolliert das Alltagsleben der Bevölkerung und die wirtschaftlichen Aktivitäten. Mit Hilfe eines raffinierten Systems aus Wegen und Kontrollpunkten überwacht er den Migrationsfluss und reguliert die Routen, welche die Flüchtenden nutzen dürfen. Eine Anwältin schätzt gegenüber Human Rights Watch, dass etwas mehr als 20 Prozent des so eingenommenen Geldes an den Golf-Clan gehen.

Samuel* erzählt, dass keiner den nordkolumbianischen Ort Acandí verlassen drüfe, ohne Wegzoll zu zahlen. „Wer kein Geld hat, wird mit Waffen bedroht.“ Das brutale Vorgehen bestätigen auch Berichte von Human Rights Watch. So lenkt der Golf-Clan von anderen illegalen Aktivitäten im Darién Gap ab: Drogen-, Waffen- und Menschenhandel. In Acandí, für viele die letzte Station vor der gefährlichen Durchquerung des Dariéns, bieten sogenannte Guides ihre Dienste an. Sie sollen den Flüchtenden helfen, schweres Gepäck zu tragen, und kennen die sichersten Schritte und herausfordernde Stellen auf dem Weg. Auch Samuel* hat sich für einen dieser Guides entschieden. Der habe ihn aber nicht wie ausgemacht bis an die Grenze von Panama gebracht, sondern nach ein paar Kilometern mit seinem Gepäck stehen gelassen. 380 US-Dollar habe er dafür gezahlt.

„Wer kein Geld hat, wird mit Waffen bedroht“ Es gibt drei Routen, die jeweils drei, sieben oder zehn Tage dauern. Je schneller die Route, desto teurer ist sie. Frauen mit Kindern oder große Gruppen brauchen sogar bis zu zwei Wochen. Tabish musste sich für die zehntägige Route entscheiden. „Hauptsächlich aus Geldmangel“, sagt er. „Ich bin schon seit zwei Monaten unterwegs und konnte nicht viel Geld aus Pakistan mitnehmen.“ Alles, was er besitzt, passt in einen Rucksack. Wie die meisten Flüchtenden trägt er sein Handy, Geld und seinen Pass in einer wasserdichten Hülle immer um den Hals. Denn ohne diese Dinge ist der Traum von einem besseren Leben in den USA schnell ausgeträumt. Wie viele der Flüchtenden wimmelt er das Gespräch ab – er sei müde von der Reise und wolle so anonym wie möglich bleiben. Auch das Gespräch mit der Chinesin Lan* ist schnell vorbei, als ihre schüchterne, leise Stimme brüchig wird und sie sich schließlich mit Tränen in den Augen abwendet.

Der Darién ist nur der Anfang einer langen Reise, die viele Gefahren birgt und kein Happy End garantiert
Gegen acht Uhr früh beginnen sich die Menschen mit ihren Rucksäcken vor den Toren von Lajas Blancas in langen Schlangen aufzustellen. In zwei Stunden kommen die ersten Busse, die die Flüchtenden bis an die Grenze von Costa Rica fahren. Die Fahrt kostet 60 US-Dollar pro Person. In Costa Rica werden die Menschen direkt wieder von Bussen bis zur nächsten Grenze gebracht. „Ab Nicaragua“, sagt José, „sind die Flüchtenden wieder auf sich gestellt“. Von Lajas Blancas bis in die USA sind es noch mehr als 5.000 Kilometer, fünf Landesgrenzen müssen passiert werden. Bevor die Menschen das Camp in Lajas Blancas verlassen, verteilt José faltbare Karten, auf denen die sichersten Routen, Hilfspunkte und mögliche Unterkünfte für Flüchtende bis an die Grenze der USA eingetragen sind. „Der Darién ist unglaublich gefährlich“, sagt José. „Aber leider ist er erst der Anfang einer langen Reise, die noch viele weiteren Gefahren birgt und kein Happy End garantiert.“ Denn selbst, wenn die Menschen es bis in den Norden von Mexiko schaffen, stehe ihnen der schwierigste und langwierigste Teil ihrer Reise noch bevor: die Einreise in die USA. Mit der Karte überlässt er die Menschen wieder ihrem Schicksal, mehr kann er nicht für sie tun.

Um fünf Uhr abends kündigt sich die Dämmerung am Horizont an. José und die Anderen steigen in den Jeep, mit dem sie in der Früh gekommen sind. Morgen kommen sie wieder nach Lajas Blancas, um den Menschen, die die Durchquerung des Darién überlebt haben, mit dem Nötigsten zu helfen.

VON BUKELE INS EXIL GETRIEBEN

Erst entlassen, dann verfolgt Ludovina Escobar hat El Salvador verlassen (Foto: Salvador Meléndez / Revista Factum)


Dieser Text wurde von der Zeitschrift Revista Factum auf Spanisch erstveröffentlicht. Hier könnt Ihr den Originaltext lesen.

„Ich fühlte mich bedroht. Mir wurde mitgeteilt, dass ich mich darauf vorbereiten solle, im Gefängnis zu landen”, berichtet Liduvina Escobar. Zwei Tage nach dieser Warnung verließ die ehemalige Mitarbeiterin des Instituts für Zugang zu öffentlichen Informationen (IAIP) Anfang Mai 2021 El Salvador. Die Regierung von Präsident Nayib Bukele hatte Escobar vorgeworfen, vertrauliche Informationen an die Presse weitergegeben zu haben, nachdem sie im Interview mit der Zeitschrift Revista Factum Unregelmäßigkeiten im Zugang zu öffentlichen Informationen publik gemacht hatte. Im April 2021 wurde sie deshalb vorübergehend ihres Postens enthoben. Am 7. Februar 2022 bestätigte Präsident Nayib Bukele ihre endgültige Entlassung.

Escobar verließ El Salvador, weil sie das Gefühl hatte, dass das System ihr weder Sicherheit als Bürgerin noch rechtliche Garantien bot. Drei Tage, bevor sie ins Exil ging, hatte das von der Regierung Bukele kontrollierte Parlament die Richter*innen der Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs und die Generalstaatsanwaltschaft entlassen. Zwei Beschwerden gegen Escobar bei der Staatsanwaltschaft beschleunigten ihren Entschluss, außer Landes zu fliehen. Escobar ist nicht die Einzige, die im Land über politische Verfolgung klagt: Nach Zählungen zivilgesellschaftlicher Organisationen haben im letzten Jahr mindestens 50 Salvadorianer*innen deswegen das Land verlassen, darunter Anwält*innen, Aktivist*innen, Politiker*innen, Staatsanwält*innen, Journalist*innen, Unternehmer*innen, Richter*innen des Obersten Gerichtshofes und Gemeindearbeiter*innen. Sie alle hatten zuvor Drohungen erhalten, wurden von Sicherheitskräften verfolgt oder fürchteten um ihre verfassungsmäßigen Rechte.

Bandenmitglieder drohen im Auftrag der Regierung

„Häufig sprechen Bandenmitglieder die Drohungen aus“, so Rina Montti, Leiterin der Beobachtungsstelle für Menschenrechte von Cristosal, einer Organisation, die Fälle von gewaltvoller Vertreibung sammelt. Allein Cristosal zählt 30 politische Geflüchtete bis November 2021. „Es ist ein Problem gesellschaftlicher Gewalt. Die Banden werden instrumentalisiert und angeheuert, um diese Art von Drohungen auszusprechen. Die Gründe für die Angriffe stehen nicht immer im Zusammenhang mit Erpressung oder der Tätigkeit von Banden in dem Gebiet“, so Montti.

Die Erfahrungen, die Salvadorianer*innen dazu veranlassen, ihr Land zu verlassen, sind so vielfältig wie alarmierend: Männer, die Fotos aufnehmen; zerstochene Reifen; Drohungen von Bandenmitgliedern oder im Internet; Verfolgung durch das Finanzamt; Beschwerden bei der Generalstaatsanwaltschaft und Polizei oder Militärs vor der eigenen Wohnung. Alle Betroffenen haben eines gemeinsam: Alle haben auf irgendeine Weise Kritik an der Regierung geübt. Einige von ihnen in ihrer Arbeit in zivilgesellschaftlichen Organisationen oder oppositionellen Parteien, andere durch ihr Wissen über Korruptionsfälle. Escobar hat die Vorgänge aufgeschrieben, die sie dazu gebracht haben, El Salvador zu verlassen. Dazu gehört, dass die Reifen ihres Wagens zerstochen wurden und Polizei- oder Militärpatrouillen häufig vor ihrem Haus parkten. Außerdem vermutet sie, dass ihr Handy von der Regierung abgehört wurde. Escobars Familie musste vor der Ausreise umziehen, weil sie sich gefährdet fühlte. Als ihr Mann die Möbel verlud, fragte ihn ein maskierter Mann mit dunkler Brille, der sich nicht weiter auswies, wo seine Frau sei und wohin und wieso sie umziehen würden. Ihr Mann sei gegangen, ohne zu antworten, so Escobar. Wer die Regierung kritisiert, muss mit Drohungen rechnen In den zehn Monaten, die sie sich bereits im Exil befindet, haben ihr Freund*innen geholfen. Durch den Verkauf von landestypischem Essen oder gebrauchter Kleidung konnte sie persönliche Ausgaben, Lebensmittel und Handyrechnungen bezahlen. Auch wenn sie dankbar sei, sogar ein Auto geliehen bekommen zu haben, wäre sie lieber in El Salvador, um ihren Beruf auszuüben. Momentan hängt ihr weiteres Leben von der Entscheidung der Einwanderungsbehörde ab. „Irgendwo im Nirgendwo anzukommen, von Solidarität zu leben. Ich wäre tausendmal lieber in meinem Land, in meinem Haus, und würde mit meiner Familie Bohnen essen, anstatt hier zu sein. Kein anderes Land wird jemals dein eigenes Land ersetzen, egal wie viele gute Menschen du dort triffst”, betont sie.

