GESPALTENES LAND

Demonstration vor dem Referendum In Bogotá sprachen sich die Student*innen für das Ja aus (Foto: Belinda Grasnick)

Drei Wochen vor der Volksabstimmung zum Friedensvertrag wehen weiße Fahnen im Parque de Los Periodistas in der Hauptstadt Bogotá. Student*innen verschiedener Universitäten der Stadt haben sich versammelt, um für Ja-Stimmen zu werben. Auf ihren Plakaten und T-Shirts fordern sie den von der Regierung verhandelten Frieden mit den Bewaffneten Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC). „Wollen wir Studenten den Frieden? Will Bogotá den Frieden?,“ fragt der Redner die Menge. „Selbstverständlich, ja!” schallt es ihm entgegen. Kaum ist die Rede vorbei, dröhnt laute Reggaeton-Musik aus den Lautsprechern. Die Demonstrant*innen tanzen und schwingen ihre Plakate und Fahnen, bevor sie weiter zum Friedenskonzert auf der Plaza de Bolívar ziehen.
In den Wochen vor der Volksabstimmung sind die Befürworter*innen des Friedensvertrags deutlich präsenter als die Gegner*innen. Politiker*innen verschiedener Parteien sprechen sich öffentlich für den Friedensvertrag aus. In den Fenstern der Hauptstadt hängen selbst gestaltete Poster. Die Regierung hat Plakatwände gemietet, um für das Abkommen zu werben. Vom Colpatría-Turm, Markenzeichen der größten Stadt Kolumbiens, leuchten die Friedenstauben.
Die Gegner*innen des Abkommens kritisieren die Präsenz der Ja-Kampagne. Weil Steuergelder dafür ausgegeben wurden, sei die Wahl erkauft, lautet ihre Kritik. So denkt auch José Marun Helo, Verkaufs- und Marketingleiter einer kleinen Werbeagentur: „Wir wurden nicht richtig über den Vertrag informiert”, sagt er. “Kolumbien ist kein gebildetes Land und der Volksentscheid wurde nur fünf Wochen nach seiner Bekanntmachung durchgeführt.” Zwar wurde der gesamte Vertrag im Vorfeld veröffentlicht, die 297 Seiten seien aber technischer Sprache und unlesbar, betont der 28-Jährige.
Es sind die klassischen Argumente des von Ex-Präsident und Senator Álvaro Uribe Vélez angeführten Nein-Lagers. Die Volksabstimmung wird zur Vertrauensfrage an Präsident Juan Manuel Santos erhoben. Wer mit der aktuellen Regierung nicht zufrieden ist, soll mit Nein stimmen.
Die Auseinandersetzung der Lager in den Wochen vor der Abstimmung ist vor allem eine Medienschlacht. Die Medien in Kolumbien befinden sich in den Händen politischer und wirtschaftlicher Eliten. Zwei der größten Medienkonglomerate sind jeweils mit Uribe und Präsident Manuel Santos assoziiert. „Die Medien haben teilweise mehr Einfluss auf die Menschen als ihre eigenen Erfahrungen”, sagt Eliana Lodoño Gómez. „Selbst wenn es Erfahrungen sind, die den Konflikt betreffen.”
Gómez arbeitet als Sozialarbeiterin für Comunidad es Arte, Biblioteca y Cultura — Escenarios para la paz (Comunidad – es), eine gemeinnützige Organisation für Kolumbianer*innen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Täglich hat sie mit Menschen zu tun, die vor dem Konflikt mit Guerillas und Paramilitärs fliehen mussten und dabei zum Teil Familienmitglieder verloren haben. „Der Vertrag könnte ihre Lebensgeschichte verändern”, sagt Londoño. Doch vor allem von sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter würden die Bewohner*innen letztlich stärker beeinflusst werden als von ihrer eigenen Vergangenheit.
Auf einem Hügel oberhalb der Millionenstadt Medellín steht seit einem Jahr die Wohneinheit Villa de Santa Fé. In dem Stadtteil leben 2.600 Menschen aus allen Teilen des Landes in etwa dreißig Plattenbauten. Eine Woche vor der Abstimmung veranstaltet Comunidad – es ein Friedensfest in Villa de Santa Fé. Eine Gruppe von rund 50 Kindern tollt auf einer Wiese zwischen den Häusern herum.
Arbey Salazar Blandón ist der Koordinator von Comunidad – es in Medellín. „Kunst und Kultur können die Welt retten”, ist er überzeugt. Deshalb lernen die Kinder und Erwachsenen in den Unterkünften gemeinsam tanzen, kochen, basteln und nähen. Im Anschluss an die Lesestunde gibt es eine Tanzvorstellung. Als das Lied vorbei ist, recken die Tänzer*innen die Hände in die Höhe und rufen: „Viva la paz!” Es lebe der Frieden. Die Botschaft ist klar. Einige Erwachsene sitzen am Rand und klatschen Beifall. „Ich werde definitiv mit Ja stimmen”, sagt eine ältere Frau. „Wir haben so viel durchgemacht. Wir brauchen den Frieden.” Die Wirkung des Festes scheint gigantisch. Doch nur ein kleiner Teil der Bewohner*innen Villa de Santa Fés ist dabei. „Was wir machen können, sind nur sehr kleine Schritte”, sagt Eliana Londoño Gómez. „Aber wenn wir den Frieden auf die Tagesordnung setzen, sehen auch sie, dass dieser Prozess hier nötig ist.”
Am Abend des 26. Septembers wird die Unterzeichnung des Friedensvertrags auch in Medellín  übertragen. Ein großer Bildschirm zeigt die in weiß gekleideten Gäste, die auch aus dem Ausland nach Cartagena angereist sind, um der Zeremonie beizuwohnen. Einige Zuschauer*innen schwenken die gelb-rot-blaue Landesfahne, als Präsident Juan Manuel Santos und FARC-Chef Rodrigo Lodoño den Vertrag unterschreiben.
Nur wenige Fußminuten weiter ein anderes Bild: Santos Rede geht in Buh-Rufen unter. Auf einem Altar stehen weiße Blumenbouquets, die Menschen halten Kerzen in die Höhe. Die Menschentraube erinnert an eine Kirchenzeremonie. „Die FARC-Verbrecher müssen richtig bestraft werden!”, poltert ein Redner. „Ins Gefängnis mit ihnen!” Laut den versammelten Gegner*innen des Abkommens seien die Strafen für die linken guerillerxs zu niedrig – ein Standardargument des Nein-Lagers. Mehrere Menschen verteilen Flyer. Verantwortliche für Massaker dürfen keine Kongressabgeordneten werden, heißt es darauf. Zudem fordert die wütende Menge, dass FARC-Anhänger*innen mit ihrem Vermögen die Opfer entschädigen sollen. Fazit des Nein-Lagers: „Für einen wirklichen Frieden wählt Nein.”
Die Kritik am Friedensabkommen ist vor allem ideologischer Natur. Wenn FARC-Abgeordnete in den Kongress kommen, könnte Kolumbien so enden wie Venezuela, fürchten die Uribe-Unterstützer*innen.
Einige Tage später werden die Ergebnisse des Referendums verkündet, bei dem mit einer knappen Mehrheit das Nein gewinnt. Eliana Lodoño Gómez und Arbey Salazar Blandón glauben trotzdem an den Frieden in ihrem Land. „Wir müssen anfangen, Kolumbien anders zu sehen”, sagt Lodoño. Nicht nur die FARC, auch andere Guerillas wie die Nationale Befreiungsarmee (ELN) und rechte Paramilitärs müssen laut Salazar und Gómez einbezogen werden, um einen echten Frieden zu schaffen. Sie werden weiter daran arbeiten – auch wenn sie noch viele kleine Schritte machen müssen.

