Foto: Fabian Grieger
Der Hügel, wo einst mehr als 300 Häuser standen, ist zwei Tage nach dem Feuer komplett von schwarzer Asche bedeckt. Die Ruinen der wenigen Häuser, die aus Backstein gebaut waren, ragen hervor. Die allermeisten Häuser waren aus Holz. Wo sie einmal standen, lässt sich nur noch erahnen. Ein Hund streunt über die verkohlten Reste, wühlt mit der Schnauze in der verbrannten Erde. Ein verbeulter Topf lugt unter den Trümmern hervor. Daneben spielen Kinder, ein paar Jungs raufen vor den gelangweilten Augen der Polizei. Am Freitag zog das Inferno über die Siedlung El Oasis (Die Oase) im Stadtteil Moravia im Herzen von Medellín hinweg. Seitdem haben Militärpolizisten mit Maschinengewehren das Gelände umstellt. Viel zu holen gibt es hier nicht. Niemand soll auf den Hang am Stadthügel zurückkehren oder gar damit beginnen, die Häuser wieder aufzubauen. Das diene der Sicherheit der einstigen Bewohner*innen, erklärt einer der Polizisten.
Etwas weiter unten am Hang steht Cristián, den diese Aufforderung recht wenig interessiert. Der 33-Jährige trägt ein gelbes T-Shirt, Jeans, Turnschuhe und eine Basecap mit dem Schirm nach hinten. Sonst ist ihm auch nichts geblieben. „Dahinten stand mein Haus“, sagt er und deutet auf eine Stelle in den verkohlten Trümmern. Als am 18. August gegen 10 Uhr morgens das Feuer ausbrach, war Cristián gerade in der Universität. Als er von dem Feuer hörte, rannte er zu seinem nur wenige Minuten entfernten Zuhause. Wie war es, als das Feuer ausbrach? Cristían reißt die Arme nach oben und wischt in einer ausholenden Bewegung von rechts nach links und ruft „Wusch.“ Man kann sich vorstellen, wie schnell die Flammen von einem Holzhaus auf das andere übergriffen. „Kennst du ,Fast and Furious’?“, fragt der Student. „Das Wichtigste ist immer die Familie. Das allererste, was zählt. Und so hab ich’s auch gemacht. Ich bin raus und hab allen anderen geholfen. Meine Familie – das sind all diese Leute hier.“
Mit „Mi gente“ (etwa: Meine Leute) drücken Kolumbianer*innen ihre Identifikation zu ihren Mitmenschen aus. Cristiáns Augen leuchten, wenn er davon erzählt, dass er zwar all seinen Besitz verloren, aber seine Gemeinschaft behalten hat. Tatsächlich ist beim Großbrand niemand gestorben. Nach offiziellen Zahlen sind jetzt 323 Familien obdachlos. Die Stadtverwaltung brachte viele Familien in einer Schule unter – vor allem jene, die in den Flammen all ihren Besitz verloren haben. Dort gibt es Verpflegung und Kulturangebote. Sogar eine Theatergruppe hat schon vorbei geschaut. Andere Bewohner*innen, die noch einige Sachen retten konnten und in der Nähe des Hügels El Oasis bleiben wollten, schlafen seitdem unter der Brücke zwischen zwei Hauptstraßen am Fuß des Hügels.
Medellín ist in Viertel aufgeteilt, von denen jedes einen eigenen Mikrokosmos bildet.
So auch Cristían. Er hat einen großen Topf mit Suppe aufgesetzt – für alle, die essen wollen. Auf dem verkohlten Boden glüht ein Feuer, dass den Topf zum Kochen bringt. Es sieht so aus, als steige aus der Asche wieder Rauch auf. „Es geht weiter“, sagt Cristian beim Anblick der Suppe und passend zur Situation seiner Nachbarschaft. Er ist zuversichtlich, dass sie bald wieder als Gemeinschaft ein Dach über dem Kopf haben werden.
Cristían ist einer der líderes sociales (soziale Führungspersönlichkeiten), die sich durch besonderes Engagement hervorgetan haben. Medellín ist in Viertel aufgeteilt, von denen jedes einen eigenen Mikrokosmos bildet. Jedes dieser Viertel – ob arm oder reich – hat seine líderes. Sie fungieren als Scharnier zwischen Stadtverwaltung, Polizei, Militär, Drogenkartellen und den Bewohner*innen. Regelmäßig setzen sie sich zusammen und diskutieren über die Probleme des Viertels. Als líder wird man nicht geboren. Die Gemeinschaft macht einen dazu. Als die Flammen in Moravia um sich griffen, entstanden bei den Rettungsaktionen neue líderes. Jene Menschen, die im Moment der Gefahr Verantwortung übernahmen.
