Im Weltall verklingen die Schreie

Als der Geheimdienstagent Andrés Valenzuela Morales im Jahr 1984 die Redaktionsräume der Zeitschrift Cauce betritt, um auszusagen, ist die Erzählerin von Nona Fernández’ Roman Twilight Zone noch ein Kind. An das Gesicht des Agenten auf der Titelseite erinnert sie sich aber genau. Denn „jeder konnte der Mann sein, der gefoltert hatte. Auch unser Lehrer an der Oberschule.“

Die Erzählerin hat den Agenten niemals persönlich kennengelernt, aber er begegnet ihr immer wieder. Zuletzt, als sie für einen Film über die Vicaría de la Solidaridad, eine katholische Organisation, die Opfern der Diktatur half, recherchiert. Er wird als „Mann, der gefoltert hat“ zum Ausgangspunkt, die Geschichte der Diktatur zu erzählen und zu erfassen, wie die (mangelnde) Erinnerung daran die chilenische Gesellschaft weiterhin durchdringt.

Dazu lässt Fernández ihre Erzählerin die Geschichte weiterspinnen – ein großer Teil der Handlung findet in ihrer Vorstellungswelt statt. Besonders diese Teile bieten eine tiefe, spannende, zugleich schreckliche Annäherung an die Unaussprechlichkeit der Folter und des gewaltsamen Verschwindenlassens.

Um sich dem Unerklärlichen zu nähern, es gleichzeitig anschaulicher und erträglicher zu machen bedient sich die Erzählerin Anleihen aus ihrer Lieblingsserie Twilight Zone. Wie der in einer Folge der Serie auf einem fernen Planeten des Weltalls gestrandete Astronaut sind die Protagonist*innen ihrer Geschichte verloren in der Todesmaschinerie der Militärdiktatur. Sie zeigt die komplexen Widersprüche der Personen auf, die sich nur schwer an die grausame Arbeit der Folter gewöhnen und derer, die ihre Genoss*innen verraten. Umso liebevoller ist auf der anderen Seite die Darstellung der Erzählerin, wenn es um die Verschwundenen geht, von denen oft nur Urlaubsfotos geblieben sind. Ihnen gibt Fernández eine Stimme, die weit über die Rolle als Opfer hinausgeht. Sie stellt sich vor, was für Menschen die Verschwundenen im ausgelassenen Moment der Aufnahme der Fotos waren, aber auch im Moment ihres Todes.

Ergänzt wird diese imaginäre Handlung von autofiktional anmutenden Szenen, die aus der persönlichen Perspektive der Autorin selbst erzählt scheinen. Diese handeln von den Unzulänglichkeiten institutionalisierter Erinnerungskultur und Rückblicken auf die vermeintlich normale eigene Kindheit vor dem Ausnahmezustand der Militärdiktatur.

Dabei stellt sie auch immer wieder den Bezug zur Gegenwart her. Etwa, indem sie die Angst der Erzählerin um ihre Kinder mit Geschichten Verschwundener verknüpft, die vor den Augen ihrer Familie entführt worden sind. Dies macht das Ganze auf schmerzhafte Weise aktuell. Es wird deutlich, dass das Vergangene wieder geschehen kann.

Fernández nimmt die Leser*innen mit auf ihre Reise durch Vorstellung, Manipulation, Täuschung und Wahrnehmung und wendet sich manchmal direkt an sie, was die Lektüre mitreißend und fesselnd macht. Der großartig von Friederike von Criegern übersetzte Roman wurde mit dem Premio Sor Juana Inés de la Cruz ausgezeichnet. Ein schmerzhaftes, liebevolles und wichtiges Buch.


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Eine Fabrik von Schuldigen

Triste Nachbarschaft Julia lebt neben dem Gefängnis El Almate, um ihren Mann zu besuchen (Foto: Anne Haas)

„Immer wenn ich das erzähle, muss ich weinen. Weil ich das wirklich erlebt habe”, sagt Julia Hernández Hernández. Die 48 Jahre alte Frau mit schulterlangen, mit einer Spange nach oben gesteckten Haaren in Leggins und einem geblümten Shirt wischt sich die Tränen weg und versucht sich an einem entschuldigenden Lächeln. Sie sitzt umgeben von circa zwanzig Personen. Sie alle sind Überlebende oder Angehörige von Betroffenen von Folter. Víctimas, Opfer, wie einige mit einem gewissen Selbstbewusstsein sagen. Die Selbstbezeichnung ist für viele zum Kampfbegriff geworden. Als víctimas sind sie auf ewig gezeichnet von der Ungerechtigkeit des Staates und repräsentieren zugleich Widerstandskraft. Denn hier sind sie: Trotz der Gewalt konnten sie nicht zum Schweigen gebracht werden.

Allein im Bundesstaat Chiapas begleitet und dokumentiert das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de Las Casas (Frayba) aktuell über fünfzig Fälle von willkürlicher Verhaftung und Folter. Regelmäßig organisiert das Zentrum Treffen für Überlebende und deren Familien zum Austausch und gegenseitiger Unterstützung. Aus den Treffen hat sich das lose Netzwerk der Vereinten Familien gegen die Folter und für die Verteidigung der Menschenrechte gegründet. Sie stützen einander nicht nur emotional, sondern auch ganz praktisch beim Gang auf das Amt oder zum Gericht: Termine, die für Personen, die einmal die ungehemmte Gewalt des Polizei- oder Justizaparrates erlebt haben, zu einem schweren Kraftaufwand werden.

