LYRIK AUS LATEINAMERIKA

Sanguínea
(anotaciones sobre el corazón humano)

el estudio de la anatomía humana oculta una simbología detrás
de lo que entendemos como sistema / órgano / aurículas y
ventrículos y venas y arterias y válvulas y sangre

tenemos un corazón:
un músculo hueco y piramidal una bomba inteligente aspirante
formada por dos bombas en paralelo que trabajan al unísono
latiendo entre sesenta y ochenta veces por minuto bombeando
cinco litros por minuto

sientes cómo late
lees y hablas sobre él
morirás sabiendo
que lo tuviste y jamás se lo entregaste
a nadie
que no te arrepientes de nada

tenemos dos ojos / dos pulmones / dos riñones
y un estómago y a veces tenemos un corazón:
una bomba de tiempo cuando el cuerpo grita sobre sí mismo
no sé cuándo el mío ha tentado
explotar

he forzado la enfermedad para ser un arma
pero
contra quién

luego de cien mil latidos siete mil quinientos setenta y un litros
de sangre
a veces lo ignoro a veces
lo observo lento
a veces
solo
escucho
su vacío


Bluts-
(notizen zum menschlichen herzen)

das studium der menschlichen anatomie verbirgt eine symbolik hinter
dem, was wir als system / organ / vorhöfe und kammern und
venen und arterien und klappen und blut verstehen

wir haben ein herz:
einen pyramidenförmigen hohlmuskel eine intelligente saugpumpe
bestehend aus zwei parallelen pumpen die im einklang arbeiten
zwischen sechzig- und achtzigmal pro minute pochen fünf
liter pro minute pumpen

du fühlst wie es pocht
du liest und sprichst darüber
du wirst im wissen darum sterben
dass du es hattest und nie jemandem
überlassen hast
dass du nichts bereust

wir haben zwei augen / zwei lungen / zwei nieren
und einen magen und manchmal haben wir ein herz:
eine zeitbombe wenn der körper über sich selber schreit
ich weiß nicht wann meins versucht hat
zu explodieren

ich habe die krankheit gezwungen eine waffe zu sein
aber
gegen wen

nach hunderttausend schlägen 
siebentausendfünfhunderteinundsiebzig litern blut
ignoriere ich es manchmal und manchmal
kommt es mir langsam vor
manchmal
höre ich
nur
seine leere


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LYRIK AUS LATEINAMERIKA

Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl

Enfance (Extrait)

Tandis que l’aïeule égrène ses prophéties
les étoiles se posent sur les lèvres
de la petite fille
celle qui refuse les tutus l’organdi
le marché aux illusions des marionnettistes
À la tombée de la nuit
elle dérobe les masques confondus
les fait voler en éclats au bas des falaises
Comme chaque animal
elle fait confiance à ses antennes
à ses côtés nul corps céleste
nul ange gardien
Elle va dans l’espérance de ses semelles
et dans la lumière de l’instant

 

Kindheit (Auszug)

Während die Ahnin ihre Prophezeiung aufsagt
legen sich die Sterne auf die Lippen
des kleinen Mädchens
das Tutus und Batist verweigert
den Trugbildermarkt der Marionettenspieler
Bei Einbruch der Nacht
stiehlt sie die vertauschten Masken
zerschmettert sie am Fuß der Klippen
Wie jedes Tier
vertraut sie auf ihre Fühler
an ihrer Seite kein Himmelskörper
kein Schutzengel
Sie geht in der Hoffnung ihrer Schritte
und im Licht des Augenblicks

 


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Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl

Fines del siglo XVI (1584), Pedro Sarmiento de Gamboa, a bordo del bajel «Nuestra Señora de la Esperanza», fundó la “Ciudad del Rey Don Felipe», hoy «Puerto del Hambre»: el sitio es testamento mudo del primer enclave español a orillas del Estrecho; murieron allí 300 colonos que quedaron esperando ese barco: “Nuestra Señora de la Esperanza”.

