Spiegel des Schreckens und Verschwindens

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Der Staat ist Komplize Weltweit fanden Gedenk- und Protestveranstaltungen statt, hier in Berlin (Foto: Gibran Mena)

Die Funde auf der Izaguirre Ranch in Teuchitlán, Jalisco, offenbaren den systematischen Horror, der sich im Land ausgebreitet hat. Die drei Verbrennungsöfen und das Zwangsrekrutierungslager verschwundener Personen sind keine isolierten Vorfälle, sondern Ausdruck einer Vernichtungsmaschinerie. Diese Praktiken zwingen uns, uns zu fragen: Wer trägt auf den verschiedenen Ebenen die Verantwortung für diese Gewalt?

Das Verschwindenlassen und die extreme Gewalt können nicht als voneinander losgelöste Ereignisse oder bloße Erscheinungsformen des organisierten Verbrechens verstanden werden. Vielmehr handelt es sich um ein weitaus komplexeres Geflecht, in dem, wie Daniel Vázquez (mexikanischer Politologe und Menschenrechtsforscher an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko, Anm. d. Red.) feststellt, „kriminelle, staatliche und wirtschaftliche Strukturen zusammenwirken, um Menschenrechte zu verletzen. Das gemeinsame Agieren dieser drei Strukturen bezeichnen wir als Netzwerke der Makrokriminalität.“ Diese Netzwerke sind es, die die Straflosigkeit garantieren.

Von der Entdeckung des Zwangsrekrutierungslagers in Tala im Jahr 2017 bis hin zu den unzähligen geheimen Verstecken krimineller Gruppen in der Metropolregion Guadalajara sind die Beweise erdrückend. Der jüngste Fund durch die Guerreros Buscadores de Jalisco (Suchende Krieger aus Jalisco, Übers. d. Red.) und die Madres Buscadoras de Jalisco (Suchende Mütter von Jalisco, Übers. d. Red.) ist nur das letzte Glied einer langen Kette von Kämpfen der Familien verschwundener Personen in Jalisco, die seit Jahrzehnten Suchprozesse vorantreiben und das Grauen, in dem wir leben, enthüllen.
Doch die institutionelle Antwort bleibt dieselbe: Untätigkeit, Unterlassung und in vielen Fällen Mittäterschaft. Die Staatsanwaltschaft von Jalisco hat keinen Willen gezeigt, die Verbrechen zu untersuchen. Und die Versäumnisse sind nichts Neues – sie gehören zum Alltag der Ermittlungen. Der bewusste Verzicht auf die Fortführung von Verfahren und Untersuchungsmaßnahmen, der Widerstand gegen forensische Maßnahmen und die Einschränkungen bei der Suche in Massengräbern sind der Beweis für diese Strategie der Straflosigkeit und Intransparenz.

Vernichtungs- und Rekrutierungslager wie das in Teuchitlán können nicht ohne ein schützendes Umfeld operieren, das sie ermöglicht. Das organisierte Verbrechen hat die staatlichen Strukturen derart durchdrungen, dass es immer schwieriger wird, zwischen legalen und illegalen Akteuren zu unterscheiden. Genau hier ist das Konzept der Netzwerke der Makrokriminalität von zentraler Bedeutung. Es geht nicht nur um Kartelle, die im Verborgenen agieren, sondern um eine Struktur, in der der Staat selbst diese Praktiken unterstützt oder im besten Fall ignoriert.

Diese Realität zwingt uns, die Art und Weise, wie wir die Gewalt in Mexiko verstehen, neu zu überdenken. Wie die feministische Soziologin Maria Mies warnt: In einem System, in dem das Leben der Gewinnproduktion untergeordnet ist, kann die Anhäufung von Arbeitskraft nur mit maximaler Gewalt erreicht werden, sodass die Gewalt selbst zur produktivsten Kraft wird. Im mexikanischen Kontext bedeutet dies, dass das Verschwindenlassen und die Vernichtung von Menschen keine bloßen Kollateralschäden des sogenannten „Drogenkriegs“ sind, sondern integrale Bestandteile eines Modells der Akkumulation, Enteignung, territorialen Kontrolle, Rentenextraktion und sozialen Disziplinierung.
Die Frage nach den Verantwortlichen zu beantworten ist entscheidend, um das Ausmaß des Problems zu verstehen. Die offizielle Erzählung reduziert die Gewalt auf den Kampf zwischen Kartellen, wodurch die Beteiligung anderer Schlüsselakteure verschleiert wird. Kriminelle Gruppen haben Kontrollmodelle entwickelt, die Zwangsrekrutierung, gewalttätige Indoktrination und das Verschwindenlassen als Instrumente der territorialen Herrschaft umfassen. Der Staat spielt eine Rolle, die von Unterlassung bis hin zu aktiver Komplizenschaft reicht. Die Militarisierung hat die Gewalt nicht reduziert. Im Gegenteil, sie hat die Netzwerke der Makrokriminalität gestärkt, indem sie sie in die staatlichen Strukturen integriert hat. Unternehmen und wirtschaftliche Netzwerke, sowohl legale als auch illegale, tragen durch Geldwäsche und die Ausbeutung von Territorien und Menschen zu diesen Dynamiken bei.

