
Was halten Sie generell von dem neuen Gesetzentwurf, der den Schwangerschaftsabbruch ohne Einschränkung entkriminalisieren soll?
Zunächst einmal muss man verstehen, dass es bei dieser Debatte um ein Menschenrecht geht. Die Bürger*innen haben sich nachhaltig für die Ausweitung der sexuellen und reproduktiven Rechte ausgesprochen. Alle Studien zeigen seit mindestens zwanzig Jahren, dass die Befürwortung des Schwangerschaftsabbruchs zunimmt. Selbst die konservativsten Umfragen zeigen, dass mehr als 60 Prozent der Bevölkerung die Legalisierung befürworten. Es besteht jedoch eine deutliche Diskrepanz zwischen der gesellschaftlichen Unterstützung und der Haltung der parlamentarischen Fraktionen, die weiterhin Gesetze mit zutiefst konservativer Logik erlassen. Die gleiche Entfremdung haben wir in der Rentendebatte gesehen – eine fehlende Übereinstimmung zwischen denjenigen, die die Entscheidungen treffen, und denjenigen, die in diesem Land leben.
Einer der zentralen Punkte des neuen Gesetzes ist der freiwillige Schwangerschaftsabbruch bis zur 14. Woche. Wie wichtig ist diese Grenze?
Sie ist ein internationaler Standard. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Internationale Föderation für Gynäkologie und Geburtshilfe (FIGO) befürworten den freiwilligen Schwangerschaftsabbruch bis zur 14. Woche nicht nur als technisches Kriterium, sondern auch als wirksame und sichere staatliche Maßnahme. Ministerin Orellana hat deutlich gemacht, dass der neue Gesetzentwurf dieser Linie folgt. Besorgniserregend ist, dass trotz wissenschaftlicher Argumente politische Fraktionen, die diese Regelung in anderen Zusammenhängen unterstützt haben, dieser nun Hindernisse in den Weg legen. Als Senatorin Yasna Provoste Präsidentschaftskandidatin war, hatte sie zum Beispiel die Idee, in ihrem Programm ein Gesetz über Fristen voranzutreiben. Jetzt agieren viele Parlamentarier ihrer Fraktion Democracia Cristiana (Christdemokraten) dagegen. Das zeigt, dass die Diskussion immer noch von Moralismus und nicht von Fakten geprägt ist.
Eines der historischen Hindernisse bei der Umsetzung des derzeit geltenden Gesetzes zum Recht auf Abtreibung in drei Fällen (das Gesetz erlaubt den Schwangerschaftsabbruch im Fall der Gefahr für das Leben der Schwangeren, der lebensgefährlichen Schädigung des Fötus oder infolge einer Vergewaltigung) war die Verweigerung aus Gewissensgründen. Wie wird dieses Problem im neuen Gesetz angegangen?
Die Verweigerung aus Gewissensgründen wurde auf eine Weise genutzt, die eine strukturelle Blockade geschaffen hat. In Chile gibt es eine institutionelle Verweigerung aus Gewissensgründen, was absurd ist, denn Institutionen haben kein Gewissen, sondern Menschen. Diejenigen, die sich weigern, sind im Grunde die Eigentümer privater Gesundheitsinstitutionen. Hier geht es also um die Überzeugungen derjenigen, die nicht einverstanden sind und die durch ihre wirtschaftliche Macht versuchen, den Zugang der Menschen zu Schwangerschaftsabbrüchen in diesen Gesundheitszentren zu beschränken. Darüber hinaus gibt es einen enormen Mangel an Regulierung: Es gibt Krankenhäuser, in denen medizinisches Fachpersonal per WhatsApp darüber informiert, dass sie die Durchführung der Eingriffe verweigern, was die Rechte von Frauen und schwangeren Frauen verletzt. In diesem Sinne halten wir es für sehr wichtig, die Regelung zur Verweigerung aus Gewissensgründen voranzutreiben, die derzeit im Rechnungshof bearbeitet wird und von der wir hoffen, dass sie im März genehmigt wird. Der Oberste Rechnungshof prüft, ob ein Dekret oder Beschluss mit der Verfassung und den geltenden Gesetzen übereinstimmt. Dieses neue Projekt muss gewährleisten, dass die Verweigerung aus Gewissensgründen kein Hindernis mehr für den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen darstellt, insbesondere in Regionen, in denen die Gesundheitsinfrastruktur eher begrenzt ist.
