“FÜR DIE MENSCHEN, MIT DEN MENSCHEN”

Plant gemeinsam mit Präsident Gustavo Petro Großes Kolumbiens Vize Francia Márquez steht nicht nur bei der COP27 für einen Paradigmenwechsel (Foto: Midia Ninja via Flickr, CC BY-NC 2.0)

Die erste linke Regierung Kolumbiens unter Präsident Gustavo Petro und Vizepräsidentin Francia Márquez ist gut 100 Tage im Amt. Wie beurteilen Sie den Start im Allgemeinen?

Die Übergabe der Regierungsmacht an Petro und Márquez war und ist mit Hoffnung für die kolumbianische Bevölkerung und auch darüber hinaus in Lateinamerika verbunden, wo einige linke Regierungen in jüngster Zeit gewählt wurden. In Kolumbien gibt es seit der Unabhängigkeit im Jahre 1810 diesen Traum, dass es eine Regierung der Leute für die Leute mit den Leuten gibt, eine Regierung, die für die Mehrheit regiert und sie beteiligt. Die Regierung Petro/Márquez ist die erste, die dieses Vorhaben angeht. Das hat sich schon in den ersten drei Monaten gezeigt. Die Regierung befragt die Bevölkerung nach ihren Vorstellungen. Das wurde bei der Ausarbeitung des Nationalen Entwicklungsplans 2022-2026 gemacht, wo mehr als 200.000 Kolumbianer aus den unterschiedlichen Regionen beteiligt waren und ihre Anliegen einbringen konnten. Der Start der Regierung ist gelungen, die Beteiligung der Bürger ist real und nicht dekorativ wie bei den Vorgängerregierungen.

Worum geht es beim Entwicklungsplan?

Im Mittelpunkt stehen menschliche Sicherheit und soziale Gerechtigkeit, der Zugang zu Wasser, Umweltgerechtigkeit, Klimaschutz und die produktive Transformation für ein besseres Leben und die Förderung der Angleichung der Lebensumstände in den Regionen.

Sie kommen aus Buenaventura an der Pazifikküste, dem bedeutendsten Exporthafen Kolumbiens. Die Stadt ist von der Gewaltherrschaft krimineller Banden geprägt. Hat sich da bereits etwas getan?

Ja, es gibt positive Anzeichen. Es gibt realen Wandel. In Buenaventura wurden sogenannte einheitliche Kommandoposten für das Leben (PMUV) eingerichtet, bei denen die bewaffneten Gruppen ihre Waffen niederlegen und sich der Demobilisierung anschließen können. Das kommt an. In Buenaventura gab es über einen Monat keinen einzigen Mord. Auch bei den kulturellen, sozioökonomischen Rechten sowie bei den Umwelt- und Landrechten gibt es schon Fortschritte zu verzeichnen. Die Regierung Petro hat den Integralen Spezialplan für die Entwicklung von Buenaventura unterzeichnet, was die Vorgängerregierung von Iván Duque verweigert hatte. Dafür werden 600 Milliarden kolumbianische Pesos (umgerechnet rund 120 Millionen Euro) zur Verfügung gestellt. Das ist wunderbar. Es handelt sich um eine Regierung des Übergangs und der wurde bereits begonnen.

Die Regierung hat bereits Strukturveränderungen wie eine progressive Steuerreform eingeleitet. Diese Mittel sollen in soziale Investitionen fließen und der Pflege sowie der Wiederherstellung der Kulturlandschaften dienen. Eine gute Strategie?

Ich halte das für eine exzellente Strategie. Bisher war es so, dass die untere und die mittlere Klasse mit ihren Steuern die Unternehmerklasse unterstützten und auch die multinationalen Unternehmen, die kaum Steuern gezahlt haben. Das ändert sich jetzt durch die Steuerreform. Die, die viel Geld haben, werden jetzt zur Kasse gebeten, und die Mittel sollen in die Sektoren fließen, wo sich die Verletzlichsten der Gesellschaft befinden, die oft ethnischen Minderheiten angehören.

Die Steuerreform soll mindestens vier Milliarden US-Dollar Mehreinnahmen pro Jahr bringen. Reicht das?

Das ist ziemlich gut für den Anfang. Es versetzt die Regierung in die Lage, den Plan der sozialen Investitionen in Gang zu setzen. So kann begonnen werden, die soziale Schuld gegenüber der armen Mehrheit der Bevölkerung abzutragen. Dazu hat sich die Regierung verpflichtet.

Die Regierung hat es nachvollziehbarer Weise in gut drei Monaten noch nicht geschafft, die soziale Krise zu bewältigen, noch die Vertreibungen zu beenden. Haben Sie die Hoffnung, dass die Regierung ihr Ziel des „Totalen Friedens“ erreicht?

Das ist ein ziemlich großes Ziel, eine große, wichtige Herausforderung. Es ist noch viel zu früh, das abzuschätzen. Kolumbien hat eine jahrhundertelange Geschichte der systematischen Gewalt und der Landvertreibungen. Das kann keine Regierung in drei Monaten beilegen, dafür bedarf es eines sehr langen Prozesses. Ich habe die Überzeugung und den Glauben, dass diese Transformation stattfinden wird. Petro kann als Präsident nicht wiedergewählt werden und so in vier Jahren nur das Fundament legen und Fortschritte auf vielen Ebenen erreichen. Danach muss es weitergehen. Wir brauchen mindestens fünf Linksregierungen, um den „kompletten Frieden“ erreichen zu können. Aber der Prozess hat begonnen, einen Monat ohne einen Mord in Buenaventura … Das war lange unvorstellbar.

Wie viele Morde waren in Buenaventura früher üblich?

An einem Wochenende gab es im Schnitt sieben Morde und die Getöteten hatten ein Durchschnittsalter von 26 Jahren. Die jungen Männer gingen in die Falle derjenigen, die ihnen versprochen haben, mit dem Griff zu den Waffen könnten sie ihr Leben verbessern. Sie wurden von bewaffneten Gruppen geködert und getäuscht. 74 Prozent der Bevölkerung in Buenaventura lebt in Armut. Organisierte Kriminalität ist kein Ausweg, sondern eine Falle.

Was steckt hinter der Gewalt?