Straflosigkeit ist das verbindende Element dieser Struktur. Wie Ana Laura Magaloni in ihrer Studie über die Staatsanwaltschaft feststellt: „Die Strafverfolgung in Mexiko trägt alle historischen Missstände in sich, die sich unauslöschlich im Aufbau der Institutionen, in den Arbeitsmethoden und in den aktuellen Praktiken niedergeschlagen haben.” Es ist kein Zufall, dass Ermittlungen zu Verschwundenen ins Stocken geraten oder sich Gerichtsverfahren in der Bürokratie auflösen. Das institutionelle System wurde für Intransparenz und Straflosigkeit geschaffen.

Angesichts dieser Situation ist klar, dass die herkömmlichen Mittel des Justiz­systems nicht ausreichen, um diese Netzwerke zu zerschlagen. Es braucht eine Übergangsjustiz, also außerordent­­liche Mechanismen, die gegen die massive Menschenrechtsverletzungen vorgehen und die Strukturen verändern, die sie ermöglicht haben. Ein Modell der Übergangs- und humanitären Justiz in Mexiko müsste die Aufklärung der Wahrheit durch eine Kartierung der kriminellen, staatlichen und wirtschaftlichen Strukturen beinhalten, die für das Verschwindenlassen und die Vernichtung von Menschen verantwortlich sind. Auch erfordert es die Anerkennung der Rolle des Staates und der Privatwirtschaft, nicht nur als untätige, unsichtbare oder betroffene Akteure, sondern als Akteure, die diese Praktiken ermöglichen. Zudem die Zerschlagung krimineller und institutioneller Strukturen durch die Beseitigung von Korruptionsnetzwerken innerhalb der Sicherheitskräfte und des Justizapparats. Alle Prozesse müssten außerdem Maßnahmen der Wiedergutmachung für die Opfer garantieren, nicht nur durch finanzielle Entschädigungen, sondern auch durch Zugang zu Gerechtigkeit und Garantien der Nichtwiederholung.

Die kolumbianische Erfahrung bietet einen wichtigen Bezugspunkt für die Überlegungen eines Modells der Übergangsjustiz in Mexiko. Ein System, das mit struktureller Straflosigkeit bricht und nicht ausschließlich von den Staatsanwaltschaften abhängt, so wie es derzeit der Fall ist. Im Gegensatz zum hochgradig zentralisierten und bürokratisierten mexikanischen Modell haben in Kolumbien die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (JEP), die Einheit für die Suche nach Verschwundenen und die Wahrheitskommission die Gründung mehrerer Institutionen mit unterschiedlichen Kompetenzen ermöglicht, die die massiven Menschenrechtsverletzungen aus verschiedenen Perspektiven in Angriff nehmen. Dies hat nicht nur zur strafrechtlichen Verfolgung direkter Täterinnen, sondern auch zur gerichtlichen Aufarbeitung von Unternehmen und Unternehmerinnen geführt, die den bewaffneten Konflikt finanziert und daran teilgenommen haben – etwas, das unter dem aktuellen System der ordentlichen Strafjustiz in Mexiko undenkbar wäre.

Darüber hinaus hat Kolumbien die Notwendigkeit eines Gesetzes zur Unterwerfung krimineller Gruppen in seine Debatte aufgenommen. Ein Gesetz, dass das Konzept der makrokriminellen Netzwerke berücksichtigt, anstatt nur isolierte Einzelpersonen zu verfolgen. Ein solches Modell könnte nicht nur die strukturelle Zerschlagung illegaler Wirtschaftszweige ermöglichen, sondern auch die Rechenschaftspflicht wirtschaftlicher, staatlicher und krimineller Akteure fördern, die die Gewalt aufrechterhalten. Anstatt ausschließlich auf die Staatsanwaltschaften zu vertrauen – Institutionen, die sich in Mexiko als ineffektiv erwiesen haben und oft sogar Komplizen der Straflosigkeit sind –, würde ein Übergangsjustizsystem mit außerordentlichen Mechanismen eine umfassende strafrechtliche Aufarbeitung ermöglichen und auch die Bedingungen verändern, die das Verschwindenlassen und die Vernichtung zu einer systematischen Praxis werden ließen.