Sie alle stehen an verschiedenen Punkten einer sich stets wiederholenden Geschichte. Meistens beginnt sie mit Sätzen wie „Wir sind einfache Leute“ und „Sie haben mich / meinen Mann / meinen Sohn / meinen Bruder einfach festgenommen. Ich wusste tagelang nicht warum und wo ich / er war.“ Darauf folgen in der Regel haarsträubende Berichte von Foltererfahrungen, oftmals im Keller oder Nebenraum einer Staatsan­waltschaft oder direkt im Gefängnis – wie sich später rekonstruieren lässt. Die Folter dauert je nach Laune der Polizist*innen und Widerstandskraft der Betroffenen von einigen Stunden bis zu zehn Tagen und endet mit der erzwungenen Unterschrift eines leeren Blattes. Manchmal ist es auch bedruckt, selten jedoch bekommen es die Gefolterten zu Lesen. „Ich wollte noch ein bisschen leben, also habe ich unterschrieben“, berichtet ein Mann während dem Treffen seine Erfahrung. Nach sieben Jahren Haft ist er seit 2021 wieder frei. Seine Frau hält seinen Arm und presst die Lippen zusammen, einige Anwesende nicken wissend und verständnisvoll.

Willkür mit System

In Mexiko existiert ein System institutionalisierter Folter. Es sollte mit der Justizreform von 2008 eigentlich abgeschafft werden. Bis dahin galt ein sogenanntes inquisitorisches Strafprozessrecht, welchem es an einer klaren Gewaltenteilung mangelte. Urteile wurden vorwiegend auf Basis der Ermittlungsakten entschieden. Anhörungen und Prozesse fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt oder nur auf dem Papier. Angeklagte hatten in der Praxis keine Chance auf eine Aussage, geschweige denn eine reale Strafverteidigung oder Unschuldsvermutung. Dies bot ein offenes Tor für systematische Folter, denn erzwungene Geständnisse oder Belastung durch Dritte konnten juristisch kaum widerlegt werden.

Das neue Justizrecht ist ein wichtiger Schritt, um grundlegende Rechte Angeklagter zu wahren. Die praktische Umsetzung dauerte auf Bundesebene knapp zehn Jahre, 2016 implementierte auch Chiapas als einer der letzten Bundesstaaten das neue System. Im Zuge der Reform wurden die Befugnisse von Polizei und der neu geschaffenen unabhängigen Staatsanwaltschaft ausgeweitet. Dies sollte mit einer vertiefenden Aus- und Fortbildung des Beamtenapparates einhergehen. So finanziert unter anderen die deutsche GIZ seit 2015 verschiedene Programme zur Stärkung des Rechtsstaates und zur Prävention von Folter. Im Zuge dieser Projekte arbeitet sie direkt mit den Bundes- und Landesstaatsanwaltschaften zusammen. „So soll eine effektive Tatort- und Ermittlungsarbeit gewährleistet werden. Mitarbeiter werden in Befragungstechniken und Tatortarbeit fortgebildet“, heißt es in der Beschreibung eines Pilotprojektes.

Für so manche mexikanische Menschenrechtsaktivist*innen ist dies ein zweischneidiges Schwert, können doch verbesserte Kenntnisse über Beweissicherung und Forensik auch gegen unschuldig Angeklagte eingesetzt werden. Dazu kommt, dass das Personal der Kriminalpolizei und Justiz trotz Umstrukturierungen überwiegend aus dem alten System übernommen wurde und damit auch aus „der alten Schule“ stammt, wie Frayba im Jahresbericht 2023 vorlegt. Für das Zentrum einer von vielen Gründen, warum sich die menschenverachtenden Praktiken der Folter fortsetzen: „Solange die institutionelle Kultur und informelle Schule weiterexistiert, die auf der Fabrikation von maßgeschneiderten Ermittlungsakten basiert, werden die Behörden (…) weiterhin künstliche Strategien entwickeln, um sich an die [neuen juristischen] Umstände anzupassen.“

Alte Schule trotz der Reformen

Ein besonders eindrückliches Beispiel, wie Geständnisse von Polizei und Justiz versucht werden zu erpressen, liefert die Geschichte von Julia und ihrem Lebensgefährten Carlos Antonio. Julia Hernández berichtet, wie Carlos Antonio am 29. Oktober 2019 im Haus ihrer Tochter in Tuxtla von einem vierzigköpfigen Polizeikommando verschleppt wurde. „Wir schauten gerade eine Telenovela, Carlos hatte sich schon hingelegt. Plötzlich rammten sie die Tür ein“, berichtet sie. „Wo das Geld sei, wo die Drogen seien, wollten sie wissen.“ Carlos wurde verhaftet. Julia zogen sie kurz darauf an den Haaren aus dem verwüsteten kleinen Holzhaus.

Getrennt voneinander wurden sie zur Staatsanwaltschaft gebracht. Julia wurde über Tage misshandelt – durch das Überstülpen von Plastiktüten, Schläge, Waterboarding und die Ansage, dass man ihren Mann weiter quälen würde, wenn sie nicht preisgebe, wo er die vermeintlichen Drogen gelagert habe. Sie schwieg, denn sie hatte keine Antworten darauf. Daraufhin musste sie in den folgenden Tage mitansehen, wie eine Gruppe von Polizist*innen ihren Lebensgefährten immer wieder mit Fäusten und Elektroschocks malträtierten. Beide wurden über Stunden an Händen oder Füßen aufgehängt. Drei nicht enden wollende Tage, in denen die beiden nicht einmal wussten, was ihnen vorgeworfen wurde und die darin mündeten, dass Carlos Antonio mit einer Bauchwunde ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. „Sie haben mich nach Hause geschickt, aber nur weil sie dachten, dass er sterben würde“, erzählt Julia. Sie verließ das Gebäude in nichts als der Kleidung, in der sie hereingeschafft wurde, und nahm sich ein Taxi. Carlos Antonio musste ein Stück Darm entnommen werden, eine zwanzig Zentimeter lange Narbe und tägliche Schmerzen erinnern ihn bis heute an die Verhaftung. Er sitzt nun schon seit fünf Jahren unschuldig im Gefängnis, sie kämpft für seine Freilassung. Mittlerweile wohnt Julia in der Kleinstadt Cintalapa neben dem größten Gefängnis von Chiapas, El Amate. Hier kann sie ihren Partner täglich besuchen und ihm Essen bringen. Die fettige Nahrung der Anstalt verträgt er seit der Verletzung durch Folter nicht mehr. „Meine Tochter, meine Nichten, meine Schwestern, alle suchten mich damals“, erzählt Julia. Erste Anlaufstelle war die Staatsanwaltschaft in Tuxtla, doch die Beamten verleugneten sie. „Aber natürlich waren wir dort! Nur eben im Tunnel. Es gibt den offiziellen Eingang und es gibt den Tunnel. Dort halten sie die Gefangenen.“ Nach ihrer Freilassung kampierte sie mit ihrer Familie im Hungerstreik tagelang vor der Landesregierung von Chiapas und organisierte kleine Pressekonferenzen, die sie auf Facebook übertrug. Seitdem wurden ihre Töchter und sie selbst immer wieder von der Polizei überwacht und eingeschüchtert. Ein weiterer Grund für ihren Umzug.