Letztlich die Idee der neoliberalen Entwicklung, getragen von der unternehmerischen Elite und der rechten politischen Klasse. Land wird nicht geachtet, sondern nur ausgebeutet. Die Gewalt ist dort am stärksten, wo sich die Gebiete befinden, die für die Ausbeutung, den Extraktivismus, am attraktivsten sind. Diese Gebiete sind ein Schlachtfeld. Einst war Buenaventura ein friedlicher Ort, ein Ort des würdigen Zusammenlebens. Das hat sich durch die Logik des Extraktivismus geändert, rauszuholen aus dem Boden, was rauszuholen ist, Gold, Mangan, Coltan … Und die Leute, die auf dem Land leben, werden vor dem Abbau einfach mit Gewalt vertrieben. Wir sind hier auch reich an Biodiversität, aber wir wurden verarmt durch die Politik des Raubbaus. In Buenaventura leben 500.000 Menschen und die meisten haben keinen Zugang zu Basisdienstleistungen wie fließend Wasser und Strom. Vertreiben und Ausrauben hieß bisher die Devise seitens der Elite. Die neue Regierung will das stoppen.

Neben dem Extraktivismus ist der Drogenhandel ein weiterer großer Brandherd des Konfliktes in Kolumbien. Präsident Petro versprach einen „Paradigmenwechsel“ und eine Lösung für das Problem der illegalen Drogen im weltweit größten Kokainproduzentenland. Kann der Drogenhandel eingedämmt werden?

Der Drogenhandel ist in der Tat eine weitere große Herausforderung. Die Koka-Pflanze an sich ist ja kein Problem, sie ist eine heilige Pflanze, harmlos. Nur die Herstellung von Kokain und das darauf aufbauende Geschäft ist ein Riesenproblem. In Buenaventura wird Land geraubt, um den Anbau der Koka-Pflanze für den Drogenhandel auszubauen, aber auch für Monokulturen wie die Ölpalme, den Kautschuk oder den Kakao. Für uns Bewohner von Buenaventura ist klar: Für ein friedliches Zusammenleben taugt keine Monokultur, weder eine illegale noch eine legale. Was auch nicht funktioniert, sondern große Schäden verursacht hat, war der Versuch vergangener Regierungen, die Kokapflanzungen mit dem Herbizid Glyphosat aus der Luft zu besprühen. Denn das Glyphosat hat auch die Nahrungsmittelproduktion getroffen.

Welche Alternativen sehen Sie?

Die Bewohner in Buenaventura, die indigenen und afrokolumbianischen Gruppen, haben zwei mögliche Auswege vorgeschlagen: Die Kokapflanze ausschließlich für medizinische und kosmetische Zwecke zu nutzen oder die Kokapflanzen zu vernichten, aber indem wir sie per Hand eine nach der anderen ausreißen. Ohne Chemie. Zu letzterem hat sich beispielsweise der Gemeinschaftsrat des Yurumanguí-Flussgebiets im Departamento Buenaventura entschlossen. Dieses afro-kolumbianische Territorium gehört nun zu den Regionen mit den wenigsten Koka-Pflanzungen im ganzen Land. Staatliche Unterstützung gab es dafür nicht, auch keinen Schutz. Die sozialen Anführer dieser Region gehören zu den von den kriminellen Banden am meisten Verfolgten. Einer ist mit seiner ganzen Familie wegen Morddrohungen nach Madrid geflohen, vier Anführer, zwei Männer und zwei Frauen, sind in den vergangenen Wochen dort ermordet worden. Und das nur, weil sie offen gesagt haben: kein Koka-Anbau mehr, kein Bergbau mehr und den Widerstand dagegen organisiert haben. Auch den Drogenhandel zu bekämpfen, das ist ein langwieriger Prozess. Zuerst muss die Intensität gesenkt werden, der Druck der Drogenbanden auf die Bauern, Koka anzubauen, ihnen Land zu nehmen. Aus meiner Sicht hat Präsident Petro die Dynamik und die Mechanismen dieses Geschäfts gut verstanden. Die Regierung hat begonnen, einen Prozess weg vom Kokain einzuleiten. Wir sehen das mit Hoffnung. Allerdings ist die Aufgabe sehr schwierig, aber nicht unmöglich. Man darf nicht vergessen, dass die Strukturen der Gewalt auf der großen Ungleichheit in der Gesellschaft beruhen. Wird der Reichtum besser verteilt, wie es die Regierung angeht, wird die soziale Gerechtigkeit wachsen und die Gewalt zurückgehen.

Sie sind Mitbegründerin der sozio-ökologischen Stiftung ARIBÍ, die die Organisationsprozesse lokaler afro-kolumbianischer Gemeinschaften unterstützt, sich für eine nachhaltige Entwicklung einsetzt und das Gleichgewicht des Ökosystems und den Schutz der Umwelt anstrebt. Francia Márquez träumt davon, die Energiewende zu schaffen, um künftigen Generationen eine mögliche Welt zu hinterlassen. Sind das auch ihre Träume?

Diese Träume teile ich selbstverständlich. Das Umweltthema ist jedoch ein Thema, das die ganze Welt angeht. Es geht schlicht um die künftigen Lebensbedingungen für die ganze Menschheit. Papst Franziskus hat gesagt, dass die Menschen den Planeten als Heimat begreifen müssen, den die Menschheit als ein gemeinsames Haus bewohnt, das wir gemeinsam pflegen müssen. Praktisch ist es aber so, dass eine Minderheit sich auf Kosten der Mehrheit bereichert und den Planeten unverantwortlich ausplündert und die Umwelt schädigt. Wir erleben das hier mit den von Chemikalien verschmutzten Flüssen, die Chemie landet in den Fischen und die Fische auf dem Teller. Missbildungen wie das Fehlen einer Hand bei Neugeborenen, eine steigende Zahl von an Krebs Erkrankten sind Folgen davon. Die Umwelt zu schützen, die Biodiversität zu erhalten, die Pflanzenarten, die Tiere, das Wasser, ist unerlässlich. Francia Márquez kämpft an unserer Seite für dieselbe Sache.

Wie sieht der Ansatz von ARIBÍ aus?

Wir von ARIBÍ leisten unseren Beitrag für den Erhalt des Ökosystems. Zentral ist für uns dabei, Wissen aus der Tradition der afrokolumbianischen Kultur – zum Beispiel über Heilpflanzen, Anbaumethoden, Saatgut – mit dem afrokolumbianischen „vivir sabroso“ zu verbinden, ein würdiges, gehaltvolles Leben ohne Überfluss und Verschwendung. So wollen wir die verheerenden Folgen des extraktivistischen Wirtschaftsmodells in unserer Region Schritt für Schritt überwinden. Wir fühlen unsere Verantwortung, die Lebensbedingungen für die künftigen Generationen zu erhalten, wir fühlen das als ein Mandat, eine Verpflichtung, der wir uns stellen müssen. Die Doppelmoral der Industriestaaten, die die höchsten Emissionen haben und die die Länder im Globalen Süden mit ein paar Klimahilfsgeldern abspeisen wollen, damit sie ihre Umwelt bewahren, ist inkohärent. Kolumbien hat nur 0,7 Prozent Anteil an den Emissionen weltweit, stellt aber zehn Prozent der Biodiversität. Die Pazifikregion um Buenaventura und das kolumbianische Amazonasgebiet ist nach Brasilien die zweitgrößte Lunge der Welt. Sie zu bewahren, liegt in aller Interesse und der Globale Norden muss dafür solidarische Unterstützung leisten, uns großzügig beim Erhalt der Umwelt helfen, statt die Ausbeutung zu befördern wie bisher. Die Regierung Petro und Márquez liegt mit dem Ansatz einer grundlegenden Energiewende und dem angestrebten Ausstieg aus der fossilen Wirtschaft und der Kohlenwasserstoffförderung auf dieser Linie. Wir unterstützen diesen Weg.