Ende 2020 hatte die Regierung Bukele das Institut für den Zugang zu öffentlichen Informationen, in dem Escobar arbeitete, übernommen und Vertreter*innen der eigenen politischen Linie als Bevollmächtigte eingesetzt. Das Institut war der Regierung ein Dorn im Auge geworden, weil es gefordert hatte, die Verwendung öffentlicher Mittel transparenter zu gestalten. Vor ihrer Absetzung hatte Escobar unter anderem ein Sanktionsverfahren gegen Osiris Luna eingeleitet. Der Generaldirektor der Strafvollzugsanstalten hatte Informationen über eine Reise im Privatjet zurückgehalten. Außerdem leitete sie eine Anordnung an das Verteidigungsministerium zur Suche nach Akten über eine Militäroperation an der Universität von El Salvador und drängte auf die Herausgabe von Informationen über Positionen und Gehälter von Regierungsangestellten. Die Zukunft ihrer Familie und ein Leben und Arbeiten in Ruhe sieht Escobar derzeit nur außerhalb von El Salvador. „Nach Monaten der Trennung bin ich jetzt wieder mit meiner Familie vereint und muss es in einem anderen Land aushalten. Das ist nicht fair“, sagt die ehemalige Ermittlerin, während sie ein Video ihrer Tochter zeigt, die im Hinterhof eines fremden Hauses spielt.

Zu den politisch Verfolgten gehören Oppositionelle genauso wie Journalist*innen

Das fehlende Vertrauen in die staatlichen Institutionen hält viele politisch Verfolgte davon ab, in El Salvador Anzeige zu erstatten. Präsident Nayib Bukele kontrolliert das Parlament, das sowohl regierungstreue Richter*innen am Obersten Gerichtshof sowie einen neuen Staatsanwalt ernannt hat. Die Verfassungskammer, die Missbrauchsfällen der Exekutive Einhalt gebieten könnte, und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf Linie der Regierungspartei. Wie aus zahlreichen von zivilgesellschaftlichen Organisationen dokumentierten Fällen hervorgeht, hat sich die politische Verfolgung im Land verschärft, seit die drei Staatsgewalten unter Kontrolle der Regierung sind. In den ersten zwei Jahren der Regierung Nayib Bukeles haben 106.104 Menschen aus verschiedenen Gründen in anderen Ländern Asyl beantragt. Weltweit wurden die meisten Anträge in den USA und Mexiko gestellt, in der Region hauptsächlich in Guatemala und Costa Rica. Laut der Zoll- und Grenzschutzbehörde der Vereinigten Staaten wurden zwischen Oktober 2020 und September 2021 95.930 Salvadorianer*innen bei der Überquerung der Grenze festgenommen. Das ist die höchste Zahl in diesem Jahrhundert – im Schnitt wurden jeden Tag 260 Salvadorianer*innen festgenommen, fast 8.000 pro Monat. Verónica Reyna, Leiterin der Menschenrechtsprogramme des katholischen Sozialdienstes der Passionisten, befasst sich seit Jahren mit der Analyse von Gewalt und Migration in El Salvador. Sie ist der Ansicht, dass wirtschaftliche Faktoren und Gewalt zwar nach wie vor die Hauptursache für die hohe Migration sind, dass der Flucht aufgrund politischer Verfolgung aber mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte – auch wenn die verhältnismäßig nicht so massiv ist. „Je mehr Menschen von den Behörden aufgrund kritischer Äußerungen zu Gegnern erklärt werden, desto mehr wird sich diese Entwicklung fortsetzen“, so Reyna. „In El Salvador zeigen sich heute eindeutig antidemokratische diktatorische Tendenzen in der Regierung. Dazu kommen wirtschaftliche Verluste in den Fällen von Menschen, die ihre Arbeit verloren haben oder ihren Lebensunterhalt in der informellen Wirtschaft verdient haben“, analysiert auch Óscar Chacón, Direktor von Alianza America, einer Organisation, die in den lateinamerikanischen Einwanderungsgemeinschaften in den Vereinigten Staaten tätig ist. Immer häufiger sähen sich Menschen gezwungen, El Salvador zu verlassen, um einer möglichen Kriminalisierung oder Angriffen auf ihre persönliche Unversehrtheit oder ihr Leben zu entgehen. Dazu gehören auch regierungskritische Journalistinnen. Das Zentrum zur Beobachtung von Aggressionen gegen Journalist*innen von der salvadorianischen Journalistenvereinigung APES dokumentierte bisher mindestens drei Fälle von Journalist*innen, die nach Drohungen, Verfolgung und Überwachung das Land verlassen mussten. „Korruption ist nicht neu, keine regierende Macht mag es, wenn man sie auf ihre Fehler hinweist. Politiker wollen eine Presse, die sie lobt und nur ihre Gegner angreift. Wenn sie aber von der Presse enttarnt werden, versuchen sie, Journalisten zu diskreditieren“, sagt Susana Peñate von APES. Mit der Erklärung des Ausnahmezustands im Land und der Verabschiedung neuer Gesetze, die die Arbeit unabhängiger Medien erschweren (siehe Seite 32), dürfte sich diese Entwicklung noch verschärfen.

„Hätte ich das Land nicht verlassen, wäre ich jetzt eine Verschwundene“

Doch auch Oppositionspolitiker*innen geraten ins Visier der autoritären Regierung unter Präsident Bukele. „Ich bin mir sicher, wenn ich das Land nicht verlassen hätte, wäre ich jetzt eine Verschwundene. Ich wäre tot”, sagt die 36-jähirge Alejandra Menjívar im Gespräch mit Revista Factum in Mexiko, wo ihr nach einem Mordanschlag dauerhaft Aufenthalt gewährt wurde. Menjívar ist Menschenrechtsverteidigerin und die erste trans Frau, die für einen Sitz im Zentralamerikanischen Parlament (PARLACEN) zur Wahl antrat. 2006 trat sie der linken Partei FMLN bei, für die sie im Februar 2021 an den Bürgermeister*innen-, Abgeordneten- und PARLACEN-Wahlen kandidierte. Außerdem äußerte sie sich in den sozialen Netzwerken kritisch gegenüber Regierungsentscheidungen.

Als Menjívar am 20. Mai 2021 im Norden der Metropolregion San Salvador unterwegs war, bremste ein Wagen vor ihr. Drei Männer stiegen aus – Bandenmitglieder, wie Menjívar vermutet. „Wir werden dir eine Lektion erteilen, damit du den Mund hältst“, erinnert sie sich an deren Worte, während einer eine Pistole auf sie richtete und den Abzug drückte. Die Waffe blockierte. Auch als er ein zweites Mal abdrückte, löste sich kein Schuss. Ein vorbeifahrender Streifenwagen schreckte die Angreifer ab und weckte Menjívar wie aus einer Trance. „In diesem Moment wusste ich, dass ich verfolgt werde, dass die Regierung es auf kritische Stimmen abgesehen hat und ich nicht noch einmal so ein Glück haben würde. Also entschied ich mich, das Land zu verlassen und tat dies innerhalb von 24 Stunden“, erzählt sie.

Menschenrechtsorganisationen aus Guatemala und Mexiko halfen ihr, schnell die Region zu verlassen. Die ehemalige Parlamentskandidatin ist sich sicher, dass der Angriff von der Regierung unterstützt wurde, auch wenn sie meint, dass diese nie direkt drohen würde. „Sie werden nicht auf dich zu kommen und sagen ‚Du wirst schon lernen still zu sein und den Mund zu halten‘. Aber die Kritik, die ich nur kurz davor geäußert hatte, richtete sich gegen die Regierung. Deshalb denke ich, dass dieser Angriff von ihnen kam“, betont sie.

Als trans Frau ist Menjívar in El Salvador ohnehin einem zusätzlichen Risiko ausgesetzt. Zwischen 2011 und 2021 wurden laut der Organisation Concavis Trans 42 trans Frauen ermordet. Während ihrer Wahlkampagne zur Regionalabgeordneten musste Menjívar mit ihrer Familie aufgrund von Drohanrufen ihren Wohnort verlassen. Die Hassbotschaften, die von Bandenmitgliedern kamen und sich gegen ihren Aktivismus in der FMLN richteten, konzentrierten sich auf ihre Geschlechtsidentität. „Ich musste mich daraufhin von meiner Familie fernhalten, um sie nicht in Gefahr zu bringen. Es war ein Risiko für mich, in ihrer Nähe zu sein. Ich konnte auch nicht im ganzen Land Wahlkampf machen, denn die Banden sind überall“, fügt sie hinzu.