Trotz allem kämpferisch Julia setzt sich weiter für die Freilassung ihres Lebensgefährten ein (Foto: Anne Haas)

Die Jahre der erlittenen Ungerechtigkeit zehren an ihr, sie wirkt zermürbt. Doch ihre Worte klingen klar und entschlossen. Auch der Richter habe damals versucht, Julia zu erpressen. Vor der Verhandlung bat er sie, ihren Lebensgefährten zu einem Geständnis zu überzeugen. In diesem Fall bekäme er nur fünf Jahre, ansonsten bis zu zwanzig. Als sie Carlos von dem möglichen Deal berichtete, habe er zu ihr gesagt: „Nein, Mamíta. Ich habe die Folter überlebt, diesen Kampf stehen wir auch noch aus.“ Doch nur wenige Menschen haben das Durchhaltevermögen der beiden.

Das Menschenrechtszentrum Frayba und andere Institutionen in Mexiko erkennen in den willkürlichen Verhaftungen ein Muster, das sich bei hunderten Fällen wiederholt. Sie sprechen von einer fábrica de culpables, einer Fabrik von Schuldigen. 44 Prozent der Inhaftierten gaben bei der Umfrage ENPOL (Nationale Umfrage über Menschen unter Freiheitsentzug, LN) von 2021 an, wegen einer falschen Beschuldigung verhaftet worden zu sein, 23 Prozent sogar ohne Haftbefehl. Sie werden für Kleinstdelikte festgenommen, angeblich auf frischer Tat ertappt. Die Konstruktion als „in flagranti“ ermöglicht eine Präventivhaft von bis zu 48 Stunden in der Staatsanwaltschaft, die in der Praxis jedoch oftmals länger ist. Hier findet die Folter in separaten Räumen statt. Laut der Umfrage geben 28 Prozent der festgenommenen Männer an, in dieser Situation geschlagen worden zu sein, etwa 18 Prozent wurden gewürgt, 14 Prozent mit dem Kopf unter Wasser gehalten. Die Angaben der Frauen fallen nur geringfügig anders aus. Insgesamt berichten 64 Prozent aller Inhaftierten von gewaltvollen Akten.

Ungerechtigkeit trifft besonders die Prekarisierten

Nicht immer endet die Folter so gravierend wie bei Carlos Antonio. Die Beschuldigten werden meist innerhalb einer Woche aus der Staatsanwaltschaft oder dem Gefängnis entlassen. Doch direkt vor der Tür wartet bereits ein Polizeikonvoi und die betroffenen Personen werden unmittelbar erneut festgenommen – mit einem Haftbefehl auf Basis des Geständnisses, das in der Präventivhaft unter Folter erpresst wurde.

Auch Carlos Antonio ging für ein Verbrechen ins Gefängnis, das er nie begangen hatte. So war fünf Tage vor seiner und Julias Verhaftung auf einer Landstraße nach Ixtapa ein Geldtransporter überfallen worden. Über drei Millionen Pesos wurden von vier bewaffneten Männern gestohlen, zwei Polizisten angeschossen.

Jorge Luis Llaven Abarca, seinerzeit Oberstaatsanwalt von Chiapas, versprach öffentlich schnelle Aufklärung. Der Druck Ermittlungsergebnisse zu liefern war aufgrund seiner politischen Ambitionen Senatsabgeordneter zu werden hoch. Gemeinsam mit über hundert Organisationen aus ganz Mexiko hat das Menschenrechtszentrum Frayba bereits bei der Ernennung von Llaven Abarca zum Oberstaatsanwalt im Jahr 2018 die Absetzung des „Folter-Anwalts“ gefordert.

Wenn für Straftaten der öffentliche Druck hoch ist, die realen Täter allerdings nicht gefasst werden können, finden die Justizbehörden Hand in Hand mit Politiker*innen selbst kriminelle Lösungen. Opfer dieser Machenschaften werden dabei besonders Prekarisierte und Marginalisierte, deren Lage sich dadurch weiter verschärft und deren Stimme selten gehört wird.

Vor Gericht kaum eine Chance

Neben Carlos wurden vor fünf Jahren noch drei weitere Männer der Tat beschuldigt. Als sie nach wenigen Tagen entlassen wurden, vermutete er, dass sie ein Bestechungsgeld gezahlt haben. „Aber wir, wie sollten wir das bezahlen?“, fragt Julia. Bis zu ihrer Verhaftung arbeitete Julia als Haushaltshilfe, Carlos sammelte Altpapier auf der Straße.

