Dezentral organisiert Die ELN verfügt über acht relativ autonom agierende Fronten (Foto: Brasil de Fato, CC BY-NC-SA 2.0)
Eine Krise? Gebe es nicht, beteuerte der Hochkommissar für Frieden der neuen Regierung Kolumbiens, Iván Danilo Ruedas, im Interview mit der spanischen Tageszeitung El País am 8. Januar. Vielmehr würden weiter Fortschritte in den Friedensverhandlungen mit der Guerilla „Nationale Befreiungsarmee“ (ELN) gemacht. „Die Dinge laufen gut“. Die Message war eindeutig: Trotz des vorherigen Lapsus’ Bogotás sei Zuversicht angesagt.
Was war passiert? Per Twitter hatte Präsident Gustavo Petro am Neujahrstag die vermeintlich frohe Botschaft verkündet, man habe sich unter anderem mit der ELN auf einen bilateralen Waffenstillstand geeinigt. Dieser dauere bis zum 30. Juni und könne dann – „je nach Fortschritten bei den Verhandlungen“ – verlängert werden. Indes: Es dauerte nur drei Tage bis die Delegation der ELN Petro öffentlich widersprach. In einer Erklärung heißt es, beim Waffenstillstand handle es sich um „einen Vorschlag, der geprüft werde“: „In dieser Frage ist noch keine Einigung erzielt worden“, ein „einseitiger Regierungserlass“ könne „nicht als Vereinbarung akzeptiert werden“. Die kolumbianische Regierung in Gestalt von Innenminister Alfonso Prada musste das entsprechende Präsidialdekret zurückziehen, mehrere Beobachter*innen sprachen von der bislang schwersten Krise für die noch junge Petro-Regierung.
Für Bogotá ist der Vorgang mindestens unangenehm, möglicherweise hat die Regierung durch ihr Vorgehen auch Vertrauen bei der Guerilla verspielt. In einer am 9. Januar verbreiteten Erklärung der ELN klingt es zumindest so. Dort heißt es, die Friedensgespräche befänden sich in einer Krise, „da die Regierung sich nicht an die Diskussionsprozesse hält“. Trotzdem versicherte die Gruppe ihre Bereitschaft, die Verhandlungen fortzuführen, wobei „zunächst die jüngsten Ereignisse aufgearbeitet werden müssen“. Um wirklich von Erfolg gekrönt zu werden, müssten die Gespräche partizipativ und nach dem Konsensprinzip gestaltet werden.
Seit Ende November 2022 führen Vertreter*innen der kolumbianischen Regierung und der ELN Verhandlungen über einen möglichen Friedensvertrag. Eine erste Dialogrunde wurde am 12. Dezember nach 20 Tagen in der venezolanischen Hauptstadt Caracas beendet. Neben einer Einigung über das weitere Vorgehen konnten Maßnahmen beschlossen werden, die dem Schutz der Zivilbevölkerung in besonders vom bewaffneten Konflikt betroffenen Regionen dienen sollen.
Eigentlich sollten die Gespräche erst Mitte Februar wieder aufgenommen werden, diesmal in Mexiko. In Folge des öffentlich ausgetragenen Disputs über den bilateralen Waffenstillstand legten beide Seiten jedoch eine Extrarunde ein: Am 17. Januar trafen sie sich für ein „außerordentliches Treffen“, erneut in Caracas, bei dem das weitere Vorgehen besprochen wurde. Gegenüber der kolumbianischen Tageszeitung El Espectador erklärte María José Pizarro von der Regierungsdelegation, man wolle „[den] Friedenswillen bekräftigen, Arbeits- und Kommunikationsmechanismen zwischen beiden Delegationen und vor allem für die Zeit zwischen den Gesprächsrunden schärfen und drittens Fortschritte beim bilateralen Waffenstillstand machen“.