 

EN PUERTO DE HAMBRE UN NIÑO PIDE ENCONTRAR LA ESPERANZA

 

Detrás de la pared de la iglesia
yo pinté el ese barco que yo pido
para Navidad, yo pido cien barcos
entrando en el Puerto antes
que yo sea grande quiero
y también cien barcos de juguete
y un árbol lleno
de cosquillas, de terror.
Pero mejor los barcos y no
más lágrima para mi hermano, ni palabra
de mi madre, sino barcos
ese barco, uno, por favor
te prometo, portarme
bien yo quiero
que los barcos
me lleven hasta el sol.
Muchos más barcos quiero
cien más barcos, mejor
que sean mil.

_________________________________________________

 

Ende des 16. Jahrhunderts (1584) gründete Pedro Sarmiento de Gamboa an Bord des Fregattenschiffs „Nuestra Señora de la Esperanza“ (Unsere Liebe Frau der Hoffnung) die „Ciudad del Rey Don Felipe“ (Stadt des Königs Don Felipe), heute „Puerto del Hambre“ (Hafen des Hungers): Der Ort ist stummer Zeuge der ersten spanischen Enklave an der Magellanstraße; 300 Siedler verhungerten dort, weil das Schiff „Unsere Liebe Frau der Hoffnung“ nie zurückkam.

 

IN PUERTO DEL HAMBRE WÜNSCHT SICH EIN KIND, DIE HOFFNUNG ZU TREFFEN

 

Hinten auf die Wand von der Kirche
hab ich das Schiff gemalt, was ich mir wünsche
zu Weihnachten, ich wünsch mir hundert Schiffe,
die in den Hafen laufen, bevor
ich groß bin, genau, und außerdem
hundert Spielzeugschiffe
und ein Baum voll mit
Kitzeln, mit Schreck.
Aber lieber Schiffe und keine
Tränen mehr für meinen Bruder oder Wörter
von meiner Mutter, einfach nur Schiffe,
dieses Schiff, nur eins, bitte bitte
ich versprech dir, ich bin auch
brav, ich will,
dass die Schiffe
mich mitnehmen zur Sonne.
Und noch mehr Schiffe will ich, noch
hundert Schiffe mehr, noch besser
wären tausend.


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Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl

Rucanuco

Casa de nuco en lengua nativa.
Pájaro que nunca llegamos a conocer
ni nos fue presentado.
Quizás estuvimos frente a frente
quizás algún ladrido escuchado
venía de su garganta.
Vivíamos ya la época de nombres
sin representación concreta
y cosas tranquilamente innombradas.

 

Rucanuco

Haus der Sumpfohreule, in der Sprache der Eingeborenen.
Vogel, den wir niemals kennenlernten,
der uns auch nicht gezeigt wurde.
Vielleicht standen wir direkt vor ihm
Vielleicht stammte ein gehörtes Bellen
aus seiner Kehle.
Wir lebten längst in der Zeit der Namen
ohne konkrete Entsprechungen
und der einfach unbenannten Dinge.


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Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl

Pequeña acción militar con fondo musical wagneriano

El moscardón
como helicóptero de potencia extranjera
o emisario de una guerra incomprensible
se introduce en el cuarto
haciendo reconocimiento
de todos los rincones
Zumba feliz en la muerte del silencio

De súbito
es hallado y condenado a pena capital
En todo caso
nadie sabrá nunca
el motivo de su invasión
pero es sin duda necesario
desquitarnos del mundo
en sus perturbadoras alas

Un golpe certero
Una demolición
Una cacería
Un chivo expiatorio
Un mosco expiatorio
y ¡Zas! La vida

 

Kleine Militäraktion mit Wagner im Hintergrund

Die Schmeißfliege
dringt ins Zimmer ein
wie ein Hubschrauber einer fremden Macht
oder der Bote eines unverständlichen Krieges
und kundschaftet
alle Ecken aus
Summt zufrieden als die Stille stirbt