Laut Frayba erfüllt die Folter neben den erzwungenen Geständnissen zudem noch einen anderen Zweck. Sie dient dazu, die Betroffenen derart einzuschüchtern und zu bedrohen, dass sie bei der Anhörung– die nach neuem Prozessrecht öffentlich ist und per Video aufgezeichnet wird – nicht in der Lage sind, sich zu verteidigen. Sie stehen unter Schock und sind aufgrund ihrer sozialen Herkunft oft nicht in der Lage, den juristischen Inhalt der Verhandlung vollständig nachzuvollziehen. In Kombination mit den wenig motivierten Pflichtverteidiger*innen haben sie somit kaum eine Chance.

Nach vier Jahren Untersuchungshaft wurde Carlos Antonio im Oktober 2023 zu 16-einhalb Jahren Haft verurteilt trotz der Tatsache, dass Frayba den Fall vor die Interamerikanische Menschenrechtskommission und die UNO brachte. „Der Richter hat seine Drohung erfüllt“, resümiert Julia. „Ich kämpfe trotzdem weiter. Es ist ungerecht, was sie uns angetan haben. Ich hoffe nur, dass die Leute mich hören!“ Die Erfahrungen der „Vereinten Familien“ verbreiten zumindest eine kafkaeske Hoffnung. Die meisten Gefangenen dieser Gruppe kommen eines Tages und oft vor Absitzen des Urteils frei. Wie lange dieser Kampf dauert, das ist die große Unbekannte.


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„EIN RAUM FÜR UNS“

Kampf für einen Ort der Erinnerung Straßenperformance des Kollektivs La Jauría (Foto: Celeste Pérez Álvarez. Colectiva La Jauría)

„Venda Sexy“ oder „Discotéque“ heißt das ehemalige Folterzentrum, in dem während der chilenischen Militärdiktatur vor allem studentische Mitglieder der Bewegung der revolutionären Linken (MIR) festgehalten, gefoltert und sexuell missbraucht wurden. „Venda“ heißt Augenbinde und soll darauf hindeuten, dass die Verhafteten mit verbundenen Augen in das Haus kamen. Der Name „Discotéque“ ist eine Anspielung auf die laute Musik, die während der Foltersitzungen gespielt wurde, um die Schreie der Opfer zu übertönen. „Die Opfer waren sowohl Frauen wie Männer“, erklärt Patricia Artés vom feministischen Kollektiv La Jauría. „Allerdings wurde die Gewalt an Frauen besonders systematisch und unverhältnismäßig ausgeführt. Daher kann man hier auch von geschlechtsspezifischer Gewalt sprechen.“
Das Anwesen im Stadtviertel Macul, das dem ehemaligen Geheimdienst DINA in den Jahren 1974 und 1975 als Folterzentrum diente, ist heute in Privatbesitz. 2016 wurde es vom Ministerium für öffentliche Liegenschaften zum Erinnerungsort erklärt, gleichzeitig bot der Staat der Familie, in deren Besitz sich das Haus befand, 356 Millionen Pesos (umgerechnet 450.000 Euro) für den Verkauf an. Diese lehnte allerdings mit der Begründung ab, der angebotene Preis sei zu gering. Im Mai dieses Jahres wurde jedoch bekannt, dass sie das Haus für einen geringeren Betrag an eine Immobilienfirma verkauft hat. Dabei dürfen Erinnerungsorte nach chilenischem Gesetz nicht ohne staatliche Erlaubnis verkauft oder umgebaut werden.

„Cuerpas en guerra“ Das Kollektiv La Jauría inszeniert in Santiago „Körper im Krieg“ (Foto: Celeste Pérez Álvarez. Colectiva La Jauría)

Nun arbeiten verschiedene Gruppen mit Überlebenden des Folterzentrums zusammen, um das Gebäude wiederzuerlangen. Eine dieser Organisationen ist das Kollektiv La Jauría, das aus einem feministischen Theaterprojekt entstand. Anfangs näherte sich das Kollektiv den Beziehungen Frau-Körper, Frau-Liebe und Frau-Klasse vom Theater her an. Ausgehend von der Erforschung dieser Aspekte, die verschiedene Vorstellungswelten, Aussagen und Erfahrungen miteinander verband, entwickelten die Frauen das Theaterstück „Cuerpas en Guerra“ (Körper im Krieg). Dieses Jahr haben sich die Aktivistinnen im Wirbel feministischer Bewegungen an verschiedenen Besetzungen von Bildungseinrichtungen vor dem Hintergrund der Forderung nach einer nicht-sexistischen Bildung beteiligt. „Wir hatten als Kollektiv das Gefühl, dass das Theaterstück als Mittel für unseren Kampf nicht ausreichte, also haben wir angefangen, Performances auf der Straße zu machen“, erklärt Patricia Artés.
Eine ihrer ersten Aktionen realisierte die Gruppe während des Papst-Besuchs in Chile, dann brachten sie sich bei den feministischen Bewegungen ein und schließlich auch bei den überlebenden Frauen der Militärdiktatur. Dabei befassen sie sich hauptsächlich mit sexueller Belästigung als geschlechtsspezifische Form der Aggression. „An diesem Punkt knüpfen wir an die Erinnerungsarbeit des Kollektivs Rebeldías Feministas an“, so Patricia Artés. „Seit letztem Jahr machen wir zusammen mit ihnen Performances für die Zurückgewinnung des ehemaligen Folterzentrums. Es soll den Frauen als Ort der Konstruktion eines kollektiven Gedächtnisses überlassen werden.“

 „Hier wurde gefoltert“ Das politisch-künstlerische Schaffen von La Jauría entspricht keiner festen künstlerischen Gattung (Foto: Celeste Pérez Álvarez. Colectiva La Jauría)