In einem Gespräch mit El País betonte Francia Márquez, dass Frauen Räume öffnen und dass die Präsenz von Frauen in der Politik auf globaler Ebene, neue Diskussionen, neue Wege der Politikgestaltung und der Veränderung von Realitäten eröffneten. Sehen Sie das auch so?

Total. In der Politik eröffnen sich inzwischen mehr Räume für Frauen, Entscheidungen zu treffen, die die Gesellschaft von Grund auf verändern. Ich bin überzeugt davon, dass Frauen verstärkt versuchen sollten, sich um politische Posten zu bemühen, um gestalten zu können. Das ist nicht einfach, das ist ein langwieriger Prozess. Und dafür brauchen wir auch progressive Männer, die diesen Prozess unterstützen. Wir haben diesen Prozess der Transformation begonnen, wir müssen ihn fortsetzen. Für eine Gesellschaft der Solidarität, für eine Gesellschaft gegenseitigen Respekts. Deswegen überlege ich, 2023 für das Bürgermeisteramt in Buenaventura zu kandidieren.

GENOSSIN FRANCIA, PRÄSIDENT PETRO

Gustavo Petro und Francia Márquez Linke Hoffnung für das Land (Foto: Casa Rosada via Wikimedia Commons , CC BY 2.5 AR )

Wird jetzt alles besser in Kolumbien? Mit einem riesigen Volksfest wurde die Amtseinführung der neuen Regierung am 7. August gefeiert. 1819 wurden an diesem offiziellen Feiertag die spanischen Invasoren in der Schlacht von Boyacá geschlagen. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes ist nun ein linkes Bündnis an der Regierung.

Der Sieg von Gustavo Petro und Francia Márquez bei der Präsidentschaftswahl am 19. Juni hat in den emanzipatorischen sozialen Bewegungen Hoffnung geweckt und Euphorie ausgelöst. Tagelang wurde gefeiert, vor allem in den ärmeren Departamentos, wo Petro und Francia bis zu 80 Prozent der Wähler*innen hinter sich haben. Dann begann die Arbeit an einem linken Regierungsprojekt. Bis zum offiziellen Amtsantritt am 7. August wurden Hunderte Treffen mit Vertreter*innen der unterschiedlichen Sektoren durchgeführt, der Regierungsplan ausgearbeitet, Staatsbesuche gemacht.

Parallel zur Hochstimmung macht sich aber auch Angst breit, bis kurz vor der Amtsübergabe wurde sogar vor einem möglichen Staatsstreich gewarnt. Tatsächlich lag die Befürchtung in der Luft, dass Petro oder Márquez ermordet werden könnten. Die neue Vizepräsidentin und Umweltaktivistin hatte erst vor wenigen Jahren einen Anschlag überlebt. Die kolumbianische Rechte betont, dass Gustavo Petro und Francia Márquez bei der Stichwahl mit 50,6 Prozent der Stimmen lediglich einen knappen Sieg gegen den konservativen Rodolfo Hernández (47,2 Prozent) errungen hätten. Aber auch eine andere Lesart ist möglich: Noch nie hat ein Kandidat so viele Stimmen mobilisiert wie Gustavo Petro.

Petro hatte bereits vor vier Jahren als Präsident kandidiert. Seitdem ist viel passiert in dem lateinamerikanischen Land: Die Pandemie hat die Hälfte der Bevölkerung ins Elend gestürzt, 50 Prozent leben unter der Armutsgrenze. Die Gewalt hat zugenommen, Hunderte Aktivist*innen wurden ermordet, der Friedensprozess mit der FARC, der ehemaligen größten Guerillagruppe im Land, kann als gescheitert gelten. Die 2017 gegründete FARC-Partei hat sich bereits mehrmals gespalten, erreichte bei der Parlamentswahl 2018 nicht einmal ein Prozent der Stimmen, 300 ihrer ehemaligen Mitglieder wurden seit der Demobilisierung bereits umgebracht. Die Verhandlungen mit der ELN, der anderen linken Guerilla Kolumbiens, wurden abgebrochen.

Die landesweiten Proteste 2021 haben das Land wochenlang lahmgelegt, bis heute wird mit den Demonstrant*innen verhandelt. Francia Márquez hat damals am Protest teilgenommen und ist nicht nur daher vielen Genoss*innen von der Straße bekannt. Vielleicht überwiegt vor allem wegen ihr die Hoffnung auf bessere Zeiten. Denn der Erfolg geht zu einem großen Teil auf ihr Konto, sie gibt den „Niemanden“ eine Stimme und ein Gesicht, den Millionen von marginalisierten Menschen in Kolumbien.

Kurz vor den massiven Protesten im Mai und Juni 2021 war Francia Elena Márquez Mina noch eine wenig bekannte Schwarze Umweltaktivistin, die meist afrikanische, traditionelle Kleidung trägt, bunte Tücher zum Turban gewickelt um den Kopf, Armreifen aus Perlen und Muscheln. Zum Gruß, beim Sprechen oder Singen hebt sie immer wieder die linke Faust. Jetzt ist sie eine Herausforderung für die traditionelle politische Klasse. Ihr Ziel ist in eigenen Worten, „die hegemoniale patriarchalische Politik zu brechen“. Und tatsächlich hat sie das Potenzial dazu hauptsächlich aufgrund ihrer zutiefst demütigen Haltung gegenüber kollektiven Prozessen. Ihr politischer Leitsatz lautet: „Ich bin, weil wir sind.“

Francia Márquez wurde 1981 geboren und ist in einer kleinen Dorfgemeinschaft mit kaum 100 Einwohner*innen im südlichen Department Cauca aufgewachsen. Das Haus der Familie ist aus Lehm gebaut, ihr Großvater versammelte an den Abenden die Gemeinschaft und galt als ihr Sprecher. In demselben Haus begleitete sie ihre Großmutter im Sterben. Schon als junges Mädchen schürfte sie am Fluss Gold und half beim Anbau von Kaffee, Kochbananen und Yuca. Francia Márquez hat 2021 an den Protesten teilgenommen und ist vielen Genoss*innen von der Straße bekannt.