HISTORISCHER DURCHBRUCH

Ja oder Nein? Am 2. Oktober wird die kolumbianische Bevölkerung über die Annahme des Friedensabkommens abstimmen, das Regierung und die Revolutionären Bewaffneten Streitkräfte Kolumbiens (FARC) in vier Jahren in Havanna ausgehandelt haben. Die Kampagnen der Befürworter*innen und Gegner*innen reklamieren jeweils für sich, nur Frieden im Sinn zu haben, allerdings auf gänzlich verschiedene Weise.

Zumindest im links-alternativ geprägten Parque de los Hippies in Bogotá war es ein Freudentag. Menschen im Trikot des kolumbianischen Fußballteams und mit Friedensfähnchen feierten am 24. August die Veröffentlichung der Friedensverträge zwischen der Regierung und den Revolutionären Bewaffneten Streikkräften Kolumbiens, die live im Fernsehen übertragen wurde. „Man hatte vergessen, dass es auch anders geht“, sagte eine der Anwesenden. Rührende, aufmunternde, aber auch skeptische Kommentare überfluteten die Medien und sozialen Netzwerke. Ohne Zweifel war es ein historischer Tag. Wie so viele andere seit Beginn der Verhandlungen mit der ältesten Guerilla Lateinamerikas, die seit 1964 gegen den Staat kämpft.
Bereits 2012 saßen viele Kolumbianer*innen augenreibend vor dem Fernseher, als ausgerechnet der konservative Präsident Santos den Beginn des Friedensprozesses mit der Frage ankündigte: „Wie viele Kolumbianer*innen haben den Konflikt wohl hautnah erlebt, wie viele haben Verwandte und Bekannte, die Opfer der Gewalt wurden?“ Zwar sprach sich die Mehrheit der Bevölkerung anfangs gegen diesen Schritt aus, doch bereits zwei Jahre später sicherten die laufenden Verhandlungen Santos die Wiederwahl. Trotz zahlreicher Krisen und Rückschläge wurde stets weiter verhandelt. Es gab somit viele historische Tage in einem Land, mit einer sehr langen Geschichte gescheiterter Friedensprozesse.
„Ich habe versprochen, dass ihr das letzte Wort haben werdet, und so wird es auch sein!“, sagte Santos am Tag der Veröffentlichung der Verträge und rief die Bevölkerung zum Referendum am 2.Oktober auf. Die Regierung hofft auf ein klares Ja, denn einen Plan B gibt es nicht. Das Bild der Guerilla unter der Bevölkerung hat sich zwar verbessert, doch für ein Ausbruch an Euphorie reicht es bei Weitem nicht. In der jüngsten Umfrage von Datexco für die Zeitung El Tiempo und den Radiosender La W wollen 55,2 Prozent der Befragten dem Abkommen zustimmen, 31 Prozent es ablehnen und zehn Prozent wussten es noch nicht. Allerdings variieren diese Ergebnisse erheblich in den verschiedenen Regionen und andere Umfragen ergaben andere Resultate.
Um eine möglichst breite Beteiligung am Referendum sowie dessen Anerkennung zu erreichen, finanziert die Regierung die Kampagne der Gegner*innen als auch die der Befürworter*innen. Angeführt werden diese jeweils von Ex-Präsidenten des Landes.