Vor dem Hintergrund des nun erfolgten Verkaufs des Hauses fordern Feministinnen und Menschenrechtsorganisationen die Intervention des Ministeriums für öffentliche Liegenschaften, damit der Verkauf nicht rechtskräftig abgeschlossen werden kann. La Jauría entwickelt zusammen mit anderen Organisationen ein generationenübergreifendes Projekt mit dem Ziel, „die Gewalt des Staates, die Gewalt des Patriarchats und die politisch-sexuelle Gewalt als geschlechtsspezifisches Verbrechen sichtbar zu machen“, erklärt Patricia Artés. Vor allem mit Beatriz Bataszew, einer der Überlebenden des Folterzentrums und Leiterin des feministischen Kollektivs Coordinadora 8M, arbeitet La Jauría eng zusammen. „Sie verleiht dir Energie, nicht nur durch die Tatsache, dass sie das Folterzentrum überlebt hat, sondern auch durch ihr konsequentes, politisches und feministisches Engagement“, meint Patricia Artés.
Das politisch-künstlerische Schaffen von La Jauría entspricht keiner festen künstlerischen Gattung, Aktionen im Sinne des experimentellen Theaters stehen im Vordergrund. Patricia Artés erklärt es so: „Das heißt nicht, dass uns Kunst nicht interessiert. In unserem künstlerischen Ausdruck kommt der Gegenstand aus der Wirklichkeit. Aus diesem Grund ist das Werk, das wir mit unseren eigenen Materialien ausgehend von dem Theaterprojekt erschaffen haben, ganz klar performativ und hat den Charakter eines Zeugnisses. In unserer Selbstverortung sind wir mit dem klassischen Kunst-Aktivismus verzahnt, den Feministinnen im Laufe der Geschichte entwickelt haben. Dieser Aktivismus ergibt sich aus der Dringlichkeit der Themen, aus der Anklage.“ Die Performances finden auf der Straße statt. Die Aktivistinnen besetzen bestimmte Plätze, verlesen Texte und stellen Szenen dar. Manchmal spielen sie auch Musik und singen. Dabei sind sie immer schwarz gekleidet, einige vermummt. Auf ihrer Kleidung tragen sie Botschaften, wie „Hier wurde gefoltert“.
Für Straßen-Performances vor dem „Venda-Sexy“ und einem weiteren ehemaligen Folterzentrum im September wurden Frauen mit und ohne Theatererfahrung aus verschiedenen Bereichen eingeladen. Diese Performances betrachtet das Kollektiv als Werkzeug, „das uns ermöglicht, uns auf den Straßen zu positionieren, um die sozialen und feministischen Kämpfe zu unterstützen.“ Der Kampf um die Zurückgewinnung des ehemaligen Folterzentrums ist nicht nur eine Verhandlung seitens der Bürokratie und der bekannten Menschenrechtsorganisationen. Die mögliche Zurückgewinnung wäre auch ein Erfolg der Mobilisierungen von Frauen und Feminist*innen. Für La Jauría und alle anderen Beteiligten besteht die Aufgabe laut Patricia Artés nun darin, „anzufangen, sich vorzustellen, was wir machen würden, wenn wir einen Raum nur für uns hätten“.

 


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KEINE ENTSCHULDIGUNG VON VW

Kämpferisch bis zuletzt Lúcio Bellentani im September 2017 in São Paulo

Seine Stimme bebte, aber er verlor sich nicht in der Beschreibung. Er stockte, wenn seine Worte sich der ganzen Brutalität des Erlebten annäherten, hielt kurz inne und fuhr dann fort. Klar und detailliert berichtete Lúcio Bellentani, wie sich die Ereignisse 1972 überschlugen, wie er im Beisein und unter aktiver Mitwirkung von VW-Mitarbeitern verhaftet wurde, er beschrieb minutiös die Schläge, die Prügel, er gab ein Zeugnis der erlittenen Folter und der täglichen Erniedrigungen. Er beschrieb die einzelnen Täter, die Verräter und die Denunzianten, die Mitläufer und die Mittäter. Und er benannte den aus seiner Sicht Hauptverantwortlichen für das erlittene Unrecht: die aus Deutschland stammende Firma Volkswagen. Die sich bis heute nie bei ihm dafür entschuldigt hat, was ihm angetan wurde.
Lúcio Bellentani war der Hauptbelastungszeuge zur „Kollaboration von Volkswagen do Brasil mit der brasilianischen Militärdiktatur“. Er war 1972 Mitarbeiter bei VW do Brasil, einer der unzähligen Arbeiter*innen in den riesigen Werkshallen, die dort tagein, tagaus schufteten. Es war die Zeit der brasilianischen Militärdiktatur, die sich dafür rühmte, für das Wirtschaftswunder verantwortlich zu sein: Jährliche Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts von rund zehn Prozent ließen die internationalen Industriebosse strahlen, während gleichzeitig die Löhne durch den sogenannten arrocho salarial staatlich eingefroren waren und die Arbeiter mit dem kargen Lohn gerade so über die Runden kamen.
Lúcio Bellentani schuftete bei VW, sah den Ärger, die Wut und nicht selten die Verzweiflung der Kolleginnen und Kollegen, sah die im Land grassierende Armut und die schreiende Ungerechtigkeit. Er sah den konzentrierten Reichtum in den Fängen einiger weniger und die Ausbeutung der Masse für Wachstum, für Fortschritt und für eine Ordnung, die für einige alles und für die anderen fast nichts zur Verfügung stellt. Für ihn war klar: Gegen solche Ungerechtigkeit muss man kämpfen.
Während der Militärdiktatur organisierten sich die kommunistischen Gewerkschafter*innen bei VW do Brasil klandestin, trafen sich in möglichst kleinen Gruppen, damit niemand im Falle einer Verhaftung mehr als zwei oder drei weitere verraten konnte. Sie trafen sich zur Produktion ihrer Flugblätter und der Informationszeitungen: Erst nachts leise auf die Schreibmaschine gehackt, dann auf Matritzen an geheimen Orten gedruckt, um dann tags darauf, das klandestine Material in die Firma, an den Spitzeln des VW-Werkschutzes vorbei, in die Spinde zu schmuggeln und von dort in den Pausen möglichst unauffällig an die Kolleg*innen zu verteilen. Immer auf der Hut vor dem VW-Werkschutz, der unter dem Scharfmacher Adhemar Rudge die Kolleg*innen bei VW bespitzeln ließ und die gesammelten Infos an die Repressionsorgane der brasilianischen Militärdiktatur weitergab. All dies mit stillschweigendem Wissen, aber erwiesenermaßen bewußter Kenntnis des damaligen Vorstandes von VW do Brasil. Dieses VW-Spitzelsystem wurde Lúcio Bellentani zum Verhängnis.
Am 28. Juli 1972 wurde Lúcio Bellentani direkt auf dem Werksgelände von VW im Vorort São Bernardo do Campo, im Süden von São Paulo, verhaftet. Im Beisein des VW-Werkschutzes wurde er Agenten des Folterzentrums DOPS übergeben. Es war gegen 23 Uhr, erinnert sich Bellentani bei seiner Aussage vor der Wahrheitskommission „Vladimir Herzog“ in São Paulo am 19. Juli 2012. „Als ich in den Raum der Sicherheitsabteilung von Volkswagen kam, fing dann gleich die Folter an, ich musste gleich Prügel, musste Backpfeifen und Faustschläge einstecken.“ Am nächsten Tag wurde er zu Brasiliens wohl bekanntesten und skrupellosesten Folterer gebracht: Sérgio Fernando Paranhos Fleury, Leiter des Folterzentrums DOPS, fanatischer Jäger der Oppositionellen und Anführer berüchtigter Todesschwadrone. Fleury, der Menschen mit Backsteinen erschlug. Fleury, der durch die bei der Unternehmerschaft São Paulos zur Finanzierung der Repression eingesammelten Gelder selbst reich geworden war. Fleury, der am 1. Mai 1979 unter bis heute nicht geklärten Umständen starb und dessen Todesnachricht auf der 1.-Mai-Feier der Metallarbeitergewerkschaft im Stadion Vila Euclides in São Bernardo do Campo von 100.000 Arbeiter*innen in Sprechchören und Gesängen enthusiastisch gefeiert wurde.