Das Department Cauca ist eines der gefährlichsten und gewalttätigsten Gebiete des Landes. Allein im Jahr 2021 wurden 70 Menschen aufgrund ihres Aktivismus für den Umweltschutz und die Menschenrechte umgebracht. Schon in ihrer Jugend erkennt Márquez den Zusammenhang zwischen der Zerstörung der Umwelt und der sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit in den Bergbaugebieten. 2019 muss die Aktivistin aufgrund von Morddrohungen ihr Dorf verlassen. In Cali trifft sie auf Schwarze Aktivistinnen, die sie in ihrem sozialen Zentrum Casa Chontaduro aufnehmen.

Weniger radikale Linke setzten auf Petro

In diesem neuen Zuhause begegnen ihr zahlreiche Lebensgeschichten, die ihrer eigenen sehr ähneln. „Meine Biografie ist nur deswegen relevant, weil viele das Gleiche durchgemacht haben: Kinderarbeit, von klein an, auf dem Land und im Bergbau, sexueller Missbrauch und Belästigung, sklavenähnliche Arbeitsbedingungen bei reichen Familien.“ Francia hält auch als Vizepräsidentin engen Kontakt zu ihrer Herkunft und zur Bewegungslinken. Ihren Sieg feierte sie in ihrem Wohnviertel in Cali, ohne Sicherheitspersonal und schusssichere Weste. Sie kommt weiterhin zu Veranstaltungen, und am Montag nach der Amtsübergabe hat sie in ihrem Heimatdorf die Einführung gefeiert.

Weniger „radikale“ Linke setzten ihre Hoffnung eher auf Petro, denn er provoziert weniger und versucht, seine Regierung als offen in alle Richtungen zu positionieren. Bei seiner ersten Rede nach der Wahl machte er klar: Der Präsidentenpalast stehe jederzeit auch für die Opposition offen. Er werde auf Versöhnung setzen. So traf er sich nach der Wahl bereits mit seinen politischen Gegner*innen aus dem ultrarechten Lager. Diese gemäßigte Politik passt auf den ersten Blick nicht unbedingt zur Vergangenheit Petros und zur Darstellung seiner Person in den traditionell konservativen Medien. Petro war Mitglied in der M19-Guerilla, und das rechte Lager warnte stets vor seinem Versuch, den Sozialismus einzuführen. Allerdings sind in Kolumbien bewaffnete oppositionelle Gruppen nicht auch selbstverständlich sozialistische Bewegungen. Die M19-Guerilla gehört politisch eher zum sozialdemokratischen Lager. Trotzdem ist seine Vergangenheit in vielen Kreisen ein Stigma.

Francia Márquez gibt den „Niemanden“ eine Stimme

Sein diplomatisches Geschick lässt allerdings erwarten, dass Petro nicht nur zu den emanzipatorischen und fortschrittlichen Regierungen der Region enge Beziehungen aufbauen wird. Bereits in den ersten Wochen nach der Wahl hat er Francia Márquez auf eine Südamerikareise geschickt, auf der sie die Präsidenten und Regierungsmitglieder Argentiniens, Chiles und Boliviens sowie in Brasilien den linken Präsidentschaftskandidaten Luiz Inácio „Lula“ da Silva besuchte. Das Verhältnis zu den USA wird sich sicherlich verändern, denn Petro wird die traditionelle Rolle Kolumbiens in der US-Außenpolitik anfechten: Kolumbien wird nicht weiter der Damm gegen linke Regierungen sein.

Auch für das Nachbarland Venezuela ist die Wahl Petros eine gute Nachricht. Die politische Rechte Kolumbiens war unter anderem am versuchten Putsch in Venezuela 2019 beteiligt, bei dem sich der venezolanische Politiker Juan Guaidó selbst zum Interimspräsidenten ernannte und sogar von der deutschen Bundesregierung anerkannt wurde. Kolumbianische Paramilitärs und Militärs hatten ihn damals unterstützt. Nun werden nach Jahren der Funkstille zwischen Kolumbien und Venezuela die diplomatischen Beziehungen wieder aufgenommen. Der venezolanische Außenminister Carlos Farías und sein zukünftiger kolumbianischer Amtskollege Álvaro Leyva Durán haben dazu bereits Ideen vorgelegt. Der Wirtschaftswissenschaftler Petro wird als erste Priorität eine Reform der Steuer- und Rentenpolitik angehen. Denn das primäre Ziel der neuen Regierung ist die Bekämpfung von Armut und Ungleichheit. Für die ersten 100 Tage kündigte Petro daher bereits konkrete Reformpläne an. Außerdem will die neue Regierung auch das Freihandelsabkommen mit den USA neu verhandeln. Im Wahlkampf hatten Gustavo Petro und Francia Márquez zahlreiche Forderungen der Bewegungen aufgegriffen: Im Zentrum der Wahlversprechen stand der Schutz der Aktivistinnen vor Gewalt und Verfolgung. Seit der Unterzeichnung des Friedensvertrags sind über 900 Aktivistinnen ermordet worden, Kolumbien gilt als eins der weltweit gefährlichsten Länder für die politische Linke. Zudem sollen die Friedensverhandlungen mit der immer noch aktiven ELN-Guerilla aufgenommen und der Friedensvertrag mit der FARC umgesetzt werden.

Zu Petros Wahlversprechen zählen zudem strukturelle Reformen in Polizei und Armee. Die Polizei soll aus dem Verteidigungsministerium ausgegliedert werden. Dies ist vor allem mit Blick auf die Sozialproteste ein wichtiges Thema für linke Bewegungen – alleine bei den Protesten 2021 wurden über 80 Menschen von der Polizei getötet. Bisher wurde niemand zur Rechenschaft gezogen. Bereits vor der offiziellen Amtseinführung hat die neue Regierung aus diesen Wahlkampfversprechen einige konkrete Vorschläge erarbeitet, darunter die Freilassung der politischen Gefangenen, die seit ihrer Teilnahme an den Protesten in Haft sind.

Weniger vielversprechend sieht es in der Klimapolitik aus. Obwohl das Thema im Wahlkampf eine Rolle gespielt hatte, kündigte Petro nun an, vorerst nicht aus dem Kohleabbau auszusteigen. Zwar will er perspektivisch weg von Öl und Kohle, doch wegen des Ukraine-Kriegs steigen derzeit die deutschen Kohleimporte aus Kolumbien wieder an. Und das Entwicklungsland kann es sich nicht leisten, sich dieses Geschäft entgehen zu lassen. So plant die neue Regierung, den Abbau von Bodenschätzen weiterhin zu ermöglichen, allerdings mit sozial- und umweltverträglichen Beschränkungen. Und zumindest die derzeit laufenden Pilotprojekte im Fracking werden ausgesetzt.