Hardliner Álvaro Uribe Vélez, Staatschef von 2002 bis 2010 und jetziger Senator der konservativen Centro Democratico, leitet mit Unterstürzung von Andrés Pastrana, der in seiner Amtszeit 1998-2002 mit der FARC verhandelte und scheiterte, die Nein-Kampagne. Das Ja-Lager führt César Gaviria an, der in seiner Amtszeit von 1990-1994 mit neoliberal geprägter Politik das Land wirtschaftlich öffnete. Dass sie verschiedene Auffassungen von Frieden haben, dürfte mittlerweile allen Kolumbianer*innen klar sein.
„Wir stimmen für den Frieden, indem wir Nein wählen“, erklärte Uribe beim Auftakt seiner Kampagne. ‚Nein zu Straflosigkeit, Nein zu Santos, Nein zu dem castro-chavistischen Terror‘ lauten die Slogans bei Veranstaltungen, auf Tweets und Flugblättern der Gegner*innen der Gespräche. Santos´ Unbeliebtheit in der Bevölkerung erreichte mit der Energiekrise, dem jüngsten Streik der Kleintransporter und der Erhöhung der Steuern, satte 66 Prozent. Innenpolitisch steht seine Politik auf dem Prüfstand und die Kritik seiner Gegner*innen wird bewusst gegen die Verhandlungen seiner Regierung mit der Guerilla eingesetzt.
Für César Gaviria gilt es hingegen, „ein Gefühl von Vergebung hervorzurufen, Halt zu machen und sich nicht für eine Gesellschaft zu entscheiden, die nur an Rache und militärische Lösungen denkt. Es gilt mit dieser Idee zu brechen, auch weil die Bemühungen der vergangenen Jahre außerordentlich groß waren.“ Seine Aufgabe als Leiter der Ja-Kampagne sei es, eine gemeinsame Botschaft zu formulieren, hinter der soziale Organisationen, die Kirche und Einzelaktivist*innen stehen können. „Wir haben bemerkt, dass auf dem Land, die kleinen und mittelgroßen Gemeinden dem Ja stärker zugeneigt sind, weil sie von Gewalt häufiger betroffen waren. Die Friedensbotschaft über das Ende des Krieges ist in ländlichen Gebieten stärker als in der Stadt. Man muss versuchen, den Menschen in der Stadt zu zeigen, wie Kolumbien ohne so viel Gewalt sein könnte“, sagte er in einem Interview mit der spanischen Zeitung El País.

Über fünf zentrale Punkte haben Regierung und FARC im Laufe der letzten vier Jahre verhandelt. Sie lösen nicht alle wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme des Landes, die Einigungen bieten aber noch nie dagewesene Möglichkeiten, die Ursachen des bewaffneten Konfliktes mit den Aufständischen zu klären.
Der erste Punkt der Verträge zielt darauf, die Situation der rund 15 Millionen extrem marginalisierten Kolumbianer*innen in ländlichen Gebieten zu verbessern. Das ist ein großes Versprechen für ein Land, in dem ein Agrarkonflikt sich in einen blutigen Krieg verwandelte, der ein halbes Jahrhundert überzog. Die darin geplante Reform (Reforma Rural Integral – RRI) umfasst die Rückkehr von Vertriebenen in ihre Heimatorte, Landrückgabemaßnahmen an Kleinbauern- und bäuerinnen sowie die Neueinteilung landwirtschaftlicher Nutzflächen und von Naturschutzgebieten.
Doch damit ist die konservative Elite Kolumbiens nicht einverstanden. Das Gespenst des castrochavismo, eine ideologische Mischung der Politik Fidel Castros und Hugo Chávez‘, wird beschworen. „Santos ist zwar kein Chavist, aber seine Politik geht in diese Richtung“, sagte Uribe bei einer Konferenz in der Privatuniversität Sergio Arvoleda in Bogotá. „Im Abkommen wird unser gesamtes freiheitliches System in Frage gestellt und die Rechte der Privatunternehmer verletzt“. Im Hinblick auf Venezuela warnt er vor den Gefahren für die gesamte Wirtschaft, denn „die Kolumbianer*innen investieren nicht mehr. Entweder haben sie Angst vor dem Frieden oder vor den Steuern, um diesen zu finanzieren“. Derartige Bemerkungen sind oft zu hören, besonders in der Stadt.

Ein der Agrarreform sehr ähnliches Projekt, das die Eigentumsverhältnisse in ländlichen Gebieten verändern soll, ist Teil der Strategie, um die strukturelle Ungleichheit zwischen Land und Stadt zu beheben. Laut Vertrag verpflichtet sich die Regierung mit Fortbildungsangeboten, Krediten und Subventionen für kleinere Betriebe, die kommunale Produktion zu fördern. Straßen, Bewässerungssysteme und Stromnetze sollen in den historisch vernachlässigten Gebieten gebaut sowie in Gesundheits- und Bildungseinrichtungen wesentlich investiert werden. Nur so, heißt es im Abkommen, kann das Ziel erreicht werden, in zehn Jahren die extreme Armut zu beseitigen und die Armut in ländlichen Gebieten um die Hälfte zu reduzieren. Im krassen Widerspruch hierzu stehen allerdings die anderen wirtschaftspolitischen Vorhaben der Regierung, nämlich weiterhin vor allem auf Extraktivismus und Monokulturen zu setzen. Auf jeden Fall wird die Inklusion der armen Bevölkerung die zentrale Herausforderung der Zeit Jubel bei historischer Geste Polit-Fanmeile in Bogotá nach Beendigung des bewaffneten Konflikts werden. Immerhin wandten sich sehr viele ländliche Gemeinden dem Schutz der Guerillas zu, weil sie vom Staat allein gelassen wurden. „Der Aufbau des Friedens bedarf der Stärkung der Demokratie“, hieß es in der Einigung zur politischen Partizipation. Darin verpflichtet sich die Regierung das Wahlsystem auf den Prüfstand zu stellen, die Rechte der politischen Opposition zu gewährleisten und ein Schutzprogramm für Ex-Guerillerxs zu errichten, die nach der Entwaffnung als Partei antreten und Politik machen wollen.
Jedoch reagieren große Teile der Bevölkerung und viele Politiker*innen empört auf die Vorstellung, dass die ehemalige Führungsspitze der FARC mit zehn Sitzen einen wahlunabhängigen Einzug ins Parlament bekommen soll, um die Umsetzung der Verträge zu verfolgen. Besorgt sind die konservativen Kräfte andererseits auch darüber, dass linke Ideen und Bewegungen salonfähig werden könnten und nicht wie bisher aufgrund einer ideologischen Nähe zu den Aufständischen leicht zu diskreditieren sind. Nicht völlig unbegründet –„Wir waren immer eine politische Organisation, eine kommunistische Partei (…). Noch ist es zu früh, um über die nächste Wahlperiode zu reden, aber wir streben eindeutig an, zu der Entstehung einer großen alternativen, politischen Bewegung beizutragen“, schreibt der politische Berater des Oberbefehlshabers der FARC, Gabriel Angel, in einem Fragebogen der mexikanischen Presseagentur Notimex.