Lúcio Bellentani in DOPS Karteikarte im Folterzentrum, heute im Arquivo Público do Estdo de São Paulo

Mit dieser Aussage, mit bebender Stimme, aber dennoch klar im Detail, wurde Lúcio Bellentani zum Hauptbelastungszeugen gegen Volkswagen do Brasil. Während im September 2015 in Deutschland und den USA die „Diesel-Manipulation“ in den Medien hochkochte, reichte am 22. September 2015 das brasilianische Arbeiterforum für Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung eine Anzeige gegen VW do Brasil bei der Bundesstaatsanwaltschaft in São Paulo ein. Das Bündnis, das sich aus Betroffenen – darunter federführend Lúcio Bellentani – Gewerkschafter*innen, Rechtsanwält*innen, sozialen Bewegungen und Menschenrechtsgruppen besteht, setzte mit dieser Anzeige zivilrechtliche Ermittlungen in Gang, um die gesamte Verstrickung von Volkswagen do Brasil in die Repressionsstrukturen der brasilianischen Militärdiktatur aufzuklären.Die Staatsanwaltschaft beauftragte einen externen Gutachter, den ehemaligen Polizeikommissar Guaracy Mingardi, die Verstrickungen von VW do Brasil mit der Militärdiktatur gründlich zu untersuchen. Auch VW beauftragte seinerseits eine solche Untersuchung, die von dem Historiker Christopher Kopper durchgeführt wurde. Beide Berichte bestätigen letztlich die Vorwürfe der Kollaboration von VW do Brasil mit der Militärdiktatur. Doch Volkswagen nutzte die Veröffentlichung der Kopper-Studie im Dezember 2017 sehr geschickt in den Medien. In der zur Publikation der Studie veröffentlichten Pressemitteilung vermittelte der Konzern, es habe nur der VW-Werkschutz aktiv mit der Militärdiktatur zusammengearbeitet: Es seien „keine klaren Beweise gefunden w[o]rden, dass die Zusammenarbeit auf einem institutionellen Handeln seitens des Unternehmens basiert[e]“, so VW im Dezember 2017. Die Mehrzahl der Presse ist prompt darauf hereingefallen und hat dies so übernommen. Dabei ist die von VW vertretene These, es sei „nur“ der Werkschutz gewesen“, nach Quellenlage gar nicht haltbar. Wenn Christopher Kopper schreibt: Der Werkschutzchef Adhemar Rudge habe „auf eigene Initiative, aber mit dem stillschweigenden Wissen des Vorstands“ gehandelt, dann klingt das gar nicht mehr nach Einzeltat. Und wenn weiter, „der Einsatz von Folter durch die politische Polizei bereits in der brasilianischen und in der deutschen Öffentlichkeit bekannt war“, dann hat der damalige Vorstand von VW do Brasil wissentlich und billigend in Kauf genommen, dass der ihm weisungsgebunden unterstellte Werkschutz Menschen der Folter ausgeliefert hat.
In der Süddeutschen Zeitung wurde 1973 der VW do Brasil–Chef, Werner Paul Schmidt, mit den Worten zitiert: „Sicher foltern Polizei und Militär Gefangene, um wichtige Informationen zu erlangen, sicher wird beim Politisch-Subversiven oft gar kein Gerichtsverfahren mehr gemacht, sondern gleich geschossen, aber eine objektive Berichterstattung müßte jedesmal dazufügen, daß es ohne Härte eben nicht vorwärtsgeht. Und es geht vorwärts.“ Auch der „Auch die Folterer selbst bestätigten dies, zum Beispiel José Paulo Bonchristiano, „Mr. DOPS“, wie dieser im Folterzentrum DOPS genannt wurde. Dieser sagte 2017 im Interview mit der ARD: „Alles, was wir von Volkswagen haben wollten, haben sie sofort gemacht. Zum Beispiel: Wenn ich nach einem verdächtigen Element gesucht habe, das ich dingfest machen wollte. Dann haben sie mir gesagt, wo ich es finde. Wir waren uns sehr nahe.“
Aus all diesem lässt sich nur ein Schluss ziehen: Wenn der damalige Vorstand von VW do Brasil genau wusste, dass Brasiliens Regime foltern und morden ließ, musste ihm auch klar gewesen sein, was mit den Menschen passierte, über die VW do Brasil Informationen an das Folterregime weitergab. Der damalige Vorstand von VW do Brasil bestand aus deutschen Staatsbürgern, die direkt aus Wolfsburg nach Brasilien entsandt wurden und somit den Volkswagen-Konzern unmittelbar vertraten. Damit trägt auch der deutsche Volkswagen-Konzern die volle Mitverantwortung dafür, dass der Werkschutz von VW do Brasil Menschen direkt der Folter ausgeliefert hat.
Die Staatsanwaltschaft von São Paulo hat die Ermittlungen mittlerweile abgeschlossen. Aus Brasilien verlautet, dass es unter Einbeziehung der Staatsanwaltschaft derzeit außergerichtliche Gespräche zwischen Volkswagen do Brasil und den betroffenen Arbeitern über Entschuldigung und Entschädigung gebe.
Lúcio Bellentani ist am 19. Juni im Alter von 74 Jahren in São Paulo verstorben. Eine Entschuldigung seitens Volkswagen hat er nicht mehr erleben dürfen.