Der Zugang in den Regionen ist eine weitere große Herausforderung. Wie kann man verhindern, dass dieses Gesetz nur auf dem Papier steht?
Heute schreibt das Gesetz vor, dass Schwangerschaftsabbrüche in Hochrisiko-Abteilungen von Krankenhäusern mit komplexen Spezialisierungen durchgeführt werden müssen, was den Zugang auf Städte beschränkt, die über solche Krankenhäuser verfügen. Die WHO weist jedoch darauf hin, dass ein medizinischer Schwangerschaftsabbruch nicht unbedingt den Eingriff eines Arztes erfordert. Wenn eine entsprechend geschulte Person eine Ausbildung absolviert hat, ist es möglich und sicher, einen Schwangerschaftsabbruch auch außerhalb eines Krankenhauses vorzunehmen, ohne dass ein Krankenhausaufenthalt erforderlich ist. Idealerweise sollte der Schwangerschafts-abbruch in der Primärversorgung stattfinden, das heißt in den CESFAM-Gesundheitszentren (Centro de Salud Familiar; Einrichtung der primären Gesundheitsfürsorge in Chile, die medizinische und präventive Dienste für die Bevölkerung anbietet, Anm. d. Red.), denn dort befinden sich die Hebammen. Wenn eine Frau schwanger wird, geht sie zur Hebamme oder zum Allgemeinmediziner im CESFAM, das ist die Anlaufstelle, die ständige Verbindung für die Frauen im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit. In Regionen wie Los Rios zum Beispiel, wo es nur ein einziges hochkomplexes Krankenhaus gibt, müssen viele Menschen stundenlang anreisen, um ihr Recht wahrzunehmen. Wir hoffen, dass die neue Gesetzgebung durch Hebammen und geschultes Personal diese Verfahren ohne unnötige Bürokratie gewährleisten wird.
In Lateinamerika haben wir Fortschritte bei der Legalisierung der Abtreibung erlebt, aber auch Rückschläge. Welche Lehren lassen sich aus Erfahrungen wie denen in Argentinien und Kolumbien ziehen?
Zunächst einmal ist eine bereichsübergreifende Unterstützung erforderlich. Abtreibung ist eine Frage der öffentlichen Gesundheit und darf nicht in parteipolitische Auseinandersetzungen verwickelt werden. In Argentinien hat sich beispielsweise eine Koalition gebildet, die es verschiedenen politischen Sektoren ermöglichte, das Gesetz zu unterstützen. In Chile wurde das Gesetz über den Schwangerschaftsabbruch in drei Fällen mit Stimmen von der Rechten bis zur Linken, mit Ausnahme der Ultrarechten, angenommen. Die Gesellschaft hat ein Recht auf eine informierte Debatte, bei der alle möglichen Akteure zu Wort kommen. Die Erfahrung lehrt uns, dass es notwendig ist, im Kongress so transversal wie möglich zu arbeiten. Um ein Gesetz über Fristen voranzubringen, brauchen wir eine ähnliche Strategie. Wir glauben, dass ein einfacher Gesetzentwurf, der den Abbruch bis zu 14 Wochen vorverlegt, erfolgreich sein kann. Und außerhalb des Kongresses liegt der Schlüssel in der Mobilisierung: Ohne den Kampf der feministischen Organisationen gäbe es nicht einmal das Gesetz zum Recht auf Schwangerschaftsabbruch in drei Fällen. Der soziale Druck war und ist von grundlegender Bedeutung.
Wie sehen Sie in der aktuellen Situation, in der die extreme Rechte in der Region an Boden gewonnen hat, den Fortgang der Diskussion über Abtreibung in Chile?
Wir sind besorgt über das Wachstum von Sektoren, die Desinformation als Strategie einsetzen. Über die Arbeit des ersten Verfassungskonvents wurden Lügen verbreitet, zum Beispiel dass dort „Abtreibung bis zu neun Monaten“ vorgeschlagen wurde. Das ist dieselbe Taktik, die sie in Argentinien und Brasilien angewandt haben: Panik und Verwirrung stiften. Das beste Mittel, um dieser Entwicklung entgegenzutreten, sind daher faktengestützte Informationen. 78 Prozent der Bevölkerung unterstützen das Drei-Fälle-Gesetz und 53 Prozent befürworten das Recht auf Abtreibung ohne Einschränkung. Wenn es uns gelingt, die Unterstützung der Bürger*innen im Kongress zum Ausdruck zu bringen, sind wir der Gewährleistung eines Grundrechts einen Schritt nähergekommen.