Plötzlich
wird sie aufgespürt und zum Tode verurteilt
Ganz sicher
wird nie jemand
das Motiv ihres Eindringens erfahren
aber es ist zweifellos notwendig
uns an der Welt zu rächen
auf ihren nervigen Schwingen

Ein treffsicherer Schlag
Ein Akt der Vernichtung
Eine Treibjagd
Ein Sündenbock
Eine Sündenfliege
und Zack! Das Leben


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El arquetipo

Se están pudriendo en la calma de sus vidas reprimidas.

En la mansedumbre de un sistema que descuartiza en silencio,
los espacios del alma y la integridad humana.

El límite de los descuartizados está desbordando.
Se asomara con toda la valentía y amor propio…

Aparecerá el color más oscuro de la sangre
pululando en la piel de los manipuladores, abusadores y corruptos.
Cuya doctrina e ideología les reventará en sus caras y manchara sus manos.

Ya llegará la muerte silente de este arquetipo inhumano,
dando paso a una rebeldía humanizadora y revitalizadora.
En donde los oprimidos serán los caudillos que descuartizan este sistema *que va en decadencia.

André Nilo, Sportlehrer, Recoleta (Santiago)

 

Der Urtyp

Der Hund Negro Matapacos wurde durch zahlreiche Teilnahmen an den Studierendenprotesten 2010/2011 bekannt

Sie verrotten in der Trägheit ihrer unterdrückten Leben.

Im Gehorsam eines Systems, das in der Stille
die Orte der Seele und der menschlichen Integrität zerteilen.

Die Grenze der Zerteilten ist überschritten.
Sie wird mit all dem Mut und der Liebe zu sich selbst erscheinen…

Die dunkelste Farbe des Blutes wird auftauchen
Sich auf der Haut der Manipulatoren, Missbrauchenden und Korrupten ausbreiten.
Deren Doktrin und Ideologie in ihren Gesichtern zerplatzen und ihre Hände besudeln wird.

Der leise Tod dieses menschlichen Urtyps wird kommen,

einer menschenwürdigen und wiederbelebenden Rebellion Platz machen.
Wo die Unterdrückten die Anführer sein werden, die dieses System zerteilen,
das in Verfall geraten ist.

 

 

 

Carrusel

Busco las palabras
Para darle voz
Al puño apretado
A nuestra determinación

Busco las palabras
Para enseñarte de amor
Compartir una sonrisa
En tiempos de unión

Busco las palabras
Que dibujen las lágrimas
Después del golpe que dio
El rojo aluvión

Busco las palabras
Para cuando nos despedimos
Sin saber de verdad
Si volveremos a hablar

Busco las palabras
Para el asco que da
En las calles tu actuar
Supuesto defensor criminal

Busco las palabras
Pero no las encuentro
Es tanto lo que siento
Carrusel de emoción

Bastián (29), Concepción (Región Bío Bío)

 

 

Karussel

Ich suche nach Wörtern,
um mit geballter Faust
unserer Entschlossenheit
eine Stimme zu verschaffen

Ich suche nach Wörtern
um dir Liebe zu zeigen
ein Lächeln zu teilen
in Zeiten der Einigkeit

Ich suche nach Wörtern
die die Tränen zeichnen
nach dem Schlag
den die rote Flut versetzt hat

Ich suche nach Wörtern
für unseren Abschied
ohne wirklich zu wissen
ob wir uns noch einmal sprechen werden

Ich suche nach Wörtern
für den Ekel, den mir
dein Auftreten auf der Straße beschert
angeblicher Verteidiger – Krimineller

Ich suche nach Wörtern
aber ich finde sie nicht
es ist so viel, das ich fühle
Karussell der Gefühle

 


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SECRETOS DE JUVENTUD

Es triste entrar al supermercado del barrio
y advertir que amigos de la adolescencia
con quienes se creyó
en la confianza y la libertad
sean hoy los guardias que de reojo
te persiguen por los pasillos
desconfiando de cada uno de tus movimientos.