Weniger vielversprechend sieht es in der Klimapolitik aus

Außerdem wird in den kommenden Jahren in den Ausbau der sozialen Infrastruktur investiert. Das ist unglaublich notwendig in einem Land, in dem Menschen an heilbaren Krankheiten oder Kleinkinder an Unterernährung sterben. Und bis 2023 werden die öffentlichen Unis keine Einschreibungsgebühr nehmen. Grund zur Freude geben vor allem zwei neue Ministerien: Das Ressort für Gleichstellung wird von niemand geringer als Francia Márquez selbst geführt; sie wird sich um die Rechte von Frauen, LGBTIQ+ und gefährdeten Bevölkerungsgruppen kümmern und für die soziale und wirtschaftliche Gleichstellung ausgegrenzter Teile der Bevölkerung kämpfen. Zudem wird ein Ministerium für Frieden, Sicherheit und Zusammenleben eingeführt.

Das Kabinett der neuen Regierung entspricht Petros integrativem Politikstil. Das Außenministerium geht ans konservative Lager, an die eher liberale Strömung gehen die Ressorts Wohnen und Landwirtschaft. Aus dem eher linken Lager kommen der neue Bildungsminister, der Verteidigungsminister sowie die drei Frauen in den Ressorts Umwelt, Gesundheit und Kultur, María Susana Muhamad von der linken Partei Colombia Humana, Carolina Corcho und Patricia Ariza Flórez aus der Unión Patriótica. Insgesamt gibt Petro mit seinen Ernennungen vielen unterschiedlichen Lagern eine Repräsentation in der Regierung.

Trotz unterschiedlicher Einschätzungen seitens der linken Bewegung wird diese Regierung für mehr Einheit unter den Linken sorgen, für mehr Austausch und direkte Beteiligung vieler marginalisierter und ausgeschlossener Bevölkerungsgruppen. Ihr ständiger Bezug auf Protest und Bewegung, ihre direkten Kontakte zu Aktivist*innen und linken Intellektuellen lassen auf eine wirkliche Veränderung hoffen.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier “Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika”. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

// BRUCH NACH 500 JAHREN

Kolumbien erhält am 7. August die erste linke Regierung seiner Geschichte: Dann treten der Ex-Guerillero Gustavo Petro mit seiner afrokolumbianischen Vizepräsidentin Francia Márquez an die Spitze eines Staates und eines Landes, das bisher ungebrochen von der Rechten und der gewalttätigen Rechten kontrolliert wurde. „Der Sieg von Petro und Márquez ist auch das Ergebnis des Kampfes und der Mobilisierung durch die sozialen Bewegungen, insbesondere der afrokolumbianischen und indigenen Bewegungen, die sich seit Beginn des Kolonialismus vor über 500 Jahren zur Wehr gesetzt haben – gegen die rassistische, koloniale und patriarchale Weltordnung.“ Das sagt die afrokolumbianische Wissenschaftlerin Edna Martínez, eine Mitstreiterin von Francia Márquez, im LN-Interview.

Vertreter*innen der sozialen Bewegungen zogen vor der Stichwahl am 19. Juni von Haus zu Haus, um die Menschen von der historischen Chance zu überzeugen. Ihr Argument: Petro ist kein Messias, aber er kann die Weichen für eine sozialere, gerechtere, menschlichere Gesellschaft stellen. Und der Wunsch, einen neuen politischen Kurs einzuschlagen, zeigte sich nicht nur an der höchsten Wahlbeteiligung seit 1998 (57,5 Prozent), sondern auch am Verhalten vieler traditioneller Nichtwähler*innen, die vor Jahrzehnten ihren Glauben an Politik und Institutionen verloren hatten und diesmal, sogar oft zum ersten Mal, wählen gegangen sind.

Seit seiner Wahl ist Petro auf der Suche nach Kompromissen: mit der politischen und ökonomischen Elite des Landes, mit Unternehmer*innen, Großgrundbesitzer*innen und all denjenigen, die über genügend Macht verfügen, um ihm alle möglichen Steine in den Weg legen zu können. Petros Aufgabe ist nicht einfach. Er hat sich bereits mit mehreren führenden Politiker*innen getroffen, unter anderem auch dem Ex-Präsidenten Álvaro Uribe – fraglos einem Kriminellen, aber auch der wichtigste Oppositionsführer –, um im Rahmen seines vorgeschlagenen Acuerdo Nacional gemeinsame Lösungen für die Probleme des Landes zu finden.

Moderat geht Petro auch bei der Besetzung seines Kabinetts vor. Die Fachkompetenz der Mitglieder ist sein Hauptkriterium. Sein Versprechen: ein paritätisches Kabinett. Und er hält Wort. Von den sieben bisher designierten Minister*innen sind vier Frauen.

Der Kurs von Petro steht schon vor der Amtseinführung: Im Land sollen Räume geschaffen werden, um den versprochenen Wandel in Taten umzusetzen. Dem erwartbaren Widerstand der Rechten gegen notwendige Reformen wie die Agrarreform, einer Reform der Streitkräfte und einer Neuausrichtung der Umwelt- und Drogenpolitik soll schon vorab der Wind aus den Segeln genommen werden. Es sind genau diese Themen, die im Bericht der Wahrheitskommission vordringlich erwähnt wurden, der am 28. Juni in Bogotá und am 6. Juli in Berlin der Öffentlichkeit präsentiert wurde.

Derweil steht eine Überarbeitung der deutsch-kolumbianischen Beziehungen an. Im Deutschen Bundestag wurde zwar Anfang Juli erneut beschlossen, den Friedensprozess in Kolumbien stärker zu unterstützen, doch konkrete Verantwortlichkeiten blieben ausgespart. Das gilt auch für einen weiteren Konfliktpunkt: Die deutsche Bundesregierung möchte weiterhin mehr kolumbianische Kohle importieren, um den Verzicht auf russische Kohle zu kompensieren. Die Regierung von Petro hingegen möchte einen neuen Kurs in der Umweltpolitik einschlagen und sukzessive von einer „extraktivistischen“ auf eine produktive Umweltpolitik umsteigen, bei der keine natürlichen Ressourcen ausgebeutet werden. Und kurzfristig sollen die Rohstoffe nicht zu Schleuderpreisen verkauft werden, sondern zu Preisen, die Raum für soziale Umverteilung schaffen. Fraglich, ob diese Pläne beim rohstoffarmen Deutschland auf Gegenliebe stoßen. Nicht nur in Kolumbien, auch in Deutschland sind die sozialen Bewegungen gefordert, damit es mit einer sozial-ökologischen Erneuerung endlich vorangeht.