Menjívar beantragte aus humanitären Gründen Schutz bei der Mexikanischen Kommission für Flüchtlingshilfe (COMAR). Insgesamt suchten zwischen Januar und September 2021 5.170 Salvadorianer*innen Zuflucht in Mexiko, 2.286 Anträge wurden gewährt. Allerdings hat Menjívar es auch in Mexiko nicht leicht. Am 22. Juni 2021 meldete die Organisation Refugio Casa Frida sie kurzfristig als vermisst. Nachdem sie gefunden wurde, berichtete die mexikanische Kongressabgeordnete Lucía Riojas, sie „wurde verletzt und wird entsprechend behandelt“. Auch die Anwältin und Menschenrechtsverteidigerin Bertha María Deleón hat El Salvador mit ihrer Tochter vor sechs Monaten verlassen. „Ich entschied mich, nicht ins Land zurückzukehren, da ich befürchtete, meiner Freiheit beraubt zu werden. Es gibt mehrere absurde Strafanzeigen aus dem Umfeld von Nayib Bukele gegen mich”, erklärte sie im März in einem Statement.

Mord- und Vergewaltigungsdrohungen nach Kritik an Abgeordnetem

Deleón war die erste Menschenrechtsverteidigerin aus El Salvador, die während Bukeles Amtszeit Schutzmaßnahmen von der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (CIDH) zugesprochen bekam. Am 19. September 2021 forderte die Kommission El Salvador auf, „die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um das Recht von Deleón auf Leben und persönliche Unversehrtheit zu schützen“. Die Anwältin solle ihre Arbeit machen können, ohne bedroht, eingeschüchtert oder Opfer von Gewalt zu werden. Trotzdem lebt María Deleón heute mit einem Schutzstatus und einer permanenten Aufenthaltserlaubnis in einem anderen lateinamerikanischen Land.

Bei den Wahlen 2021 war Deleón für die linksliberale Partei Nuestro Tiempo angetreten. Als Anwältin vertrat sie unter anderen Liduvina Escobar bei deren Einspruch vor der Verfassungskammer gegen ihre Suspendierung vom IAIP. Laut CIDH erhöhte sich Deleóns Risikostatuts bereits im Jahr 2020, als sie die Kandidatur des Politikers Walter Araujo auf das Abgeordnetenamt stoppte, indem sie ihn digitaler Angriffe auf sie beschuldigte, die zu Mord- und Vergewaltigungsdrohungen führten. Weil Araujo der Regierungspartei Nuevas Ideas angehört, galt Deleón seither als Kritikerin von Bukeles Regierung. Einen Tag nach der Auflösung der Verfassungskammer und der Staatsanwaltschaft am 2. Mai 2021 kündigte Araujo an, die Anwältin zu verklagen, weil sie als geheim eingestufte Details eines Gerichtsprozesses veröffentlicht hätte. Weitermachen will Deleón trotzdem: „Auswandern ist kein Verbrechen, ich will ein Leben ohne Gewalt, ein Leben in Würde führen, um meine Kinder aufzuziehen und weiterzuarbeiten“, sagt Deleón heute.

// ES HERRSCHT KRIEG

Viele Menschen werden grausam und skrupellos ermordet, noch mehr Menschen verlieren ihr Zuhause, packen das Notwendigste, um zu fliehen und hoffen darauf, dass ihnen irgendwo Schutz gewährt wird. Familien werden getrennt, Verzweiflung überall. Seit der russische Präsident Wladimir Putin seinen brutalen und völkerrechtswidrigen Angriffskrieg begonnen hat, passiert das nicht einmal zehn Autostunden von Deutschland entfernt in der Ukraine. Wir verurteilen die Aggressionen der russischen Führung und fordern ihre sofortige Beendigung.

Immerhin: Inmitten des Leids gibt es auch viele Bürger*innen, Unternehmen und staatliche Institutionen, die Solidarität zeigen – auch in Deutschland. Züge und Busse werden bereitgestellt, an den Bahnhöfen nehmen vor allem freiwillige Helfer*innen die Geflüchteten in Empfang. Auch wenn vieles chaotisch läuft – die Grundversorgung funktioniert. Ukrainer*innen erhalten vergleichsweise unbürokratisch einen Aufenthaltstitel, Sozialleistungen und eine Arbeitserlaubnis. Für die Betroffenen ein Lichtblick in ihrer schrecklichen Situation. Wir begrüßen es sehr, dass aktuell viel dafür getan wird, den geflüchteten Ukrainer*innen in ihrer Notlage zu helfen.

Wie schön wäre es aber, wenn allen Geflüchteten in einem solchen Maße Solidarität entgegengebracht würde. Auch in Afrika, im Mittleren Osten oder in Lateinamerika herrschen an vielen Orten dauerhaft kriegerische Konflikte. Sie werden meistens nicht als „Krieg” betrachtet, obwohl nationale sowie internationale Regierungen beteiligt sind. Diese Handlungen in der „Peripherie” gehen heute von bewaffneten staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen aus, die die Bevölkerung terrorisieren und den Betroffenen keine Chance lassen, sich wirksam vor ihnen zu schützen. Das individuell und gesellschaftlich verursachte Leid wird dadurch jedoch keineswegs kleiner.

In Mexiko, Kolumbien und Brasilien wurden in den vergangenen Jahren monatlich jeweils mehr als 1.000 Menschen getötet. Dort gelangen deutsche Waffen durch illegale Lieferungen, etwa von Heckler & Koch oder Sig Sauer, immer wieder auch in die Hände derjenigen, die Menschenrechts- und Umweltaktivist*innen, Journalist*innen und Politiker*innen ermorden. Laut Schätzung des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte entspricht die Anzahl dieser Morde in etwa der Anzahl der nicht an den Kämpfen beteiligten Menschen, die in der Ukraine umgebracht wurden. Dennoch erfahren die Opfer dieser gewaltsamen Auseinandersetzungen unterschiedlich viel Aufmerksamkeit. Konflikte in Lateinamerika und anderswo finden nicht vor unserer Haustüre statt. Und im Unterschied zur Ukraine flüchten in aller Welt nicht vorwiegend weiße Europäer*innen, sondern oft Menschen mit einer anderen Hautfarbe und/oder Religion. Sie haben es unendlich viel schwerer, in der EU aufgenommen zu werden und meist kaum eine Chance auf ein Bleiberecht und eine Arbeitserlaubnis. Diese Ungleichbehandlung ist durch nichts zu legitimieren und verstößt gegen die Genfer Flüchtlingskonvention, die eine Diskriminierung „aus Gründen der Rasse, der Religion oder des Herkunftslandes” verbietet.

Wir wollen nicht hinnehmen, dass es Geflüchtete „niedrigeren” und „höheren” Ranges gibt. Angesichts dieser Widersprüche in der Flüchtlingspolitik, die durch den russischen Angriffskrieg und seine Konsequenzen erneut deutlich werden, fordern wir, dass alle Menschen, die in ihrer Heimat von Krieg und Ermordung bedroht sind, nicht nur theoretisch, sondern auch in der Praxis das gebotene Maß an Hilfsbereitschaft erfahren – unabhängig von ihrer Herkunft. Russlands Invasion in der Ukraine ist grauenvoll. Zu wünschen bleibt, dass ihre Folgen ein Umdenken in Gesellschaft und Politik bewirken, zukünftig nicht mehr „Kapazitätsgrenzen” vorzuschieben, sondern allen Schutzsuchenden einen neuen Anfang und sicheren Zufluchtsort zu ermöglichen.

„UNSERE KLEINE GRENZSTADT“

Tucson im Bundesstaat Arizona liegt 100 Kilometer von der Grenze zu Mexiko / Fotos: Tina Büchslbauer

Das ehemalige benediktinische Kloster Las Alitas („Die Flügel“) ist die größte Notunterkunft in Tucson für Migrant*innen aus dem Süden. Der Kirchenraum bietet Platz für Frauen* und Kinder, während in den ehemaligen Schlafräumen der Nonnen die Familien unterkommen. Räumlich ist das schöne alte Gebäude bestens für diesen Zweck geeignet, auch eine große Küche steht zur Verfügung. Das Gebäude ist nicht mehr in kirchlicher, sondern in privater Hand. Der Besitzer hat es den Catholic Community Services (CCS) bis August dieses Jahres überlassen, um dort Geflüchtete zu beherbergen. Was danach geschieht, blieb bis Redaktionsschluss unklar. Allein zwischen Februar und Mai 2019 sind um die 8.000 Menschen in Las Alitas angekommen. Ohne ehrenamtliche Arbeit wäre es nicht möglich, die Unterkunft zu betreiben. Neben zwei Angestellten von CCS arbeiten 150 freiwillige Helfer*innen im Kloster. „Ich verstehe diese Politik und diesen Rassismus nicht. Früher war das hier Mexiko, daran sollten wir uns immer erinnern. Diese Grenze ist einfach verrückt“, sagt Laurie, eine Universitätsangestellte, die hier mehrmals pro Woche in der Küche hilft.