 


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BEIHILFE ZUR FOLTER

„Es war Volkswagen, die dafür verantwortlich waren, dass ich von den Geheimpolizisten des DOPS an meinem Arbeitsplatz bei VW in São Bernardo do Campo verhaftet, noch auf dem Werksgelände geschlagen und von dort direkt in das Folterzentrum DOPS verschleppt wurde. Dort wurde ich wochenlang gefangen gehalten und schwer gefoltert.“ Lúcio Bellentanis Stimme dröhnt tief durch den bis auf den letzten Platz angefüllten Theatersaal der Berliner Schaubühne. Die Empörung über das, was der Metallarbeiter und Gewerkschafter im Juli 1972 bei VW do Brasil und in den Wochen nach seiner Verhaftung erlebte, ist ihm noch immer anzumerken. „Wenn VW wenigstens einmal sagen würde, dass es ihnen leid täte, dass sie Verantwortung übernehmen, dann wäre dies ein erster Schritt“, sagt der mittlerweile 73-Jährige. „Der zweite Schritt wäre eine Kollektiventschädigung. Denn wir lassen uns nicht spalten, gar einzeln verhandeln, wie VW das so gerne wollte.“

Bellentani war im November 2017 auf Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung nach Berlin gereist, um den Druck auf VW zu erhöhen. Denn seit September 2015 wird auf Betreiben der Arbeiter*innen wie Bellentani von der Bundesstaatsanwaltschaft in São Paulo untersucht, ob VW mit den Repressionsorganen der Militär­diktatur kollaboriert hat. In Berlin nahm Bellentani mit 60 anderen Menschenrechts­akti­vist*innen aus fünf Kontinenten an dem Reality-Schauspiel „General Assembly“ in der Schaubühne teil, das der Regisseur Milo Rau orchestrierte. Angehörige der Opfer der Brand­katastrophe der für die Textilkonzerne in Pakistan und Bangladesch schuftenden Arbeiter*innen waren bei dem dreitägigen Theater am Berliner Ku‘damm ebenso vertreten wie von Landgrabbing durch Palmölfirmen betroffene Landarbeiter*innen aus Indonesien oder Witwen der 34 im Jahr 2012 während eines Streiks von der südafrikanischen Polizei erschossenen Minenarbeiter der Platin-Mine der britischen Firma Lonmin. Alle Betroffenen und Aktivist*innen hielten als Delegierte eines simulierten Weltparlaments ihre Redebeiträge in fünf Minuten und standen dann noch vier Minuten den anderen Delegierten und der Verteidigung Rede und Antwort.

Lúcio Bellentani berichtete über seine Verhaftung und die Folter, erklärte den überraschten Zuhörer*innen, welchen gewichtigen Anteil VW do Brasil daran hatte. Und er berichtete, was sich in den vergangenen zwei Jahren in der Ange­legenheit ergeben hat.

Im September 2015 (siehe LN 497) hatten ehemalige Arbeiter*innen, die zur Zeit der Militärdiktatur (1964-1985) bei VW do Brasil Repres­sion erlitten hatten, gemeinsam mit Rechts­anwält*innen, Menschenrechtsaktivist*innen und allen elf brasilianischen Gewerkschaftsdachverbänden eine Sammelklage bei der Zivilkammer der Bundesstaatsanwaltschaft in São Paulo eingereicht. Das Ziel: Die Kollaboration von VW do Brasil mit der Militärdiktatur zu untersuchen und zu prüfen, inwieweit VW finanziell haftbar dafür gemacht werden könne.