HER MIT DEM GUTEN LEBEN

Viele Analyst*innen hatten nach der ersten Wahlrunde behauptet, Petro habe sein gesamtes Potenzial ausgeschöpft. Ein linker Kandidat in Kolumbien könne kaum mit mehr als den in der ersten Runde erhaltenen 8 Millionen Stimmen und dem Rückhalt von 40,3 Prozent der Wähler*innen rechnen. Dennoch gewann Petro in der Stichwahl überraschend 2,7 Millionen dazu und fuhr dadurch mit 50,4 Prozent der Stimmen einen knappen Wahlsieg gegen eine vereinte Rechte ein.

Hernández versuchte dieses Streben nach einem Neuanfang in einem für seine 77 Jahre sehr hippen TikTok-Wahlkampf mit harscher Kritik am Establishment und an Korruption zu verkörpern. Allerdings erschien dieses Versprechen im Vergleich zu Petro und Márquez deutlich unglaubwürdiger. Der in der internationalen Presse oft mit Donald Trump verglichene Hernández war auch wegen eines während des Wahlkampfs laufenden Korruptionsprozesses aus seiner Zeit als Bürgermeister von Bucaramanga aufgefallen. Weitere Skandale betrafen ein Lob für Adolf Hitler als großen deutschen Denker, Schläge gegen einen Abgeordneten der Opposition aus seiner Zeit als Bürgermeister, misogyne und xenophobe Äußerungen über venezolanische geflüchtete Frauen (sie seien „Gebärfabriken armer Kinder”), sowie über Frauen, die im Idealfall nicht arbeiten, sondern zu Hause die Familie versorgen sollen. Nicht zuletzt wird auch seine Weigerung, Petro in einer Debatte vor laufenden Kameras gegenüberzutreten, bei einem großen Teil der unentschlossenen Wähler*innen dafür gesorgt haben, die Eignung des 77-Jährigen anzuzweifeln.

Es wäre verkürzt, den Wahlerfolg Petros lediglich mit der Schwäche seiner Gegner zu erklären. Zwar ist die Rechte durch die laufenden Prozesse gegen Ex-Präsident Álvaro Uribe und eine negative Regierungsbilanz des Amtsinhabers Iván Duque geschwächt. Entscheidend für den Wahlsieg Petros waren allerdings − ähnlich wie in Chile − die vorangegangenen Proteste im November 2019 und April und Mai 2021. Die paros nacionales (dt. Generalstreiks) richteten sich gegen die neoliberale Austeritätspolitik der Duque-Regierung, darunter die höhere Besteuerung der Mittel- und Unterschicht sowie die Reform des Gesundheitssystems nach US-amerikanischem Vorbild. Die monatelangen Proteste wurden mit massiver Polizeigewalt und Militarisierung von Seiten des Staates unterdrückt und veränderten die Stimmung im Land.

„Wie konnten wir erlauben, dass das geschehen ist”

Zusätzlich spielten die besonders durch strukturellen Rassismus und Repression betroffenen Gebiete der Schwarzen und indigenen Bevölkerung eine zentrale Rolle, wie beispielsweise das stark indigen geprägte Valle del Cauca nahe der afrokolumbianisch geprägten Stadt Cali. Die Allianz der Bevölkerung in den von staatlicher Gewalt betroffenen, strukturell benachteiligten urbanen Vierteln und der ländlichen Regionen brachte eine neue Solidarität und neue Diskussionen über die Identität des Landes in Gang. Sinnbildlich dafür waren die in Kolumbien so nie dagewesenen Bilder von gestürzten Statuen von Konquistadoren im ganzen Land und von in Cali einfahrenden, mit der indigenen Wiphala- und Mizak-Flagge geschmückten Bussen voller indigener Demonstrant*innen aus dem Umland.

Die Taktik des linken Wahlbündnisses Pacto Histórico (dt. Historischer Pakt), nicht wie in vergangenen Anläufen grüne oder liberale Vize-Präsidentschaftskandidat*innen zu berufen, erwies sich als Erfolgsrezept. Durch die Wahl von Francia Márquez, einer afrokolumbianischen Umweltaktivistin und ehemaligen Goldminenarbeiterin und Hausangestellten, die bei den Abstimmungen innerhalb des Pacto Histórico den zweiten Platz belegt hatte, schaffte es das Bündnis, einer bisher kaum auf nationaler Ebene präsenten Schicht eine Stimme zu verleihen.

Der Wahlsieg steht für viele im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung

So betonte Márquez in der Wahlnacht in ihrer Ansprache, in Anspielung auf Martin Luther Kings I-Have-a-Dream-Rede, dass sie davon träume in einem Land zu leben, in dem Frieden herrscht. Ihr Ausspruch „vivir sabroso” (dt. etwa „gehaltvoll leben“) beschreibt nämlich nicht – wie von Gegner*innen oft behauptet – ein Leben mit Geld, sondern steht sinnbildlich für ihren Traum eines Lebens ohne Angst und eines Kolumbiens, in dem niemand wegen seiner politischen Ansichten in Gefahr lebt. Es ist dieser Traum einer sanften Politik der Versöhnung, der sich nach den jahrelangen Kämpfen und der exzessiven Repression der letzten Jahre mit allein 154 ermordeten sozialen Aktivist*innen im vergangenen Jahr und 80 Toten durch Polizeigewalt während der Proteste, für viele Menschen in Kolumbien wie eine Umarmung voller Hoffnung anfühlt.

Wie sehr die Gewalt das Land in den letzten Jahren geprägt hat, wurde zwei Wochen nach der Wahl im Abschlussbericht der Wahrheitskommission deutlich. „Wie konnten wir erlauben, dass das geschehen ist. Und wie können wir es wagen, es weiterhin zuzulassen”, kommentierte der Vorsitzende der Wahrheitskommission Francisco de Roux die Veröffentlichung des Berichts. 450.664 Tote insgesamt, davon der größte Anteil durch die dem Staat nahestehenden rechten Paramilitärs, waren die Bilanz aus über 60 Jahren Bürgerkrieg in Kolumbien.