Die Border Patrol, die nach Nine/Eleven vor Terrorismus schützen sollte, verfolgt heute Migrant*innen


Heute liegt Tucson zwar 100 Kilometer von der Grenze entfernt, fällt damit jedoch gerade noch in das Einflussgebiet der Border Patrol und ist somit offizielle Grenzstadt. Nichtregierungsorganisationen wie die ACLU (Amercian Civil Liberties Union) kritisieren den 100 Kilometer breiten Streifen an der Grenze als „verfassungsfreie Zone“. Die Border Patrol, die nach Nine/Eleven ursprünglich die USA vor Terrorist*innen schützen sollte, fokussiert ihre Arbeit hier tagtäglich nicht auf Menschen, die Gewalt ausüben, sondern auf Migrant*innen. Viele der von Armut und Gewalt betroffenen Menschen lassen sich jedoch nicht durch Mauern und Repressionen von der Migration abhalten. Täglich gelangen circa 5.000 Menschen über die südliche Grenze in die USA. Gegenwärtig kommen die meisten von ihnen aus Guatemala, Honduras oder El Salvador. In Arizona ist Tucson als zweitgrößte Stadt des Bundesstaats eine der wichtigsten Anlaufstellen, da es dort Unterkünfte wie Las Alitas gibt, in denen sich die Migrant*innen ein paar Tage ausruhen und ihre Weiterreise organisieren können.
Bestenfalls schlafen in Las Alitas täglich 200 Geflüchtete, bei Engpässen bis zu 300. Alle Ankommenden haben bereits einen Asylantrag gestellt und mussten an der Grenze eine Person angeben, von der sie nach der Ankunft in den USA finanziell unterstützt werden. Diese Person muss auch die Weiterreise (vor)finanzieren. Die Menschen werden mittlerweile von der Border Patrol und der Migrations- und Zollbehörde ICE (Immigration and Customs Enforcement) direkt in Bussen von der Grenze zum ehemaligen Kloster gefahren. Sie bringen die Menschen nicht nur vom Grenzübertritt Nogales, der Tucson am nächsten ist, sondern auch von anderen wie El Paso in Texas.

Die Unterkunft soll ein sicherer Ort sein und meist ist sie das auch


In der Regel haben die Ankommenden eine mehrwöchige Flucht hinter sich und mussten eine bis zu 72-stündige Prozedur an der Grenze durchlaufen, im Zuge derer ihre Daten aufgenommen wurden. Sie berichten von wenig und schlechtem Essen, keinen Möglichkeiten zum Duschen, Betten auf dem kalten Boden bis hin zu rassistischen Beschimpfungen seitens der Beamt*innen der Border Patrol. Aufgrund dieser Erfahrungen ist es den freiwilligen Helfer*innen wichtig, gleich eingangs zu betonen, dass Las Alitas keine Regierungseinrichtung ist und, dass von hier keine Informationen an die Migrationsbehörden weitergegeben werden. Die Unterkunft soll ein sicherer Ort sein und meist ist sie das auch. Seit Anfang des Jahres allerdings Rechtsextreme kamen, die Migrant*innen filmten und das Video mit hetzerischen Botschaften ins Netz stellten, wird der Parkplatz regelmäßig kontrolliert und die Freiwilligen achten verstärkt darauf, wer ein- und ausgeht.
Alle, die es bis nach Las Alitas geschafft haben, haben ein minderjähriges Kind bei sich. Es hat sich herumgesprochen, dass ein Kind dem Migrationsgesetz entsprechend vor einer längeren Haft an der Grenze schützt. Meist hat sich jedoch nur ein Teil der Familie auf die Flucht begeben: „Meine Frau und die anderen zwei Kinder sind in Honduras geblieben, ich habe mich nur mit der Kleinsten auf den Weg gemacht, aber wir hoffen, dass wir bald alle wieder zusammen sein können“, sagt Manuel Ruiz* und deutet auf seine dreijährige Tochter. Er gehört zu den Glücklichen, die weder von ihrem Kind getrennt wurden, noch in Haft gelandet sind und abgeschoben wurden.
Haben sich die Menschen von den Anstrengungen der Flucht erholt und sind die Tickets für die Weiterreise gebucht, bringen Helfer*innen sie zur Greyhound-Busstation in Tucson und versorgen sie mit Lunchpaketen für die Fahrt. Vielen steht eine mehrtägige Reise quer durch das ganze Land bevor. Greyhound, das größte Fernbus-Unternehmen der USA, konnte durch die Vielzahl von Migrant*innen, die mit den Bussen mit dem Windhund-Logo nun durch das Land reisen, sein Budget sanieren. Der Service ist dennoch schlecht. Zudem führt die Border Patrol Personenkontrollen in den Bussen durch, um undokumentierte Personen zu überführen und abzuschieben. Viele derer, deren Asylantrag negativ beschieden wird, bleiben als sogenannte „Undokumentierte“ in den USA, da sie keinen anderen Ausweg sehen.
Die, die es nicht in die Unterkünfte geschafft haben, werden hinter der Grenze aufgegriffen und stehen täglich im Rahmen der „Operation Streamline“ in Tucson vor Gericht. Bei der Operation handelt es sich um Schnellprozesse mit dem Zweck, möglichst viele Migrant*innen, die angeblich illegal die Grenze überschritten haben, abzuschieben. Streamline-Gerichte wurden seit 2005 an der gesamten Südgrenze der USA installiert, um die Kriminalisierung der Migration voranzutreiben. Je nach Gericht werden den Richter*innen bis zu 100 Angeklagte gleichzeitig in Hand- und Beinketten vorgeführt. Die Anklage lautet auf erstmaligen oder wiederholten illegalen Grenzübertritt. Ihnen allen werden Pflichtverteidiger*innen zur Seite gestellt, die einheitlich empfehlen, sich schuldig zu bekennen. Die Freiheitsstrafen, die den Angeklagten drohen, reichen von bis zu sechs Monaten bei einem erstmaligen Vergehen und bis zu zwei Jahren bei Wiederholung. Die Initiative End Streamline Coalition kritisiert, dass die Betreiberfirmen der privaten Gefängnisse, für die die USA bekannt sind und in denen die undokumentierten Migrant*innen landen, mit der Kriminalisierung der Migration Millionen verdienen.
An der Grenze in Nogales warten Menschen in einer kleinen Unterkunft, die von der berüchtigten Mauer gerade einmal 20 Meter Luftlinie entfernt ist, darauf, die Grenze überqueren zu dürfen. Etwa zwanzig Menschen schlafen in Stockbetten in einem stickigen Raum. Als freiwillige Helfer*innen aus Tucson zu Besuch kommen, zeigen zwei Geflüchtete aus Guatemala ihnen Fotos von erschossenen Familienangehörigen und Schusswunden, die sie sich zugezogen haben, als sie unschuldig in Bandenschießereien geraten sind. Der Mann erzählt, dass er bereits einmal illegal in die USA eingereist sei, weil er nicht so lange an der Grenze warten wollte. Diesmal sei er mit seiner Familie gekommen, um es „richtig“ zu machen und an einem offiziellen Grenzübertritt Asyl zu beantragen. Hundertprozentige Sicherheit wird ihm das aber nicht geben, denn auch manche derer, die Asyl beantragt haben, landen vor der „Operation Streamline“. Hinzu kommt die Möglichkeit, dass sein Asylantrag abgelehnt wird. Für Fälle wie diesen hat US-Präsident Donald Trump Massenabschiebungen nach Guatemala angeordnet.

Eine Stadt im Widerstand: Tucson soll erste Sanctuary City in Arizona werden


Viele Menschen in Tucson bieten der staatlichen Migrationspolitik die Stirn. Im Wohngebiet neben der Notunterkunft Las Alitas finden sich viele Schilder mit der Aufschrift „Drop the charges“. Mit der Aufforderung, die Anklagen fallen zu lassen, zeigen die Bewohner*innen ihre Solidarität mit Scott Warren, einem Aktivisten der Gruppe No More Deaths, der hierzulande zum aktuell bekanntesten Opfer staatlicher Repression gegen humanitäre Hilfsorganisationen geworden ist. No More Deaths hilft Migrant*innen, indem sie Wasserkanister, Lebensmittel und Decken in der Wüste deponiert und Erste Hilfe leistet, um sie vor dem Tod in der Wüste zu bewahren. Die Anklage gegen Warren beinhaltet unter anderem das Betreten eines Naturschutzgebietes ohne Erlaubnis. Anfang Juni wurde Scott Warren endlich freigesprochen. Nach seiner Freilassung verkündete er: „Seit ich im Januar 2018 eingesperrt wurde, sind nicht weniger als 88 Leichen in der Wüste Arizonas geborgen worden. Und was ist der Plan der Regierung angesichts dieser humanitären Krise? Eine Polizei, die undokumentierte Menschen, Geflüchtete und ihre Familien verfolgt. Und die Kriminalisierung von humanitärer Hilfe, Herzlichkeit und Solidarität.“

“Humanitäre Hilfe ist nie ein Verbrechen” Viele Menschen in Tucson bieten der Migrationspolitik die Stirn / Foto: Tina Füchslbauer

Dagegen setzt sich auch die Gruppe Tucson Famlies Free & Together ein. Ihre Mitglieder fordern, dass Tucson eine sogenannte Sanctuary City wird. Das englische Wort sanctuary steht für Asyl, Schutz, aber auch für heilige Stätte und sakralen Raum. Die Sanctuary-Bewegung entstand in den 1970er und 1980er Jahren an der südlichen Grenze der USA, als immer mehr Migrant*innen aus Süd- und Mittelamerika vor (von den USA mit verursachten) Kriegen in den Norden flüchteten. Tucson spielte dabei von Beginn an eine Vorreiterrolle, indem Mitarbeiter*innen christlicher Organisationen Fluchtwege durch das ganze Land organisierten und dabei Kirchen als Schutzorte nutzten. Heute gibt es einige offizielle Sanctuary Cities in den USA, zu denen Los Angeles und New York zählen. Sie verweigern weitgehend die Zusammenarbeit mit Border Patrol und ICE und die Auslieferung undokumentierter Menschen. Die Aktivist*innen arbeiten daran, Tucson zur ersten Sanctuary City des Bundesstaats Arizonas zu machen. Diese Art des Widerstands der Menschen in Tucson ist gerade deshalb so wichtig, weil immer restriktivere Migrationspraktiken die Menschen zu gefährlicheren Fluchtwegen durch die Wüste oder über den Rio Grande an der Grenze zu Texas zwingen. Die Bemühungen der USA, Mexiko migrationsrechtlich zum „sicheren Drittstaat“ zu erklären, sind glücklicherweise bislang gescheitert. Mexikos Regierung unterstützt allerdings seit Juni dieses Jahres die USA bei der Grenzsicherung und führt verstärkt Personenkontrollen an der Grenze zu Guatemala durch, sodass bereits deutlich weniger Menschen überhaupt bis zur US-amerikanischen Grenze gelangen.
Derweil wird an der Tucson High Magnet School das Stück Our little Bordertown gespielt. Die Schüler*innen feiern darin Migrationsbewegungen und verurteilen Rassismen. Im November dieses Jahres wird in Tucsons Stadtregierung darüber abgestimmt, ob die Stadt mit 500.000 Einwohner*innen eine Sanctuary City werden soll. Mit dem Sitz einer der wichtigsten Universitäten des Bundesstaats – der University of Arizona – gilt Tucson, im Gegensatz zu Arizonas Hauptstadt Phoenix, als progressiv. Im November wird sich zeigen, wie sehr. Und, wie viele Stadtpolitiker*innen der Grenzstadt derselben Meinung wie die Schüler*innen und viele Bewohner*innen sind.