Wie viele Kolumbianer*innen für solche Botschaften empfangsbereit sein werden, ist unklar. Es gilt, das grundsätzliche Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der Guerilla zu überwinden, aber auch gegenüber der Politik, die an der Fortsetzung des Konflikts ebenfalls beteiligt war. 240.000 Personen wurden im Rahmen der bewaffneten Auseinandersetzungen ermordet. Der Ausbau der Luftwaffe, aber auch die Militarisierung von Teilen der Gesellschaft hatte zur Folge, dass nach offiziellen Zahlen 6.883.513 Kolumbianer*innen vertrieben wurden. Massaker, sexualisierte Gewalt und Folter waren hierbei Mittel aller bewaffneten Akteure. Laut Vertrag wird jetzt eine Wahrheitskommission gegründet, die den Paramilitarismus, die Rolle des Staates, die der kolumbianischen Armee und der FARC bei registrierten Menschenrechtsverletzungen des vergangenen halben Jahrhunderts aufklären soll.
Denn juristische Aufklärung, das Sorgen für Gerechtigkeit und die Entschädigung der Opfer sind für die meisten Kolumbianer*innen zentrale Bedingungen für ihre Akzeptanz eines Friedensabkommens, weshalb auch eine Übergangsjustiz verhandelt wurde. Ein Sondergericht für den Frieden soll Haftstrafen für Menschenrechtsverletzungen von acht Jahren für geständige Täter*innen verhängen. Täter*innen, die später überführt werden, müssen für 20 Jahre hinter Gitter. Des Weiteren erhalten die Guerillerxs für Delikte Amnestien, die mit der Finanzierung der Rebellion verbunden waren, wie beispielsweis dem Drogenhandel.
Die Formel „Gefängnis oder Tod“ für Guerillerxs, hinter der noch viele Kolumbianer*innen als Antwort zum Konflikt stehen, steht in direktem Widerspruch mit den Friedensgesprächen, mit dem ausgesprochenen Ziel, Politik ohne Waffen möglich zu machen. „Wird das Nein gewählt, werden beide Parteien vom Tisch aufstehen und das laufende Verfassungsprojekt für das Inkrafttreten des Friedens, wird nicht stattfinden“, sagt César Gaviria. „Wir wollen nicht sagen, dass derjenige der Nein wählt, Krieg will, aber derjenige soll wissen, dass wenn das Nein gewinnt, der Krieg weitergehen wird“
Im Anschluss an die zehnte und letzte Guerillakonferenz vom 17. bis 23. September, nach der die FARC sich auflösen will, werden sich die Aufständischen in 23 ländliche Kleingemeinden und acht Lagern in zwölf verschiedenen Verwaltungsbezirken versammeln und innerhalb von fünf Monaten die Waffen abgeben. Der militärische Rückzug der FARC aus ihren traditionellen Hoheitsgebieten ist bereits in Gang. Die Regierung hat mittlerweile 16.000 Polizist*innen und Soldat*innen für den Schutz von Ex-Kämpfer*innen eingestellt.
Doch das ändert nichts an der Tatsache, dass zur Zeit diese Gebiete von der linken Guerilla Nationale Befreiungsarmee (ELN) und der rechten paramilitärischen Gaitanistischen Bürgerwehr Kolumbiens (AGC) eingenommen werden. In Nariño und Cauca zum Beispiel kämpfen sie im Moment um rund 18.000 Hektar Koka-Plantagen und weitere neue Gruppierungen sind dazu gekommen. Auch andere jüngste Ereignisse beunruhigen. Auf dem Grundstück der Friedensaktivistin Cecilia Colcué in Corintio Cauca sollten sich Guerillerxs für die Entwaffnung versammeln. Am 6. September wurde Cecilia Colcué tot aufgefunden. Egal wie das Referendum ausgeht, zu einem vollständigen Frieden ist es noch ein weiter Weg.

ANGST VOR EINEM PAPIERFRIEDEN

Die Regierung hat sich nach knapp vierjährigen Verhandlungen mit den FARC auf ein Friedensabkommen geeinigt. Ein Durchbruch?
Das ist natürlich für Kolumbien ein sehr deutlicher Fortschritt. Insbesondere angesichts der Geschichte von Halbfrieden, abgebrochenem Frieden, unvollständigem Frieden oder wie man die unterschiedlichen Versuche bezeichnen will, die es in der Vergangenheit gab. Jetzt kommt es darauf an, dass dieses Mal wirklich alle Nägel sitzen. Es muss gelingen, eine umfassende Demobilisierung und eine Partizipation bisher ausgeschlossener Bevölkerungsgruppen und politischer Akteure herzustellen, um den Übergang von der Gewalt zum Frieden zu ermöglichen.