Die ELN fordert von der Regierung eine Garantie, dass Ähnliches nicht noch einmal geschehe. Bogotá hingegen sieht sich keiner Schuld bewusst. So verteidigte sich Präsident Petro zuletzt erneut: Es habe sich nicht um eine „unilaterale Entscheidung der Regierung“ gehandelt. Gleichzeitig erhöht Bogotá den öffentlichen Druck auf die Guerilla. Beispielhaft dafür steht die wiederholte Forderung, die Organisation solle die Tatsache nutzen, dass sie es mit einer „progressiven Regierung“ zu tun habe, was den Abschluss eines Friedensabkommens erleichtern würde.
Trotz der Schwierigkeiten geht es tatsächlich voran – wenn auch im Kleinen: So werden erste getroffene Übereinkünfte umgesetzt. Mitte Januar startete eine „humanitäre Karawane“, um die Situation in Bajo Calima und Medio San Juan zu untersuchen – laut Vertreter*innen beider Seiten zwei Orte, die „in den letzten Monaten Schauplatz einer Verschärfung des bewaffneten Konflikts gewesen sind“. In einer Erklärung heißt es, Ziel sei, „der Bevölkerung zuzuhören und mit ihr in einen Dialog zu treten, Aussagen und Vorschläge von Frauen, vertriebenen Familien und sozialen Anführern anzuhören“.
In den beiden Regionen Valle del Cauca und Chocó an der Pazifikküste kämpfen mehrere Akteure um Einfluss. Im Rahmen der ersten Runde der Friedensgespräche hatten sich Regierung und ELN in einem Teilabkommen auf „Sofortmaßnahmen“ zur Reduzierung der dort grassierenden Gewalt geeinigt. Bei einer Pressekonferenz am 12. Dezember erklärte Pablo Beltrán, Leiter der ELN-Delegation bei den Verhandlungen, der Schritt könne nur der Anfang sein. Ausgehend von den im Valle del Cauca und Chocó gemachten Erfahrungen sollten schon bald auch in anderen Regionen ähnliche Maßnahmen umgesetzt werden. Unterdessen hält die Gewalt jedoch an. So kam es nach Angaben von El Espectador Mitte Januar erneut zu Gefechten in Bajo Calima.
Fest steht: Die Regierung hat es eilig. Präsident Petro, der seit dem 7. August die erste progressive Regierung Kolumbiens anführt, verfolgt das Ziel eines „totalen Friedens“. Um einen solchen zu erreichen ist die ELN von zentraler Bedeutung. Nach der Demobilisierung der FARC-EP im Rahmen der Friedensvereinbarung von 2016 ist sie die größte weiter aktive Guerilla in dem südamerikanischen Land. Die Zahl der Kämpfer*innen in ihren Reihen wird auf 3.000 bis 5.000 geschätzt. Diese verteilen sich auf relativ autonom agierende Fronten. Laut dem investigativ-journalistischen Projekt InSight Crime, das unter anderem von der US-amerikanischen Open Society Foundation finanziert wird, existieren acht Fronten. Die kolumbianische Ombudsstelle geht davon aus, dass die Guerilla in 22 der insgesamt 32 Departamentos des Landes aktiv ist.
Die dezentrale Organisation der ELN macht die Verhandlungen mit der Guerilla komplizierter. Mit anderen bewaffneten Gruppen hingegen konnte sich Bogotá bereits auf einen bilateralen Waffenstillstand einigen. So erklärte Innenminister Prada am 4. Januar, der aus der demobilisierten Guerilla hervorgegangene Estado Mayor Central sowie die paramilitärischen Organisationen Autodefensas Gaitanistas de Colombia (AGC) und Autodefensas de la Sierra Nevada hätten einem solchen für die Dauer von sechs Monaten zugestimmt. Die Guerilla Segunda Marquetalia, die von ehemaligen FARC-Kämpfer*innen um den Comandante Iván Márquez 2019 ins Leben gerufen worden war, habe demnach Bereitschaft signalisiert, über einen solchen zu verhandeln.