 

NICARAGUA IST EIN RIESIGES HAUS

Te quiero mucho Essen für den inhaftierten Ehemann (Foto: Fred Ramos/Elfaro.net)

„Siehst du, Reisender, seine Tür ist offen, das ganze Land ist ein riesiges Haus. Nein, du hast nicht den falschen Flughafen erwischt: Steig einfach ein, du bist in Nicaragua.“
Julio Cortázar, 1980.

Im Haus der Familie Valle steht seit dem 14. Juli ein Stuhl leer. Und es ist nicht immer derselbe. Das Haus der Familie Valle in Managua ist ein Gefängnis, in dem eine Mutter, ihre beiden Töchter und ihr Sohn auf die Polizei warten, die eines Tages die Tür aufbrechen und sie verschleppen könnte, wie sie es bereits mit Hunderten getan hat. Sie wollen nicht weg. Das können sie nicht. Nicht, solange der Vater noch im Gefängnis El Chipote eingesperrt ist. Jemand muss ihm Essen bringen und ihn am Dienstag daran erinnern, dass er nicht allein ist, auch wenn es nur eine halbe Stunde ist. Dass sie immer noch da sind. Gemeinsam im Kampf gegen die Diktatur von Daniel Ortega und Rosario Murillo. Rebeca Montenegro, die Mutter, steht immer zuerst auf. Nachdem sie sich gewaschen und ihren Kaffee getrunken hat, legt sie Holzkohle auf den Herd. Das Rindfleisch wird solange gekocht, bis es schwarz wird, ein wenig hart. Rebeca kocht für ihren Mann, Carlos Valle, der seit mehr als hundert Tagen im Gefängnis sitzt, ohne dass gegen ihn Anklage erhoben worden ist.

Zum Mittagessen bereitet sie das Fleisch, den Reis, die Bohnen und Bananenchips und eine Flasche gefrorenes Wasser zu. Carlos wird etwas Gerste hinzufügen, um daraus Limonade zu machen. Die beiden Durapax-Schalen sind zum Platzen gefüllt. Sie schreibt den Namen ihres Mannes mit einem schwarzen Marker darauf. Unter dem Namen, drei Buchstaben: T.Q.M. – Te quiero mucho, auf Deutsch: Ich liebe dich sehr.
Rebeca ist bereit für ihre tägliche Pilgerreise in das dunkelste Gefängnis des Landes. Mit ihren 44 Jahren ist sie eine markante Erscheinung. Sie ist groß und stark. Aufrechte Haltung. Sie verabschiedet sich von ihrem Sohn David, 22 Jahre alt, bedächtig und langsam, groß und bärtig, und von ihren Töchtern: von der robusten Elsa, 19 Jahre alt und von der 16-jährigen Rebeca, schwarz gekleidet und schweigsam.

Rebeca kocht für ihren Mann, Carlos Valle, der seit mehr als hundert Tagen im Gefängnis sitzt 

Es wäre nicht das erste Mal, dass ihr Mann für eine Weile ohne Essen bleibt. Das bescheidene, aber gut organisierte Haus strahlt Festigkeit und Entschlossenheit aus, aber auch Traurigkeit, Erschöpfung, anhaltende Spannung und beständigen Konsum von Fernsehserien auf dem Sofa. Gerade ist das zehnte Kapitel der fünften Staffel von den Wikingern dran.Das Taxi, klapprig und von mehreren zugleich benutzt, weil es billiger ist. Keiner redet während der Fahrt. Jeder weiß es. Als sie ihren Kopf durch das Fenster schiebt und nach dem Preis fragt, sagt sie, wohin sie fahren wolle. Um nach El Chipote zu gelangen, muss man Luft holen und Mut haben. Das Gefängnis so mancher Diktaturen in Nicaragua wirft seit fast 90 Jahren seinen Schatten auf das an der Loma de Tiscapa gelegene Land, nahe dem Zentrum von Managua. Es befindet sich am Ende eines steilen Abhangs. Durchflutet von einem Wärmestrahl. Ein Dutzend Männer sitzt auf einer kleinen Mauer. In den Händen halten sie Holz- und Metallstangen. Als Rebeca an ihnen vorbeigeht, beladen und erschöpft, schlagen sie mit den Stangen auf den Boden. Klopf, klopf, klopf, klopf. Sie starren sie an – Verfolger. Vor dem Tor, Stille und Unbehagen.

Während des Wartens nähern sich die Frauen nacheinander und klammern sich an Taschen und Ordner voller Papiere. Ohne auf die Gitter und die Polizisten zu blicken, murmeln sie den Namen ihres Familienmitglieds und die Dauer seiner Inhaftierung. Ein Monat, drei Monate, sieben Monate. Diejenigen, die hier in dem Loch der willkürlichen Inhaftierung eingesperrt sind, wissen nicht, wessen sie beschuldigt werden. Es gibt keine Anklage gegen sie, sagen sie, noch wurden sie in vielen Fällen einem Richter vorgeführt. Die Polizei öffnet das Tor. Ohne ein Wort zu wechseln, fast ohne aufzublicken, nennt Rebeca den Namen des Gefangenen, Carlos Valle, übergibt die Taschen, zeigt ihren Ausweis, unterschreibt und muss wieder gehen. Wie alle anderen auch.

Alle drei Kinder waren alle schon in demselben Gefängnis inhaftiert wie ihr Vater

Von innen kommt ein offener Pick-Up mit quietschenden Reifen. Drei vermummte Polizisten, die sich an ihre Waffen klammern, nehmen einen Mann in Handschellen mit. Eine der Frauen erkennt ihre Mutter in der Kabine. Sie wird aufgeregt. Sie weint. Sie ruft: „Mama! Wo bringt ihr sie hin?“ Die anderen antworten. „Lauf, lauf, geh ein Taxi rufen, geh zum Gericht, da kannst du sie sicher sehen.“ Sie läuft allein bergab. Später werden wir erfahren, dass das Treffen mit einem Gefangenen im Gerichtsgebäude dazu führen kann, dass die ganze Familie in El Chipote landet. Auch für Rebecas Leben hat die Inhaftierung ihres Mannes Konsequenzen. Als Anwältin und Notarin wurde sie von ihrem Job in der Verwaltung entlassen, nachdem sie 16 Jahre lang auf dem Gebiet der technischen Ausbildung von Studenten gearbeitet hatte. Sie wurde geschlagen.

Die Familie Valle zahlt so ihr Leidensgeld für die Teilnahme am blau-weißen Aufstand gegen das Regime von Daniel Ortega und Rosario Murillo. Seit Beginn der Rebellion am 18. April 2018 gab es mehr als 300 Tote und mehr als 600 politische Gefangene. Tausende von Menschen sind ins Exil ins Ausland geflohen oder haben sich überall im Land in sicheren Häusern versteckt. Eine Zeitung, Confidencial, und zwei Fernsehsender, Esta Semana und 100% Noticias wurden verboten. Die übrigen kritischen Medien und ihre Journalist*innen sind bereit, den gleichen Weg zu gehen – Gefängnis oder Exil. Fast alle nicaraguanischen Nichtregierungsorganisationen, die gekämpft haben, wurden geschlossen; internationale Menschenrechtsorganisationen, die angeprangert haben, was in Nicaragua geschieht, wurden aus dem Land ausgewiesen. Familie Valle ist ein Opfer dessen, was die von der Organisation Amerikanischer Staaten eingesetzte Gruppe unabhängiger Expert*innen in ihrem Bericht über die Ereignisse in Nicaragua als von der Regierung begangene „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnet hat. Menschen wurden ermordet, verfolgt, willkürlich inhaftiert, beschuldigt, geschlagen, in irgendeiner Weise gefoltert, gedemütigt, bedroht und mit Entlassung von ihren Arbeitsplätzen für ihr politisches Engagement bestraft. Wie fast alle nicaraguanischen Geschichten ist die politische Geschichte von Carlos Valle ein Kreislauf des Kampfes gegen die Diktatur, der sich in sich schließt. Sie beginnt während der Diktatur von Anastasio Somoza in den 1970er Jahren und setzt sich während der Diktatur von Daniel Ortega und Rosario Murillo, fast ein halbes Jahrhundert später, fort. Das Gefängnis El Chipote ist der rote Faden, der Nicaragua während seiner Diktaturen verbindet. Die Zeit vergeht und die Unterdrückung wiederholt sich. In Nicaragua gibt es heute mehr politische Gefangene als am Ende der Somoza-Diktatur.