JUGENDGEHEIMNISSE
Es ist traurig, in den Supermarkt im Kiez zu gehen
und zu erkennen, dass Freunde von früher
mit denen man als Jugendliche
an Vertrauen und Freiheit glaubte
heute Sicherheitsleute sind, die dir verstohlen
durch die Gänge hinterherblicken
und jeder deiner Bewegungen misstrauen.

 

 

María Paz Valdebenito (*1987) ist eine chilenische Künstlerin. Zu ihren Veröffentlichungen zählen La fábrica del Sibilino (Chile, 2011), Las vigías de Terpsícore (Chile, 2013) Cabalgando Lejanías (Peru-Ecuador, 2016) und Tonada del náufrago (Argentinien, 2017). Ihre erste EP mit dem Titel Contrafinal ist in Vorbereitung.

Sarah Otter (*1980) studierte Germanistik, Komparatistik sowie Spanische Philologie in Potsdam und Granada und übersetzt regelmäßig für das Poesiefestival Latinale. Zuletzt erschien in einer gemeinsamen Übersetzung mit Léonce W. Lupette und Johanna Schwering der Gedichtband Oben das Meer unten der Himmel von Enrique Winter (2018).

Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl

 


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Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl

 

 

PIES

Siempre que quiero escribir un poema
y no se me ocurre nada,
me comienzan a picar los pies,
no sé a qué se debe,
¿Acaso será que en los pies habita el sentido poético?
tal vez a Baudelaire le sudaban los pies al escribir sus flores del mal
quizás los pies de Borges eran relojes
y los de Jattin una concha de mango.
Me pregunto:
¿Cómo son mis pies?
Me gusta imaginarlos,
como unos pies sumergidos en el mar caribe,
aunque el mar me angustie y me de ganas de suicidarme.
¿Suicidios, poetas, pies?
Ya se me olvidó de que iba este poema,
tal vez, solo esté escribiendo,
para quitarme esta picazón de los pies.

 

FÜSSE

Immer wenn ich ein Gedicht schreiben will
und mir nichts einfällt,
fangen meine Füße an zu jucken,
keine Ahnung, woran das liegt –
oder steckt in den Füßen etwa der poetische Sinn?
vielleicht schwitzten Baudelaires Füße, als er seine Blumen des Bösen schrieb
möglicherweise waren Borges Füße ja Uhren
und die von Jattin eine Mangoschale.
Ich frage mich:
Wie sind wohl meine Füße?
Mir gefällt die Vorstellung,
dass sie im Karibischen Meer stehen,
obwohl das Meer mich beunruhigt und auf Selbstmordgedanken bringt.
Selbstmord, Dichter, Füße?
Ich weiß schon gar nicht mehr, worum es in diesem Gedicht ging,
vielleicht schreibe ich nur,
um dieses Jucken in den Füßen loszuwerden.

 


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Illustration: Joan Farias Luan, www.cuadernoimaginario.cl

 

MUJER AUSENTE CON TELÉFONO

Esculca sus recuerdos
toma café
revisa sus actualizaciones
y vuelve a sí misma
como una desterrada
de la historia.
¡Qué difícil es espiar
a la amada!
cuando ésta
[con su felicidad editada]
sonríe al mundo
junto a un hombre
al que ella
no logra
reconocer
seguir
ni omitir.

ABWESENDE FRAU MIT TELEFON

Sie durchstöbert ihre Erinnerungen
trinkt Kaffee
überprüft ihre Updates
und kehrt wieder zu sich selbst zurück
wie eine aus der Geschichte
Gestoßene.
Wie schwierig ist es doch
die Geliebte auszuspionieren!
wenn diese
[mit ihrem aufgesetzten Glücklichsein]
die Welt anlächelt
an der Seite eines Mannes
den sie
weder
zuordnen
noch verfolgen
noch übergehen kann.

