UNGEAHNTE REALITÄTEN

© Spectre Productions, Stenar Projects

Kurzfilm-Fans haben es bei der Berlinale nicht immer leicht. Im Programm finden sich zwar meist zahlreiche Beiträge des Formats, aber neben dem offiziellen Programm Berlinale Shorts sind viele in anderen Sektionen versteckt. Abgesehen davon macht auch die fehlende regionale oder thematische Einteilung die Entscheidung für einen Kurzfilmblock oft schwierig. Umso schöner, dass die Berlinale-Sektion Forum Expanded dieses Jahr drei halbstündige Kurzdokumentationen aus Lateinamerika im Paket zeigt, die noch dazu ähnliche Themen behandeln (indigene bzw. rurale Gemeinschaften). Ein gelungenes Experiment, denn alle drei Filme sind durchaus sehenswert.

Die Reise in entlegene Regionen des südamerikanischen Kontinents führt zunächst nach Kolumbien. In Jiíbie zeigt Regisseurin Laura Huertas Millán die traditionelle Herstellung von grünem Koka-Pulver in der indigenen Gemeinschaft der Muiná-Muruí im kolumbianischen Amazonasgebiet. Für die Muiná-Muruí ist die Koka-Pflanze ein heiliges Medium, das für rituell-spirituelle und medizinische Zwecke benutzt wird. An rituellen Stätten, den Malokas wird das Jíibie oder Mambe genannte Pulver während gemeinschaftlicher Versammlungen konsumiert, um den kommunikativen Austausch und die Entscheidungsfindung zu fördern. Anders als das mit Chemie vermischte weiße Kokain ist Jíibie ein rein natürliches Produkt, das nur aus den Blättern des Kokastrauchs und des Yarumobaums besteht. Der Film zeigt in ruhigen Bildern die traditionelle Verarbeitung der Pflanzen (Ernte, Rösten, Mahlen, Koka mit Yarumo-Asche mischen, Sieben), untermalt mit rituellen Erzählungen der Muiná-Muruí. So kreiert Jiíbie ein gutes Gefühl für die spezielle Bedeutung der heiligen Pflanze, ohne allerdings Aufnahmen der Versammlungen, auf denen das Koka-Pulver als Vermittlung zur kollektiven Erfahrung eingesetzt wird, zu zeigen.

Weniger meditativ geht es in Jogos Dirigidos von Regisseur Jonathas de Andrade zu. Der Film zeigt die Bewohner*innen der 900-Seelen-Gemeinde Várzea Queimada („Verbrannte Ebene“) im Hinterland des nordöstlichen brasilianischen Bundesstaates Piauí. Die Besonderheit der Siedlung besteht darin, dass dort überdurchschnittlich viele taubstumme Menschen leben. Die kommunale Infrastruktur ist jedoch sehr schwach ausgeprägt, so dass für sie keine Gebärdendolmetscher*innen zur Verfügung stehen. Statt zu jammern, hat die Dorfgemeinschaft aber aus der Not eine Tugend gemacht und kurzerhand ihre eigene Gebärdensprache erfunden. Die ist, wie im Film schnell klar wird, sehr lebendig und expressiv und auch für Nicht-Eingeweihte relativ leicht verständlich. Die Aufnahmen zeigen die titelgebenden Jogos Dirigidos („angeleitete Spiele“), bei denen die Bewohner*innen mit großer Begeisterung Kinderspiele wie Stuhltanz oder Ochs am Berg durchführen und dann auf einer Bühne in der selbst entwickelten Gebärdensprache Geschichten aus ihrem Leben preisgeben. Dabei werden die Erzählungen zunächst meist ohne Erklärung gezeigt und danach noch einmal mit Untertitelung der wichtigsten Wörter und Ausdrücke wiederholt. Interessant ist das nicht nur aus sprachlichen Gesichtspunkten, sondern auch, weil die Geschichten viel über das nicht immer einfache Leben in der ländlichen Umgebung der brasilianischen Peripherie verraten. Die Lebensfreude der Bewohner*innen und deren oft emotionale Reaktionen beim Spiel und beim Hören der Geschichten machen Jogos Dirigidos zu einem aufschlussreichen und vergnüglichen Filmerlebnis.

Den Abschluss der Trilogie bildet der ebenfalls brasilianische Beitrag Apiyemiyekî? von Regisseurin Ana Vaz. Der Titel bedeutet „Warum?“ in der Sprache der indigenen Gruppe der Waimiri-Atroari aus dem brasilianischen Amazonasgebiet. Diese wurden Opfer des größten Genozids unter der Herrschaft der brasilianischen Militärdiktatur, der Film erzählt ihre Geschichte. Weil die Regierung Mitte der 1970er Jahre eine Straße nach Manaús baute, vertrieb sie die Waimiri-Atroari mit brutalen Mitteln aus ihrem Territorium, das auf dem Weg dorthin lag. Durch chemische Waffen wie Napalm und Massenexekutionen mit Macheten und Gewehren wurden bis zu 3000 Menschen ermordet. Erst 2019 kam es zum Prozess gegen die Regierung, der bis heute andauert.

Die Regisseurin verwendet für die künstlerisch ansprechende Dokumentation gemalte Bilder und erste schriftliche Zeugnisse der kurz vor dem Terror der Militärs alphabetisierten Mitglieder der indigenen Gemeinschaft. Visuell aufwändig werden diese wie transparente Folien über die reale Naturlandschaft des Gebietes der Waimiri-Atroari gelegt. Besonders gut gelingt dies bei den Aufnahmen von fließendem Wasser, auf die gezeichnete Boote montiert werden. Die grafischen und schriftlichen Zeugnisse dienen als Beweisstücke im Prozess gegen den Staat und bewahren eine kollektive Erinnerung der grausamen Begegnung mit den sogenannten „zivilisierten Menschen“. Die Frage nach dem Warum der Tötungen durch die „Zivilisierten“ wurde von den Indigenen am häufigsten gestellt und deshalb auch als Titel des Films ausgewählt. Mit Apiyemiyekî? ist Ana Vaz eine eindrucksvolle und visuell ambitionierte Verarbeitung eines der düstersten Kapitel der brasilianischen Militärdiktatur gelungen, die im Grunde einen Langfilm verdient hätte.

Das verbindende Element zwischen den drei filmischen Beiträgen ist der Einblick in lateinamerikanische Welten, deren Realitäten bislang vielen nicht bekannt sein dürften und die einfühlsam und informativ auf die Leinwand transportiert werden. Bleibt zu hoffen, dass trotz der etwas versteckten Platzierung als Programm 6 der Experimentalfilm-Sektion Forum Expanded viele diese empfehlenswerte Kurzfilm-Trilogie im Programm entdecken und auf dem Festival ansehen.

Newsletter abonnieren