Nicht vollständig Ein leerer Stuhl am Tisch der Familie Valle (Foto: Fred Ramos, Elfaro.net)
Das Leben ihres Mannes Carlos und die Politik seien eins, sagt Rebeca. Als er 16 Jahre alt war, sei er von zu Hause weggelaufen. Er war Mitglied der sandinistischen Guerilla. Er hat immer noch seinen rechten Arm voller Scharniere. Nach dem Sieg der Revolution arbeitete er im Bereich der Grundnahrungsmittel und der Lebensmittelverteilung. Er sei enttäuscht gewesen, erzählt Rebeca, von der Kluft zwischen dem Sozialismus in Worten und dem in Taten. Irgendwann ging er ins Exil und kehrte als Mitglied der Konstitutionalistischen Liberalen Partei, deren Stadtrat er von 2001 bis 2007 in Managua war, nach Nicaragua zurück. Dann arbeitete er als Baseball-Reporter für den Radiosender Corporación und fuhr sogar Taxi. Das Autowrack liegt noch im Innenhof des Hauses. „Mein Vater hat uns immer beigebracht, für das zu kämpfen, woran wir glauben“, sagt David. „So sind wir mit klarer Entschlossenheit zum Protest gekommen. Das nimmt einem die Angst nicht, aber man fühlt sich dem Kampf verbunden.“ Carlos Valle wurde am 15. September 2018 auf der Straße verhaftet. Er kehrte nach einem Protestmarsch mit seiner Frau, seiner jüngsten Tochter und dem Sohn nach Hause zurück. Sie trugen ein Banner, auf dem sie die Freilassung der 19-jährigen Elsa forderten, der mittleren Tochter. Seit zwei Monaten war sie da schon im Gefängnis.In der Nähe des Marktes Roberto Huembes seien sie von einem Mann auf einem Motorrad angesprochen worden, erzählt Rebeca. „Danke Gott, dass deine Tochter nicht getötet oder in einem Kanal vergewaltigt wurde“, habe der Mann auf dem Motorrad gesagt. „Wir Nicaraguaner haben Blut in den Adern und kein Gelee“, erklärt Rebeca, also versetzte Carlos ihm einen Schlag auf den Helm. Rückblickend glaubt Rebeca, dass es eine Falle war: Jemand sollte Carlos provozieren, um somit einen Grund zur Verhaftung zu schaffen.

Einige Blocks später sei eine Patrouille aufgetaucht: Ein halbes Dutzend Polizist*innen und ein paar Männer in Zivil. Carlos habe das Telefon und die Brieftasche weggeworfen und versucht zu fliehen, erzählt Rebeca, schaffte es aber nicht. Die 16-jährige gleichnamige Tochter Rebeca erzählt, dass sie einzugreifen versuchte. „Ich begann, die Polizisten zu schlagen, und sie schlugen mir gnadenlos ins Gesicht und schoben mich weg“, sagt sie. Mutter und Vater wurden mitgenommen, sie selbst blieb zurück, den Bruder David hatte sie aus den Augen verloren. Carlos wurde auf die Ladefläche des Trucks geworfen. „Ich habe mit den Polizisten gerangelt, bis ich nicht mehr konnte“, sagt Rebeca, die Mutter. „Ich bin hochgestiegen. Ein Polizist, der über meinem Mann war, richtete die AK (Maschinengewehr) auf ihn. ‚Erschieß ihn‘, sage ich, ‚ich werde dich bis in die Ewigkeit verfolgen.‘“ Als sie an der Polizeistation 5 ankamen, wurde Rebeca getreten und weggezerrt. „Der Mund meines Mannes war voller Blut.” Während der Verhaftung, erzählt David, habe er sich eine Nummer auf dem Fahrzeug gemerkt, mit dem seine Eltern weggebracht wurden: Distrikt Fünf. Da sei er hingegangen. Und dann ebenfalls verhaftet worden. Vater und Sohn wurden dann nach El Chipote geschickt. Sie wurden beide auf der Ladefläche eines Lieferwagens abgelegt. Acht Stunden habe ein kollektives Verhör gedauert, erzählt David. Man habe sie beleidigt, Dinge gesagt wie: „Ihr Hunde werdet sterben.“ Am Ende konnte David nichts angelastet werden. Sein Vater, Carlos, blieb in El Chipote.

Die Kinder von Carlos Valle dürfen ihn nicht besuchen

Eine ungeschriebene, aber praktizierte Regel besagt: Niemand, der jemals Gefangene*r in El Chipote war, darf einen Gefangenen in El Chipote besuchen. Alle drei Kinder von Carlos Valle waren bereits in El Chipote. Zuerst Elsa, als Verantwortliche der Lebensmittelversorgung der Studierendenproteste. Sie war beim Mittagessen im Haus einer Freundin. „Die Polizei öffnete gewaltsam das Tor. Wir wurden von den Spitzeln in der Nachbarschaft denunziert, die uns hereinkommen gesehen hatten. Nach einer Fehlgeburt im Gefängnis und einer Inhaftierung unter üblen Bedingungen ist Elsa Ende September schließlich frei gekommen. Im November machen die Schwestern Elsa und Rebeca den Fehler, an ein Gerücht zu glauben. Jemand sagte ihnen, dass ihr Vater vor Gericht kommen würde. Sie zögerten keine Sekunde. Sie nahmen im Gerichtssaal Platz. Allein. Mit einem Plakat. Sie gaben mehrere Interviews, während sie auf das Fahrzeug warteten, das ihren Vater bringen würde. Es kam nie. Stattdessen kamen zwei Patrouillen mit einem Dutzend Polizist*innen darin. Sie nahmen sie fest wegen der Interviews. Die Journalist*innen entfernten sich. Elsa hat darüber nachgedacht, das Land zu verlassen.

Tausende sind nach Costa Rica geflohen. Fast alle ihre Compañerxs aus der UPOLI-Besetzung sind dort. Sie hat es einmal versucht. Sie hatte Angst, heimlich über die Grenze zu gehen. Wieder ins Gefängnis zu kommen, wenn sie verhaftet würde. Sie zieht das Haus vor, auch wenn es irgendwie auch ein Gefängnis ist.„Ich bin zu allem bereit. Wenn du zu den Waffen greifen musst, mach ich das“, sagt die Mutter. David widerspricht ihr. „Wir haben in so kurzer Zeit so viel erreicht, dass wir mit Waffen nicht weiter kommen werden. Du musst standhaft bleiben und warten“, sagt er. Er spielt mit seinem Handy. Auf der Hülle ist eine Pistole abgebildet. „Wenn wir Waffen hätten, würde diese Regierung nicht einmal zwei Wochen weiter bestehen”, sagt die Mutter hartnäckig, und bringt eine Tatsache zur Sprache, auf die David nicht besonders stolz ist. Das Taxi im Innenhof. Das kaputte Taxi. David hat es zertrümmert. Die Spannung, eingeschlossen zu sein. Die Erinnerung an die toten Compañerxs. Der Groll. Der Stress. Die allseits gegenwärtige Gewalt berührt jeden und gibt einem Monster Gestalt, das jeder zähmt und so handhabt, wie er kann.

 

FEST AN DER SEITE DER BEVÖLKERUNG

Misstrauen gegenüber Parteien Das Lebensmotto von Victor Pey (Foto: Nils Brock)

Victor Pey wurde im August 1915 in Madrid geboren. Er wuchs in einem anti-autoritären Ambiente und einem Elternhaus voller kritischer Ideen auf. Sein Vater Segismundo war Schriftsteller und antiklerikaler Priester, der zivilen Ungehorsam predigte und die Soutane irgendwann ganz an den Nagel hing. Von seinem Sohn Víctor wissen wir, dass er sich während des spanischen Bürgerkriegs (1936-1939) den Anarchosyndikalist*innen anschließt und am 24. Juli 1936 mit der “Kolonne Durruti” von Barcelona los zieht, um die Stadt Zaragoza aus den Händen der frankistischen Truppen zu befreien. Später ist er für die republikanische Regierung in Barcelona aktiv, um die zivile Industrie Kataloniens auf die Kriegsproduktion umzustellen. Als Barcelona fällt, flüchtet er mit seinem Bruder Raúl zu Fuß über die Pyrenäen. „Zum Glück hatten wir einen Kompass mit“, erinnert sich Pey in einem Interview mit dem Rechercheprojekt Allendes Internationale. „Aus Angst vor Bombenangriffen war auf spanischer Seite nachts alles abgedunkelt. Als wir eines Tages Lichter sahen, war uns klar, dass wir französischen Boden erreicht hatten.“
Die Familie Pey wird eine Zeit lang im Konzentrationslager Rivesaltes, in der Nähe von Perpiñán interniert. Französische Freimaurer erreichen ihre Freilassung und bringen sie nach Lyon, von wo aus Víctor heimlich nach Paris weiterreist. Abends arbeitet er für die Exilregierung der spanischen Republik in der Rue Salazar, tagsüber sucht er fieberhaft nach einem persönlichen Ausweg.