Seither ermittelt die Staatsanwaltschaft, hat über ein Dutzend Zeug*innen vernommen, darunter sowohl die Arbeiter*innen als auch die ehemaligen VW-Werkschützer*innen. Erstere erzählten detailliert über die Bespitzelungen durch VW, ihre Verhaftungen, über die schwarzen Listen, die, wie sie später feststellten, von VW über die Mitarbeiter*innen erstellt wurden und an die Repressionsorgane weitergegeben wurden. Letztere offenbarten auffällig viele Erinnerungslücken, wiesen Anschuldigungen vehement zurück, sie hätten an den Verhaftungen der Mitarbeiter*innen aktiv mitgewirkt und Infos an die Geheimagent*innen der Militärdiktatur weitergegeben, so dass in einigen Fällen nur auf Basis dieser Tipps Menschen verhaftet wurden und in den Folterkellern der Diktatur landeten. Der Chef des VW-Werkschutz, Adhemar Rudge, stritt die Authentizität seiner Unterschrift unter solchen an den Geheimdienst weitergeleiteten Doku­menten mit VW-Stempel und Briefkopf ab, beschwerte sich im Nachhinein über den „Skandal, dass da jemand meine Unterschrift gefälscht hat!“

Bellentani berichtete vor den Theater-Zuschauer*innen auch ausführlich von dem Fall seines Kollegen Heinrich Plagge. Am 8. August 1972 war er gegen 14 Uhr in das Büro des VW do Brasil Managers Ruy Luiz Giometti gerufen worden, wo neben Giometti zwei Unbekannte auf ihn warteten und ihn für verhaftet erklärten. Plagge wurde in das DOPS verschleppt, dort 30 Tage lang gefoltert und anschließend in ein Gefängnis verlegt, aus dem er am 6. Dezember – rund vier Monate nach seiner Verschleppung – freigelassen wurde. Am 22. Dezember 1972, 16 Tage nach seiner Entlassung, erhielt er die Kündigung durch Volkswagen.

„Aber“, so berichtet Lúcio Bellentani vor der Schaubühne in die herbeigeilten Mikorophone der Journa­list*innen, „es kommt noch schlim­mer: Heinrich Plagges Frau hat auch beim Staatsanwalt ausgesagt. Sie berichtet, wie an jenem 8. August am Nachmittag ein höherer VW-Mitarbeiter zu ihr nach Haus kam und ihr mitteilte, ihr Mann habe kurzfristig für die Firma auf Dienstreise gehen müssen, daher habe er keine Zeit mehr gehabt, ihr dies mitzuteilen.“ Erst Monate später habe sie erfahren, wo Plagge war: im Folterzentrum DOPS.

Kurz nach Bellentanis Berlinreise wurde der Abschlussbericht des Gutachters, den dieser im Auftrag der Staatsanwaltschaft von São Paulo erstellt hat, publik. Der Bericht des brasilianischen Gutachters Guaracy Mingardi bestätigt die Vorwürfe der Kollaboration VWs mit der Militärdiktatur. Mingardi bestätigt „nicht nur die Kollaboration durch den Informationsaustausch [mit den Repressionsorganen], sondern auch die aktive Repression [seitens VW] der eigenen Mitarbeiter“, vor allem Anfang der 1970er Jahre. Das Gutachten bestätigte zudem die von VW Ende der 1970er Jahre erstellten schwarzen Listen, die an die Repressionsorgane und andere Firmen weitergereicht wurden. Die Aussagen von Bellentani und Plagge über ihren Leidensweg werden von Mingardi durch die Recherchen ebenfalls explizit bestätigt.

Mingardi geht in seinem Gutachten aber noch einen Schritt weiter. Auf Seite 63 schreibt er: „So bleiben keine Zweifel, dass es wirklich Unterstützung seitens Volkswagen für das [Folterzentrum] OBAN und vielleicht selbst für das [später so umbenannte Folterzentrum] DOI-CODI gegeben hat”. Das OBAN wurde 1969 gegründet, 1970 in DOI-CODI umbenannt und dem Heer unterstellt. Dort wurden zwischen 1969 und 1975 66 Menschen ermordet, 39 von denen starben dort unter der Folter, viele wurden dort gefoltert und mindestens 2.000 Menschen dort eingekerkert, meist ohne Prozess. Genaue Zahlen kennt niemand, denn nahezu alle Dokumente wurden vernichtet. Bekannt ist, dass das OBAN in seiner Anfangszeit als Folterzentrum Finanzprobleme hatte und dass die Unternehmerschaft São Paulos Geldspenden von durchschnittlich 100.000 US-Dollar je Jahr sammelte und diese dem OBAN spendete. Dass VW sich, wie andere Firmen auch, an der Sammelaktion für das Folterzentrum beteiligt habe, wird in mehreren diesbezüglichen Untersuchungen behauptet, aber es fehlt noch immer der konkrete Beweis, der die direkte Verbindung zwischen den Firmen im Einzelnen und dem OBAN herstellt. Nun hat der Gutachter im Auftrag der Staatsanwaltschaft die Quellen gesichtet und kommt zu dem Schluss, dass „es keine Zweifel“ gebe, dass VW das Folterzentrum OBAN unterstützt hat. Damit fiele Volkswagen eine Mitschuld für die im OBAN, dem späteren DOI-CODI, Ermordeten und Gefolterten zu. Die Anschuldigung zur Beihilfe zur Folter und zum Mord seitens VW do Brasil erhält dadurch sogar systemischen Charakter.

Anfang Dezember 2017 erklärte VW die Bereitschaft, Entschädigungen mit den ehemaligen VW-Mitarbeiter*innen in Brasilien auszuhandeln. Es bleibt die Frage, ob das reichen wird. Denn das Eingeständnis VWs, mit den Repressionsorganen kollaboriert zu haben, wirft die Frage auf, inwieweit VWs Unterstützung für das Folterzentrum OBAN, die der Gutachterbericht Mingardis als erwiesen ansieht, über die Opfergruppe der über Dutzende VW-Mitarbeiter*innen hinausreicht und zudem all diejenigen miteinschließt, die im OBAN und späteren DOI-CODI gefoltert wurden. Das wären Tausende.

 


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