Welche Schwierigkeiten können die Umsetzung des Friedensprozesses jetzt noch behindern?
Zunächst ist da das Referendum, das Präsident Juan Manuel Santos angesetzt hat, um den Vertrag zu legitimieren. Anscheinend ist bei der Volksabstimmung aber noch nicht ganz klar, wie das Ergebnis aussehen wird. Aus unserer externen Perspektive würde man denken, dass ein Friedensabkommen im Sinne der Bevölkerung ist. Die Umfragen zeigen allerdings, dass allerhand Zweifel angebracht sind. Es wird wahrscheinlich zu einer Art Wahlkampf zwischen Unterstützern und Gegnern des Friedensvertrages kommen. Dabei ist das Format recht sonderbar: Lauter Ex-Präsidenten werden gegeneinander antreten. Das ist keine günstige Konstellation. Eigentlich müsste es darum gehen, die Bevölkerung an den Frieden heranzuführen, und nicht um den Frieden herum eine neue Ebene der Polarisierung zu schaffen.

Was sind denn die Gründe für die Zweifel?
Dahinter steht die Annahme, dass bei einem positiven Votum etliche Probleme im Bereich der Umsetzung des Friedensabkommens auftauchen. Erstens wird bezweifelt, ob die jeweiligen Kämpfer der FARC wirklich den Anordnungen ihres Oberkommandos folgen werden. Erste Anzeichen für eine Abspaltung einer Front der FARC wurden bereits sichtbar. Zweitens stellt sich die Frage, ob die kolumbianische Gesellschaft wirklich bereit ist, die demobilisierten Kämpfer wiederaufzunehmen und sich mit ihnen zu versöhnen. Drittens muss geprüft werden, ob die finanziellen Ressourcen überhaupt da sind, um die Programme umzusetzen – angefangen mit Reparationsleistungen, der Schaffung von Arbeitsplätzen bis hin zur Infrastrukturentwicklung und Bodenverteilungsmaßnahmen. All diese Faktoren werden Kolumbien überfordern. Insofern stellt sich die Frage, ob diese vielschichtigen Prozesse so aufeinander abgestimmt werden können, dass eine gegenseitige Verstärkung eintritt.

Eines der Probleme ist bekanntlich die fehlende Staatlichkeit in entlegenen Gebieten Kolumbiens. Wie will die Regierung das Problem in so kurzer Zeit lösen?
Das ist eine zentrale Herausforderung. Für die Demobilisierung der FARC-Kämpfer stehen gerade einmal 180 Tage zur Verfügung. Für Bürger, die bisher nur unter dem Einfluss irregulärer Kräfte gelebt haben, muss der Staat möglichst positiv erfahrbar werden. Staatlichkeit darf nicht nur durch Militär und Polizei erkennbar sein, sondern entsprechende soziale Dienstleistungen und Gesundheitsfürsorge müssen an die Bürger herangebracht werden. Und das in teilweise sehr entlegenen Gegenden, wo bisher nicht mal kartographische Grundlagen bestehen, geschweige denn hinreichende Kommunikations- und Infrastruktur, die den Prozess erleichtern würde.

Der vergangene Friedensprozess scheiterte 2002 und führte zu einer neuen Welle der Gewalt. Stehen die Chancen dieses Mal besser?
Dieses Mal wurden vorher zwei wichtige Entscheidungen getroffen, die sowohl für den Abschluss der Friedensverhandlungen als auch für den weiteren Weg des Prozesses wichtig sein können. Zum einen hat man von vornherein darauf gesetzt, dass die internationale Gemeinschaft eine tragende Rolle übernimmt, als Garantiemacht und auch als Vermittler.  Nachbarländer und traditionelle Partner Kolumbiens übernehmen dabei tragende Aufgaben. Dieser Weg hat sich zumindest für den Prozess des unmittelbaren Verhandelns als sehr hilfreich erwiesen. Man kann nur hoffen, dass das internationale Engagement auch die erste und zweite Phase des Friedensprozesses in Gestalt der Demobilisierung, Vergangenheitsbewältigung und Versöhnung begleiten wird. Außerdem hat man sich von dem früheren Format verabschiedet, dass am Anfang eines Friedensabkommens eine Amnestie stehen müsse. Im jetzigen Prozess soll eine Amnestie erst am Ende stattfinden – nämlich dann, wenn entsprechende Fortschritte zu verzeichnen sind. Zum zweiten wird es keine Amnestie für schwere Menschenrechtsverletzungen geben. Dem steht auch der Internationale Strafgerichtshof entgegen. Ich glaube durchaus, dass das derzeitige Format sehr viel besser geeignet ist, die Vielgestaltigkeit der vergangenen Erfahrungen zwischen den Akteuren aufzugreifen und letztlich in der Lage ist, zu einem friedlichen Miteinander zu führen.

Was halten Sie von dem Einsatz der UN-Friedenstruppen, der für die Phase der Demobilisierung stattfinden soll?
Das Mandat legt fest, dass Friedenstruppen präsent sein sollen. Das werden aber Truppen sein, die von den Mitgliedsstaaten des CELAC, der Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten, zu stellen sind. Es wird sich zeigen, wie erfolgreich sie dabei sind. Die meisten dieser Länder haben bisher nämlich kaum Erfahrung mit solchen Friedenseinsätzen.
Zum einem ist die herausgehobene Verantwortung Lateinamerikas in dem Konflikt ein positives Zeichen. Auf der anderen Seite wird es auch für diese Kräfte selbst ein Lernprozess sein. Die müssen in ihre Aufgaben erst hineinwachsen.