Die Gewalt in Mexiko ist weder spontan noch unkontrollierbar. Sie ist das Ergebnis eines Straflosigkeitspakts, in dem organisierte Kriminalität, Staat und wirtschaftliche Netzwerke Wege gefunden haben, nebeneinander zu existieren und voneinander zu profitieren. Der Schrecken von Teuchitlán ist kein Einzelfall. Er erinnert vielmehr daran, dass Verschwindenlassen und Vernichtungsmethoden fest in die soziale und politische Struktur des Landes integriert wurden, mit klaren wirtschaftlichen und akkumulativen Zielen, in einem Krieg, der vielfältige und unterschiedliche Profite generiert.

Wie Karl Marx in Das Kapital warnte: „Die (Staats-)Gewalt selbst, ist eine ökonomische Potenz.“ In Mexiko manifestiert sich diese Aussage in der Art und Weise, wie Gewalt nicht nur Leben zerstört, sondern auch Wirtschaftssysteme stützt, die territoriale Kontrolle neu verteilt und Machtstrukturen stärkt, die von Terror und Verschwindenlassen profitieren. Gewalt ist keine Abweichung vom System, sondern ein zentrales Instrument von Akkumulation und Herrschaft. Angesichts dieser Realität stellt sich nicht die Frage, ob der Staat die Gewalt stoppen kann, sondern ob der politische Wille besteht, die Netzwerke zu zerschlagen, die sie aufrechterhalten. Der einzige Ausweg ist ein Prozess der Übergangsjustiz, der nicht nur die Täter*innen bestraft, sondern auch die strukturellen Bedingungen verändert, die die Gewalt zu einer historischen Konstante gemacht haben.


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Warten auf konkrete Schritte

 Bald zentraler Ort der Gedenkstätte? Das Freihaus in der Colonia Dignidad, in dem Paul Schäfer wohnte (Foto: Ute Löhning)

Zwanzig Jahre ist es her, dass der frühere Anführer der Colonia Dignidad, Paul Schäfer, in seinem argentinischen Versteck entdeckt und verhaftet wurde. Doch bis heute gibt es keine Gedenkstätte, kein Dokumentationszentrum in jener 1961 gegründeten deutschen Siedlung in Chile, deren Bewohner*innen jahrzehntelang Zwangsarbeit und sexualisierter Gewalt unterworfen waren und in der chilenische Oppositionelle während der Diktatur (1973 bis 1990) gefoltert und ermordet wurden. Ein Teil des Geländes der deutschen Siedlung steht seit 2016 unter Denkmalschutz. Seit 2021 liegt ein von Gedenkstätten-Expert*innen im Auftrag einer deutsch-chilenischen Regierungskommission erstelltes Konzept für die Schaffung eines Gedenk-, Dokumentations- und Lernorts vor. Im Juni 2024 verkündete der chilenische Präsident Gabriel Boric – direkt vor einem Besuch in Deutschland – seine Regierung werde zur Umsetzung einer Gedenkstätte Teile des Geländes der Ex Colonia Dignidad enteignen. Anfang März – nun direkt vor einem Chilebesuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier – kündigten die chilenischen Minister Jaime Gajardo (Justiz und Menschenrechte) und Carlos Montes (Wohnen und Städtebau) an, das zu enteignende Gelände auf 116 Hektar vergrößern zu wollen. Demzufolge müssten mehrere Bewohner*innen der Villa Baviera ihre Wohnhäuser verlassen. Die Aufarbeitung der Colonia Dignidad stand neben Rohstoff- und Handelsfragen auf der Tagesordnung der Südamerikareise des Bundespräsidenten. Steinmeier kennt die Geschichte der deutschen Siedlung und der dort begangenen Verbrechen sehr gut. 2016 hatte er, damals als Außenminister, eine moralische Mitverantwortung der Bundesrepublik Deutschland eingeräumt. Denn Mitarbeiter*innen deutscher Behörden wussten von den Verbrechen der Colonia Dignidad, aber unterbanden sie nicht.
In der chilenischen Hauptstadt Santiago besuchte Steinmeier das Museum für Erinnerung und Menschenrechte. Dort präsentierte Stefan Rinke, Professor für lateinamerikanische Geschichte an der Freien Universität Berlin (FU) als Teil der deutschen Delegation die im Entstehen begriffene Medienstation „Interaktive Erinnerungen an die Colonia Dignidad“. Im Rahmen eines Kooperationsprojekts der FU mit dem Museum sollen zunächst Videointerviews von Zeitzeug*innen präsentiert werden, die bereits über das „Colonia Dignidad Oral History Archive“ verfügbar sind. Die Psychologin Evelyn Hevia Jordán, die viele der Interviews geführt hat, wird die Medienstation in den kommenden Jahren mit weiteren Dokumenten ausbauen. „Dieses Projekt soll die Erinnerungen der Zeitzeugen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen“, sagt sie. Es könne jedoch keinesfalls als Ersatz für eine Gedenkstätte und ein Dokumentationszentrum am historischen Ort gelten. Im Museum traf sich Steinmeier auch mit Opfern der Colonia Dignidad. Einer von ihnen ist Gabriel Rodríguez, der 1975 als politischer Gefangener in die deutsche Siedlung verschleppt wurde. „Ich habe darauf hingewiesen, dass es dringend notwendig ist, auf dem Gelände einen Gedenkort einzurichten“, erklärt Rodríguez, der heute als Journalist arbeitet. Es sei jetzt wichtig, einen Teil der Siedlung zu enteignen, damit ein Gedenkort endlich umgesetzt werde. „Für die Opfer ist die Situation skandalös. Es ist schwierig, auf das Gelände zu kommen und der Tourismusbetrieb geht unverändert weiter.“