Der Sieg Petros und Márquez’ ist angesichts der Geschichte und des Zulaufs von 2,7 Millionen Stimmen zwischen der ersten und der zweiten Wahlrunde nur dadurch zu verstehen, dass sie es geschafft haben ein Angebot zu machen, das sowohl linke als auch liberale Stimmen des Landes vereint. Die Linie, den „Kapitalismus weiterzuentwickeln”, wie es Petro in seiner Rede zum Wahlsieg angekündigt hat, ist aus linker Sicht antikapitalistisch und als Kampfansage an den Neoliberalismus zu verstehen. Gleichermaßen ist sie auch ein Hinweis an Liberale, den Kapitalismus nicht abschaffen zu wollen, sondern ihn ähnlich wie die von den Grünen in Deutschland ausgerufene „sozial-ökologische Transformation” zu reformieren und an neue Herausforderungen sozialer und ökologischer Natur anzupassen. Es bleibt abzuwarten, ob dieser Schachzug, liberale und linke Stimmen zu vereinen, in den nächsten Jahren glücken wird. Zusammen mit dem Freudentaumel des Wahlsiegs und der durchfeierten Wahlnacht, die in den großen Städten des Landes wie ein WM-Sieg gefeiert wurde, ist die mit etwas Skepsis begleitete Hoffnung auf Frieden die vorherrschende Stimmung einer neuen Ära, die in Kolumbien begonnen hat.

„PETRO IST KEIN MESSIAS“

Edna Martínez (Foto: privat)

Welche Erwartungen hegen Sie an diese erste linke Regierung Kolumbiens?
Mit der Regierung Petro/Márquez tritt eine progressive sozialdemokratische Regierung an, mit einem Schwerpunkt auf Menschenrechten, sozialer Gerechtigkeit, Umweltschutz. Das ist das Ergebnis eines über 200 Jahre währenden Kampfes. Kolumbien wurde in seiner ganzen republikanischen Geschichte politisch und ökonomisch von einer Handvoll Familien beherrscht, die das Land als ihren Privatbesitz betrachtet haben, als ihre Finca, als ihre Hacienda. Sie haben sich viel mehr Rechte eingeräumt als den normalen Bürger*innen.

Der Sieg von Petro und Márquez ist auch das Ergebnis des Kampfes und der Mobilisierung durch die sozialen Bewegungen, insbesondere der afrokolumbianischen und indigenen Bewegungen, die sich seit Beginn des Kolonialismus vor über 500 Jahren zur Wehr gesetzt haben – gegen die rassistische, koloniale und patriarchale Weltordnung. Sie stehen für das Recht auf Überleben und auf eine eigene Weltanschauung ein. Sie wenden sich gegen einen unersättlichen, zerstörerischen Kapitalismus. Ein Wirtschaftssystem, das auf Ausbeutung von Menschen setzt, auf die Versklavung von Menschen, auf den Ausschluss von Menschen.

War es vor dem zweiten Wahlgang am 19. Juni zu erwarten, dass Kolumbien 212 Jahre nach der formellen Unabhängigkeit zum ersten Mal ein linkes Duo zum Staatsoberhaupt wählen würde?
Ich denke, dass der Sieg von Petro absehbar war. Vor allem die beiden letzten Generalstreiks 2019 und 2021 waren Anzeichen dafür, dass eine Mehrheit der Kolumbianer*innen einen grundlegenden Wandel einfordert (siehe auch LN 564). Vor allem der Generalstreik 2021 mit der massiven Präsenz der Bevölkerung auf den Straßen mit der Forderung nach einer sozialen, politischen und wirtschaftlichen Transformation war ein starkes Indiz für einen Wechsel.

Ein anderes Element war der Rückschritt im Friedensprozess unter der jetzigen Regierung nach dem Abkommen mit der FARC-Guerilla 2016. Die Reintegration und die Demobilisierung der ehemaligen FARC-Kämpfer*innen kommt nicht wie verabredet voran. Das hat der kolumbianischen Gesellschaft die Einsicht vermittelt, dass es auch an vielen, anderen Ecken soziale Probleme gibt, die seit vielen Jahrzehnten nicht angegangen, sondern zugedeckt wurden. Früher wurde der Kampf gegen die Guerilla und den „Terrorismus“ vorgeschoben, um soziale Probleme unbearbeitet zu lassen. Die Aufstandsbekämpfung war das zentrale Thema in den Medien, die sozialen Probleme, die grundlegenden strukturellen Probleme in der Gesellschaft wurden vernachlässigt. Seit 2016 sind sie stärker in den medialen Fokus gerückt, auch dank der Generalstreiks.

Das Duo Petro/Márquez erhielt im zweiten Wahlgang 11,2 Millionen Stimmen, nachdem es im ersten Wahlgang als einzige linke Option „nur“ 8,5 Millionen Stimmen erhalten hatte. Wie erklärt sich dieser enorme Anstieg?
Die Rolle von Francia Márquez war hier sehr wichtig. Sie hat es geschafft, Wähler*innen zu überzeugen, zu interessieren, zu mobilisieren, die Petro nicht vertrauten, die Petro aus unterschiedlichsten Gründen nicht als gute Option für einen echten Wandel sahen. Márquez hat dem politischen Projekt des Pacto Histórico (dt. Historischen Pakts) mehr Kontur gegeben, mehr inhaltliche Tiefe und Struktur. Sie repräsentiert den ausgeschlossenen Teil Kolumbiens, die Kolumbianer*innen, die unter der sozialen Ungleichheit am meisten zu leiden haben, die, die unter dem bewaffneten, internen Konflikt am meisten gelitten haben. Sie repräsentiert das Kolumbien der Überlebenden. Sie spricht in einer einfachen Sprache, vermittelt aber grundlegende Zusammenhänge. Sie tritt entschieden und radikal für die Verteidigung des Territoriums der indigenen und afrokolumbianischen Gemeinden ein, für die Menschenrechte, für den Umweltschutz. Ein großer Teil des Stimmenzuwachses dürfte auf die Person Francias und ihre schlüssige Position zurückgehen. Márquez hatte ja schon bei der bündnisinternen Vorwahl um die Präsidentschaft ihre Zugkraft gezeigt, bei ihrem ersten Auftritt auf der politischen Bühne überhaupt: Sie wurde im März mit fast 900.000 Stimmen Zweite hinter Petro, dabei hatte sie kaum Geld für Wahlkampf, nur ein kleines Team und auch nur sechs Monate für ihre Kandidatur geworben.

Neben Márquez war sicher auch die gute Organisation der sozialen Bewegungen entscheidend: Sie haben mobilisiert, sie haben unentschiedene Wähler*innen überzeugt, selbst Wähler*innen, die die Absicht hatten, den rechten Rodolfo Hernández zu wählen. Auf den Mingas (kollektiver Arbeitseinsatz oder politische Versammlung, Anm. d. Red.), in der Nachbarschaft, in den Familien – überall wurde Überzeugungsarbeit geleistet. Dort wurde mit Argumenten geworben und versucht, Konfrontationen zu vermeiden. Petro hat ja den Slogan von der „Politik der Liebe“ ausgegeben, statt der vorherrschenden „Politik des Hasses“. So wurde friedfertig für das politische Projekt des Pacto Histórico geworben. Mit Erfolg.