Hat Deutschland den Friedensprozess eigentlich unterstützt?
Ja, dabei muss man zunächst sagen, dass die Bundesregierung nicht als einheitlicher Akteur in Kolumbien auftritt. Kolumbien ist bereits seit Jahren ein Schwerpunktland der deutschen Entwicklungszusammenarbeit, obwohl es von seinen Makrodaten eher als Land mit mittlerem Einkommen einzustufen wäre und damit gar nicht so viel Anspruch auf Entwicklungsgelder hätte. Hinzu kommt die Initiative des Auswärtigen Amtes mit der Benennung von Tom Koenigs (Grüne; Anm. d. Red.) als Sonderbeauftragten für Kolumbien. Koenigs hat sich insbesondere um begleitende Maßnahmen zum Friedensprozess gekümmert, sei es die Initiative des Deutsch-Kolumbianischen Friedensinstitutes, die Beratung des kolumbianischen Ministeriums für den Postkonflikt in Sachen Umwelt und Nachhaltigkeit, oder im Bereich der Bereitstellung von deutschen Erfahrungen im Prozess von Übergangsjustiz und Vergangenheitsbewältigung. Da gibt es einige Initiativen, in die nicht notwendigerweise Millionenbeträge hineinfließen, die aber durchaus dazu angetan sind, einen sichtbaren deutschen Beitrag zu leisten.

Können Sie einschätzen, welche Interessen die deutsche Bundesregierung an einer verstärkten Beteiligung am Friedensprozess verfolgt?
Es gibt schon seit der CDU/FDP-Regierung ein großes Interesse, Kolumbien als aufstrebende Macht in Lateinamerika zu positionieren und anzunehmen. Die Betonung der Brückenfunktion des Landes zwischen Süd-, Mittel- und Nordamerika und ein partnerschaftliches Verhältnis zu den Nachbarstaaten sind dabei im Interesse Deutschlands. Die Rolle Kolumbiens ist auch im karibischen Raum von großer Bedeutung – die Beziehungen zu Kuba haben sich durch die Verhandlungen deutlich gebessert. Außerdem ist Kolumbien ein großer Energieexporteur, sei es nun Öl, Kohle oder Mineralien. Rechnet man diese Faktoren zusammen, wird erkennbar, dass Kolumbien für die Bundesregierung auch aus wirtschaftlicher Perspektive ein interessanter Partner ist.

Kohle- und Bergbaufirmen stehen aufgrund von Menschenrechtsverletzungen in der Kritik und profitieren mitunter gar vom Krieg im Land. Wie wahrscheinlich ist ein Interessenkonflikt zwischen der Bundesregierung und deutschen Privatunternehmen?
Damit der Frieden eine Chance hat, müssen solche Verhältnisse geklärt werden. Es kann natürlich nicht sein, dass wir auf der einen Seite mit unserem Engagement den Friedensprozess fördern und eine Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen anstreben, und auf der anderen Seite gleichzeitig eine Vertiefung von Menschenrechtsverletzungen durch den privatwirtschaftlichen Bereich vorangetrieben wird. Hier ist die Bundesregierung in ihrer Gesamtheit aufgerufen, auf die Privatwirtschaft, private Interessen und Anleger einzuwirken und sicherzustellen, dass die offiziellen Anstrengungen nicht konterkariert werden.

Sind Sie zuversichtlich, dass nach dem langen Konflikt Frieden in Kolumbien einkehrt?
Die größte Befürchtung, die ich habe, ist, dass es nur ein Papierfrieden bleibt. Dennoch muss man zuversichtlich sein, um diesen Prozess am Laufen zu halten und voranzubringen. Falls aber die Inhaber von Machtpositionen in Kolumbien glauben, man könne genauso weitermachen wie bisher, bin ich in großem Zweifel, ob sich ein dauerhafter Frieden etablieren kann. Dann droht es eine Friedensinitiative zu werden, die letztlich im Sand verläuft.

„DER PARAMILITARISMUS IST NIE VERSCHWUNDEN“

Marylén Serna beteiligte sich in der 1990er Jahren im Streit der Bauernbewegung Cajibío gegen das multinationale Unternehmen Smurfit Kappa Cartón im Südwesten des Landes. Heute ist sie die Anführerin der Bewegung, Mitglied des Vorstandes des nationalen Agrargipfeltreffens (AGC) und Sprecherin der Congreso de los Pueblos, einer Vereinigung sozialer Bewegungen mit circa 20.000 Mitgliedern aus 1.000 Organisationen (Foto: Daniela Rivas)
MARYLÉN SERNA
beteiligte sich in der 1990er Jahren im Streit der Bauernbewegung Cajibío gegen das multinationale Unternehmen Smurfit Kappa Cartón im Südwesten des Landes. Heute ist sie die Anführerin der Bewegung, Mitglied des Vorstandes des nationalen Agrargipfeltreffens (AGC) und Sprecherin der Congreso de los Pueblos, einer Vereinigung sozialer Bewegungen mit circa 20.000 Mitgliedern aus 1.000 Organisationen (Foto: Daniela Rivas)

Bereits Ende März hätte der Friedensvertrag zwischen Regierung und FARC unterzeichnet werden sollen, bisher sind aber noch viele Punkte ungeklärt. Senator und Ex-Präsident Álvaro Uribe hat die Bevölkerung derweil zum „zivilen Widerstand“ gegen einen Friedensschluss mit der FARC aufgerufen. Wie bewerten Sie den Friedensprozess und welche Rolle hat der Congreso de Los Pueblos im Laufe der Verhandlungen gespielt?
Wir würdigen die bisher errungenen Erfolge und Fortschritte. Wir unterstützen und drängen auf eine pazifistische Lösung für die Beendigung des Konflikts mit den Aufständischen. Allerdings sind die Verhandlungen mit der FARC sehr eingeschränkt. Für uns muss ein Friedensprozess sowohl Verhandlungen mit der FARC und der ELN, als auch Verhandlungen mit der Zivilgesellschaft beinhalten. Der Congreso de los Pueblos nahm in Foren und an Aktivitäten teil, die vom Verhandlungstisch für die Zivilgesellschaft angeboten wurden, aber wir sehen nicht wirklich, dass unsere Vorschläge in die Teilabkommen eingearbeitet wurden. Unser konkreter Vorschlag ist es, einen dritten Verhandlungstisch für den Frieden zu gründen, der für soziale Fragen zuständig ist.