 


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Illustration: Joan Farias Luan, www.cuadernoimaginario.cl

 

HOMO SAPIENS

„Creció en mi frente un árbol.
Creció hacia dentro.“
Octavio Paz

sou máquina?

sou sujeito?

ou sou sujeito à maquina?

sou um ser centrípeto
eu sei
quando cismo
assumo meu eixo
quando assumo
sou o centro
de mim mesma

me assumindo
sou eu sendo

e a máquina
vem
e a máquina
me ajuda
e a máquina
me atropela
a máquina vem
e me esfacela

e a máquina vem
e faz as dela
computa meus dados
registra a minh´idade
as vezes soft
as vezes hard

sou um ser centrípeto
eu sei
quando cismo
assumo:
diante da máquina
sou um pássaro
diante da máquina
sou um fraco
diante da máquina
sou um fluxo de sangue
procurando ser de aço.

 

 

HOMO SAPIENS

„Es wuchs in meiner Stirn ein Baum.
Er wuchs nach innen.”
Octavio Paz

bin ich maschine?

bin ich subjekt?

oder objekt der maschine?

ich bin zentripetal
ich weiß
wenn ich grüble
stehe ich für mich gerade
geradestehend
bin ich zentrum
meiner selbst

für mich einstehend
bin ich seiend

und die maschine
kommt
und die maschine
hilft mir
und die maschine
überrollt
die maschine
zerfetzt mich

und die maschine
kommt
und macht ihr ding
benutzt meine daten
registriert mein alter
mal soft
mal hard

ich bin zentripetal
ich weiß
wenn ich grüble
gestehe ich ein
vor der maschine
bin ich ein vogel
vor der maschine
bin ich schwach
vor der maschine
bin ich ein blutstrom
der sein soll wie stahl.

 


Elisabete Albuquerque-Wegenast (1950, Buri, Brasilien) studierte Literatur- und Sprachwissenschaften an der Universidade de São Paulo und erwarb einen Master of Arts an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig mit dem Schwerpunkt Medienpädagogik und Ästhetische Praxis. Sie arbeitete in Deutschland und Brasilien im Kulturbereich und als Kulturpädagogin. So war sie etwa im Amazonasgebiet im Rahmen eines Projekts zur Einführung der Schrift in oralen Kulturen tätig. Zurzeit schreibt sie Lyrik und Essays und lebt in Berlin.

Lea Hübner ist freiberufliche Übersetzerin für Spanisch und Portugiesisch, vom Dokument überEssay, vom Ausstellungskatalog bis Lyrik. Sie studierte Lateinamerikanistik an der Freien Universität Berlin mit Schwerpunkt Brasilianistik sowie Spanisch und Philosophie. Sie lebt in Berlin und hat in den letzten Jahren insbesondere Graphic Novels ins Deutsche übertragen, zuletzt Angola Janga. Eine Geschichte von Freiheit von Marcelo D’Salete (bahoe books, 2019).
* Übersetzt von Rudolf Wittkopf, in: Octavio Paz, In mir der Baum. Gedichte. Spanisch und Deutsch, Frankfurt/M. 1990, 198f.

 

 


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Illustration. Joan Farias Luan, www.cuadernoimaginario.cl

 

KIÑELEN RAKIDUAM

¿Por qué los muertos mapuche se van al mar?

se preguntaba el poeta a orillas del río Mapocho

–Porque el cielo está lleno y ya no caben
más y porque es sólo para los que se
quieren salvar de este infierno

respondió la niña continuando su acostumbrada
tarea de juntar objetos raros entre las piedras
que dejaba el río en sus crecidas.