Pablo Neruda als Fluchthelfer

Beim Spazierengehen liest er eines Nachmittags an einem Zeitungskiosk die Nachricht, der Dichter Pablo Neruda halte sich als Sonderbeauftragter Chiles in Paris auf, um spanische Flüchtlinge auszuwählen, die in seinem Land politisches Asyl erhalten würden. Unverzüglich sucht Pey das Gespräch mit ihm. Neruda notiert seinen Namen, verspricht aber nichts. Monate später, am 4. August 1939, legen Pey und seine Familie an Bord des Ozeandampfers Winnipeg in Bordeaux ab. “Ich erinnere mich an diesen Moment, als die Winnipeg den Anker lichtete und sich in Bewegung setzte”, erzählt Pey. “Auf dem Achterdeck hatte sich ein Chor aus Katalonen gebildet und intonierte das Lied „L’Emigrant“. Mich hat das tief beeindruckt, das ist unvergesslich.“ Einige Tage später trifft das Schiff in Valparaiso ein und noch während der Begrüßung der spanischen Flüchtlinge lernt Pey den damaligen Gesundheitsminister Salvador Allende kennen – der Beginn einer großen Freundschaft, die erst mit dem gewaltsamen Tod Allendes am 11. September 1973 endet. Pey findet eine Beschäftigung als Landvermesser und ermöglicht so seiner Familie eine gesicherte Existenz. Noch in den 1940er Jahren beginnt er Artikel für die Zeitschrift La Hora zu schreiben. Während dieser Zeit freundet er sich mit dem Journalisten Darío Sainte-Marie an, der in den 1950er Jahren die Tageszeitung Clarín gründen wird. Dieses Blatt erlangt sehr bald große Beliebtheit. Nicht nur aufgrund seiner gewagten Sprache, sondern auch wegen seiner teils reißerischen Schlagzeilen und Aktfotos (mitunter begleitet von machistischen und homophoben Kommentaren). In den 1960er Jahren hatte die Auflage bereits 150.000 Exemplare erreicht. Das Motto des Clarín lautete: “firme junto al Pueblo”, was soviel heißt wie “fest an der Seite der Bevölkerung”.Dem Clarín gelingt es, die Hegemonie der rechten Unternehmer-Blätter zu brechen. Die Zeitung repräsentierte die Aufstiegsambitionen der breiten Masse und unterstützte ab 1969 die Präsidentschaftskandidatur von Allende. Pey war es dann, der den Clarín 1972 kaufte und damit fortan “beständig und schlagkräftig” die Politik der Regierung bis zum letzten Tag verteidigte. “Jeden Tag, wenn ich gegen halb acht abends aus der Druckerei kam, brachte ich dem Präsidenten das neueste Exemplar”, erzählt Pey. So auch am 10. September 1973. Am nächsten Morgen jedoch, um 4 Uhr verhindern Armeeeinheiten die Auslieferung der aktuellen Ausgabe. Wenige Tage später konfisziert die Militärjunta den Sitz des Clarín. Nach Herausgeber Pey wird gefahndet und einmal mehr ist er gezwungen, um Asyl zu bitten, diesmal in der Botschaft Venezuelas, von wo aus er zuerst nach Caracas und später nach Paris reiste.

In den 1990er Jahren gründet Pey gemeinsam mit seinem Freund, dem spanischen Anwalt Joan Garcés, der in Chile als Berater der Regierung der Unidad Popular gewirkt hatte, die Stiftung “Fundación española Salvador Allende”. Die Institution hat 1998 entscheidenden Anteil an der Verhaftung von Augusto Pinochet in London und dem darauf folgenden Prozess wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Bereits einige Jahre vorher, nach Ende der Diktatur, war Pey nach Chile zurückgekehrt und beteiligte sich aktiv am Kampf für die Menschenrechte sowie an der Erinnerungsarbeit für die Unidad Popular. 2015 ehrte ihn die Universität von Chile zu seinem 100. Geburtstag mit der “Medaille des Rektorats”. Bei der Verleihung sagte Pey: “Für uns bedeutet Chile Freiheit, wir fanden eine Beschäftigung, hier arbeitete ich, hier verliebte ich mich […], hier unterstütze ich die Regierung von Salvador Allende, den Anführer eines Sozialismus ohne Blutvergießen, den chilenischen Weg zum Sozialismus, mit Empanadas und Rotwein [und] hier stehe ich jetzt vor euch, bei dieser Hommenage die mir so viel bedeutet.”

Eine Entschädigung für die Enteignung der Zeitung Clarín erreicht Pey bis zuletzt nicht

Bis zu seinem Tod am 5. Oktober 2018 versuchte Pey das Grundstück vom Clarín zurückzubekommen und von Chile eine Entschädigung für die Enteigung zu erwirken – ohne Erfolg. Dabei hatte eine internationales Schiedsgericht der Weltbank (Ciadi) die Rückgabe angeordnet und den chilenischen Staat zur Zahlung von 10 Millionen Dollar verurteilt. Doch der Fall konnte nie abgeschlossen werden, da sich ausnahmslos alle Regierungen nach Ende der Diktatur weigerten, dem Schiedspruch nachzukommen.
Im Alter von 103 Jahren erinnert sich Pey besonders gern an seine Zeit als Professor für Industrieingenieurwesen an der Staatlichen Technischen Universtität (UTE) und die langen, schlaflosen Nächte, in denen er Allende beriet. Über die revolutionären Zeiten die Pey mitgestaltete, sagte er: “Meine Position allem gegenüber war stets eine misstrauische Haltung gegenüber politischen Parteien. Das ist meine libertäre Essenz, die ich mir immer bewahrt habe.”

EIN ALTER LANDKONFLIKT ESKALIERT

Man geht vom Schlimmsten aus. Die Menschen leben in der ständigen Angst, von bewaffneten Gruppen angegriffen zu werden. Das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas (Frayba) ist in der Region aktiv und warnt vor einer weiteren Eskalation. „Laut unseren Informationen werden Waffen gekauft, sie [Paramilitärs] belagern die Gemeinden und terrorisieren sie“, sagte der Direktor der Organisation Pedro Faro Ende November 2017. Über 5.000 Menschen sind aus den Gemeinden der Munizipien Chenalhó und Chalchihuitán in die Berge geflohen. Viele haben mit dem Konflikt gar nichts zu tun, müssen sich aber in den Bergen verstecken, bei Kälte, mit wenig Essen, von den Angreifer*innen eingekesselt und von der Außenwelt durch blockierte Straßen abgeschnitten.

Immer wieder flammt der Konflikt auf, „vor vier Jahren flohen wir und auch vor drei Jahren. Jetzt sind wir wieder Vertriebene. Wir leiden sehr, es gibt alte Menschen und es ist sehr kalt. Die Kinder sind krank“, beschreibt eine betroffene Frau die Situation.

Seit im Oktober 2017 Samuel Pérez Lunain in der Region von Chalchihuitán bei der Arbeit auf seinem Feld erschossen wurde, häufen sich die Angriffe – auch in der Region Chenalhó. „Als sie auf uns schossen, schliefen wir. Die Kugel ging über uns durch die Luft“, schildert eine Mutter den nächtlichen Angriff auf ihr Haus. Zwischen den bewaffneten Gruppen kommt es immer wieder zu Schießereien. Enige Häuser wurden verbrannt. Die Menschen fürchten um ihre Tiere und Ernten, ihre Lebensgrundlagen.

Der Konflikt begann im Jahr 1973 mit einer Agrarreform. Damals wurde die Grenze zwischen Chenalhó und Chalchihuitán anhand eines Flussverlaufes gezogen. 1981 verschoben Bewohner*innen Chalchihuitáns diese Grenze durch Mauern und Zäune auf die Seite Chenalhós und vereinnahmten den Zugang zum Fluss. In der Folge rissen Bewohner*innen Chenalhós die Grenzbefestigung ein. In kurzer Zeit entwickelte sich daraus ein bewaffneter Konflikt. Chalchihuitán reklamierte 800 Hektar von Chenalhó, in beiden Munizipien bildeten sich bewaffnete Gruppen und Familien wurden vertrieben. Laut dem Menschenrechtszentrum Frayba präsentierte eine Kommission im vergangenen Jahr einen Lösungsvorschlag, doch die Regierung habe die Voraussetzungen für ein Übereinkommen mit den Betroffenen nicht geschaffen. Auch seien die Betroffenen nicht in den Prozess eingebunden worden.

„Man weiß nicht, welche Interessen es dort sind, diese Region wieder in einen Krieg zu stürzen. Unsere Erklärung ist, so weit wir es einschätzen können, dass seit dem Massaker in Acteal (1997 wurden dort 45 Menschen ermordet, Anm. d. Red.) ein Klima der Straffreiheit geschaffen wurde. Die Akteure mit Verbindung zur Regierung können machen was sie wollen“, schildert Direktor Faro. Mit einer öffentlichen Erklärung und einer Eilaktion versucht Frayba nu,n auf das Risiko für Leben und Sicherheit der Gemeinden aufmerksam zu machen.

Die Regierung von Chiapas reagierte inzwischen mit medizinischer Hilfe und Polizei- und Militärpräsenz, einen Monat nach dem Beginn der Auseinandersetzung und nach einem Aufruf der UNO an die mexikanische Regierung, die humanitäre Krise zu beachten.