Wie soll dieser Tisch aussehen und welche Punkte wollen Sie dort verhandeln?
Wir schlagen vor, zentrale Punkte wie zum Beispiel die Energie- und Gesundheitspolitik des Landes zu diskutieren, um den sozialen und politischen Konflikt zu lösen – Themen, die weder in Havanna diskutiert werden, noch in den Verhandlungen mit der ELN geplant sind. An einem sozialen Verhandlungstisch für den Frieden säßen viele Bewegungen, die konkrete Vorschläge haben. Auf dem nationalen Agrargipfeltreffen (CNA) wollen wir Verhandlungen über Boden und dessen Nutzung führen, die Ölarbeitergewerkschaft USO hat bereits eine Subkommission gegründet, um Fragen bezüglich Bergbau und der Rohstoffförderung zu diskutieren und die Nationale Bewegung für Gesundheit arbeitet an einem Vorschlag, das Gesundheitssystem zu reformieren. Die jetzigen Verhandlungen mit den Guerillas beinhalten Mechanismen und Garantien für die politische Partizipation, doch das wirtschaftliche und politische Modell in Kolumbien wird weiterhin nicht thematisiert. Darüber wollen wir aber sprechen.

Die Regierung zeigte sich bisher aber nie bereit, das Modell zu ändern. Wie wollen Sie Präsident Juan Manuel Santos dazu bringen, mit Ihnen genau über diese Themen zu diskutieren?
Das wird sehr schwierig, aber wir sehen die Verhandlungen mit der ELN als eine mögliche Eingangstür. Die Unternehmen werden schon an diesem Prozess beteiligt, dann muss die Zivilgesellschaft ebenfalls involviert werden. Deshalb wollen wir bei der Verhandlungsrunde nicht nur mit einer Stimme teilnehmen, sondern selber einen Tisch für den Dialog gründen. Logischerweise verbunden und in permanentem Austausch mit den Friedensgesprächen zwischen der Regierung und den Guerillas, aber nicht davon abhängig. Wir wollen nicht einfach Vorschläge schicken und warten, was daraus wird. Wir wollen eine verbindliche Partizipation.
Dieses Jahr wollen wir zu einem Nationalstreik für den Frieden aufrufen. So soll die Diskussion über das richtige Modell für Kolumbien wieder angestoßen und unsere Idee von einem sozialen Verhandlungstisch gestärkt werden. 40 Organistationen sind bereits Teil des Aufrufs. Für uns ist klar, dass Kolumbien eine starke Zivilgesellschaft braucht, die auch friedlich um Macht streiten kann. Wir sind eine der Bewegungen, die dafür kämpft.

Vergangenes Jahr belegte eine landesweite Studie des kolumbianischen Statistikamtes die schlechte Lage der Bäuerinnen und Bauern und die Vernachlässigung der ländlichen Gebiete in den vergangenen Jahrzehnten. Sie sind auch Anführerin der Bauernbewegung in Cajíbio, im Verwaltungsbezirk Cauca, wie würden Sie die Situation dort beschreiben?
Viele Gebiete wurden von multinationalen Konzernen, bewaffneten Gruppen oder mit dem illegalen Anbau von Coca-Pflanzen überfallen. Dazu streiten in Cauca selbst die Anwohner*innen untereinander um Land. Der in der Verfassung geregelte Anspruch von Afrokolumbianer*innen und Indigenen auf bestimmte Gebiete begünstigt die autonome Organisation in Sachen Wirtschaft, Bildung und Gesundheit. Das hat aber auch zur Folge, dass Indigene Gebiete besetzen, kaufen oder zurückgewinnen wollen, wo heute Bauern leben. Das sind keine uralten Gemeinden, aber Teil der Tradition des Landes, die als solche ebenfalls in der Verfassung anerkannt und geschützt werden sollten. Das würde auch eine bessere Organisation der Bäuerinnen und Bauern ermöglichen. Kürzlich haben wir einen Raum für den interethnischen Dialog zwischen den verschiedenen Gruppen eingerichtet, um notwendige Debatten zu führen und Differenzen zu überwinden.

Was bedeutet die Präsenz multinationaler Konzerne in Cauca für Bäuerinnen und Bauern, afrokolumbianische Gemeinden und Indigene?
Die Indigenen kämpfen gegen die großen Zuckerrohr-Monokulturen, die Afro-Gemeinden gegen die illegale Rohstoffförderung. Als Bäuerinnen und Bauern sehen wir uns am meisten von Smurfit Kappa Cartón de Colombia betroffen, ein Unternehmen mit viel Land, das in Cauca Eukalyptus und Nadelbäume für die Papierherstellung anbaut. Sie zerstören mit Baggern den Regenwald und wenden Pestizide und andere chemische Produkte an. Die Arbeit, die sie anbieten, schafft Abhängigkeit. Der Bauer verstand sich schon immer als autonom, auch mit wenig Land kann er wirtschaften und produzieren. Doch durch die Arbeit in den Konzernen wird er zu deren Schachfigur, ein Arbeiter mehr. Viele vernachlässigen ihre eigene Parzelle, andere verkaufen sie an das Unternehmen – so zerstören sie auch die Gemeinden.