 

KIÑELEN RAKIDUAM

Warum kommen die toten Mapuche ins Meer?

fragte sich der Dichter am Ufer des Mapocho

„Weil der Himmel schon voll ist und nicht noch
mehr reinpassen und weil er nur für die ist, die sich
aus dieser Hölle hier retten wollen“,

erwiderte das Mädchen, während es wie gewohnt
seltsame Gegenstände zwischen den Steinen einsammelte,
die der Fluss nach jedem Hochwasser zurückließ.

 

 


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Divagaciones sobre la Energía Verbo-atómica y el Verso Anfibio

grazna la hora
¡ay! el abismo
lo pelaron lentamente
le fueron deshaciendo
su tibio aposento
y quedó sonoro, frío
a la espera de la muda
mudar letra
es la conmoción del sintagma
la euforia de un animal
aprisionado en el paladar
un masivo desprendimiento de energía
el pestañeo del cuerpo ráfaga

 

Divagationen über verbal-atomare Energie und amphibische Verse

die stunde krächzt
ach! den abgrund
man schälte ihn bedächtig
trug allmählich seine
lauwarmen gemächer ab
und er blieb klingend, kalt
wartend auf den hautwechsel
wechselnde buchstaben
sind aufruhr im syntagma
euphorie eines tiers
gefangen auf dem gaumen
riesenhafte freisetzung von energie
blinzeln des blitzstoß-körpers

Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl

 

Christiane Quandt ist freie Übersetzerin für Spanisch und Portugiesisch und Redaktionsmitglied der Zeitschrift_alba.lateinamerika lesen._Sie übersetzte unter anderem Ricardo Lísias, Guadalupe Nettel und Carmen Ollé. Zuletzt erschien in ihrer Übersetzung Drei Verräterinnen_von Esther Andradi (siehe LN 514) bei KLAK, Berlin (2018)._Derzeit arbeitet sie an der Übersetzung des Lyrikbandes_Der Hammer_der Brasilianerin Adelaide Ivánova (siehe LN 522) und als Übersetzerin und Mitherausgeberin an einem Band zum spanischen Maler Francisco de Goya (Ripperger & Kremers)._

 

Ethel Barja (Huanchar, Perú, 1988) ist Autorin der Gedichtbände Trofeo imaginado entre dientes (2011), Gravitaciones (2013, zweisprachig 2017) und Insomnio vocal (2016). Außerdem wurden ihre Gedichte in Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht, darunter Stadtsprachen Magazin und Madera in Deutschland. Für Travesía invertebrada wurde sie mit dem peruanischen Premio Cartografía Poética 2019 ausgezeichnet. Zurzeit schreibt sie ihre Doktorarbeit in Hispanischen Studien an der Brown University in Providence, USA, von wo sie auch das Online-Portal Gociterra koordiniert.

 


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Me voy con “Herni” a la “Disco” en “Serbia”
o es que tengo ¿una hernia cervical?

a Herni,
le tomó tanto tiempo decirme ¡que quería!

Explicaciones
diagnósticos
que más suenan a arreglos de carrocerías.

– Serás un auto de lujo!

– Serás la modelo 001 barbie Andina!

Si te cambian el disco,
serás un discazo de larga duración.

!Soy un ensamble
con motor alemán y carroceria andina
Llevo dos titanios de 14 x 15 mm en la yugular!

Elsye Suquilanda ist Multivitamin-Schaffende, Performance-Dichterin, autodidaktische Sängerin. Sie webt Videos, stickt Noise-Musik, ist Tierschutzaktivistin, Mitbegründerin der hundesophischen Bewegung „Chichoismo“ und hat an diversen Literatur-, Film- und Kunstfestivals teilgenommen. Sie ist Autorin von acht Gedichtbänden, einer Erzählung für Kinder und diversen Drehbüchern. Ihre Gedichte und Texte wurden ins Deutsche, Englische, Französische, Japanische, Portugiesische, Finnische und Shuar (indigene ecuadorianische Amazonasethnie) übersetzt._Im Jahr 1979 kam sie in Quito, zur Welt, seit 2008 lebt sie in Berlin und schafft 100 % ecuaterrestrische Poesie „made in Berlin“.