Tourismus am ehemaligen Folterort

In der Villa Baviera leben heute etwa 120 Personen, sie betreiben Landwirtschaft und ein Tourismusunternehmen im bayerischen Stil. Chilenische und internationale Gäste kommen wegen der Ruhe, der frischen Luft und deutscher Hausmannskost in die am Fuß der Anden gelegene Siedlung. In die Villa Baviera hinein kommt man nur mit Anmeldung und Gebühr. Die Angehörigen der politischen Gefangenen, die in der Colonia Dignidad verschwundengelassen wurden, fordern freien Zugang und einen Ort, an dem sie an ihre Liebsten erinnern und um sie trauern können, so Rodríguez. Der chilenische Geheimdienst DINA hatte nach dem Putsch 1973 ein Gefangenenlager auf dem Gelände eingerichtet. Hunderte Oppositionelle wurden dort gefoltert. Dutzende wurden ermordet, in anonymen Gräbern verscharrt, 1978 laut Aussagen von Bewohner*innen der Siedlung wieder ausgegraben und verbrannt, ihre Asche in den angrenzenden Fluss geworfen. Bis heute finden auf dem Gelände forensische Grabungen statt.

Außer den Angehörigen der Verschwundenen und den in der Siedlung während der Diktatur Gefangenen und Gefolterten müssten auch alle anderen Opfergruppen in einer Gedenkstätte berücksichtigt werden, betont Rodríguez. Dabei geht es auch um die deutschen und chilenischen Opfer von sklavenartiger Arbeit, Zwangsadoptionen und sexualisierter Gewalt, und um die Bauernfamilien, die auf dem weitläufigen Gelände lebten, bis sie Anfang der 1970er Jahre von der Führung der Colonia Dignidad in Zusammenarbeit mit Militär und Polizei vertrieben wurden.

Bei dem Gespräch mit Betroffenen war als Mitglied von Steinmeiers Delegation auch die Psychologin Susanne Bauer dabei. Zwischen 2005 und 2008 hatte sie in der Ex Colonia Dignidad Therapien mit Bewohner*innen geleitet, finanziert vom Auswärtigen Amt. Damals habe sie „verstörte Menschen“ vorgefunden, berichtet Bauer und ergänzt, die Wahrscheinlichkeit, dass die traumatischen Erfahrungen über Generationen weitergegeben werden, sei sehr groß. Umso bemerkenswerter findet sie es, dass die verschiedenen Betroffenengruppen inzwischen aufeinander zugegangen sind und sich untereinander verständigen konnten. Zwischen ihnen bestehen Kontakte, auch weil ein Team von Expert*innen rund um Elke Gryglewski, Leiterin der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten, von 2014 bis 2022 einmal jährlich Dialogveranstaltungen und Seminare mit ihnen organisierte (siehe LN 607).
Angesichts der aktuellen Enteignungspläne betont Bauer, Entscheidungen, die die Wohnhäuser und die Lebensrealität der Bewohner*innen der Siedlung beträfen, sollten nicht über ihre Köpfe hinweg gefällt werden, sondern aus gemeinsamen Gesprächen von Regierungsvertreter*innen und Betroffenen hervorgehen.
Die schwierigste Frage sei vermutlich, wem die vom Staat zu leistenden Entschädigungszahlungen für die Enteignung zugutekommen werden, denn der Umgang mit Geld sei in der Siedlung ohnehin intransparent, so Bauer. Tatsächlich besetzen nur wenige Personen, größtenteils Nachfahren der ehemaligen Führungsriege der Colonia Dignidad, die entscheidenden Posten im Geflecht von Aktiengesellschaften, die zusammen die Firmenholding der Villa Baviera bilden. Zum wiederholten Male protestierte am Wochenende vor Steinmeiers Ankunft in Chile auch eine Gruppe selbsternannter „empörter Bewohner“ der Ex Colonia Dignidad und besetzte die Zufahrtsstraße zur Siedlung. Als Opfer von 40 Jahre langer Zwangsarbeit fordern sie die Auflösung der Firmenholding und die Nachzahlung ausstehender Löhne.

