Javier ist erst neun, als er seine Reise antritt, solito. Im April 1999 verlässt er sein Zuhause im salvadorianischen La Herradura, um seinen Eltern, die vor dem Bürgerkrieg geflohen sind, in die USA zu folgen. Zurück bleiben seine Tante Mali, Oma Neli, Freunde und vielleicht auch seine Kindheit. Der gleiche Coyote (Schlepper), der Jahre zuvor seine Mutter in die USA gebracht hat, soll nun ihn und fünf andere Menschen sicher über die Grenze schmuggeln. Sein Opa begleitet ihn noch im Bus ins guatemaltekische Tecún, danach ist er allein.
Was die Flucht für ein Kind in dem Alter bedeutet, beschreibt Javier Zamora, der lange nicht über das Erlebte sprechen konnte, eindrücklich. Er schildert Details wie die Hilflosigkeit dabei, sich die Schuhe zuzubinden oder auf die Toilette zu gehen, bis hin zum Schauspiel, um als Mexikaner durchzugehen.
Sein Weg mit Transporter, Bus und Boot wirkt an manchen Stellen wie eine Abenteuerreise, wenn er von Witzeleien mit seinen Reisegefährten erzählt, von Sonnenaufgängen in der Sonora-Wüste schwärmt oder darauf vertraut, dass sein cadejo ihn beschützen wird. Dennoch ist die brutale Realität allgegenwärtig und entfaltet sich auf besondere Weise durch die Perspektive eines Kindes, das vieles nicht benennen, aber intensiv fühlen kann.
Trotz all dieser körperlichen und seelischen Strapazen, der anhaltenden Anspannung und ewiger Zweifel gelingt es Javier, die Komplexität seiner Gefühle nachvollziehbar zu machen und auf seine Außenwelt zu übertragen. Fremde Menschen werden zur Familie – manche nur für einen sehr kurzen Moment, andere bis zum Ende – so eng, dass es beim Lesen schmerzt, wenn sie wieder auseinandergerissen werden.
Die Übersetzung von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann schafft es mit den zahlreichen umgangssprachlichen Ausdrücken, die direkt aus dem spanischen Original übernommen wurden, Javiercitos Reise auf sprachlicher Ebene verständlich zu machen. Denn der hat nicht nur mit den Unterschieden von mexikanischem und salvadorianischem Slang zu kämpfen, sondern auch mit den tortillas, die so anders sind als zu Hause, und mit der immer wiederkehrenden Frage nach seiner Hautfarbe. „Ich weiß nur, dass ich ein indio bin“.
Seine Flucht über tausende von Kilometern ist eine von unzähligen und zugleich einzigartigen Migrationsgeschichten, die im Kopf und im Herzen bleibt. Alle Emotionen werden aneinandergereiht, wieder durcheinandergeworfen und dennoch – oder gerade deshalb – bleibt Javiers Stimme so klar und unverhüllt. Viele Fragen bleiben offen: Was wird aus den Reisegefährt*innen, der zurückgelassenen Familie? Wie sehen die Geschichten anderer aus, die immer wieder ihr Leben riskieren, um die Grenze zu überqueren? Wohin mit all diesen erschütternden Erinnerungen, die viel zu groß für einen kleinen Jungen sind? Púchica, cipotillo.