 

Illustration: Joan Faría Luan, www.cuadernoimaginario.cl

 

Cyperpoet

Ich geh’ mit dem „Herni“ in die „Disko“ in „Serbien“
oder leide ich an einer cervikalen Diskushernie?

Der Herni,
der rückte lange nicht raus damit, was er von mir will!

Erklärungen.
Diagnosen,
die sich anhören wie Reparaturen an der Karosserie.

– Du wirst ein richtiges Luxusauto sein!

– Modell 001 Anden-Barbie!

– Wenn sie deine Scheibe auswechseln,
bist du danach eine Langspielplatte.

Ich bin ein Ensemble
aus deutschem Motor und andiner Karrosserie.
In meiner Kehle stecken zwei 14 x 15 mm lange Titanstäbe!

 

Simone Reinhard studierte Lateinamerikanistik und Ethnologie an der Freien Universität Berlin und vertiefte ihre Liebe zur lateinamerikanischen Literatur während diverser Arbeits- und Studienaufenthalte in Madrid und Buenos Aires. 2007 absolvierte sie die Übersetzerwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin. Sie übersetzt Lyrik und Prosa aus dem lateinamerikanischen Spanisch und arbeitet als freie Mitarbeiterin bei der Deutschen Welle. Zu den von ihr übersetzten Autor*innen zählen unter anderem Mariana Enríquez, Adrian Pais, Rocío Cerón und Marjorie Agonsín.

 


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hoy no voy a escribir un poema

no puedo pensar en algo lindo
aunque la luna esté maravillosa
coronada por Júpiter, su seguidor
no quiero ver el video de Monsanto
y la maldad sembrada en la tierra
no quiero pensar en mi hermana
que mancha la felicidad de mis días
con su onda de siempre, agresiva y acelerada
hoy no puedo escribir un poema
pero no se preocupen
alguien más lo está haciendo
por todos nosotros,
alguien lo está haciendo por mí

 

(Illustration: Joan Farías Luan , www.cuadernoimaginario.cl)

 

heute schreibe ich kein Gedicht

ich kann an nichts Nettes denken
obwohl der Mond toll aussieht
gekrönt von Jupiter, seinem Follower
ich will nicht das Video über Monsanto sehen
über die Saat des Bösen auf der Welt
ich will nicht an meine Schwester denken
die das Glück meiner Tage besudelt
mit ihrer ewigen Aggressivität, ihrer Hektik
ich kann heute kein Gedicht schreiben_
doch keine Sorge
es macht schon jemand anderes_
für uns alle,
jemand anderes macht es für mich

 

(Illustration: Joan Farías Luan , www.cuadernoimaginario.cl)

 

Gabriela Becherman, geb. 1973 in Buenos Aires, ist nicht nur Autorin mehrerer Gedicht- und Erzählbände, sondern hat außerdem als Sängerin unter dem Pseudonym Gaby Bex das elektroakustische Album „Mandona“ aufgenommen. Als diesjähriger Gast des Poesiefestivals Latinale performte sie im Oktober ihre Gedichte und Songs zum ersten Mal in Deutschland.

Rike Bolte, in Spanien und Deutschland aufgewachsen, ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und lehrt derzeit in Barranquilla (Kolumbien) frankophone, hispanophone und deutschsprachige Literaturen. Sie ist Mitbegründerin und Kuratorin des mobilen lateinamerikanischen Poesiefestivals Latinale sowie Übersetzerin aus dem Spanischen und Französischen – und aus dem Deutschen ins Spanische.