Grundlage für die Verhandlungsoffensive der Regierung ist das sogenannte Gesetz des totalen Friedens, das Präsident Petro Anfang November unterzeichnet hat. Es erhebt den Frieden zum Staatsziel. Um ihn zu erreichen, ermöglicht das neue Gesetz zwei Vorgehensweisen: erstens, Verhandlungen mit bewaffneten Gruppen politischen Charakters, an deren Ende ein Friedensabkommen steht; und zweitens, Gespräche mit bewaffneten Gruppen oder Strukturen, die in schwerwiegende Straftaten verwickelt sind. Das Ziel Letzterer ist die Unterwerfung unter die Justiz und die Zerschlag der kriminellen Strukturen. An den Prozessen beteiligt sein sollen immer die jeweils betroffenen Gemeinschaften. Notwendige Finanzmittel werden gesetzlich als Teil des Haushalts festgeschrieben.
Neu ist dabei vor allem, dass nunmehr Verhandlungen mit allen bewaffneten Akteuren möglich sind – also beispielsweise auch mit Drogenkartellen oder mit diesen zusammenarbeitenden, rechten Paramilitärs. Laut der NGO Indepaz existieren in Kolumbien mehr als 25 illegale, bewaffnete Gruppen, die insgesamt über rund 15.000 Mitglieder verfügen. Von diesen erklärte bereits eine Reihe, an Gesprächen mit der Regierung interessiert zu sein – darunter auch Narcos wie der Clan del Golfo. In besonders von Gewalt betroffenen Städten wie Medellín, Cali und Buenaventura konnten zudem Übereinkünfte mit lokal agierenden Banden geschlossen werden.
Doch das „Gesetz des totalen Friedens“ blickt nicht nur in die Zukunft, die „Friedenspolitik als staatliche Politik“ bezieht sich auch auf bereits unterzeichnete Abkommen. Im Fokus steht dabei der 2016 mit der ehemaligen Guerilla FARC-EP unterzeichnete Vertrag – wobei die Regierung im Einklang mit den im Juli 2022 vorgestellten Empfehlungen aus dem Abschlussbericht der Wahrheitskommission steht (siehe LN 577/578). Dessen Umsetzung wurde von der Duque-Regierung aktiv torpediert – mit tödlichen Folgen sowohl für ehemalige Kämpfer*innen als auch für Zivilist*innen. Anschaulich zeigt das ein Bericht der NGO Indepaz vom 31. Dezember 2022. Laut diesem wurden in Kolumbien im vergangenen Jahr insgesamt 189 soziale Anführer*innen nachweislich ermordet, die Zahl der getöteten Exguerillerxs belief sich demnach auf 42. Auch im noch jungen Jahr 2023 vergeht kaum ein Tag ohne Meldung über Gewalttaten gegen Aktivist*innen und die Zivilbevölkerung.
Frieden ist wieder zu einem zentralen Thema der Politik des Landes geworden
Die Vereinten Nationen drängen auf eine vollständige Umsetzung des Friedensvertrags von 2016. Nichtsdestotrotz sieht der am 28. Dezember 2022 veröffentlichte Bericht der UN-Überprüfungsmission des Friedensprozesses, der den Zeitraum zwischen dem 27. September und dem 26. Dezember abdeckt, die Petro-Regierung in Sachen Frieden auf einem guten Weg. So seien „wichtige Schritte“ unternommen worden, um „der Gewalt Einhalt zu gebieten und den Frieden zu festigen“.
Eines steht zumindest fest: Nach knapp sechs Monaten erster Linksregierung in Kolumbien ist der Frieden wieder zu einem zentralen Thema der Politik des Landes geworden. Dass der Weg zu einem solchen noch ein weiter ist, zeigt nicht zuletzt die Episode um die angebliche Einigung auf einen bilateralen Waffenstillstand mit der ELN. Der Beginn der nächsten Runde in den Verhandlungen mit der Guerilla ist für den 13. Februar in Mexiko geplant. Das ist eine gute Nachricht. Für wirklichen Frieden bedarf es jedoch mehr als Abkommen mit bewaffneten Gruppen.