Was hat sich durch die Friedensverhandlungen in der Region verändert?
Die Gefechte zwischen Regierung und FARC haben abgenommen und das verbessert die Mobilität in der Region. Aber sie sind nicht die einzigen bewaffneten Gruppen, auch die ELN ist dort präsent und der Paramilitarismus ist nie verschwunden. Der Staat behauptet, diese Gruppen seien kriminelle Gruppierungen und mehr nicht, aber die Strukturen sind gleich geblieben. Sie treten zwar anders auf und begehen keine Massaker mehr, aber sie morden selektiv. Es zeigt sich immer mehr, dass paramilitärische Gruppierungen in den unterschiedlichsten Regionen des Landes mindestens miteinander kooperieren. Die gaitanistischen Selbstverteidigungskräfte Kolumbiens (AGC) riefen Ende April zu einem bewaffneten Streik aus und machten dabei auch auf die nationale Demonstration der rechten Oppositionspartei Centro Democrático Anfang Mai aufmerksam. Dieses neue Element gibt dem jetzigen Paramilitarismus eine ganz andere Konnotation. Wir sehen, dass er die Regierung angreift: Mitte April ermordeten sie gezielt Polizisten in mehreren Städten. All dies hat mit ihrer Verweigerung der Friedensgespräche mit den Aufständischen zu tun, aber auch mit der Absicht, neue Gebiete einzukesseln. Zurzeit erscheinen sie immer häufiger in der Öffentlichkeit und scheinen sich in Richtung einer politischen Anerkennung bewegen zu wollen.

Laut einer Studie ist ein Viertel der ländlichen Gemeinden in Kolumbien von paramilitärischer Gewalt bedroht. Wie zeigen sich Macht und Einfluss der Paramilitärs?
Es gibt verschiedene Gruppen, wie zum Beispiel die Rastrojos, die Ágilas Negras (Schwarze Adler) und die AGC – auch Clan Úsaga und Urabeños gennant. Von Region zu Region variieren Einflussgebiete und Finanzierungsquellen, manche bauen Rohstoffe ab, andere besitzen Verkehrsunternehmen. In Cauca beispielsweise bieten die Paramilitärs illegale Kredite an. Wenn die Kreditnehmer die ständig wachsenden Raten nicht bezahlen können, laufen sie Gefahr, Ziel paramilitärischer Gewalt zu werden (laut der kolumbianischen Zeitung El País verschwindet allein in Cali jeden Tag ein Mensch, die meisten dieser Fälle werden auf die illegalen Kredite zurückgeführt, Anm. d. Red.). In manchen Gegenden kontrollieren sie auch die Motorradtaxis und so die Mobilität der Menschen in ihrem alltäglichen Leben. Durch unsere Arbeit in den sozialen Bewegungen sind wir uns der Situation bewusst und empfinden sie als Bedrohung. Ich weiß nicht, ob die Leute die paramilitärische Präsenz auch so wahrnehmen, aber sie ist Teil der territorialen Kontrolle, die diese ausüben.
Inwiefern sind soziale Bewegungen Repression durch Paramilitärs ausgesetzt?
Manche Anführer*innen sozialer Bewegungen, die mit dem Congreso de los Pueblos in Verbindung standen, wurden getötet, wie Carlos Pedraza, Maricela Tombé und Hector Abril. Vor einigen Wochen bedrohten die Paramilitärs fünfzehn Menschen im Verwaltungsbezirk Valle del Cauca, alle Mitglieder des Kongresses und anderen Organisationen, wie der Bergbauarbeitergewerkschaft Sintramicol oder der nationalen Bewegung von Opfern staatlicher Gewalt MOVICE. In Cauca zirkulierte vor zwei Monaten ein Flugblatt der Águilas Negras, in dem unter anderem der regionale Indigenenrat CRIC bedroht wird. Die Liste ist lang und auf ihr stehen viele Menschenrechtsaktivisten und Anführer sozialer Bewegungen.

Und wie wird von staatlicher Seite auf solche Vorfälle reagiert?
Repression geht auch vom Staat aus. Am 8. Juli vergangenen Jahres wurden elf Studenten, Mitglieder des Congreso de los Pueblos, in Bogotá festgenommen. Sie werden beschuldigt in der Universidad Nacional randaliert zu haben. Bei der Verhaftung fand die Polizei Bücher von Camilo Torres (kolumbianischer Befreiungstheologe und Mitglied des ELN in den 1960er Jahren, Anm. d. Red.) und über die Friedensverhandlungen mit der ELN, was dann die strafrechtliche Verfolgung begründete. Da es sich um eine rechtswidrige Verhaftung handelte, wurden sie freigelassen, der Prozess aber läuft noch. Kürzlich sind sogar Kinder von Aktivisten Opfer von Gewalt geworden, doch im Kontext der ohnehin bedrohten Eltern werden die Morde gar nicht richtig untersucht. Im Süden Bolivars wurde ein 14-jähriges Mädchen, die Tochter eines bedrohten Menschenrechtsaktivisten, grausam ermordet. Das gleiche widerfuhr dem Sohn eines indigenen Anführers in Aurauca. Doch am Ende stellten die Untersuchungen fest, dass es sich dabei lediglich um willkürliche Verbrechen oder persönliche Probleme der Kinder gehandelt habe. Es ist auch Aufgabe der Kollektive, die über Menschenrechtsverletzung aufklären wollen, diese Morde als politische Verbrechen zu thematisieren und uns somit zu helfen, sie sichtbar zu machen.

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