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MAUER MIT BLUMEN BEMALT

Die Idee, ausgewählte Gedichte des Chilenen Enrique Winter aus drei verschiedenen Bänden ins Deutsche zu übersetzen und in einem Band zu veröffentlichen, kam den Übersetzer*innen Léonce W. Lupette, Sarah Otter und Johanna Schwering nach Winters eindrucksvoller Performance beim Poesiefestival Latinale 2012 in Berlin. Die Übersetzung ist nun nach jahrelangem Arbeitsprozess erschienen und der Koproduktion entsprechend so vielstimmig wie der Text selbst.

Die thematische Bandbreite erschwert es, dem Band in wenigen Worten gerecht zu werden. Die Reise, die Landschaft, die Tiere, Mauern, Faschos im Alltag, Tränengas: Lateinamerika. Die Vielseitigkeit der Themen lässt sich vielleicht durch drei Begriffe auf den Punkt bringen, die über all diesen Schlagwörtern schweben: Zerrissenheit, Vergänglichkeit und Abwesenheit. „Die Beständigkeit ist zerbrechlich“ und alle menschlichen Bindungen sind vergänglich, das ist Winters Appell.

Enrique Winter, geboren 1982 in Santiago de Chile, ist in Valparaíso aufgewachsen und war unter anderem als Verleger und Anwalt tätig. Sein Werk umfasst mehr als 100 Publikationen in sechs Sprachen, darunter Gedichte, Übersetzungen, Videos und ein Roman. So unmittelbar eindrucksvoll Winters Performances sind, die Lektüre seiner Gedichte erfordert etwas Geduld, da sie sich zum Großteil nicht gleich erschließen, sondern über subtile Andeutungen funktionieren. Die Sprache ist teils geradezu hermetisch und lebt von Metaphern und Gedankenfetzen, die Interpretationsspielraum lassen. Die plastischen Bildformationen sind jedoch trotz aller Offenheit immer gewaltig und scheinen auf etwas Großes hinzuweisen, wenn auch oft nicht klar wird, auf was genau. Und genau das ist Winters große Stärke.

Seine Texte hinterlassen von Beginn an ein diffuses Gefühl: Das Bild des ewig am Strick pendelnden und dennoch vergessenen Großvaters eröffnet den Band. Leben und Lesen ist hier ein Balanceakt, der zwischen gegensätzlichen Polen pendelt.

Viele der Texte nehmen uns mit auf eine Busreise durch Lateinamerika und seine Geschichte. Mauern werden zwar umfahren, sind aber immer präsent. Die Gefahr, dem reinen Tourismus zu erliegen, lauert überall. „Ja, es ist ein Unheil, wie Besuch durchs Leben zu gehen“, heißt es.

Andere Gedichte sind größtenteils im Chile nach der Militärdiktatur situiert und erzählen Anekdoten aus dem Leben der Arbeiter*innen. Winter kommentiert auf subtile Art die sozialen Konstellationen, lässt die Verschwundenen der Diktatur aufleben, ohne diese jemals wirklich zu benennen. Alles ist von einer dichter Bildsprache durchzogen. Einige der Gedichte beziehen sich aufeinander, so ist beispielsweise Der Himmel ist kleiner als die Wolkenkratzer aus Versen anderer Gedichte Winters zusammengesetzt. Neu angeordnet und miteinander vermischt entstehen völlig neue Bilder. Die Vielseitigkeit der Themen wird von der Vielstimmigkeit der Figuren begleitet. Unterschiedliche Personen kommentieren die Ausführungen des Lyrischen Ichs, unter anderem die von Miguel, der sagt: „Ich war alles, nichts lohnt sich“. Auch formal ist Winters Lyrik experimentierfreudig, einige Gedichte erinnern an Kurzgeschichten, in anderen sind textuelle Lücken im Text auch inhaltliche, die die Leser*innen selbst ausfüllen müssen. An die Notwendigkeit, diese Leerstellen im Text und im Leben mit Leben zu füllen, erinnert uns Enrique Winter immer wieder.


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