Die Entscheidung Petros, auf Francia Márquez als Vize zu setzen, war demnach entscheidend für den Wahlsieg?
Ja, ich bin sicher, dass Petro seinen Erfolg der Strahlkraft von Márquez verdankt. Alle Analysen belegen, dass die afrokolumbianischen Stimmen, die der Indigenen und der Marginalisierten hauptsächlich auf die Anziehungskraft von Márquez zurückgehen. In den afrokolumbianischen Regionen hat Petro die meisten Stimmen erhalten und ebendort hat Francia ihren Wahlkampf gemacht.

Die Erwartungen der 11,2 Millionen Wähler*innen sind hoch. Petro will das Land befrieden, der rücksichtslosen Ausbeutung von Rohstoffen ein Ende setzen und den Unternehmen höhere Steuern auferlegen, um Mittel für die Sozialpolitik zu generieren. Welchen Widerstand erwarten sie von der kolumbianischen Rechten?
Die Sicht der kolumbianischen Rechten findet sich in den herrschenden Medien. Sie sieht das Land als Privatbesitz. Die politische und ökonomische Elite Kolumbiens wird sich dem Wandel sicher widersetzen. Das ist absehbar. Weniger klar ist noch, wie sich die USA und die Europäische Union zum politischen Projekt von Petro positionieren werden. Die historischen Erfahrungen auf dem amerikanischen Kontinent zeigen, dass die USA und auch die EU maßgeblich entscheiden, inwiefern sozialer Fortschritt zugelassen wird oder nicht. Es ist die Frage, ob die USA und die EU einen sozialen und demokratischen Wandel in Kolumbien unterstützen oder nicht. Ob sie die Entscheidung von 11,2 Millionen Kolumbianer*innen respektieren und unterstützen, ein gerechteres Land haben zu wollen. Tun sie das, wird sich der Spielraum für die extreme kolumbianische Rechte reduzieren. Ansonsten haben sie freie Bahn, wie extreme Rechte in anderen Ländern mit Falschinformationen Panik zu schüren, mit Desinvestitionen die Wirtschaft zu schädigen und so weiter. Meine große Sorge gilt der Haltung der USA und der EU. Diese beiden haben bisher von der kolumbianischen Rohstoffausbeutung profitiert, die Petro nun begrenzen und höher besteuern will. Das trifft multinationale Unternehmen, die sich um Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung in Kolumbien nicht geschert, sondern von der Gewalt sogar profitiert haben, weil sie ihr Geschäftsmodell ermöglichten. Wenn Petro sich durchsetzt, werden Rohstoffe künftig nicht mehr fast verschenkt, sondern teurer.

Welche Rolle spielen die sozialen Bewegungen im Pacto Histórico, in dem sich Parteien, Gewerkschaften und soziale Bewegungen zusammengeschlossen haben?
Aus meiner Sicht ist der Pakt vor allem ein Pakt der sozialen Bewegungen. Er ist ein Pakt der Konvergenz vieler politischer Akteur*innen, die den Status quo der kolumbianischen Politik satt haben. Die sozialen Bewegungen sind gewiss der Protagonist dieses Sieges. Die Menschen sind der Institutionen müde, zu denen auch die Parteien und die Gewerkschaften gehören. Es war die organisatorische und mobilisatorische Fähigkeit der sozialen Bewegungen, die den Sieg ermöglicht hat. Die der afrokolumbianischen Bewegung, der indigenen Bewegung, der Frauenbewegung, der Bewegung der Angehörigen von Ermordeten, der Jugend- und Studentenbewegung und der LGBTQ-Bewegung. Sie haben ihre Talente, Kräfte und Energie gebündelt. Das war der Schlüssel zum Erfolg.

In Chile hat der linke Reformer Gabriel Boric im März sein Amt als Präsident angetreten. Die sozialen Bewegungen beschuldigen ihn bereits der Unentschlossenheit. Wie stellen Sie sich eine konstruktive Interaktion zwischen den sozialen Bewegungen und einer linken Regierung in Kolumbien vor?
Was die sozialen Bewegungen in Kolumbien ganz klar kommuniziert haben, ist: Petro ist kein Messias. Sie haben klar kommuniziert, dass die Probleme Kolumbiens auf Jahrzehnten und Jahrhunderten von Fehlentwicklungen beruhen. Die tiefe gesellschaftliche Ungleichheit und institutionelle Krise lässt sich nicht in vier Jahren gerade rücken. Das braucht Zeit und Geduld. Die kommende Regierung repräsentiert jedoch im Gegensatz zu ihren Vorgängern im Großen und Ganzen die Interessen der bisher Vernachlässigten. Das ist ein Wert an sich. Die sozialen Bewegungen können künftig auf die Straßen gehen, ohne eine brutale Repression befürchten zu müssen wie bisher. Sie können für ihre Rechte eintreten und Kritik üben an der Regierung. Ich kann den Fall von Boric in Chile nicht konkret beurteilen. Aber auch da ist klar, dass eine linke Regierung nicht in wenigen Monaten korrigieren kann, was Jahrzehnte schief gelaufen ist. Was wir in der Vergangenheit in Lateinamerika immer wieder beobachten konnten, war, dass progressive Regierungen die sozialen Bewegungen kooptiert haben. Das hat die sozialen Kämpfe deutlich geschwächt. Eine konkrete Antwort auf die Frage nach einer konstruktiven Interaktion von sozialen Bewegungen und linken Regierungen kann ich nicht geben. Die Erfahrungen sind auch von Land zu Land verschieden. Mal sehen, wie es in Kolumbien laufen wird. Klar ist: Der Wahlsieg wurde mit einer progressiven Agenda erzielt, mit Rechten und Menschenrechten im Zentrum. Das ist ein gigantischer Erfolg in einem Land, das immer von der Rechten regiert wurde und das immer mit Billigung und Förderung durch die USA. Die USA standen immer hinter den ultrakonservativen Sektoren Kolumbiens. Nun gibt es in Kolumbien einen Paradigmenwechsel: Verkörpert wird er durch Francia Márquez, der ersten Schwarzen Frau an der zweiten Stelle des Staates. Das hat nicht nur symbolische und emotionale Auswirkungen, sondern verändert auch das Verständnis, was Politik ist und wie sie gemacht wird. Mit Márquez werden die Schwarzen anerkannt, werden die Frauen anerkannt, werden die Umweltschützer anerkannt, werden die Anti-Rassisten anerkannt. Das macht einen gewaltigen Unterschied.

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