Darüber hinaus äußerte die UN-Sonderbeauftragte für die Rechte indigener Völker, Victoria Tauli-Corpuz, nach einem Besuch der Region Mitte November ihre generelle Sorge über systematische Menschenrechtsverletzungen in Mexiko. Sie habe „schwerwiegende Muster von Ausgrenzung und Diskriminierung“ beobachtet, „die das Fehlen von Zugang zur Justiz und andere Menschenrechtsverletzungen reflektieren.“

 

VERFOLGUNGSJAGD

„Er sah auf seine Hände. Kriminelle, jawohl. Wegelagerer, die sich ihren Lebensunterhalt verdienen.“ Das stellt der Soldat León Almansa am Ende des Romans fest. Gleichermaßen könnte dieses Zitat die Erkenntnis mehrerer Protagonist*innen aus Antonio Ortuños Madrid, Mexiko sein. Gewalt und Brutalität ziehen sich durch den ganzen Roman. Ob aus Rache, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen oder im Kampf ums eigene Überleben, gnadenlos wird gejagt und vergolten.

Der Roman ist die Geschichte einer Familie aus der Sicht verschiedener Generationen, aus zwei Jahrhunderten und über zwei Kontinente hinweg erzählt. Dabei verknüpft Ortuño in beinahe filmisch anmutenden Szenen die Zusammenhänge. Vom spanischen Bürgerkrieg wird ins Jahr 1997 gesprungen, in welchem der Enkel des Anarchisten Yago, einst aus Madrid vor Franco geflüchtet, nun selbst zurück in das Land seiner Großeltern flieht. Omar wird nämlich vom Handlanger eines korrupten Gewerkschaftsbosses (Mariachito genannt) verfolgt, weil er als heimlicher Geliebter von Mariachitos Freundin, der sich obendrein auch noch am Tatort befand, fälschlicherweise für dessen Mord verantwortlich gemacht wird.

Madrid, Mexiko ist nicht nur eine einzelne spannende Verfolgungsjagd, sondern bietet gleich mehrere davon, und das auf verschiedenen Ebenen. Da ist beispielsweise die Cousine Omars, die ihm zur Flucht verhilft und in gewisser Hinsicht auch Fluchthelferin der Literatur ist. So verfolgt und beschafft sie Manuskripte über Kontinente hinweg, um sie an gut zahlende, geheimnisvolle Kund*innen zu verkaufen, deren Ziel es ist, dass selbige niemals an die Öffentlichkeit gelangen.

Obwohl Flucht und Verfolgung im Vordergrund des Geschehens stehen, erzählt Ortuños neuer Roman doch vor allem vom Ankommen und von der Identitätssuche in der Fremde. Madrid, Mexiko ist auch eine Geschichte verschiedener Versuche, dem Schicksal zu entkommen und eine Heimat zu finden, Migrations- und gesellschaftliche Konflikte mit eingeschlossen. „So viel Foucault, um am Ende in irgendeinem Scheißladen ein Tüllkleid zu kaufen; So viel Derrida, um dann für einen Bauern Tortillas zu backen.“ Die Worte Omars und seiner Kommilitonin, die mit einem Landwirt aus der Provinz, aus der sie stammt, verlobt ist, treffen es auf den Punkt. Ortuño zeichnet ein authentisches Bild der konservativen mexikanischen Gesellschaft und erzählt auch von der Rebellion gegen das eigene Schicksal.

Mögen die einzelnen Charaktere auch sehr unterschiedliche Biographien haben, die auf verschiedene Weisen miteinander verwoben sind – am Ende steht eine Nachricht klar und deutlich für alle Beteiligten. Die Menschen glichen sich seit Kain nur in einem: „Sie seien alle Verbrecher.“

 

FILME IN ZEITEN DES FRIEDENSPROZESSES

Beim Gedanken an den kolumbianischen Film fallen den meisten Menschen eher Filme über statt aus Kolumbien ein – etwa die erfolgreiche Netflix-Serie Narcos oder der US-amerikanische Spielfilm Blow.

Während viele Produktionsfirmen Kolumbien auf die Aktivitäten des wohl bekanntesten Drogenhändlers der Welt, Pablo Escobar, reduzieren, ist im Land selbst in den vergangenen Jahren eine vielfältige Kinoszene entstanden. Filme wie Der Schamane und die Schlange, der 2016 unter anderem in der Kategorie Bester Fremdsprachiger Film für den Oscar nominiert wurde, versuchen, ein alternatives Bild des Landes zu zeichnen.

Nach mehr als 50 Jahren bewaffneter Auseinandersetzung unterzeichneten Vertreter*innen der kolumbianischen Regierung und der Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte (FARC), der zu diesem Zeitpunkt größten und ältesten aktiven Guerillagruppe Lateinamerikas, vor knapp einem Jahr einen lang ersehnten Friedensvertrag.

„Ich glaube, durch den Friedensprozess hat sich die Perspektive im kolumbianischen Kino etwas verschoben“, erzählt Elizabeth Gallón, eine der Organisatorinnen des Filmfestivals Filmouflage. Das Festival versucht seit 2012, deutsche und kolumbianische Filmemacher*innen zu vernetzen. Dazu zeigen die Organisatorinnen bei verschiedenen Events beispielsweise Filme aus dem jeweils anderen Land. Mitte Oktober widmete sich die fünfte Auflage des Filmouflage-Festivals in Berlin der Erinnerungsarbeit in Kolumbien sowie weiblichen Perspektiven auf den Binnenkonflikt. Im November sind in Bogotá Kurzfilme zu sehen, die unter dem Motto „Corpografías“ das Thema Körper und Gender betrachten.

Die Filme versuchen, ein alternatives Bild des Landes zu zeichnen.

Auch zu einer Zeit, als man sich in Kolumbien kaum sicher bewegen konnte, gingen Filmemacher*innen in die entlegenen Ecken des Landes. Doch mittlerweile ist auch das Bedürfnis größer geworden, den eigenen Horizont aus dem städtischen Umfeld um die Perspektive jener Menschen zu erweitern, die nach wie vor von Gewalt betroffen sind. Auch die urbane Mittelschicht will längst nicht mehr nur über diese Menschen reden, sondern mit ihnen: „Die Filmemacher versuchen nicht mehr nur, die FARC oder auch die paramilitärischen Gruppen von außen zu betrachten, sondern trauen sich jetzt, deutlich tiefer hineinzugehen und die Innenperspektive zu zeigen“, beschreibt Gallón.

Doch auch wenn sich die Blickwinkel geändert haben – „die zentralen Themen des kolumbianischen Films sind die gleichen geblieben, weil auch die Probleme immer noch die gleichen sind“, erzählt sie.

Seit den 2000ern haben sich die Sicherheitsbedingungen in Kolumbien deutlich verbessert. Immer mehr Filmemacher*innen verlassen die urbanen Zentren, um die Stimmen der bislang marginalisierten Landbevölkerung einzufangen. Dabei hilft auch der technische Fortschritt: Durch die Digitalisierung ist es deutlich einfacher und günstiger geworden, Filme zu drehen. Außerdem werden nun auch vermehrt Filmseminare in den bislang vernachlässigten Landesteilen angeboten. Die von der Gewalt und dem Konflikt betroffenen Menschen sollen auf diese Art selbst zu Wort kommen, die Stimmen hörbar gemacht werden, die sonst untergehen.

“Durch den Friedensprozess hat sich die Perspektive im Kino etwas verschoben.”

Der kolumbianische Ableger des Dokumentarfilmfestivals „Ambulante“, das 2005 unter anderem von den mexikanischen Schauspielern Gael García Bernal und Diego Luna begründet wurde, gibt etwa im Rahmen des Programms „Ambulante más allá“ (Etwa: „Weiter schlendern“) Workshops in abgelegenen Ecken des Landes. Ziel ist es, junge Filmemacher*innen zu erreichen und fortzubilden, die nicht über die notwendigen Mittel verfügen, ihre Geschichten einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Sie sollen darin bestärkt werden, die Geschichten aus ihrer eigenen Perspektive heraus und in ihrer eigenen Ästhetik zu erzählen.

Filme wie La Tierra y la Sombra („Land und Schatten“) von César Augusto Acevedo, der 2015 unter anderem die Goldene Kamera beim Filmfestival von Cannes gewann, stehen dabei exemplarisch für das neue kolumbianische Kino. Der Film, dessen Produktion acht Jahre in Anspruch nahm, beschreibt in langen Einstellungen, langsamen Kamerafahrten und langen Momenten des Schweigens die Geschichte einer Familie, die zwischen Armut und Zuckerrohr auf einer einsamen Finca um ihr Überleben kämpft. Acevedo selbst beschreibt den Film als „Katharsis“, als „Form der Heilung und Reflexion über die Bedeutsamkeit der Familie“.

Andere Produktionen wie etwa die Crónicas Desarmadas („Chronik einer Entwaffnung“, 2016) erzählen den Friedensprozess aus unterschiedlichen Perspektiven nach und zeigen dadurch auch die Ambiguität der aktuellen Entwicklungen in Kolumbien.

Viele der neu entstandenen Filme thematisieren Probleme wie Vertreibung und Binnenflucht aus sehr individuellen Perspektiven heraus. So wird auch der Konflikt selbst personalisiert, die damit verbundenen Erfahrungen werden für das Filmpublikum erfahrbar gemacht. Und so ändert sich vielleicht auch die Perspektive bei den Betrachtenden: Von morbidem Schauer beim Anblick (fiktiver) Episoden aus dem Leben Escobars hin zu einem wirklichen Mitempfinden angesichts des jahrzehntelangen Unglücks, aber auch angesichts der Momente der Hoffnung.

 

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