Nun haben sie einen besonders schweren Konflikt zu lösen, der schon seit Jahren schwelt: Die Stadtverwaltung will in einem „Entwicklungsplan“ dem zentral gelegenen Stadtteil Moravia ein neues Gesicht geben. Die informellen, von den Bewohner*innen errichteten Siedlungen, wie das abgebrannte El Oasis, sollen weg. Grüne Park- und Naherholungsflächen sollen dort entstehen. Die Begründung: Die Siedlungen befinden sich in sogenannten „Zonen mit hohem Risiko“. Die Gefahr von Erdrutschen und der vergiftete Boden machten die Flächen unbewohnbar. Die Bewohner*innen des benachbarten Hügels El Morro mussten bereits gehen. Dieser war einst eine der größten Müllkippen der Stadt. Recycler waren die ersten, die sich dort ansiedelten. Wie El Oasis bestand auch El Morro hauptsächlich aus Holzhäusern. Strom und Wasser stellte die staatliche Versorgungsfirma nicht zur Verfügung, also zapften die Bewohner*innen die Leitungen an. Auch in El Morro hat es regelmäßig gebrannt. Mittlerweile ist der einst dicht bebaute Hügel frei von Häusern und mit grünen Feldern bedeckt. Auf der Spitze steht eine Skulptur. Die Bewohner*innen wurden umgesiedelt. Einige willigten bei der Aussicht auf eine legale Wohnung in einem der Außenbezirke Medellíns ein. Die anderen wurden schließlich durch die Polizei zwangsumgesiedelt. Die neuen Hochhauswohnungen boten zwar Legalität und modernere Ausstattung, das Heimatviertel, die Nachbarschaft und Familie waren aber weit weg. Einige kamen zurück und bauten wieder am Rande des neu gestalteten Gartens auf dem alten Hügel, andere siedelten sich am benachbarten Hügel El Oasis an.
Nach Entwürfen, die die staatliche Universidad Nacional de Colombia im Auftrag der Stadtverwaltung entwickelt hat, sollen große Teile Moravias verändert werden. Wo die höchsten Häuser derzeit drei Stockwerke haben, sind auf den Entwürfen Hochhäuser eingezeichnet – Teil eines geplanten „Distrikt Innovation“. Die Häuser sollen mit dickem Zementfundament gegen die Giftstoffe auf der ehemaligen Müllhalde gesichert sein. Der Hügel El Oasis soll ein weiterer Park und die Menschen umgesiedelt werden.
Es wäre ein weiterer Schritt der großen Runderneuerung, die sich die ehemalige Drogenhauptstadt Medellín auf die Fahnen schreibt. 2012 wurde sie vom Wall Street Journal in einem oft bemühten Ranking zur innovativsten Stadt der Welt ernannt. Seit dem Tod des Kokainkönigs Pablo Escobar und den Friedensprozessen mit der linken Guerillaorganisation FARC sowie den rechten Paramilitärs ist die Mordrate drastisch gesunken. Stattdessen hat Medellín heute eines der besten Nahverkehrssysteme Lateinamerikas, das das Zentrum mit der Peripherie verbindet. In den letzten Jahren wurden in großem Stile öffentliche Sport- und Kulturangebote gefördert. Die Dichte von Sozialprojekten ist beeindruckend. In vielen Kreisen gilt Medellín als Vorzeigemetropole Lateinamerikas.
„Leute, die bezahlen, kommen. Leute, die nicht bezahlen, gehen“
Carlos, Einwohner von Moravia, 60 Jahre, zerzauste Haare unter einer Adidas-Mütze, Falten im Gesicht, auf eine Krücke gelehnt, gehört nicht zu diesen Kreisen. „Leute, die bezahlen, kommen. Leute, die nicht bezahlen, gehen“ , so beschreibt Carlos diesen Prozess. Auch er ist líder social, fühlt sich verantwortlich für die Bedürfnisse der Nachbarschaft. An diesen gehe die Planung der Stadt aber vorbei, beklagt Carlos. „Ein Zuhause mit Würde baut man mit der Hand und ohne Erlaubnis“, sagt Carlos. Dieser Satz steht auch auf einem Plakat, dass die Bewohner*innen über den verbrannten Trümmern aufgehängt haben. Moravia hat sich seinen Ruf als widerständiges Viertel über Jahrzehnte erkämpft. Carlos sitzt auf einem Sessel vor einem der Zelte, in dem viele Menschen nun übernachten, während er die Geschichte seines Viertels erzählt. Ständig kommen Leute und fragen Carlos, bitten ihn um Hilfe. Manche bleiben stehen, nicken und stimmen ihm zu. „Moravia haben Menschen gegründet, die vor den bewaffneten Konflikten im Land geflohen sind.“ Später flohen auch Menschen aus anderen Teilen Medellíns an den Rand der ehemaligen Müllkippe.