Heutige und frühere Bewohner*innen der Siedlung, die sich zur Vereinigung für Wahrheit, Gerechtigkeit, Entschädigung und Würde der Ex Colonos (ADEC) zusammengeschlossen haben, überbrachten Chiles Präsident Boric eine Erklärung, in der sie ihre Unterstützung für die geplante Teilenteignung und Errichtung der Gedenkstätte ausdrücken. Sie fordern, die Zahlungen für die geplante Enteignung sollten als Entschädigung der Opfer verwendet werden und nicht an die Leitungen der Aktiengesellschaften gehen. Bei Fragen der Umsetzung wollen sie einbezogen werden.

Konkrete Schritte lassen auf sich warten

Die Leitung der Firmenholding, die für ihre Lobbyarbeit die PR-Firma Extend beauftragt hat, antwortete auf Anfragen von LN nicht. Gegenüber der chilenischen Zeitung La Tercera erklärten Dorothee Münch und Markus Blanck aus den Leitungsgremien der Firmenholding, grundsätzlich seien sie mit einer Gedenkstätte einverstanden, solange diese nur einzelne Gebäude umfasse. Gegen die Enteignungspläne wollen sie jedoch auch juristisch vorgehen. Steinmeier erklärte bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Boric, das „gemeinsame Ziel“ der Einrichtung einer Gedenkstätte verbinde Deutschland und Chile. Man sei gegenüber den Opfern dafür „verantwortlich, dass diese Gedenkstätte entsteht.“ Doch dazu braucht es konkrete Schritte. Zunächst muss die chilenische Regierung ein Dekret zur Enteignung erlassen und den zu zahlenden Preis ermitteln, der bei einer Enteignung nicht dem Marktwert, sondern einer Art Buchwert entspricht. Das könnte die Regierung Boric in Kürze tun, doch wird sich der Prozess wegen der von der Firmenholding der Villa Baviera bereits angekündigten juristischen Interventionen hinziehen. Für den zweiten Schritt der Errichtung einer Gedenkstätte braucht es eine Stiftung oder andere nicht gewinnorientierte Einrichtung als Träger. Dabei könnte Deutschland kooperieren, auch finanziell. Deutschland müsse „versuchen zu unterstützen, wo es geht“, denn die Ankündigung der Enteignung habe in der Frage der Gedenkstätte einen „Durchbruch“ gebracht, sagt die Bundestagsabgeordnete Isabel Cademartori (SPD), die Steinmeier auf seiner Reise begleitete, gegenüber LN. Sie ist Teil einer Gemeinsamen Kommission von Bundestagsabgeordneten und deutschen Regierungsbeamt*innen, die Hilfszahlungen des deutschen Staates an 190 Opfer der Colonia Dignidad koordiniert und einen Fonds zur Unterstützung pflegebedürftiger Bewohner*innen aufgesetzt hat. Auch die aus dem Bundestag und der Gemeinsamen Kommission scheidende Abgeordnete Renate Künast (Grüne) betont, wie wichtig es sei, dass „Deutschland sich an der Finanzierung und Gestaltung einer Gedenk- und Erinnerungsstätte vor Ort beteiligen will und muss.“ „Wir sind müde von vielen Gesprächen über das Thema, ohne konkrete Veränderungen zu sehen“, sagt Gabriel Rodríguez, der 1975 in die Colonia Dignidad verschleppt wurde. Er warnt: „Wenn es jetzt keine schnellen Fortschritte gibt, stehen wir am Jahresende wieder nur mit Absichtserklärungen da und eine neue Regierung kann alles stoppen.“ Im November finden in Chile Präsidentschaftswahlen statt – Umfragen zufolge liegen Kandidat*innen der politischen Rechten vorne.


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