Moravia entwickelte sich zu einem der dichtbesiedeltsten Viertel Lateinamerikas. Es dauerte nicht lange, bis der bewaffnete Konflikt auch nach Moravia kam. Zunächst kontrollierten Guerillas die Viertel: ELN und M-19 hinterließen ihre Spuren – auch im Revolutionsbewusstsein der Bewohner*innen. Dann kamen die Drogenbanden Pablo Escobars. Der Patron stattete als Teil seines Wahlkampfs in den 80ern den Fußballplatz des Viertels mit Flutlichtmasten aus, baute kostenlos Häuser für die Bewohner*innen. Noch heute tragen auffällig viele Menschen in Moravia ein T-Shirt mit dem Konterfei des Drogenbosses. Auf Escobar folgte die FARC, darauf die rechten Paramilitärs – und ihre Säuberungsaktionen im Viertel mit dem Ruf des Widerstands. Carlos zeigt auf seinen verletzten Fuß: „Das waren die Paramilitärs.“ Ein Mädchen kommt vorbei, setzt sich auf die Sesselkante, auf der Carlos sitzt. Stolz sagt er: „Schau, sie hat eine Nähmaschine zu Hause und verdient damit ihr Geld. Wir können uns selber helfen.“ In all den Jahrzehnten hielt der Staat Distanz zu Moravia. Heute ist es das Drogenkartell Oficina de Envigado, das nach Aussage von Carlos auf der Straße das Sagen hat.
Auch der 18-jährige Esteban misstraut dem plötzlichen Engagement des Staates. Er ist Teil einer Gruppe von Studierenden, die sich um die gesundheitliche Versorgung der Feueropfer kümmert. Den Brand hat Esteban von seinem Haus aus gesehen. „Wir haben uns hier schon immer gegenseitig geholfen.“ Zwei Tage später steht er bei den Menschen unter der Brücke. Sein gebügeltes, in die Hose gestecktes Hend, verrät, dass er nicht von hier ist.
Bereits 2007 hatte es auf dem Hügel El Oasis gebrannt. Doch die Bewohner*innen waren zurückgekehrt. Dieses Mal dürfte dies schwieriger werden.
In dieser Zeit konnten auch Sozialprojekte das Vertrauen in die Stadtverwaltung nicht zurückgewinnen. Mittlerweile ist Federico Gutiérrez von der rechts-neoliberalen Regierungspartei Partei der Nationalen Einheit Bürgermeister. Als Teil des Entwicklungsplans wurde der kolumbianische Stararchitekt Rogelio Salmona damit beauftragt, ein Kulturzentrum im Herzen des Viertels zu bauen. Neben kostenlosen Bildungs- und Kulturangeboten für die Nachbarschaft gibt es auch Konzerte und Veranstaltungen bekannter Künstler. Diese ziehen Menschen aus ganz Medellín an. Das Kulturzentrum und der ebenso schicke neu gebaute Kindergarten nebenan hätten die Mietpreise in der Umgebung in die Höhe getrieben, meint Carlos – staatlich vorangetriebene Gentrifizierung. So droht Vertriebenen ein weiteres Kapitel Vertreibungsgeschichte.
Eine Woche nach dem Brand harren die Menschen mit ihren geretteten Gütern noch immer unter der Brücke aus. Die Stadtverwaltung bietet an, für drei Monate eine Wohnung für alle Brandgeschädigten zu mieten. Sollte es bis dahin keine langfristige Lösung geben, werde die Übergangsmiete um neun Monate verlängert.
Eine langfristige Lösung kann für die Bewohner*innen allerdings nur eine neue Unterkunft im Viertel sein. Die Stadtverwaltung sieht dafür keinen Platz. „Ein Turm für die ganze Gemeinschaft, hier in der Nähe. Das wäre in Ordnung“, sagt Cristian schmunzelnd. „Ich trage die Revolution im Herzen“ , sagt Carlos, kampfbereit, um den Hügel El Oasis zu verteidigen und dem Ruf des Viertels alle Ehre zu machen.
Und trotzdem: Es sieht so aus, als habe das Feuer den Umstrukturierungsprozess von Moravia beschleunigt.